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Die nachkoloniale Epoche. Politische Probleme in den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas | APuZ 6/1960 | bpb.de

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APuZ 6/1960 Die nachkoloniale Epoche. Politische Probleme in den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas

Die nachkoloniale Epoche. Politische Probleme in den Entwicklungsländern Asiens und Afrikas

ULRICH SCHEUNER

Das Schwinden der westlichen Vorherrschaft

Wie alle großen Veränderungen in der Geschichte vollzieht sich der Übergang der asiatischen und afrikanischen Völker aus dem Zeitalter der kolonialen Vormacht Europas zu eigenem politischen Bewußtsein und zur Gewinnung der Selbständigkeit als ein Vorgang von überraschender Schnelligkeit und außerordentlichem Ausmaß. In einer Welt, deren Aufmerksamkeit in hohem Maße durch die Auseinandersetzung der beiden großen in politisch-sozialem Gegensatz zueinander stehenden Machtblöcke der westlichen Länder und des Kommunismus gefesselt wird, und der dies erdumspannende Ringen als das wichtigste Element unserer Tage erscheinen kann, wird dennoch als das eigentlich entscheidende Geschehen der Gegenwart die Umformung weiter Gebiete Asiens und Afrikas durch die Entwicklung unabhängiger nationaler Gemeinschaften anerkannt werden müssen. Die Richtung, die diese Bereiche der Welt einmal innerhalb des großen Machtgegensatzes einschlagen werden und die Frage des künftigen sozialen und politischen Systems in diesen Ländern wird wahrscheinlich auch darüber bestimmen, welche Staatengruppe und welche Lebensform einmal die Vorhand in der Welt erringen wird. Auf beiden Seiten dieses Vorganges haben die Beteiligten Mühe, der raschen Entwicklung der Dinge zu folgen. Wendet sich der Westen vielfach erst langsam von überlieferten Vorstellungen und Einstellungen ab, so überwiegt in manchen der Staaten, die ihre Unabhängigkeit gewonnen haben, zunächst noch die emotionale Abwendung von der kolonialen Vergangenheit und ein in besonders lebhaften Formen sich äußernder Nationalismus. Inmitten dieser Welt raschen Wandels muß daher der Versuch unternommen werden, die Ereignisse auch geistig und politisch zu bewältigen, das Verhältnis des Westens zu den Entwicklungsländern grundlegend umzustellen und an den neuen Gegebenheiten zu orientieren. Deutschland, das in wachsendem Maße wirtschaftlich mit den neuen Staaten der beiden Erdteile in Verbindung tritt und Verantwortungen in finanziellen und technischen Fragen in diesen Gebieten übernimmt, sieht sich in besonderem Maße dieser Forderung des Umdenkens gegenüber, weil es längere Zeit hindurch mit der Entwicklung im afrikanisch-asiatischen Raum weniger unmittelbar verbunden war. Diese Untersuchung kann es nicht unternehmen, eine erschöpfende Übersicht der Erscheinungen und Fragen zu geben. Sie möchte nur versuchen, einige Hauptlinien zu zeichnen, die eine Neuorientierung auf diesem Felde vorbereiten helfen sollen.

Von der Gegenwart her kann leicht der Eindruck entstehen, als sei die Verselbständigung weiter Gebiete Asiens und Afrikas das Ergebnis der Machtverschiebungen, die seit dem Ende des zweiten Weltkrieges sich angebahnt haben. In Wirklichkeit reichen die Wurzeln des Geschehens viel weiter zurück. Sie sind auch nicht in den Räumen allein zu suchen, die heute zur Unabhängigkeit aufsteigen, sondern führen zugleich mit entfernteren Verstrebungen auf weitreichende Veränderungen der europäischen geistigen Haltung zurück.

Das koloniale Ausgreifen der europäischen Mächte ist niemals eine kontinuierliche und geschlossene Erscheinung gewesen. Es hat Richtung und Erscheinung im Laufe der Zeiten vielfach gewechselt. Auf die vom Missionsauftrag mitgetragene Eroberung der spanisch-portugiesischen Frühzeit, die infolge der in ihr lebendigen Anerkennung allgemeiner menschlicher Grundverhältnisse den Boden für eine kulturelle und religiöse Amalgamierung und damit am Ende für die Entstehung neuer von der Kultur der Einwanderer geprägter Nationen vorbereitete folgte die Epoche der von den nordeuropäischen Völkern getragenen Handelskolonien. Auf Handelsmonopole ausgerichtet, riefen sie doch auch teilweise, etwa in Indien, besondere Formen des Zusammenwirkens nationaler und fremder Elemente auf demselben Boden hervor Demgegenüber traten die Gebiete eigentlicher europäischer Wanderung und Siedlung (Nordamerika, Südafrika, Australien) eher zurück. In der Periode der Aufklärung rückt dann erstmals der Gedanke der Freiheit und Selbständigkeit der bisher an die europäische Führung gebundenen Gebiete ans Licht, unzweifelhaft ein Seitenzweig der gleichzeitig auch in Europa selbst vordringenden Strömungen politischer Selbstbestimmung und Freiheit. Die Lösung zuerst Nordamerikas, dann Mittel-und Südamerikas aus der europäischen Abhängigkeit bezeichnet das Ende des ersten Zeitalters europäischer Kolonisation und wird von einer in England etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts reichenden Skepsis am Wert kolonialer Unternehmen überhaupt gefolgt.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewinnt die koloniale Ausbreitung Europas, nun in der Gestalt territorialer Herrschaftsgründungen und einer Erschließung von Rohstoffen und Märkten, noch einmal in der Epoche des Imperialismus einen gewaltigen Antrieb. Erst in diese Zeit fällt die Durchdringung Afrikas südlich der Sahara. So übermächtig war der Ausdehnungsdrang dieser Jahrzehnte zwischen 1850 und 1914, daß er selbst in der Politik der Vereinigten Staaten von Amerika, die seit ihrem Entstehen eine Entwicklung der Völker zur Llnabhängigkeit, mindestens in der Neuen Welt, begünstigt hatten vorübergehend seinen Niederschlag fand Es ist die Auflösung dieses zweiten Zeitabschnittes europäischer Vorherrschaft, der wir heute anwohnen.

Gewissermaßen unabhängig von dieser ganzen Entwicklung und mehr im Stillen hat sich daneben eine andere Expansion von weltgeschichtlicher Tragweite vollzogen: Die Durchdringung Sibiriens, die Eroberung des Kaukasus, Turkestans und anderer Teile Asiens durch Rußland. Sie bietet mit ihren Wanderungsbewegungen und ihrer territorialen Geschlossenheit besondere Züge, ist aber, so wenig das heute weithin noch erkannt ist, ein paralleler Vorgang imperialer Expansion, der im Ergebnis weithin zur siedlungsmäßigen Einschmelzung der gewonnenen Gebiete geführt hat.

