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Nationalstaat -Weltrevolution -Weltgeschichte | APuZ 10/1960 | bpb.de

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APuZ 10/1960 Ernst Moritz Arndt Nationalstaat -Weltrevolution -Weltgeschichte Historische Strukturprinzipien der abendländischen Völkerrechtsordnung. Ihre Bedeutung für die Neuordnung Europas

Nationalstaat -Weltrevolution -Weltgeschichte

WERNER CONZE

Referat auf der Jahrestagung der WIPOG (Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947) am 29. Januar in der Paulskirche zu Frankfurt.

Im Jahre 1828 lernte der junge Leopold Ranke in Wien den serbischen Patrioten, Schöpfer der Schriftsprache und Sammler der Lieder seines Volkes, Vuk Stefanovic Karadzic, kennen. Er erhielt dadurch Kenntnis vom Freiheitskampf der Serben gegen die Türken und ließ sich durch diese ihm fremde Welt und das darin enthaltene historische Problem so stark anrühren, daß er seine „Cesdtidtte der serbisdren Revolution“ schrieb. Ranke sah die Unabhängigkeitsbewegung der Serben als „Emanzipation“, „Revolution" oder „Umwälzung“ und erfaßte damit an einem damals aktuellen Beispiel den Teil eines großen Vorgangs, der weit über Serbien hinausging und den wir heute als den Gang der modernen Revolution über die Erde in ihrer typischen Verbindung von nationaler und sozialer Bewegung erkennen. Was Ranke damals bei den Serben entdeckte, trifft genau unser Thema, dessen Gegenstand die Situation der Gegenwart unter dem Druck der revolutionären Umwälzungen der modernen Welt ist. Ranke bezog allerdings den Emanzipationsprozeß, zu dem die Nationalstaatsbildungen der Balkanvölker gehörten, noch fast allein auf Europa. Er fügte die Bewegung auf dem Balkan weniger in die große weltrevolutionäre Welle ein, als vielmehr in sein Geschichtsbild der Einheit und Überlegenheit des Abendlandes mit seinen atlantischen und osteuropäischen Ausstrahlungen — Rußland gehörte seit Peter dem Großen dazu — im Gegensatz zur außerchristlichen Welt, die das christliche Europa von asiatischen Steppenvölkern und vom Islam her, in der neueren Zeit besonders durch das Osmanische Reich, bedroht hatte. Trug die Emanzipation der christlichen Balkanvölker zur Festigung der Vormacht-und Vorrang-stellung Europas auf der Erde und zur endgültigen Entkräftung der Türkei als einer einstmals gefährlichen Großmacht bei, so war Ranke bereit, den politisch-sozialen Explosionsstoff, der in jeder national-revolutionären Bewegung, nicht zuletzt auch der südslawischen lag, gering zu schätzen; denn er sah diese Bewegung noch nicht über Europa hinauswachsen, und er glaubte nicht, daß der Bestand der europäischen Hauptmächte durch diese Randerscheinung wirklich in Frage gestellt sein könnte. Er erblickte sie vielmehr im Zusammenhang einer Vollendung der Weltgeschichte in ihrem Gang vom alten Orient über das klassische Altertum zum christlichen Abendland mit seinen nach Westen und Osten reichenden Erweiterungen, sowie endlich in der europäischen Ausbreitung und Herrschaft über die ganze Erde. Wohl nirgends hat Ranke seiner Überzeugung einer derartig gefaßten „Weltgeschichte Europas“ (Hans Freyer) so eindringlich und so voller harmonisierender Zukunftserwartung Ausdruck gegeben wie im Jahre 1879 am Schluß seiner dritten Auflage des Buches über die serbische Revolution, dem er nun den abschwächenden Titel „Serbien und die Türkei im 19. Jahrhundert gegeben hatte. Dort heißt es: „Das Leben des menschlichen Geschlechts liegt heutzutage in den Völkern romanisdien und germanisdten Stammes und denen, die sich ihnen angesdhlossen, assimiliert haben, slawischen und selbst magyarischen Ursprungs. So mannigfaltig auch unsere inneren Entzweiungen, so verschieden und oft feindselig unsere Tendenzen sein mögen, so bilden wir doch der übrigen Welt gegenüber eine Einheit. Einst blühten auch andere Nationen und Völkersysteme: von anderen Prinzipien belebt, in Aufnahme, Fortgang und bemerkenswerter, in sidt bedeutender Ausbildung innerer Institutionen begriffen; jetzt gibt es deren so gut wie nicht mehr.“

Nachdem er den Verfall des Osmanischen Reiches festgestellt hatte, das nur deswegen noch bestehe, weil es die europäischen Mächte nicht zertrümmern wollten, fährt Ranke fort: „Das Osmanische Reich ist von dem christlichen Wesen übermannt und nach allen Richtungen durchdrungen. Sagen wir: das christliche Wesen, so verstehen wir darunter freilich nicht ausschließlich die Religion; auch mit den Worten Kultur, Zivilisation würde man es nur unvollkommen bezeichnen. Es ist der Genius des Okzidents. Es ist der Geist, der die Völker zu geordneten Armeen umschafft, der die Straßen zieht, die Kanäle gräbt, alle Meere mit Flotten bedeckt und in sein Eigentum verwandelt, die entfernten Kontinente mit Kolonien erfüllt, der die Tiefe der Natur mit exakter Forschung ergründet und alle Gebiete des Wissens eingenommen und sie mit immer frischer Arbeit erneuert, ohne darum die ewige Wahrheit aus den Augen zu verlieren, der unter den Menschen, trotz der Mannigfaltigkeit ihrer Leidenschaften, Ordnung und Gesetz handhabt. In ungeheuerem Fortschritt sehen wir diesen Geist begriffen.“ Amerika sei von ihm erfaßt worden, er durchdringe nun auch Afrika und Asien „und kaum China verschließt sich ihm noch.“ „Unaufhaltsam, vielgestaltig, unnahbar, mit Waffen und Wissenschaft unwiderstehlich ausgerüstet, b e m e i s t e r t er sich der Welt.“

Im panegyrischen Schwung dieser Sätze spüren wir noch heute die innere Erregung, in der der alte Ranke den weltgeschichtlichen Moment beschrieb. Es war das Gefühl des Geretteten, der auf die Not und Gefährdung nicht ohne Schauder zurückblickt und sich der neu gewonnenen Sicherheit als eines offenbar unantastbaren Besitzes für die Zukunft Er wußte genug dem bedrohten Dasein der Völker freut. von und Menschen in dem Auf und Ab der Machtkämpfe und der „barbarischen“ Einbrüche in die gesittete Welt im Lauf der bisherigen Geschichte, um sich nun mit Befriedigung einem neuen Lebensgefühl hinzugeben, das der europäischen Weltzivilisation entsprach, die mit ihren unübertrefflichen Waffen jede von außen kommende Beunruhigung des in sich ausbalancierten Systems der großen Mächte verhindern konnte und mit ihrer Wissenschaft die ganze Erde sowohl im technisch-wirtschaftlichen wie im moralischen Sinne zu zivilisieren im Begriffe war. Achtzig Jahre nachdem Ranke diese Sätze niederschrieb, muten sie uns erschreckend selbstsicher und vordergründig an, da in dieser Gegenwartsdarstellung die Prognose einer entdämonisierten, sicher gemachten, abendländisch beherrschten und beglückten Erde enthalten war — eine Prognose, die durch alles, was die aufgeschreckten, gequälten und desillusionierten Menschen aller Völker und Rassen seit dem Beginn unseres Jahrhunderts erlebt haben, widerlegt zu sein scheint. Im Jahre 1879 sprach allerdings viel für die Sicht Rankes, den wir als den Sprecher einer ganzen europäischen Generation jener Zeit annehmen können. Der deutsche und der italienische Nationalstaat waren geschaffen worden, getragen von nationalen Volksbewegungen, ermöglicht durch maßvoll begrenzte Kriege und vollendet durch die Kunst traditioneller Diplomatie. Unberechenbare Wildheit oder revolutionäre Maßlosigkeit, die vielfältig sich regten, waren nicht zur Wirkung gekommen. Die Italiener und noch weit mehr die Deutschen verzichteten auf die volle Erfüllung ihrer nationalen Wünsche, indem sie die Erhaltung des österreichischen Kaisertums, von nun an der Monarchie Österreich-Ungarn, hinnahmen und die italienischen wie die deutschen Österreicher außerhalb beider Nationalstaaten nach einer gewissermaßen vor-revolutionären oder altcuropäischen Weise in ihrer Vielvölkermonarchie wohnen ließen. Dieser Verzicht bedeutet den Willen zur Einordnung in das europäische Maß des Staatensystems, das durch die Ereignisse der Jahre 1859 bis 1871 zwar vorübergehend erschüttert, aber doch grundsätzlich erhalten geblieben war.