Audi die Ablösung der kolonialen Souveränität nach dem zweiten Weltkriege ist geistig und politisch, so wie einst die Beendigung der ersten Kolonialepoche am Ausgang des 18. Jahrhunderts, lange vorbereitet. Zu den ersten Anzeichen einer solchen Wandlung in unserem Jahrhundert kann der Sieg Japans über Rußland und seine Wirkung auf das Selbstbewußtsein der asiatischen Völker und der Beginn der Aufgliederung des osmanischen Reiches von 1911 ab zählen. Die Entwicklung im Nahen Osten rückte schon während des ersten Weltkrieges für die Länder des „fruchtbaren Halbmondes“ und Arabiens die Frage der Llnabhängigkeit in greifbare Nähe

Entscheidende geistige und politische Impulse für die moderne Unabhängigkeitsbewegung Asiens kamen aus der europäischen Auseinandersetzung, so wie sich heute der europäische Westen auch an anderer Stelle in der kommunistischen Ländermasse, einem Seitenzweig seiner eigenen Geistesentwicklung gegenübersieht. Es bedarf keines Hinweises, daß ein maßgebender Gedanke, den das erwachende politische Bewußtsein der afrikanischen und asiatischen Völker aus dem Westen übernommen hat, die Idee der Nation und ihrer Selbstbestimmung ist. Sie ist auch in der europäischen Entwicklung selbst für weite Strecken der Zeit nach der französischen Revolution bestimmend gewesen. Sie ist ferner von den westlichen Mächten selbst — damals freilich überwiegend mit einer europäischen Zielrichtung — auf Grund der Erklärungen Wilsons zur Grundlage der Friedensregelung von 1919/20 erhoben worden. In der gleichen Richtung wies die Einführung des Mandatsgedankens und der Treuhandschaft in das Recht des Völkerbundes; denn diese Vorstellungen besaßen einen erkennbaren Zusammenhang mit der Idee der nationalen Selbstbestimmung und stellten jedenfalls den unter dem Mandatsregime der A-Mandate lebenden Völkern die Llnabhängigkeit als Endziel vor Augen. Die Übernahme der Selbstbestimmungsidee, die Forderung nach nationaler Llnabhängigkeit werden in den arabischen Ländern, werden auch in Indien schon in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zum Ansatzpunkt der Selbstständigkeitsbestrebungen.

Den europäischen Mächten mochte in der Periode nach 1919 vorerst der Ausblick auf eine Beendigung ihrer kolonialen Positionen noch fern liegen. Ihre Vorstellungen gingen mehr auf ein gewisses Maß eigener Administration der abhängigen Gebiete hinaus Daneben vollzog sich freilich bereits in dieser Zeit ein wachsendes Zurücktreten der älteren ideellen Rechtfertigung der kolonialen Herrschaft. Der Führungs-und Erziehungsgedanke fand zwar ebenso wie der Hinweis auf den unentwickelten Stand mancher Völker nach Art. 22 der Völkerbundsatzung einen Ausdruck, aber an Stelle dieser überkommenen Vorstellungen setzte sich immer stärker die Idee der Verantwortung jeder kolonialen Herrschaft gegenüber der Gemeinschaft der Nationen durch und gewann die Einsicht in den Übergangscharakter solcher Abhängigkeitspositionen an Raum. Im Jahre 1932 erlangte der Irak als erstes der A-Mandate seine Unabhängigkeit, 1936 fand die britische Okkupation Ägyptens durch den Freundschaftsvertrag vom 26. August 1936 ein Ende und bereits von Anfang an gehörte Indien dem Völkerbund als Mitglied an. In allen diesen Vorgängen trat, damals freilich'noch mehr als eine Unterströmung, der beginnende Erschütterungs-und Auflösungsprozeß der westlichen Vorherrschaft ans Licht.

Mit dem zweiten Weltkrieg und seinem Nachabend endet die koloniale Periode in Asien. Den westlichen Nationen gelingt es zwar, entweder ihren Besitz zu behaupten (Indien) oder nach dem Kriegsende dort wieder Fuß zu fassen (Indochina). Aber der Gedanke der Selbstbestimmung erweist sich alsbald als stärker. In einem ebenso raschen wie kühnen Entschluß öffnet Großbritannien der Entwicklung den Weg und beendet seine Herrschaft in Indien, Burma, Ceylon. Burma wählt den Weg in die volle Unabhängigkeit, die anderen Länder verbleiben mit republikanischer Verfassung im Commonwealth. In Indonesien hat der Westen selbst das Bild widerstreitender Strömungen und damit die Tür zur Unabhängigkeit geöffnet. Den holländischen Betrebungen, das Inselland wieder unter seine Kontrolle zu bringen, traten die Vereinten Nationen unter dem Einfluß der Vereinigten Staaten entgegen und nötigten damit die niederländische Regierung, auf der Rundtafelkonferenz 1950 die Souveränität zu übertragen. Die französische Politik zahlte ihren Versuch, Indochina militärisch zu behaupten, mit einem jahrelangen Kriege und den Genfer Vereinbarungen vom 20. Juli 1954, die die Teilung Vietnams festlegten und die Unabhängigkeit von Laos und Kambodscha bestätigen. Von Restpositionen (Westguinea, Timor) und Handelsstützpunkten (Hongkong) abgesehen, ist die westliche Machtstellung in Asien heute aufgegeben. Ungleich vielschichtiger und schwieriger liegen die Probleme in Afrika. Hier gleicht die tropische Zone West-und Mittelafrikas, in der im wesentlichen nur ein europäisches Engagement in Administration und Wirtschaft ohne aus-gedehnte Siedlung besteht, der Lage in Asien. Dem stehen Gebiete gegenüber, wo einer mehr oder weniger zahlreichen, aber stets aktiven und ihre Vorrechte verteidigenden europäischen Siedlerschicht die afrikanische Bevölkerung gegenübersteht (Rhodesien, Kenia, Algerien). Endlich sind in der Union von Südafrika Europäer wie Afrikaner beide Einwanderer in ein ursprünglich von primitiven Stämmen bewohntes Territorium. Die Herrschaft der afrikanischen Mehrheit würde in diesen Gebieten eine soziale Umformung herbeiführen und möglicherweise eine Abwanderung vieler europäischer Elemente bedeuten. Unter diesen Umständen geht in Afrika die Wandlung ohne Spannungen und Kämpfe vor sich. In den Gebieten ohne namhafte europäische Siedlung ist der Übergang zur Unabhängigkeit oder wenigstens zur weitgehenden Autonomie im Gange. In Südafrika sucht die europäische Bevölkerung in einer von ihrer Mehrheit getragenen Politik die Behauptung ihrer Herrschaft in dem Unternehmen einer Zonenteilung der Bevölkerungsschichten. In den zentral-und ostafrikanischen Gebieten wird der Gedanke eines mehrnationalen Zusammenlebens vertreten, in dem auch die Minderheit europäischer oder asiatischer Herkunft ihren Platz finden könnte, ohne daß praktische Lösungen hierzu sich abzeichnen. In Algerien hat das Ausbleiben eines mehrnationalen Ausgleichs in die Verhärtung des Krieges geführt.

Die westlichen Nationen begegnen der Veränderung mit einer Wandlung ihrer Relation zu den überseeischen Gebieten. Aus einem Verhältnis der Vorherrschaft und einseitigen Führung wird die Beziehhung in einen Status föderativer Zusammenarbeit umgestellt. Beispielgebend geht der britische Commonwealth voran, dessen gelockerte Form, die sogar die republikanische Staatsform seiner Glieder zuläßt, Indien, Pakistan und Ceylon im Verbände der Gemeinschaft festhalten kann. Mit der Verfassung vom 4. 195 8 ist Frankreich diesem Vorbild gefolgt und hat die Entwicklung der afrikanischen Territorien südlich der Sahara zur Autonomie oder sogar zur vollen Selbständigkeit freigegeben %). Auch die Niederlande haben für die Verbindung mit ihren amerikanischen Territorien (Surinam und Antillen) eine föderative Form gewählt 10). Soweit eine staats-oder völkerrechtliche Verbindung der überseeischen Länder mit dem europäischen Gebiet erhalten bleibt, tendiert sie zu einer Form föderativer Assoziation von Staaten mit eigenem Regierungssystem, die gewisse Angelegenheiten (Verteidigung, Außenpolitik, Wirtschaft) gemeinsam wahrnehmen.

Der Vorgang der Lösung von der europäischen Vorherrschaft ist aber nur die eine Seite des Geschehens. In einer eigenartigen Paradoxie, man könnte mit Hegel von einer List der Vernunft reden, wird die politische Befreiung zum eigentlichen Beginn der Verwestlichung der Lebensformen, die nicht bei den technischen und wirtschaftlichen Methoden halt macht. Unvermeidlich werden die neuen Staaten in ihrem Streben nach Unabhängigkeit und nach Anschluß an die wirtschaftliche Weltentwicklung in den Prozeß einer wirtschaftlichen und sozialen Revolution hineingezogen, der ihren gesellschaftlichen Zustand tief-greifend umformt. Dadurch werden viele dieser Gebiete politisch und sozial unstabile Erscheinungen, da ihre Hilfsmittel und Erfahrungen dem raschen sozialen Wandel nicht gewachsen sind.

Betrachtet man die Vorgänge der Loslösung der asiatischen und afrikanischen Länder von der westlichen Vorherrschaft als eine einheitliche große Auseinandersetzung, so kann man in ihr drei Zonen unterscheiden. In einer tieferen Schicht reicht sie hinein bis in die ideellen und moralischen Anschauungen. Hier dominiert ein im wesentlichen negativ verstandener Freiheitsbegriff, eine Revolte der ehemals abhängigen Länder gegen den Westen, dem die neuen Länder den Anspruch auf eigene Lebensgestaltung entgegensetzen. Neben einem oft schwer zu beurteilenden Rückgriff auf eine ältere einheimische Überlieferung begegnet der Westen hier in der Idee der Selbstbestimmung und der Forderung auf sozialen Aufstieg eigenen Gedanken. Das LIrteil über die Vergangenheit, über die unleugbare und bedeutende Erschließungsarbeit der früheren Epoche, kann unter einem solchen moralischen Aspekt kein abgewogenes sein. Die wirtschaftliche Ausbeutung und die in manchen Fällen gegebene Verbindung der kolonialen Herrschaft mit den feudalen Strukturen des eigenen Landes treten stärker ins Bewußtsein. Daher auch die Furcht, durch Annahme von wirtschaftlicher Hilfe erneut abhängig zu werden und das Streben nach Ausbalancierung der fremden Einflüsse gegeneinander. Demgegenüber wächst in den industriellen Ländern die Einsicht, daß die wachsende Distanz der Lebens-haltung zwischen den hochindustrialisierten Wohlfahrtsstaaten der alten Welt und der Armut und Not der die ersten mühseligen Schritte in die Industrialisierung hinein unternehmenden Entwicklungsländer gefährliche Spannungen eines „internationalen Klassenkampfes“ in sich birgt. Nur durch die Umwandlung der alten Führung in eine wirtschaftliche und technologische Hilfe und Mitarbeit kann dieser Gefahr geantwortet werden. Eine Grundvoraussetzung aber ist die Einsicht, daß hier zu allererst nicht rein wirtschaftliche, sondern psychologische und moralische Faktoren mitsprechen.

Das wirtschaftliche Erbe der früheren Zeit weist neben unverkennbaren positiven Leistungen auch dunklere Seiten auf. Fast durchweg verursachte die koloniale Periode ein Zurückhängen der betreffenden Länder in der industriellen Ausstattung und Entfaltung. Die beherrschten Gebiete wurden als Rohstoffländer auf die Bedürfnisse der europäischen Wirtschaft hin entwickelt und oft der einseitigen Abhängigkeit von Ländern mit Monokulturen vom Weltmarktpreis und den Wirtschaftsschwankungen ausgesetzt. Preisverfall oder Absatzschwierigkeiten bei einem Hauptartikel lähmen wie auch in manchen südamerikanischen Ländern die Fortentwicklung, wenn auf diese Weise plötzlich die Zahlungsbilanz erschüttert oder zerstört wird. Die Folgerung, die die aufsteigenden Nationen ziehen, ist ihr Drang nach rascher Industrialisierung, wobei immer mehr das russische Vorbild Bedeutung gewinnt. Die wirtschaftlichen Beziehungen zur westlichen Welt bleiben durchweg noch eng. Für Absatz und Einfuhrbedarf bleiben die Entwicklungsländer der freien Welt auf die Industriestaaten angewiesen, soweit sich nicht in der kommunistischen Sphäre für sie andere Bezugs-und Handelsmöglichkeiten eröffnen.

Am stärksten machen sich die Züge einer typischen Epoche des Über-ganges in der politischen Sphäre geltend. Die erste Reaktion der freiwerdenden Staaten, aber auch anderer Länder in ähnlicher Lage, ist weithin eine bewußte Abkehr von der westlichen Verbindung Innerpolitische und propagandistische Bedürfnisse wirken dabei mit. Erst langsam bricht sich die Erkenntnis Bahn, daß auch eine Zusammenarbeit mit dem Westen ihre Früchte tragen kann und daß auch das Ergreifen der dargestreckten Hand der Sowjetunion nicht ohne Bedenken ist. In der großen politischen Linie ermöglicht die Weltlage mit ihrem Gegensatz zwischen freiheitlicher und kommunistischer Lebensform den asiatischen Staaten die Haltung eines Neutralismus, der ihnen eine Position zwischen Ost und West einzunehmen erlaubt. Der wachsende zahlenmäßige Einfluß der Entwicklungsländer in den Vereinten Nationen bringt diese Gruppe zusammen etwa mit den südamerikanisdien Staaten mehr und mehr in die Rolle einer von beiden Seiten umworbenen Weltöffentlichkeit. Für den Westen ist die Umstellung in eine neue politische Relation zu den neuen Staaten in den ehemaligen Kolonial-ländern schwerer zu vollziehen. Reibungsflächen, etwa in der Form zurückgelassenen Eigentums oder von Erziehungs-und Bildungsanstalten bleiben bestehen. Die Notwendigkeit, möglichst rasch ein neues unbefangenes Verhältnis zu den Völkern des asiatisch-afrikanischen Raumes zu finden, ist offenbar. Die außerordentliche Bedeutung persönlicher Kontakte, gerade auch im Hinblick auf in Europa zu Ausbildung und Anknüpfung weilender Personenkreise aus den Ländern dieses Bereiches, kann nicht genug unterstrichen werden. Gegenüber der breiten fürsorglichen Behandlung (in jedem, auch doktrinellen Bedacht) solcher Gäste in der kommunistischen Welt geschieht im Westen zu wenig.