Dies europäische System, das durch die Lösung der 1815 unbefriedigend geregelten deutschen und italienischen Fragen neu beruhigt und gefestigt erschien, weitete sich in eben der gleichen Zeit, wie selbstverständlich, zum europäischen Weltstaatensystem über die Erde aus, wobei auch Deutschland und Italien sich am letzten Akt der Erdaufteilung noch gerade mitbeteiligen konnten. Die amerikanischen Staaten, das heißt, die hundert Jahre zuvor von Großbritannien und vor einem halben Jahrhundert von Spanien und Portugal abgefallenen ehemaligen Kolonien mit europäischen Sprachen und Kulturen, störten dies System nicht, konnten ihm vielmehr als ungefährliche Randgebiete zugerechnet werden. Asien und Afrika aber standen den europäischen Mächten im unmittelbaren Kolonialbesitz oder zur wirtschaftlich-politischen Durchdringung offenbar ungehindert zur Verfügung.

Ranke hat hier den weltgeschichtlichen Moment der siebziger bis neunziger Jahre festgehalten, in denen zum ersten Mal die sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert erst allmählich und dann beschleunigt vorbereitende Einheit der Erde in vollem Sinne vollendet hat.

Höhepunkt der Weltgeltung Europas

Alle außereuropäischen Kulturkreise waren durch europäische Menschen entweder vernichtet, wie in Amerika, oder aufgebrochen, beherrscht, überschichtet, sowie durch Handel und Mission zum wirtschaftlichen Austausch und zur geistigen Auseinandersetzung gezwungen, kurz: aus ihrem in sich selbst ruhenden Dasein herausgerissen, in Bewegung gebracht und dabei auf Europa bezogen worden; und zwar so, daß an keiner Stelle Asiens oder Afrikas geistige, wirtschaftliche oder machtpolitische Eigen-und Gegenkräfte mit Aussicht auf Erfolg von diesen anderen Völkern und Rassen — so schien es damals — gegen Europa eingesetzt werden konnten. Die Erde war zusammengewachsen, aufgeteilt, verlor die Trennungslinien ihrer Kulturkreise und wurde durch politische Grenzen oder Interessenphären der konkurrierenden europäischen Mächte, die nur Amerika bis zu einem gewissen Grade aussparten, vollständig durchzogen. Daraus folgte, daß es keine politische Expansion in „leere“, unbeherrschte Räume mehr geben konnte, oder anders ausgedrückt: daß die europäischen Weltmächte sich nun überall auf der Erde grundsätzlich ähnlich zu verhalten gezwungen sahen, wie sie sich früher nur in Europa selbst ihresgleichen gegenüber verhalten hatten. Das heißt, sie mußten sich allen Erdteilen mit ihren Mit-oder Gegenspielern systemgerecht ins Benehmen setzen und das europäische Völkerrecht dementsprechend erweitern. So großartig unter diesem Gesichtspunkt noch die Kongo-Akte von 18 85 gewesen ist, so bedenklich mußte die Geschichte der auf den ersten Weltkrieg zuführenden zwei bis drei Jahrzehnte des „Imperialismus“ erscheinen, in denen das auf die ganze Erde ausgedehnte Konzert der Mächte nicht weiter zusammengeordnet, sondern zunehmend zersetzt wurde, bis der Weltkrieg ausbrach, der vom deutschen Botschafter in Paris, als er von der französischen Hauptstadt Abschied nahm, mit dem Wort gedeutet wurde, daß dies der Selbstmord Europas sei.

So wird man in der Tat diesen großen Krieg, der das Maß euro-päischer Kriegführung der beiden vorhergehenden Jahrhunderte sprengte und die Furchtbarkeit der französischen Revolutionskriege weit überstieg, bezeichnen können. Doch, wie einem Selbstmord tiefe innere Erschütterungen vorhergehen, so befand sich Europa seit langem und just in der Zeit, als es den Höhepunkt seiner Weltgeltung und seines Selbstbewußtseins erreichte, in einem Prozeß der Krise und der inneren Spaltung, der zwar vor allem innereuropäisch zu verstehen ist, aber doch auch seit langem im Zusammenhang mit der europäischen Ausbreitung über die Erde gestanden hat. In Rankes Preis des Abendlandes ist nicht zu lesen, daß der „Genius des Okzidents“, ehe er seine unbestreitbar großartigen Zivilisationsleistungen vollbrachte, weithin den Völkern anderer Erdteile und anderer Rassen Blut und Tränen gebracht hat, daß er sie als Sklavenware, deren Leben wenig wert war, unter furchtbaren Bedingungen ausgebeutet hat, daß er die menschenverheerende Waffe des Rauschgifts um seiner Herrschaft und seines Profits willen eingesetzt hat, daß er außerhalb der Linie europäischer Gesittung lange Zeit allein das Recht des Stärkeren hat gelten lassen. Daß dies alles im siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert geschehen konnte, als in den europäisch-amerikanischen Ländern Toleranz und Humanität nicht nur gefordert, sondern zunehmend auch praktisch geübt wurden, das bezeichnet einen inneren Bruch im Bewußtsein der weißen Rasse, der bis heute noch nicht voll ausgeheilt ist und in Resten noch jetzt dort rücksichtslos ausgehalten wird, wo das alte und überfällige Überlegenheitsbewußtsein einer höheren Rasse noch in der Praxis realisiert wird.

Grausamkeit der Herrschaftsgewinnung und Brutalität in der Herrschaftsausübung über Unterworfene hat es zu allen Zeiten der Geschichte gegeben; ja, es war im Inhalt und Begriff der Geschichte offenbar notwendig enthalten. Überall, wo dies im Namen der Stammesoder Volksgötter oder gar im Namen eines übervölkischen Gottes geschah, da pflegte alle Unmenschlichkeit gerechtfertigt zu werden; sie konnte allenfalls bestimmten Regeln und Vorschriften unterworfen sein, falls Religion und politisches Gesetz solches vorschrieben; stets war damit aber das gute Gewissen des sich im Recht fühlenden Stärkeren oder Herrschenden verbunden. Auch im christlichen Abendland hat es dies gute Gewissen des Stärkeren, selbst der christlichen Kirchen im Verhältnis zu den Ketzern, gegeben. Aber die Würde der Person in der Gotteskindschaft war in der Botschaft des Neuen Testaments so deutlich beschlossen, daß davon trotz aller Einschränkungen und Umgehungen die stärksten Wirkungen zunächst innerhalb der Christenheit und sodann, wie es dem Neuen Testament entspricht, auch darüber hinaus ausgegangen sind. Einen gegliederten Gesellschaftsaufbau personaler Über-, Unter-und Nebenordnung in ständisch gebundener Stabilität hat es in Europa ein Jahrtausend lang mit Hilfe und Billigung der Kirche gegeben; doch Entwürdigung, Versklavung, Rechtlosigkeit von Menschen waren widerchristlich; und wo es dergleichen im christlichen Kulturkreis gab, da geschah es trotz der Kirche oder unter Mißbrauch der Kirche.