Das Erbe der westlichen Vorherrschaft und Aufgaben der asiatischen Völker

Über den Beziehungen der westlichen Länder zu Asien und Afrika steht noch immer als ein Symbol von höchster Einflußwirkung der Begriff des Kolonialismus. Was können wir darunter verstehen? Dem Sinn und der historischen Erscheinung nach ist der Kolonialismus eine spezifische Form der Fremdherrschaft, gekennzeichnet durch die Beherrschung eines Gebietes durch die fremde Macht ohne Einwirkung und Mitverantwortung der regierten Bevölkerung oder durch die Verwendung fremdabhängiger einheimischer Gruppen als Zwischenglieder ausländischer Macht. Besondere Merkmale der europäischen Kolonialherrschaft der zweiten Epoche (seit Ausgang des 18. Jahrhunderts) waren die Verwaltungsführung durch ausländische Kräfte, die oft rein historisch bedingte Abgrenzung der Territorien — die eigenartigerweise heute oft die Basis einer neuen Nationsbildung aus sehr verschiedenen Bevölkerungselementen werden muß —, der Einfluß des fremden Rechts, der fremden Sprache und die industrielle Vorherrschaft des Mutterlandes. In der Spätphase ab 1918 schon zugunsten einer zunehmenden Verwendung einheimischer Verwaltungskräfte und autonomer Mitwirkung aufgelockert, blieb der Zustand noch immer der der Fremdherrschaft, die den Anspruch auf Selbstbestimmung unter dem Zeichen einer Superiorität der Fremden oder der Überlegenheit eines ideologischen Regimes leugnete. Man kann von Kolonialismus sprechen, wenn dieser Zustand nicht als ein Übergang zur Selbständigkeit, eine Periode der Hilfe und Vorbereitung wie bei den A-Mandaten, sondern als eine ständige Ordnung verstanden wird. Nahe verwandt mit dem Begriff des Kolonialismus ist der des Imperialismus. Er bezeichnet die etwa 1880 einsetzende Phase der globalen Ausdehnungsbestrebungen der führenden Industrie-und Militärstaaten, umfaßt freilich auch Erscheinungen mehr indirekter Herrschaftsübung wie die Schutzherrschaft, des „ungleichen" Bündnisses und der wirtschaftlichen Vormachtstellung. Die Tatsache, daß sich diese Expansion mit der bereits aufsteigenden Welle des Nationalismus und der Selbstbestimmung kreuzte, hat die imperialistischen Methoden, die oft bereits moderne Form besaßen und zurückhaltendere Einflußmittel benutzten (Stützpunkte, Anleihen, Beratung usw.) zugleich mit dem Kolonialsystem kompromittiert. Daher stammt auch die ungemeine Empfindlichkeit der neuen Staaten — und nicht nur dieser! — gegen westliche Stützpunkte militärischer Art, obwohl es sich hierbei — z. B. bei den amerikanischen Anlagen — vielfach keineswegs mehr um „koloniale Residuen" handelt.

Eine Frage besonderer Art, die hier nur berührt werden kann, bildet die Einbeziehung der heutigen sowjetischen Machtexpansion in Europa und Asien unter dem Begriff des Kolonialismus oder Imperialismus. Daß wir es hier mit einem typischen Vorgang der ehedem selbständigen Nationen auferlegten Fremdherrschaft zu tun haben, ist offenbar. Die Tatsache, daß der Kommunismus sich einheimischer politischer Minderheitsgruppen als Zwischenglieder seiner Machtausstrahlung bedient und daß er die Ideologie der Souveränität seiner abhängigen Glieder planvoll verficht, haben den Tatbestand weithin verschleiert. Es wird aber in der Ablehnung freier Wahlen, der Okkupation durch ausländische Truppen, der Verneinung einer freien öffentlichen Meinungsbildung und der freien persönlichen Kontakte mit der übrigen Welt erkennbar, wenn es auch den afrikanisch-asiatischen Nationen, deren Blickrichtung auf die vergangene Herrschaft der westlichen Länder orientiert ist, schwer fällt, diese Neubildung eines Herrschaftsbereiches zu erfassen und zu beurteilen. Eher schon erwecken in ihnen die Ansätze eines chinesischen Expansionsstrebens Erinnerungen und Besorgnisse.

In seiner überkommenen Form ist innerhalb der unter westlichem Einfluß stehenden Gebiete der koloniale Typus in raschem Rückgang begriffen. Er macht neuen Formen der Gemeinschaftsbildung westlicher Länder mit überseeischen Territorien Platz. Hindernisse auf dem Wege der Aufgabe der älteren Verwaltungs-und Lebensform liegen heute vor allem in geringer Entwicklung eines Gebietes (Neuguinea), entlegener Lage und geringer Wirtschaftskraft (einsam gelegene Inseln in Pazifik und Atlantik) oder in dem Vorhandensein einer größeren Schicht europäischer Siedler. Diese Elemente sind bis auf geringe Reste im asiatischen Raum nicht vorhanden, so daß sich hier Übergang zur Selbständigkeit fast ohne Ausnahme vollziehen konnte. In Afrika sind die Zonen der größten Spannung weitgehend identisch mit den Gebieten starker europäischer Siedlung oder zumindest ausgeprägter europäischer Besitzverhältnisse und Führung in Wirtschaft, Farm-und Plantagenanlagen und Handel. Im kommunistischen Herrschaftsbereich steht einer Auflockerung entgegen das Dogma des gesellschaftlichen Fortschritts, das eine angebliche „Rückentwicklung“ zu freieren sozialen und wirtschaftlichen Formen ausschließt, die offizielle Leugnung vorhandener Abhängigkeitsverhältnisse — die das Problem als solches negiert — und die Forderung nach einer Einheit des kommunistischen Lagers unter sowjetischer Führung. Die scharfe Reaktion gegen einen „nationalen“ Kommunismus — etwa im Sinne des Tito-Regimes — beweist, daß den Leitern des kommunistischen Machtsystems die hier bestehenden Probleme genau bewußt sind.

Für den Westen bildet die Aufräumung oder Umwandlung „kolonialer Residuen" eine dringliche Aufgabe. Der Versuch, in selbständig gewordenen Gebieten militärische Stützpunkte zurückzubehalten — so oft er immer wieder unternommen wird (neuerdings in Cypern) — erweist sich immer wieder als fragwürdig. Die gesellschaftliche und soziale Absonderung des westlichen Personals erweist sich dort als belastend, wo sie irgendwie rechtlich fixiert wird. Das schwerste und fast unlösbare Problem bilden stärkere westliche Siedlungsgruppen. Ob etwa in Afrika der Aufbau einer multinationalen Gesellschaft gelingen kann, ist eine völlig offene Frage. Im Zuge der Wanderungsbewegung beginnen diese Probleme des Zusammenlebens verschiedener Völker nach Europa hin-überzugreifen (Algerier in Frankreich, Westindier in England).

Die kommunistische Einwirkung auf die Entwicklung in Afrika und Asien vollzieht sich in der Gegenwart sowohl im politisch-ideologischen Bereich wie auf dem Felde der wirtschaftlichen Einflußnahme. Der Kommunismus hat frühzeitig die entscheidende Bedeutung einer Lösung der außereuropäischen Erdteile von der westlichen Welt erkannt. Von Anfang an rief Lenin den Völkern Afrikas und Asiens zu, daß die Stunde der Herrschaft des Proletariates auch der Moment der Emanzipation von fremder Unterwerfung sei In Verbindung mit dem einheimischen Nationalismus — und unter taktischen Konzessionen an dessen Einstellung — hat der Kommunismus gegenüber dem Zögern der westlichen Mächte in den Augen vieler die Stellung eines Förderers der Freiheit der afrikanischen und asiatischen Völker erringen können. In po-litischer Hinsicht wird der kommunistische Einfluß nicht müde, auf die Gefahren hinzuweisen, die vom westlichen Imperialismus drohen. In wirtschaftlicher Beziehung sucht er in zäher Arbeit in allen Entwicklungsländern durch das Anerbieten von Hilfe technischer und wirtschaftlicher Boden zu gewinnen. Wo immer der Westen seine wirtschaftlidi-technische Zusammenarbeit auch nur vorübergehend versagt (Ägypten, Guinea), stehen Länder des kommunistischen Blocks bereit zu wirtschaftlicher Unterstützung. Nicht selten bilden Waffenlieferungen, die leider viele der neuen Staaten in Verkennung der Bedürfnisse besonders anstreben, das Tor, durch das der sowjetische Einfluß eindringt.

Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern fällt dabei der kommunistischen Umgebung leichter. Sie ist mit ihren Formen streng zentral geleiteter Wirtschaft den ebenfalls zu Staats-lenkung und Wirtschaftsplänen neigenden Staaten näher, andererseits auch selbst daher beweglicher. Sie vermag die von den neuen Staaten erstrebten Tauschgeschäfte, die Abnahme der von ihnen angebotenen Rohstoffe und Erzeugnisse leichter zu bewerkstelligen. Sie ist auch nicht selten besser darauf eingestellt, bestimmte technische Hilfen und Finanzierungen zu bieten und vor allem Ausbildungsleistungen darzubringen; ein Strom , von Menschen aus allen diesen Ländern wird an die Hochschulen der kommunistischen Welt gezogen.

In den außereuropäischen noch nicht industrialisierten Ländern vollzieht sich, das kann nicht genug betont werden, auch ganz unabhängig von der Ablösung der Herrschaftsformen westlicher Vormacht und von dem Ost-Westgegensatz, ein revolutionärer Vorgang von unwiderstehlicher Gewalt und Schnelligkeit: Er führt diese Länder aus ihrer abgesonderten und vielfach zurückgebliebenen Stellung heraus und stellt sie vor die Notwendigkeit der Anpassung an die moderne Entwicklung der technologisch gehandhabten Industriewirtschaft. Das ist zunächst im rein materiellen Sinne zu verstehen. Ohne Auto und Flugzeug, ohne Maschinen und Straßen ist jede wirtschaftliche Entwicklung unmöglich. Die Aneignung der Technik, die Bewältigung der Organisation, die Errichtung oder Verbesserung der bestehenden „Infrastruktur“ (Häfen, Straßen, Brücken, städtische Wohnbauten usw.) ist daher das erste Gebot. Die Erfüllung dieser Grundaufgabe zieht aber unweigerlich eine tiefe soziale Umformung mit sich. Alle älteren stammesmäßigen und lokalen Lebensformen, nicht weniger aber auch die feudalen Zwischen-strukturen sind den aktuellen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Sie werden umgeschmolzen, manchmal auch — wie die alten oft segensreichen familiären Zusammenhänge — einfach zersetzt, ohne das neue gefestigte Sozialformen bereitstehen. Dieses Werk kann nicht ohne eine gewisse Gewaltsamkeit, nicht ohne Opfer vor sich gehen, zumal es sowieso mit den Opfer fordernden Anfangsstadien industriellen Aufbaus zusammengeht.

Dort, wo der Kommunismus die Herrschaft ergriffen hat, in China beispielsweise, wird die Umformung unter planmäßiger zentraler Lenkung und rücksichtsloser Zerstörung der alten entgegenstehenden Lebensformen durchgesetzt. Der hierbei geübte Druck vermag bedeutende Leistungen zu erzwingen. Auch in Ländern, die nicht diesen Weg gehen, ist der Umbruch nur unter staatlicher Leitung und nicht ohne Aufhebung bestimmter gesellschaftlicher Tatbestände vollziehbar. Überall bedarf es der Auflösung alter Bestände der Grundherrschaft, einer weitreichenden Erziehung der Einstellung der Bevölkerung zu Arbeit und wirtschaftlicher Denkungsweise — nicht selten auch unter Überwindung religiöser Hemmungen — und der Ausbildung technischer und administrativer Kader. Es darf vom westlichen Blickpunkt nicht verkannt werden, daß für den kleinen Kreis intellektuell geschulter und aktiver Intellektueller in vielen Gebieten die Wahl zwischen den beiden Wegen, dem kommunistischen und dem westlichen, keine große weltanschauliche Färbung besitzt, sondern mehr unter einem Abwägen rationaler Prüfung der Ergebnisse des einen oder anderen Weges in beispielhaften Ländern . (China, Indien) vorgenommen wird. An vielen Orten, besonders ausgeprägt im Nahen Osten, hat eine kleine Schicht modern ausgebildeter und von starkem Selbstbewußtsein erfüllter Menschen, die häufig auch stark gerade in den Kreisen der Offiziere vertreten sind, die eigentliche Entscheidung in der Hand.