Die christliche Schärfung des Gewissens gegenüber dem Menschen, sofern er Person vor Gott und Bruder unter gleich würdigen und gleich verlorenen Menschen ist, blieb seit dem 17. und 18. Jahrhundert säkularisiert in Moralphilosophie und Humanitätsgesinnung erhalten. Doch wurde sie in Zusammenhang mit der Säkularisierung des christlichen Glaubens zum Gedanken der Revolution, daß heißt zum Versuch ge-steigert, die Erlösung des Menschen aus eigener Kraft in der Menschen-weit selbst durchzusetzen und daher die gebundene Sozialordnung aufzulösen, um den Menschen als schlechthin Freien und Gleichen einer neuen Gesellschaft von seinen bisherigen Bindungen zu emanzipieren. Die rein innerweltliche Geschichtlichkeit des Menschen wurde von denen, die — wie Hegel sagte — sich „auf den Gedanken stellten“ und „die Wirklichkeit nach diesem erbauten“, von nun an so ernst genommen, daß sie all ihr Denken und Handeln auf die Veränderung der politischen und materiellen Daseinsbedingungen richten und im Dienst an dieser sie absolut beherrschenden Aufgabe so aufgingen, daß sie alte theologische Kategorien wie Glaube, Erlösung, Glückseligkeit auf die dem Menschen scheinbar verfügbare, neue Weltgerechtigkeit übertrugen.

So brachte der „Genius des Okzidents“ die Revolution in die Welt, um mit ihr die Geschichte zu verändern, zu erfüllen und zu vollenden. Einen Teil dessen, was mit dieser Veränderung gemeint war, nämlich den zivilisatorischen Fortschritt und die zunehmende Sittigung des Menschengeschlechtes, war in den so gänzlich unrevolutionär gemeinten Sätzen Rankes aus dem Jahre 1879 ausgedrückt.

Die moderne Revolution hat aber im Zeichen der menschlichen Selbsterlösung bekanntlich auch ein sehr anderes Gesicht gehabt und hat es zum Teil noch heute. Es ist das Antlitz des Schreckens und des Grauens, das ein Ausdruck des Glaubens ist, die Vollendung und der Endzustand der Geschichte könnte und müßte durch „einen Terrorismus der wahren Theorie“ (Bruno Bauer) herbeigeführt werden. Wie früher im Namen des allein wahren Glaubens im Kampf gegen Ungläubige und Ketzer, so wurden nun im Namen der Revolution unsägliche Greuel, ja Frevel verübt, die von der Pariser Schreckensherrschaft der Jahre 1793/94 bis zu den Millionen-Menschenmorden zugunsten der jeweils allein wahren Ideologie in unserer Gegenwart reichen. Welch Kontrast zu dem Gefühl spannungsarmer Entlastung, wie es uns in Rankes Sätzen entgegentrat.

Allerdings ist dies grausame Bild zu einseitig, um allein für das Ganze der Revolution stehen zu können. In der modernen Weltrevolution, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, ausgehend von Amerika und Frankreich, sowie im technisch-industriellen Sinn von England, schrittweise die ganze Erde in gemäßigtem Übergang oder im dialektisch begriffenen Umbruch erfaßt hat, ist nicht nur die Anweisung enthalten, daß um einer glückseligen Endzeit willen in der Gegenwart unmenschlich gehandelt werden müsse. Vielmehr wurde auch gefordert, daß der von Natur gleich geborene, aus alter Untertänigkeit befreite Mensch in eine politische Verfassung gebracht werden müsse, in der schon gegenwärtig und nicht erst am Ende der Geschichte die revolutionär formulierten Menschen-und Bürgerrechte sein sollten. In der politischen Praxis waren und sind bis heute diese beiden Weisen der modernen Revolution, die kompromißbereit auf realisierbare Nahziele gerichtete und die utopisch aufs Ganze gehende, ihre Feinde ausrottende und ihre eigenen Kinder fressende, nicht immer bewußt geschieden gewesen, ja oft ineinander übergegangen.

Dies aber ist in jedem Fall die Folge gewesen: überall, wo der Grundgedanke der modernen Revolution durchdrang, daß es keine persönliche Herrschaft von Menschen über Menschen mehr geben dürfe, sondern eine sachgerechte und menschenwürdige neue Ordnung, eine Gesellschaft neu begriffener Freiheit und Gleichheit errungen werden müsse, da geriet die Sozialordnung ins Wanken und eine auf alle Lebensgebiete übergreifende Emanzipation der Menschen führte zu Gärung und fortgesetzter Bewegung in allen Bereichen des individuellen und gesellschaftlichen Lebens. Die politische und soziale Demokratisierung der Völker setzte mit unwiderstehlicher Gewalt ein. All das war und ist bis heute, da der Gärungsprozeß noch nicht zu Ende verlaufen ist, die Ursache ständiger Unruhe und Unsicherheit in den inneren Verhältnissen der Staaten, wirkt notwendig auf die längst nicht mehr isolierbare Außenpolitik und nicht zuletzt auf die Kriegführung ein, und zwar so, daß letztlich der Krieg revolutionär und die Revolution kriegerisch geworden oder anstelle der abgegrenzten Staatenkriege Bürgerkriege getreten sind, die die Staatengrenzen unterwandern, ja, daß schließlich ein Spannungszustand der Weltpolitik als kalter Krieg und dieser kalte Krieg gemäß der immer einheitlicher zusammenwachsenden Welt — als Weltbürgerkrieg bezeichnet werden konnte.

Das Ende aller Sicherheit

Erwägen wir all dies in seinem großen Zusammenhang, dann erkennen wir. wie weit wir uns von Rankes Zukunftsbild entfernt haben und wie viel näher wir uns manchen sorgenvollen Prognosen Jacob Burckhardts fühlen, so etwa seinem in unseren Tagen nicht zufällig öfters zitierten Satz in einem Brief aus dem Jahre 1878: „Seitdem die Politik auf innere Gärungen der Völker gegründet ist, hat alle Sicherheit ein Ende.“

Mit dieser Erkenntnis wurde schon damals dem abendländischen Zivilisationsoptimismus der Boden entzogen. Die großen Mächte selbst standen alle unter dem Druck innerer Gärung, mochte es sich um die soziale Frage handeln, die durch die immer wirksamer organisierte Arbeiterschaft gestellt war, mochte es der Einfluß bürgerlicher Verbände sein, die das Bekenntnis zur Weltgeltung der Nation propagierten, um sich für die Steigerung der nationalen Machtmittel einzusetzen, mochte es im Kampf um Sprache und Boden mit dem Ziel der Assimilierung oder Verdrängung fremden Volkstums erkennbar sein oder mochte die Unruhe vom Bauerntum ausgehen, das in fast ganz Europa in die Krise ländlicher Überbevölkerung hineintrieb. All das hat auf die Vorgeschichte und den Verlauf des ersten Weltkrieges vielfältig eingewirkt, hat in diesem Krieg die Härte des Kampfes der „Völker in Waffen“ sowohl gesteigert wie gefährdet, hat innere Krisen verursacht und nicht zuletzt zur Revolution in Rußland geführt.

So hatte es wesentlich jeweils innere Gründe, die von den verfassungsrechtlich inkompetenten, aber sehr wirksam sich organisierenden gesellschaftlichen Kräften herrührten, daß die großen Mächte vor 1914 nicht zum Konzert der europäischen Weltstaaten sich zusammenfanden, sondern durch soziale Unruhe geschwächt und gleichzeitig durch ihre Nationalismen mit widerstreitenden Ausschließlichkeitsansprüchen zur militärischen Kraftprobe wider besseren Willen gegeneinander gehetzt wurden. So kam es, daß Rußland aus dem System der europäischen Welt-staaten ausschied, weil es zuerst schon 1905, dann endgültig 1917 von außen besiegt und von innen revolutionär lahmgelegt wurde, von 1917 an aber seinen Neuaufstieg ausdrücklich im Kampf gegen das bisherige Staatensystem, also in Außenstellung begann. Wenn Ranke 1879 gesagt hatte: „Einst blühten auch andere Nationen und Völker-systeme, von anderen Prinzipien belebt . . . jetzt gibt es deren so gut wie nicht mehr“, so stimmt dies von nun an nicht mehr. Lenin hatte Rußland herausgestellt und erhob mit seiner Revolution den Anspruch einer erdumspannenden Umwälzung der bestehenden Verhältnisse, durch die Rankes „Genius des Okzidents“, aus dem selbst die geistigen Grundlagen der russischen Revolution entwickelt worden waren, überwältigt werden sollte. Lenins Weltrevolution aber war, weltgeschichtlich gesehen, nur ein Teil und eine besondere Spielart der größeren und allgemeineren Weltrevolution, die die Nationen des „Westens“ damals bereits weitgehend in sich verarbeitet hatten.

Aber damit nicht genug: Auch China war in die Wirren der Revolution und der Bürgerkriege übergegangen. Es war ungewiß, wie das Ergebnis dieser großen Umwälzung sein würde. Die Vorkriegspolitik und Aufteilung Chinas in wirtschaftliche Interessensphären durch die großen Mächte war offenbar vergangen, und es zeichnete sich bereits die Möglichkeit ab, daß die chinesische Revolution sich mit der russischen verbinden konnte. Jedenfalls war auch hier eine neue außer-europäische Potenz ungeheurer Größenordnung in Bewegung geraten. Klarer noch war der Aufstieg Japans zu erkennen, das seine Expansion mit militä-rischer Gewalt erfolgreich begonnen hatte und in sich die Kräfte barg, die auf diesem Weg ins Maßlose fortzuschreiten bereit waren.

Darüber hinaus förderte der erste Weltkrieg auch die ohnehin notwendig kommende Emanzipation grundsätzlich aller kolonial beherrschten Völker der Erde. Wurde am Ende dieses Krieges das Selbstbestimmungsrecht der Völker proklamiert, so lag darin, teils ungewollt, teils beabsichtigt, die Tendenz zum Ende der Herrschaft des weißen Mannes in allen Teilen der Erde.

Während solcherart sich drei außer-europäische oder gar gegen-europäische Großmächte zu bilden begannen und die Emanzipationsbewegung mehr und mehr sich auch in den Kolonialgebieten zu regen anfing, wurde das alte europäische System in sich selbst, abgesehen vom Austritt Rußlands, weiter zersetzt. Österreich-Ungarn war aufgelöst und in eine Reihe kleiner Staaten mit labiler Verfassung und beunruhigenden Nationalitätenproblemen gestellt worden, während den übrig bleibenden Deutschen in Österreich als den Besiegten des Krieges ihr einhelliger Wunsch verwehrt wurde, sich ihrerseits auch ihrem Nationalstaat anzuschließen. Dieses Deutsche Reich aber war entmachtet, einem materiell drückenden, das Nationalbewußtsein verletzenden Friedensvertrag unterworfen und vorerst aus dem Kreis der das Völkerrecht neu bestimmenden Mächte ausgeschlossen.

So war das europäische System reduziert auf nur noch zwei der alten Großmächte, auf Frankreich und — mit gewisser Reserve — auf Großbritannien. Die Vereinigten Staaten aber, die den Ausgang des Krieges entschieden hatten, und denen vorübergehend die Rolle eines Welt-schiedsrichters und Schöpfers einer Weltfriedensordnung zuzufallen schien, traten selbst von der Institution zurück, die 1 das alte Konzert der Mächte mit einem neuen, auf Sicherheit bedachten Völkerrecht weltpolitisch erweitert fortführen sollte: von der Genfer Liga der Nationen. „Innere Gärung“ im Sinne Jakob Burckhardts, das hieß in diesem Falle der Umschwung großer Wählermassen in Amerika von der Weltpolitik zum Isolationismus, hatte diese Entscheidung herbeigeführt. Die „Stunde Amerikas“ war verpaßt worden, weil die Mehrheit der Amerikaner ihrer eigenen Weltmacht die Rolle nicht zubilligen wollte, in die die Vereinigten Staaten wie absichtslos hineingewachsen waren. Kaum ein anderer hat damals dem Programm der demokratisch verfaßten, nach dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen geordneten, untrennbar zusammengehörenden Welt so emphatisch und vertrauensvoll Ausdruck gegeben wie der Präsident der Vereinigten Staaten, Wilson. Wie schwer war der Rückschlag der nicht nur in Amerika ihm widerstrebenden Kräfte! Die Welt war noch sichtbarer als im ausgehenden 19. Jahrhundert in einen großen Wirkungszusammenhang geraten, in dem alles auf alles bezogen war. Und trotzdem war sie politisch weit stärker zerrissen als vor 1914.

In dieser Lage waren die europäischen Nationen, deren öffentliches Bewußtsein sich nur unvollkommen auf die Wandlung der Welt einstellte, durch europäische oder gar rein nationale Blickverengung vielfältig gehemmt. Das verkleinerte und zu föderativem Zusammenschluß unfähige Europa zerfiel in viele, meist kleine Nationalstaaten, die entweder — so im Westen — saturiert waren und Sicherung des Bestehenden wünschten, oder — wie in der Mitte und in Ostmitteleuropa — teils unbefriedigt, teils beunruhigt waren und ihre aus dem 19. Jahrhundert stammende national-und sozialrevolutionäre Gärung nicht bändigen Daraus folgten konnten. nicht nur Grenzkonflikte und Irredenta-An-Sprüche, sondern auch innere Krisen und schließlich das Scheitern ihrer demokratischen Verfassungen.

Eines der extremsten und in seinen letzten Auswirkungen furchtbarsten Beispiele hierfür war Deutschland, worauf besonders hinzuweisen in unserm Zusammenhang für uns Deutsche unerläßlich ist. Die deutsche Nation war eine der vielen Nationen, die mit dem Status quo von 1919 nicht zufrieden sein konnten und Veränderungen der Machtverteilung und neue Grenzregelungen anstrebten. Dem entsprach die maßvolle Revisionspolitik der Regierungen des Reichs seit 1919. Doch die anfängliche Erfolglosigkeit und die Geringfügigkeit der Erfolge dieser Revisionspolitik zwischen 1925 und 1932 stand im Mißverhältnis zur Unruhe großer Teile des deutschen Volkes. So geschah es, daß unter den Bedingungen der nicht begriffenen Niederlage, des verletzenden Friedensvertrages, der Inflation und zuletzt der großen Wirtschaftskrise das Fieber der seit 1813 auf und ab gegangenen deutschen Nationalrevolution so stark wie noch nie zuvor ausbrach. Schließlich waren im Jahre 1932 mehr als zwei Drittel der Wähler im Reich so weit gekommen, daß sie allein von Hitler noch das große Wunder erwarteten, das ihnen persönlich Arbeit, Brot und neuen Wohlstand, Deutschland aber den Wiederaufstieg bringen sollte. Hitler bemächtigte sich, nachdem ihm der Weg zum Kanzleramt ohne Notwendigkeit geebnet worden war, durch Terror und wirksame Propaganda auch der ihm widerstrebenden Mehrheit der Deutschen, um an ihnen sein Wort aus dem Jahre 1920 zu erproben: „Nationen sind erst dann zu großem Aufstieg fähig, wenn sie innere Reformen durdigemacltt haben, die es ermöglichen, die ganze Rasse auf außenpolitische Ziele anzusetzen.“