Wenn westliche Kreise sich bemüht haben, in den neuen Staaten die demokratische Verfahrensformen der hochentwickelten Industriestaaten einzuführen, so steht dem Gelingen solcher Versuche schon das wirtschaftliche Bedürfnis nach einer starken Staatslenkung entgegen, ganz zu schweigen von dem Fehlen der sozialen Voraussetzungen. Es scheint fast, als ob für die Herstellung der neuen Staaten eine Phase strafferer, wenn auch nicht notwendig autoritärer, Regierungsformen und aktiver Umgestaltung ohne Schonung aller überlieferten Bestände unentbehrlich sein wird. Im letzten Grunde bedarf es einer Anpassung, auch der geistigen Einstellung, an die immer mehr uniform werdende moderne Maschinenwelt. Die Menschen müssen aus religiös-magischer Lebensbindung zu der Helle der rationalen Zweckhaftigkeit moderner Lebensgestaltung gebracht werden. Das kann kein rascher Vorgang sein; mit der oft leicht erreichten und erstaunlichen Anpassung begabter Individuen an der westlichen Denk-und Umgangsformen ist diese Aufgabe jedenfalls nicht bewältigt. Sie setzt generationenlange Erziehungsarbeit voraus, die nur in den Völkern selbst und von ihnen selbst geleistet werden kann.

Die Aufgaben, die vor den neuen Staaten liegen, kann man gewaltig nennen. Sie bergen eine Fülle von Problemen in sich. Ich vermag hier nur auf einige der wichtigsten und dringlichsten Fragen hinzuweisen: a) Es ist vielfach notwendig, überhaupt erst den nationalen Körper selbst zu schaffen, ihn aus mehreren Bevölkerungsteilen oder zahlreichen Stammeseinheiten aufzubauen, sprachlich zusammenzufassen und mit einem einheitlichen Bewußtsein zu durchdringen, das die lokalen, stammesmäßigen oder feudalen Bindungen übertönt und überwindet. Viele der neuen Staaten sind Neubildungen, oft einfach das Ergebnis historischer Abgrenzungen der kolonialen Epoche, oder durch äußere Einflüsse der Übergangszeit bestimmt (Transjordanien, Kamerun, Laos). Allein die Sprachenfrage — man denke an die neueren Kämpfe in Ceylon — birgt Sprengstoff in sich. Vielleicht vermag in Afrika der Gedanke einer afrikanischen Föderatition Unvollkommenheiten der Einzelabgrenzung zu mildern und zu beseitigen. Hier liegt übrigens auch die Schwierigkeit, in diesen Staaten einen Minderheitsschutz zu vertreten, wo sie überhaupt erst umgekehrt dabei sind, aus Teilen eine nationale Einheit herauszuschmelzen. b) Die wirtschaftliche Modernisierung, die allein den Lebensstandard der rasch wachsenden Bevölkerung heben oder einfach auch vor einem Absinken bewahren kann, stellt die größten Probleme einer geistigen und gesellschaftlichen Umformung, von denen wir soeben gesprochen haben. c) Eine schwierige Frage ist die Neubelebung älterer einheimischer nationaler, kultureller oder religiöser Traditionen. In Asien, wo die Erhaltung der großen alten Zivilisationen unter fremden Einfluß ungebrochen geblieben ist, ist diese Aufgabe leichter als in Afrika, wo die älteren Vorstellungen jedenfalls der heutigen Zeit nicht mehr entsprechen und wo sie auch wiederum in neue Zersplitterung hineinführen würden. Das Problem der Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition führt — vom islamischen Bereich abgesehen — eher zu einem Beiseitestehen des religiösen Elements. Es erweist sich nicht selten als den alten Lebensformen zu sehr verbunden, um Mitträger einer Erneuerung zu sein, die sich daher gegen die religiösen Formen oder abseits von ihnen vollzieht. d) Die schwierigste Aufgabe möchte die Gewinnung einer neuen ausgeglichenen sozialen Lebensform sein. Bis aus der unvermeidlichen Zerstörung der alten lokalen und familiären Bindungen sich eine neue gesellschaftliche Verfestigung bildet, bis die einsetzenden Wanderungsbewegungen und das Problem der Urbanisierung bewältigt ist — das sich heute oft in den bidonville-artigen Notunterkünften um die rasch wachsenden Zentren herum darbietet —, bis ein Amtsapparat aufgebaut ist, in dem nicht nur soziales Prestige und personelle (oder familiäre) Hebung der Amtsträger, sondern ein nötiges Maß an Diszi-plin, Dienstbereitschaft und Gemeinsinn gelebt wird, wird eine große Arbeit erforderlich sein. e) Die Gewinnung einer eigenen außenpolitischen Position wird den heu in die Staatsgemeinschaft eintretenden Ländern durch den politischen Ost-Westgegensatz erleichtert. Er ermöglicht ihnen eine zuwartende, mitunter sogar von beiden Seiten umworbene Haltung. Die meisten Länder tendieren zu einer Art Neutralismus, der Beziehungen zu beiden Machtblöcken einschließt und in den einzelnen Staaten verschiedene Ausprägungen zeigt. Für eine solche Politik hat namentlich Indien das Vorbild geboten. Nur in denjenigen asiatischen Staaten, die in der Zone der Machtberührung beider Blöcke leben, gewinnt die Außenpolitik und die Verteidigung ein stärkeres Gewicht und unter ihnen finden sich in der Hauptsache Teilnehmer an Bündnissystemen, die westliche Mächte einschließen.

In ihren Beziehungen untereinander wurden die Staaten des afroasiatischen Raumes durch das gemeinsame Unabhängigkeitsstreben und die Besorgnis vor der Macht der ehemals herrschenden Länder zusammengeführt. Den Höhepunkt dieser Annäherung bezeichnete die Konferenz von Bandung — 24.4.1955) 18). In ihren gegen den Kolonialismus gerichteten Entschließungen, ihrer Betonung der Souveränität und des Interventionsverbots spiegelten die Erklärungen der Konferenz die noch stark von der Ablehnung der Vergangenheit beeindruckten Empfindungen der beteiligten Länder wider. Die Hoffnungen auf eine intensivere Zusammenarbeit der asiatischen und afrikanischen Länder haben sich freilich sowohl innerhalb der Vereinten Nationen wie auch allgemein in der außenpolitischen Sphäre nicht erfüllt. Auch innerhalb dieser Staatengruppe haben sich — etwa zwischen den Gliedern der arabischen Welt — erhebliche Gegensätze aufgetan, und auch nach ihrer geographischen Lage reichen die Interessen der einzelnen Staaten in sehr verschiedene Bereiche hinein. Am lebhaftesten wird gegenwärtig, noch unter dem Eindruck des Ringens um die Unabhängigkeit, eine Solidarität in Afrika empfunden, w der Gedanke einer umfassenden afrikanischen Föderation aufgetaucht ist. Es wäre denkbar, daß sich auf afrikanischem Boden ähnliche Bestrebungen entwickeln, wie sie seit langem die konsultative Zusammenarbeit der südamerikanischen Staaten gekennzeichnet haben und daß auch hier der Gedanke einer friedlichen Austragung etwaiger Differenzen und einer ständigen Zusammenarbeit Fuß fassen könnte f) In der Zone des Verfassungsrechts haben sich die Verfassungen der neuen Länder stark von den Vorbildern demokratischer Einrichtungen des Westens beeinflussen lassen. Doch zeigt sich vielerorts eine wachsende Schwierigkeit, in der Form eines repräsentativen Regimes mit Parteien unter Verhältnissen zu regieren, in denen die sozialen und ideellen Voraussetzungen der modernen Demokratie noch nicht geschaffen sind. Von Indien abgesehen, haben sich bundesstaatliche Ideen wenig verbreiten können. Es zeigt sich auch hier, daß junge Staatswesen eher die Neigung zu einer zentralistischen Administration aufweisen. Erfeulicherweise hat der Gedanke einer Anerkennung von Menschenrechten allgemein in das Verfassungsrecht Eingang gefunden Die Auseinandersetzung mit den in die Rechtssysteme der asiatischen Länder im Laufe der fremden Herrschaft eingeführten Rechts-prinzipien vollzieht sich im allgemeinen in ruhiger, der Tradition verhafteter Form. Unzweifelhaft werden sich hier bedeutsame Formen der Beeinflussung verschiedener Rechtssysteme ergeben, aus denen etwa die Beziehungen der westlichen Rechtsgedanken zum islamischen Recht und das Nachwirken vor allem des angelsächsischen Rechts in den nationalen Ordnungen erwähnt sein mögen.