Diese außenpolitische Ziele suchte er nun auf eine anachronistische, im Anfang allerdings durch den Erfolg scheinbar bestätigte Weise, zu erzwingen. Als junger Mann hatte er sie in seinem Buch „Mein Kampf“ deutlich genug, wenn auch so verstiegen ausgesprochen, daß sie von seinen Zeitgenossen, Gegnern wie Anhängern, meist kaum in ihrer vollen Bedeutung zur Kenntnis genommen wurden. Doch sind sie mit einer grausigen Konsequenz, die wohl nur von wenigen vorher für möglich gehalten worden ist, von 1933 bis 1945 durchgeführt oder als Planung ausgesprochen worden. Sie schienen anfangs, gerecht und moralisch unanfechtbar, nichts anderes zu sein als die Verwirklichung des den Deutschen 1919 versagten Selbstbestimmungsrechtes durch die Schaffung eines großdeutschen Nationalstaates auf dem geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet für alle Deutschen, die den Zusammenschluß wünschten. Doch schnell ging Hitler darüber hinaus durch zwangsweise Unterwerfung von Nachbarvölkern in das „Germanische Reich deutscher Nation“, um vom starken Kern der europäischen Mitte aus mit der Eroberung weiten „Lebensraums“ in Osteuropa zu beginnen. Denn den Deutschen stand nach seiner Meinung ebenso eine, wenn auch kontinentale, Kolonialherrschaft über Völker angeblich minderen Wertes zu wie den von ihm bewunderten Engländern in überseeischen Gebieten. Als Folge dessen mußte nach Hitlers Willen bodenbeständige Bevölkerung an vielen Stellen Mittel-und Osteuropas durch Aus-und Umsiedlung, Assimilierung und Ausrottung zurechtgeknetet und durch Verweigerung qualifizierter Schulbildung auf einem so tiefen Niveau gehalten werden, daß die Durchdringung des weiten Raumes durch das zur Herrschaft berufene Volk „höherer Rasse“ gewährleistet sein sollte.

Soweit war das alles nur der sittlich und technisch maßlose Versuch, jahrhundertealte Festlegungen der Geschichte durch einen überspannten Willensakt zu verändern, um auf dem Boden eng neben-und durcheinander siedelnder Völker die Herrschaft eines einzigen, die anderen überschichtenden Volkes mit Gewalt zu erzwingen und auf Mittel zur dauernden Festigung dieser Herrschaft zu sinnen. Doch war dies alles noch nicht der eigentliche Zweck, sondern war vielmehr Hitlers Wahn-idee untergeordnet, die für ihn die Schlüssel zur Weltgeschichte und der Antrieb seines perversen Sendungsbewußtseins war: Nämlich des Antisemitismus mit dem Gebot des Entscheidungskampfes gegen das soge-nannte, angeblich der Freiheit der Menschheit bedrohende „Weltjudentum“. Die Ausbreitung der deutschen Macht sollte der Beginn für den kommenden Endkampf zwischen „Ariern“ und „Juden“ auf der Erde sein. Das war Hitlers Weg vom durch Nationalstaat Weltrevolution als Rassenkampf zur weltgeschichtlichen End-Zeit. „Endlösung“ hieß daher für ihn die der Absicht nach vollständige Ausrottung der Juden auf der ganzen Erde. So weit Hitlers Macht reichte und die Zeit noch zur Verfügung stand, ist diese „Endlösung“ tatsächlich durch teuflisch ausgeklügelte Methoden zustande gebracht worden. Über fünf Millionen Opfer, deren Massenmord in technischen Schnellverfahren nur deswegen befohlen wurde, weil sie dem jüdischen Volk angehörten oder von ihm abstammten, waren Hitlers größter Erfolg — zu einer Zeit, als der Krieg für Deutschland, das in seinem Fieber zum Instrument Hitlers geworden war, schon verloren war. Indem dieser Krieg bis zum bitteren Ende durchgekämpft wurde, trat das von Hitler nicht gewollte, nun aber in einem letzten krankhaften Trotz von ihm selbst im Sinne des „Alles oder Nichts“ herbeigeführte Ergebnis ein: Deutschland ein Trümmerhaufen, total entmachtet, ohne eigene Regierung, aufgeteilt in Besatzungszonen, aus denen die bis heute festgehaltene Teilung entstand: Deutschland ohne politischen Gesamtwillen, ausgeschaltet aus der Politik der Weltmächte, verkleinert, übervölkert von obdachlosen Flüchtlingen und Vertriebenen, bedroht vom Hungertod, dem durch die brüderliche, christliche Hiife von Menschen aus aller Welt, vor allem aus Amerika, gesteuert wurde; die Deutschen in neue Gefahren der Demoralisierung geworfen, nachdem sie gerade der nationalsozialistischen Demoralisierung entgangen waren, ernüchtert, aufgeschreckt, mißtrauisch, der Illusion ledig, nicht nur des Nationalsozialismus, sondern aller politischen Ideologien oder Heilslehren gründlich überdrüssig, gejagt vom Zwang des jeweils individuellen Durchkommens, politisch weitgehend entkrampft und doch vielfältig gepeinigt durch die Last der hinter ihnen liegenden Zeit, zudem nicht mit sich selbst in Ruhe gelassen, sondern in den „kalten Krieg“ und damit in die politische Teilung hinesngerissen. Vieles hat sich von 1945 bis heute, so scheint es, normalisiert, vieles auch geklärt; viel spricht dafür, daß die Deutschen beiderseits der Zwangsgrenze sich vom Fieber revolutionärer Ideologiegläubigkeit, welcher Richtung auch immer, abgewandt und die Krise ihrer revolutionären Erschütterung hinter sich gelassen haben. Doch der Drude einer weltpolitischen Über-spannung, der sich für die Deutschen in der dem Selbstbestimmungs-recht widersprechenden Trennung ausdrückt, lastet ebenso sehr auf dem Volk wie das Erbe der jüngsten Vergangenheit und der Verlust eines klaren Geschichtsbildes der eigenen Nation, das nur durch selbstkritische Klarheit, nicht aber durch gewollte Mythen-Bildung allmählich neu entstehen kann und im Entstehen begriffen ist. Entscheidend für das Gewinnen eines solchen Bildes seiner selbst ist für das deutsche Volk sowohl die schonungslose Erkenntnis der deutschen Rolle in der Welt zur Zeit der Maßlosigkeit und des Frevels, als auch der Wille, daraus sittlich und politisch die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Darauf kann und muß die rechte Selbsteinschätzung unseres Gewichts und unserer Aufgabe als gereifte Nation in der Weltsituation unserer Gegenwart aufbauen.

Entsprach Hitlers Politik dem Willen des Volkes?

Wenn wir länger, als es das Thema zu erlauben scheint, bei unserer deutschen Rolle im Zeitalter der unteilbar gewordenen und doch zerrissenen Welt verweilt haben, so war das als Beispiel dafür gemeint, welche Gefahren der Sprengung jeden Maßes aus unbefriedigter Nationalbewegung in Verbindung mit weltpolitisch verstandener Wahnideologie noch und gerade in unserem Zeitatler der politisch zusammenwachsenden Welt haben entstehen können. Wenn von der deutschen Nationalrevolution und damit vom Anteil des deutschen Volkes an der Politik Hitlers gesprochen wurde, muß allerdings einem Mißverständnis begegnet werden. Hitlers Politik hat nur oberflächlich für kurze Zeit dem von ihm scheinbar zusammengezwungenen Gesamtwillen des deut-shen Volkes entsprochen. Das außenpolitische Ziel der großen Mehrheit der Deutschen nach 1919 und auch nach 193 3 ist nicht mehr gewesen als die Wiederherstellung eines geachteten und mächtigen deutschen Reiches, das durch eine gewisse Revision der Ostgrenze und womöglich durch den Anschluß Deutschösterreichs erweitert, jedoch nicht über andere Völker hinaus oder gar durch Waffengewalt ausgedehnt werden sollte. Von dieser communis opinio, die auch der Politik aller Regierungen der Weimarer Republik zugrundelag, waren Hitlers Absichten, wie wir sahen, prinzipiell unterschieden. Seine Ziele wurden im Volk aber nur soweit bejaht, als sie sich den gewohnten Vorstellungen einfügten. Indem er den Kampf gegen Versailles lange Zeit allein in den Vordergrund seiner Propaganda stellte, entsprach er einer volkstümlichen Stimmung; indem er aber schon vor dem Kriegsausbruch darüber hinausging, erschreckte er das einem Eroberungskrieg abholde deutsche Volk, das die Leiden und den Verlust des so optimistisch begonnenen ersten Krieges doch nicht vergessen hatte und das, wenn auch meist unklar, die Isolierung und Gefährdung einer gewaltsam expandierenden deutschen Macht in der Welt ahnte.

Doch war auf der anderen Seite das vor 1914 so eindrucksvoll erlebte Kraftgefühl der aufsteigenden Linie, das im ersten Krieg zum Spruch: „Viel Feind, viel Ehr“ gesteigert worden war, noch so lebendig, daß viele, selbst solche, die vor 1933 sich vom Nationalsozialismus ferngehalten hatten, sich mit Hitler in der rational nicht begründbaren Überzeugung trafen, daß der Wiederaufstieg des deutschen Reiches mehr oder weniger aus eigener Kraft erfolgen könne. Aus nationaler Selbstbespiegelung folgte die Neigung zur Selbstüberschätzung zwischen dem allmählich enger werdenden atlantisch-europäischen System der Sieger des Weltkrieges und der nach den Greueln ihrer Revolution sich festigenden Sowjetunion. Nicht Stresemanns Außenpolitik, die auf die gewandelte Gewichtsverteilung abgestimmt war, sondern Hitlers robuste Methoden der Selbsthilfe unter nicht allzu ernst genommenem Kriegsrisiko bei Geringschätzung der LImwelt gewannen Popularität, umso mehr, als der Erfolg dafür zu sprechen schien und Hitlers wiederholte Versprechen, daß er Maß halten wollte, geglaubt wurden.

Diese Erfolge bestätigen scheinbar seine These von der Dekadenz und Handlungsunfähigkeit der „westlichen Demokratien“ einschließlich der kaum ernsthaft in den Blick einbezogenen Vereinigten Staaten, woraus sich wiederum ergab, daß die militärisch noch zurückgebliebene Sowjetunion als Gegner nicht gefürchtet zu werden brauchte. Selbst als der von Hitler nicht erwartete Zweifrontenkrieg Wirklichkeit geworden war, schienen alle Besorgten Lügen gestraft zu werden; denn die deutschen Truppen eroberten in einer Kette von erfolgreichen Blitz-feldzügen weite Teile Europas, und viele Deutsche gewöhnten sich unmerklich daran, daß ihnen eine Herrschaftsstellung in Europa und damit offenbar eine neue Weltmachtsposition zugefallen war, die als eine Fortsetzung der 1918 unterbrochenen aufsteigenden Linie erschien. Zwar wurden die Sorgen der Kritiker nicht zerstreut, besonders als schon im Winter 1939/40 durchsickerte, wie Hitler mit unterworfenen Völkern, damals den Polen, umzugehen sich anschickte. Aber im Ganzen wurden solche Anzeichen doch nur wenig zur Kenntnis genommen, und die Politik nationaler Selbstüberschätzung schien durch den Erfolg gerechtfertigt. Daß das Schwergewicht der Weltbestimmung nicht mehr in Europa lag, wurde übersehen. Ähnlich wie bei Japan schien der Weg vom souveränen Nationalstaat zur Weltmacht ersten Ranges durch eine konzentrierte nationale Kraft-und Willensanstrengung gewaltsam und unter Nichtachtung des Völkerrechts geglückt zu sein. 1943/45 brachen alle diese Illusionen vollständig zusammen. Durch die deutsche und die japanische Katastrophe war plötzlich aller Welt deutlich geworden, daß von nun an nur noch die beiden Weltmächte der großen Räume, jeweils verstärkt durch ihre Verbündeten, in der Lage waren, technisch hochgerüstet einander gegenüberzustehen, daß also kein Nationalstaat mehr aus eigener Kraft eine auf seine militärische Stärke gegründete Eigenmachtspolitik zu treiben in der Lage ist. Dem entspricht auf wirtschaftlichem Gebiet die Tatsache, daß kein Nationalstaat mehr eine Nationalwirtschaft im Sinne einer auch nur annähernden Autarkie treiben kann, sondern immer mehr der zunehmenden Interdependenz übergreifender Zusammenhänge unterw. orfen ist. Damit sind auch die letzten Reste des alten, von Europa ausgehenden Staaten-systems auf der Erde beseitigt, und an seine Stelle ist, wenn wir von der Militärmacht her urteilen, eine bizentrische Weltpolitik getreten. Die eine der beiden Weltmächte hat auf die Verlockung verzichtet, mit waffentechnischer Überlegenheit ihre Weltherrschaft zu erzvzingen, als sie den entscheidenden Vorsprung noch besaß. Die andere Weltmacht ist heute damit beschäftigt, durc höchste Konzentration und Anspannung ihrer Kräfte den entscheidenden Vorsprung zu erringen, um die Möglichkeit zu gewinnen, der ganzen Erde durch potentiell vernichten-de Waffengewalt ihren Herrschaftswillen aufzwingen. Doch da die ser Weg riskant, unsicher und bei einer wirklichen Kraftprobe tödlich für Millionen unschuldiger Menschen und selbstmörderisch für den Urheber selbst sein würde, wird er immer fragwürdiger, je weiter er beschritten wird. Der einzige plausible Gedanke, der nicht nur dieser Situation, sondern auch den Wünschen aller einfachen, nicht am Hebel der Macht, aber vor der Gefahr des Massensterbens stehenden Menschen dieser Erde entspricht, wäre die sofortige Vereinigung der beiden Rivalen zum weltpolitischen Kompromiß ohne Hintergedanken der Überlistung zum Wohle der gesamten Menschheit, um beiderseits vollständig auf den Rüstungswettlauf am Rande der Erdkatastrophe zu verzichten, sich dazu der Kontrolle durch internationale Kommissionen zu unterwerfen und ihre Macht gemeinsam dazu zu verwenden, eine Gesamtverfassung der Erde zu schaffen, die in der UNO heute schon wenigstens der Idee nach und im Ansatz vorhanden ist. Der gesunde Menschenverstand des einfachen Weltbürgers würde ferner vermuten, daß eine solche Verbindung der beiden Großstaaten der Erde beider Interessen nicht schädigen, sondern ihnen beiden reichen Gewinn einbringen würde. Doch ist heute allgemein bekannt, daß wir von einem solchen Schritt offenbar trotz des Zwanges der weltgeschichtlichen Stunde noch entfernt sind. Der Grund dafür liegt vor allem darin, daß die eine der beiden Weltmächte heute mehr denn je an dem Gedanken festhält, allein die Weltherrschaft zu gewinnen, wenngleich dies in der Ideologiesprache nicht für die Sowjetunion als Staat, sondern für das sog. Lager des notwendig siegreichen Kommunismus behauptet wird. Chruschtschow betont dazu seit dem XX. Parteikongreß gern, daß dies auf friedlichem Wege möglich sei; es wird aber neuerdings wieder ausdrücklich dazu gesetzt, daß auch Waffengewalt nicht ausgeschlossen sei; denn auch diese sei gerechtfertigt, weil die Vormacht des allein „wahren“ und im Endstadium notwendig siegreichen Sozialismus nur „gerechte“ Kriege führen könne. Die Lehre von der friedlichen Koexistenz widerspricht dem nicht, sondern unterstreicht diese Auffassung, weil ihr der Satz vom zukünftigen Siege des Kommunismus auf der ganzen Erde innewohnt, und weil sie nur ein politisches Nebeneinander auf Zeit, nicht dagegen ideologische Koexistenz, das heißt Toleranz, meint. Solange dieses un-