Die Auffassungen der asiatischen Völker

Inmitten der raschen Veränderungen haben sowohl die beteiligten asiatischen Nationen wie die westlichen Staaten Mühe, die neue Lage aufzunehmen und zu verarbeiten. Je länger je mehr, so darf man erwarten, werden die emotionalen Eindrücke der Vergangenheit und der Periode der Loslösung aus Abhängigkeit zurücktreten und die Fragen des Aufbaus und der Zukunft maßgebend werden. Je früher und umfassender die gesamten Vorgänge als eine geschichtliche Wende von säkularem Ausmaß begriffen werden, in der sich das Hineinwachsen der asiatischen und afrikanischen Kontinent’ in die volle Mitwirkung des internationalen Lebens vollzieht, desto besser werden die weitreichenden Umstellungen verstanden werden, die von allen Seiten verlangt werden.

Es gehört zu den eigentümlichen Erscheinungen des Endes der politischen Vorherrschaft des Westens in Asien und Afrika, daß im gleichen Zeitpunkt und nicht ohne inneren Zusammenhang mit dem Schwinden des politischen Einflusses der Prozeß der Aneignung der westlichen Zivilisationsformen über die gesamte Welt hin sich verstärkt und beschleunigt. Mögen gelegentlich Momente der grundsätzlichen Abwehr westlicher Gedanken und Einrichtungen bemerkbar werden, die Forderungen der Wirtschaft und Technik und die Anziehungskraft der modernen Lebensformen erweisen sich als stärker. Berührt das Geschehen auch zunächst nur eine begrenzte Schicht und dringt es nur langsam in die Masse der Bevölkerung vor allem auf dem Lande ein, so kann die Aufnahme westlicher Elemente doch im ganzen nur die Annäherung der Völker und ihre Beziehungen untereinander fördern. Auf der Passivseite mag eine gewisse Uniformität zivilisatorischer Einflüsse und Leitbilder über die Erde hin stehen; man darf aber die Stärke der innerhalb dieser Vereinheitlichung fortwirkenden nationalen Sonder-art und Kultur nicht unterschätzen. Das entscheidende Moment der gesamten Entwicklung liegt darin, daß sich hier ein Übergang zu einer neuen Lebensform und die Aufnahme fremder Vorbilder ereignet, der nicht von außen her auferlegt wird, sondern der als eine freie Aneignung durch die Völker und ihre Regierungen vor sich geht und darum eine wirksamere und dauerhaftere Form der kulturellen Verschmelzung darstellt? Es wäre falsch, diesen Prozeß nur unter dem Gesichtspunkt der bei ihm gewiß auftretenden Verfremdungen und Disharmonien zu betrachten. Er muß, wie ähnliche Geschehnisse in der westlichen Geschichte selbst, z. B. die Ausstrahlung der römisch-griechischen Kultur am Beginn des Mittelalters oder die Belebung der antiken Tradition an dessen Ausgang zeigen, wenn auch nicht in einem nahen Zeitpunkt, zum Ergebnis einer kulturellen Erneuerung und Verschmelzung führen.

Die Übernahme fremder Vorbilder in den Entwicklungsländern, die man in diesem Sinne als einen Vorgang der Verwestlichung bezeichnen kann, hat ihren Schwerpunkt in bestimmten Lebensbereichen. Neben -der Technik sind es die wirtschaftlichen Methoden und die zivilisatorischen Gewohnheiten, die am weitgehendsten ausgenommen werden.

Ein anderes Problem bildet dagegen schon die Beziehung der neuen Staaten zur überlieferten internationalen Gemeinschaft. Als sich vor anderthalb Jahrhunderten die amerikanischen Staaten von der europäischen Vorherrschaft lösten, handelte es sich um Nationen, die — wenigstens in ihren einflußreichen Schichten — der europäischen Tradition eng verbunden waren und die daher eine Übernahme auch der internationalen Rechtsordnung vollzogen. Dasselbe kann heute von der mehr formalen Seite der völkerrechtlichen Beziehungen, dem diplo-matischen Verkehr, den Formen des Vertragsschlusses und der Verhandlung und der Zugehörigkeit zu internationalen Organisationen gesagt werden. Dagegen zeigen sich in manchen Fragen mehr grundsätzlicher Art Neigungen zu einer neuen und abweichenden Stellungnahme Auf die in der Situation der Vergangenheit wurzelnde Differenz der Auffassungen über die Ausdehnung des internationalen Schutzes von fremdem Eigentum ist bereits hingewiesen worden Ein anderer augenfälliger Unterschied liegt in der gegenläufigen Einstellung zur Souveränität. Während in den westlichen Staaten (anders als im sowjetischen Bereich mit seiner Betonung der Souveränität) eine strenge Ausprägung der nationalen Selbständigkeit als Hindernis für die Fortbildung der internationalen Kooperation angesehen wird, erlebt der Souveränitätsgedanke in den asiatischen und afrikanischen Staaten eine Hochperiode, die zugleich der Ausdruck eines neubelebten Nationalismus darstellt. Damit hängt die lebhafte Unterstreichung des Selbstbestimmungsrechts in diesen Ländern zusammen, hinter dem insoweit auch das Verbot der Intervention in fremde staatliche Angelegenheiten hinangesetzt wird. Es bleibt aber auf der anderen Seite festzustellen, daß von den neuen Staaten wichtige Bestandteile der internationalen Ordnung angenommen werden. Das gilt für das Verbot des Angriffskrieges wie für die Mittel der Kriegsverhütung, den Gedanken eines internationalen Schutzes der Menschenrechte wie endlich auch für das maritime Recht. Im Unterschied zu der prinzipiellen Spannung, in der die sowjetische Auffassung zum überkommenen internationalen Recht verharrt, darf für die asiatischen Staaten im ganzen doch eine Übereinstimmung mit den Grundlagen der Staatenordnung angenommen werden.