verschleiert ausgesprochene Ziel, dem auf der anderen Seite keine entsprechende Unbedingtheitsideologie entgegensteht, nicht ausdrücklich aufgeben wird, kann von Amerika nichts anderes erwartet werden, als verstärkte und mehr als bisher konzentrierte Rüstung mit dem höchstmöglichen technischen Einsatz. Dies schließt Verhandlungen nicht aus, ja fordert ihre Dringlichkeit geradezu heraus, schränkt ihre realen Erfolgsaussichten aber erheblich ein. Es ist nicht eine Frage des Glaubens oder Unglaubens an die längst überforderte Ideologie, ob die sowjetrussische Führung an ihrer Koexistenzlehre festhält, sondern allein eine Frage der politischen Zweckmäßigkeit aus Einsicht in die allgemeine Weltlage. Im Augenblick spricht wenig dafür, daß ein Zwang zu solcher Einsicht bereits gegeben sei. Die politisdie Auswertung der neuesten Raketenschüsse in den Pazifischen Ozean deutet auf das Gegenteil hin.

Die gemeinsame Aufgabe unserer Zeit

Es ist freilich eine sehr zweifelhafte Frage, ob die Völker der Erde sich von einer derartigen Sprache der Gewalt angesprochen fühlen. Gewiß ist überlegene Waffengewalt zu allen Zeiten, so auch heute, in entscheidenden Momenten ausschlaggebend. Doch die alte, ausgerechnet von Napoleon ausgesprochene Binsenwahrheit, daß auf lange Sicht der Geist stärker sei als der Säbel, gilt sinngemäß auch im Atomzeitalter, es sei denn, Geist und Wille würden durch technische Mittel bei allen Unterworfenen so ausgeschaltet, daß die Menschen nur noch als willenlose Instrumente einer herrschenden Zentralregierung funktionierten. Doch seien solche finsteren Zukunftsvisionen, von denen manche geängstigten Menschen unserer Zeit gequält werden, ausgeschaltet bei der Betrachtung einer Weltmacht, die, heute ungefährdet, die Schrecken der Revolution hinter sich gelassen hat, deren Vertreter in Nürnberg, so fragwürdig dies auch war, über Verbrechen gegen die Menschlichkeit gerichtet haben und deren heutige Führer im Jahre 1956 die Frevel des toten Stalin an den Pranger gestellt, damit aber de facto eine kaum rückgängig zu machende Absage an den menschenverachtenden Terror erteilt hat. In dem gleichen Moment, in dem die russische Führung zum erstenmal in der Geschichte der Sowjetunion nicht mehr weit von der Möglichkeit technisch erzwingbarer Weltherrschaft zu stehen meint, dürfte das Bewußtsein der verantwortlich denkenden Russen dem Gedanken eines Terrorregimes über die ganze, bisher nicht kommunistisch regierte Erde im Sinne einer Anwendung der Lehre der Diktatur des Proletariats auf die sogenannten kapitalistischen Staaten faktisch fern-stehen, selbst wenn die entsprechende ideologische Hilfestellung gegeben werden sollte. Eine so radikal einfache Lösung ist zwar theoretisch denkbar, ist aber nach allen Erfahrungen der Geschichte nicht realisierbar.

Stattdessen werden die Russen sich mehr als bisher darauf einstellen müssen, daß die sogenannte westliche Welt weniger denn je anfällig für überholte Parolen sozialistischer Revolution ist, weil sie auf eigenem Wege das ehemalige Proletariat und damit die Klassenspaltung in immer weiter ausgebauten Wohlfahrtsstaaten überwunden und damit einen Weg gewiesen hat, den auch die Staaten des noch entgegengesetzten ideologischen Systems in Rußland an der Spitze einzuschlagen begonnen haben. Damit ist eine wesentliche Voraussetzung für eine fortschreitende tatsächliche Angleichung der Lebensbedingungen in beiden bisher sich ideologisch ausschließenden Systemen gegeben. Rußland nähert sich aufgrund der aufholenden, gleichförmig werdenden Zivilisationsbedingungen dem sogenannten Westen immer mehr an, wobei es naheliegt, die Teilwahrheit des Marx’schen und doch nicht den ganzen Marx wiedergebenden Satzes, daß das Bewußtsein der Menschen durch ihr Sein bestimmt werde, auf diesen Vorgang anzuwenden. Das aber ist eine Bewegung, die der Erstarrung des Kalten Krieges entgegengesetzt ist, und statt der Zweiteilung der Welt in die angeblich bis zum Endsieg der Kommunisten festgelegten Fronten von Sozialismus und Kapitalismus eine andere Zweiteilung nahelegt, nämlich die nach Ländern auskömmlicher Lebenshaltung der breiten Massen oder des Mangels und Hungers der breiten Massen. Diese Zweiteilung, die durch Zonen des Übergangs flüssige Grenzen hat, drängt nicht minder als der Kalte Krieg zu ihrer eigenen Aufhebung. Nur fordert sie den Kampf zu einem Endsieg heraus, der anders als der in der Theorie des historischen Materialismus gefordert von der ganzen Menschheit einhellig herbeigesehnt wird. Für viele war es ein verheißungsvolles Zeichen, für das zunehmende Erkennen dieser gemeinsamen Aufgabe unserer Zeit, daß der amerikanische Vizepräsident Nixon von Moskau aus durch den Rundfunk fordern konnte: „Unser Ziel soll nicht ein Sieg über andere Völker sein, sondern der Sieg der ganzen Mensdtheit über Hunger, Elend und Krankheiten, wo immer sie auf der Erde zu finden sind.“

Niemand auf der Erde wird diesem Satz eine entgegengesetzte Meinung mehr entgegensetzen wollen. Diese Worte heben alle ideologischen Trennungslinien und Stacheldrahtgrenzen auf. Er gilt auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs. Oder würde etwa noch ein kalter Ideologe der Revolution um der Revolution willen offen zu sagen wagen, daß das Elend erhalten werden müsse, damit aus den hungernden Menschen revolutionäre Armeen gegen die Mächte des sogenannten Kapitalismus formiert werden können? Jedermann weiß, daß eine derartige Auffassung überholt ist. Denn beide Führungsmächte der angeblich sich ausschließenden Lager der Welt arbeiten mit zunehmender Anspannung an der möglichst schnellen Überwindung des Elends. Mögen sie dies auch verständlicherweise z. T. noch in der Meinung tun, daß sie damit den in Europa zur Stellungsfront erstarrten Kalten Krieg andernorts in den aussichtsreicheren Bewegungskrieg überführen, um in Asien oder Afrika so oder so das Übergewicht zu erlangen, so stehen sie tatsächlich damit doch nur beide gemeinsam im Dienste der durch Nixons Satz ausgedrückten großen Aufgabe, um so mehr, als die Politiker der soge-nannten Entwicklungsländer zum großen Teil den Kalten Krieg so weit wie möglich zu ignorieren suchen und allein die wirtschaftliche Entwicklung und politische Stabilisierung ihrer Länder im Sinn haben.

Die reale Gefahr, daß die eine der beiden konkurrierenden Weltmächte ihre Wirtschaft, ebenso wie alles andere Potential, in den Dienst ihrer sogenannten Weltrevolution, d. h. ihrer Weltherrschaft stellt, soll damit keineswegs gering geschätzt werden. Von der Antwort auf solche Herausforderung zu sprechen, ist hier nicht der Ort.

In rechter Mitte zwischen Selbstvertrauen und Selbstbeschränkung

Dem geschichtlichen Beobachter drängt sich stattdessen der alte Gedanke von der List der Vernunft auf, die sich der in ihren eigenen Vorstellungen befangenen, klügelnden, planenden und kämpfenden Menschen bedient, ohne ihnen die wirkliche Verfügungsgewalt über d i e Geschichte zu überlassen. Die Bewegung der Länder außerhalb des Ranke'schen „Abendlandes“ erscheint heute als die Endphase der erdumspannenden im Grunde revolutionären Prozesse, die seit dem achtzehnten sichtbar im Gange sind. So wird durch die Wirtschaftsentwicklung dieser bisher noch unzulänglich modernisierten Gebiete nur das zu Ende geführt, was vor zweihundert. Jahren in England und Teilen Europas begann: nämlich die Freisetzung und Ermöglichung unternehmerisch planender Energien, so daß durch Rationalisierung, Intensivierung und Technifizierung die Produktivität in Landwirtschaft, Industrie-und Verkehrswirtschaft so gesteigert wird, daß die Menschen von der Geißel der Massenarmut befreit, in eine durch Technik entlastete Lebensweise übergehen können. Die Einsicht ist im Wachsen, daß dieser Zug zur „Klassenlosen Gesellschaft“ nicht durch blutige Umwälzungen, Purifizierungen und Massenliquidierungen erzwungen werden muß, sondern durch das, was heute „Entwicklung“ der „Entwicklungsländer“ genannt zu werden pflegt, erreicht werden kann. Es könnte heute schon bald an der Zeit sein, daß eine solche Feststellung nicht mehr anti-russisch ausgelegt werden muß.

Die wirtschaftliche und soziale Sicht des Problems ist mit dem nationalpolitischen eng verbunden. Auch hier steht die neueste Entwicklung, z. B. die der rasch fortschreitenden Verselbständigung Afrikas, in einer langen Kette von Ereignissen, die mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 begann, sich in den Befreiungskriegen Südamerikas fortsetzte, sodann in den jungen Nationalstaatsbildungen in Europa hervortrat und von da weiterschreitend Asien und Afrika erfaßte. Überall ging und geht es um die Bildung politischer Nationen, denen sehr alte, nicht immer einheitliche Traditionen zugrunde liegen und die sich nun in Nationalstaaten auf neue Weise formieren. Überall war und ist damit die soziale Emanzipation von alter Herrschaft sowohl der eigenen Stände-oder Stammesordnung wie fremder Herren, so besonders heute der europäischen Kolonialmächte, verbunden. Daraus ergibt sich, daß im revolutionären Prozeß der modernen Welt die Nation mit ihrem Nationalstaat als dem Ausdruck ihrer Selbstbestimmung und Selbstverantwortung offenbar zum durchgängig konstitutiven Prinzip einer politischen Ordnung der gesamten Erde geworden ist — jedoch so, daß die Zeit der aus souveräner Eigenmacht handelnden Nationalstaaten vorübergegangen und an ihre Stelle die Zeit der „vereinten Nationen" getreten ist.

Damit ist die Mannigfaltigkeit in der Einheit ausgedrückt, und überall regt sich nationale Eigenart, um instinktiv eine nivellierende Einheitszivilisation abzuwehren, so sehr diese auch infolge der überall mehr oder weniger gleichen technischen Produktionsbedingungen bis zu einem gewissen Grade notwendig gegeben ist. Tieferliegende Fragen, die sich aus der Begegnung des jeweils vorhandenen Traditionsbodens mit jener technischen Einzelzivilisation ergeben, bleiben offen und können heute noch nicht beantwortet werden. Der „Genius des Okzidents“ hat die Weltvereinheitlichung durch Ausbreitung und Sprengung Europas herbeigeführt, aber der abendländische Geist hat die Welt weder wirklich durchdrungen, noch etwa gerettet. Wie konnte er dies auch tun in einer Zeit, in der er selbst sich in seiner größten Krise befand, in eine Vielzahl möglicher, nicht mehr verpflichtender Positionen auseinandegetreten war und nicht zuletzt außereuropäische Denksysteme, Religionen und Kultureinflüsse vielfältig in sich ausgenommen hatte? So war auch das von Ranke dem Genius des Okzidents gleichgesetzte „christliche Wesen“, insofern es als abendländisch begriffen wurde, längst ehe Ranke dies niedergeschrieben hatte, brüchig und fragwürdig geworden.

Damit ist schwerste, an die unserem Thema innewohnende Frage gerührt, nämlich an die nach der Möglichkeit und nach der tätigen Bewährung des christlichen Glaubens in d e n Nationen, die seit einigen Jahrhunderten ihre christlichen Missionare in die außereuropäische Welt schicken. Wir können heute nicht mehr vom christlichen Wesen des Abendlandes, es sei denn in einem historischen Verstände, sprechen, da der christliche Glaube den meisten nur noch als eine von vielen möglichen Weltanschauungen erscheint und die Christen nur eine Minderheit in Europa darstellen. Schon Leibniz erschrak vor über 250 Jahren vor der Entbundenheit der das christliche Europa regierenden in Wirklichkeit nicht-christlichen Oberschicht; er sah den inneren Bruch des Abendlandes, der sich ihm im sittlichen Versagen der Verantwortlichen vor der res publica des gemeinen Nutzens kundtat, und stellte darob die Frage, ob es nicht notwendig sei, „dafl chinesische Missionare zu uns gesandt werden, welche uns den Zweck und die Übung der natürlichen Theologie lehren, wie wir Missionare zu ihnen schicken, um sie in der geoffenbarten Theologie zu unterrichten“. Leibniz sah die Überlegenheit des Abendlandes in wissenschaftlicher Rationalität und technischem Gestaltungswillen, die der Chinesen aber in der sittlichen Bindung des Menschen in Staat und Gesellschaft.

Wir Europäer sollten diese alte Bemerkung zum Anlaß nehmen, uns mehr denn zuvor nicht nur als Gebende, sondern als Empfangende in unserer modernen Welt zu fühlen. Jedermann spürt heute, daß die technische Zivilisation („Waffen und Wissenschaft“, wie Ranke sagte) der sittlichen Begeisterung bedarf, die nicht allein in unserer Macht liegt und die wohl nur dann gelingen kann, wenn wir nicht nur Gestaltende, sondern auch Vernehmende sind. Dazu aber bedarf es der Muße und eines Glaubens, der die Ideologien versetzt. Sofern es ein christlicher Glaube ist, der allen Völker-und Rassenhaß aufhebt, ist er nicht mehr an Europa gebunden. Es gibt vielmehr schon heute genug Anzeichen dafür, daß er aus anderen Erdteilen auf uns zurückwirkt. Es liegt darin einer der stärksten Hinweise dafür, daß die in Nationen geteilten Menschen heute mehr und mehr dabei sind, die bis vor kurzem noch, zumal in Deutschland, auseinandergetretenen Begriffe von Weltbürgertum und Nationalstaat als zwei zusammengehörende Weisen ihres politischen Lebens auf dieser Erde anzusehen. Auch wir Deutsche können, gereift durch bittere Erfahrungen, in rechter Mitte zwischen Selbstvertrauen und Selbstbeschränkung aus solcher Erkenntnis einen neuen Sinn und neue Bewährung in unserer nationalen Existenz finden. Es scheint das Ergebnis der modernen Weltrevolution seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zu sein, daß nationale Existenz nicht mehr allein die „eine und unteilbare Nation“ im Sinne der Französischen Revolution, sondern die Einfügung dieser Nation in die „eine und unzerreißbare Welt“ meint.

Fussnoten

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