Was den Bereich der Wirtschaft angeht, so kann man noch kaum von einer einheitlichen Auffassung der neuen Staaten über die einzuschlagenden wirtschaftlichen Wege sprechen. Als Ziel schwebt den asiatischen Ländern die Hebung des Lebensstandards durch eine Industrialisierung vor, die Überwindung der rein agrarischen Struktur oder des Charakters von bloßen Rohstoffländern. Dieses Ziel wird fast überall nicht auf dem Wege der Heranziehung fremden Kapitals und fremder Leitung verfolgt, sondern mit den Mitteln der Aufstellung und staatlichen Durchführung von Mehrjahresplänen, für die die Sowjetunion das Vorbild liefert. Die entstehende wirtschaftliche Struktur wird daher im industriellen Teil eher die Zeichen einer dirigistisch geleiteten, weitgehend staatlich verwalteten Industrie tragen. An einer wirklichen Erarbeitung von Maßstäben für die wirtschaftliche Entwicklung, die auch die Landwirtschaft einschließen muß und die nicht vermeiden kann auch Verkehr und Erziehung als Grundfaktoren einzufügen, fehlt es bisher. Die Bevorzugung einzelner sichtbarer Großprojekte gehört zu den Merkmalen der heutigen Phase. Die westliche Antwort auf diese Bedürfnisse der außereuropäischen Welt ist nicht ausgeblieben, aber wenig koordiniert und nicht selten psychologisch nicht hinreichend berechnet. Demgegenüber versteht es die Sowjetunion besser mit sorgsam gezielten Projekten und Lieferungen Aufmerksamkeit zu erregen und bei insgesamt geringerem Volumen der Entwicklungshilfe oft einen größeren propagandistischen Erfolg zu buchen.

Mit der Verselbständigung gehen in manchen Ländern Erscheinungen der Xenophobie und der bewußten Unterbrechung bisheriger Beziehungen zu westlichen Ländern einher. Sie bilden besonders günstige Ein-bruchstellen für die sowjetische Bemühung, die stets darauf gerichtet ist, über die Belebung des antiwestlichen Nationalismus eine Einwirkung für die eigene Indoktrination zu erreichen. Man muß hier indes die Hoffnung hegen, daß man es mit einer im Laufe der Zeit abklingenden Erscheinung zu tun hat.

Der Westen selbst kann hierzu Entscheidendes beitragen, wenn er die Hilfe für die Entwicklungsländer nicht nur als ein materielles Problem ansieht, sondern auch als eine Forderung zu einer Umwandlung der geistigen Einstellung gegenüber den Nationen Asiens und Afrikas. Das bedeutet die Überwindung kolonialer Haltungen mit ihren älteren Superioritätsvorstellungen und Führungsansprüchen. Sehr viel schwerer noch erscheint die Umgestaltung der persönlichen und sozialen Beziehungen auf dem Boden einer Gleichberechtigung und eines Zusammenlebens verschiedener Bevölkerungskreise. Wo europäische Kräfte nur als Berater und Fachleute wirken, bietet das sehr viel geringere Schwierigkeiten als in Bereichen gemischter Siedlung, wo altererbte Spannungen und soziale Vorurteile Lösungen erschweren. Man darf auf der anderen Seite hoffen, daß die nun vielerorts schnell in Gang kommende Über-leitung zur Autonomie auch in Afrika Wege eröffnet, die eine Fortführung der fruchtbaren westlichen Mitarbeit an den Problemen dieses Erdteils ermöglichen.

Zur deutschen Haltung gegenüber den Entwicklungsländern

Die deutsche Öffentlichkeit beginnt in zunehmendem Maße sich den großen Fragen der außereuropäischen Entwicklungsländer zuzuwenden. Ihre Haltung ist dabei von starker Sympathie mit der Verselbständigung dieser Nationen getragen. Die Niederlage Deutschlands im ersten Weltkrieg hat es mit sich gebracht, daß damals Deutschland aus den kolonialen Zusammenhängen ausschied. In beiden Weltkriegen waren deutsche Interessen mit dem Selbständigkeitsstreben der asiatischen Nationen verbunden. Diese Momente wirken sich heute fraglos günstig für die Beziehungen der Bundesrepublik und ihrer Bürger zu der neuentstehenden Staatenwelt aus. Sie werden aber auf die Dauer nur Bedeutung behalten, wenn sie durch neue Anstrengungen für diese Gebiete eine echte Mithilfe an ihrem Aufbau und ein wirkliches Verständnis für ihre Anliegen bestätigt und in ihrer vorteilhaften Wirkung bekräftigt werden. Hier ist besonders auf die wachsende Verantwortung der deutschen Hochschulen und technischen Lehranstalten für Studenten aus Entwicklungsländern hinzuweisen; ihr entsprechen die vorhandenen Einrichtungen und Hilfen noch in keiner Weise. Nicht weniger wird das persönliche und gesellschaftliche Verhalten der deutschen Bevölkerung gegenüber diesen Gästen auf deutschem Boden schwer in die Waagschale fallen; auch hier bedarf es aufklärender Nachhilfe. Endlich muß aber auch darauf hingewiesen werden, daß es irrig wäre, die deutsche Lage in einem Gegensatz zu der anderer westlicher Staaten zu sehen und gewissermaßen eine „Desolidarisierung" vom Westen hier anzustreben. Abgesehen davon, daß der antiwestliche Platz bereits durch die Vertreter der ostdeutschen Machthaber besetzt ist, steht die Bundesrepublik in vielen und weiten Zusammenhängen mit den anderen westlichen Nationen, denen sie nicht ausweichen kann. Ein Vorgehen gegen Fremde wird auch sie treffen; im Wettbewerb mit dem kommunistischen Block zählt sie eindeutig zum anderen Lager. Es wird also darauf ankommen, das rechte Maß westlicher Zusammengehörigkeit nicht aus dem Auge zu lassen, ohne für Einzelaktionen des älteren Stiles noch eine Mitverantwortung zu übernehmen. An der Erhaltung des westlichen Gesamteinflusses in den Gebieten Asiens und Afrikas bleibt aber Deutschland ebenso interessiert wie der gesamte Westen, und schon diese Erwägung weist auf Elemente der Solidarität und Gemeinsamkeit hin.

Durch ihre wirtschaftliche Stellung nimmt die Bundesrepublik notwendig an der Verantwortung der „reicheren“ Nationen für die Entwicklungsländer teil. Sie ist im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die Verpflichtung zu gewissen Entwicklungshilfen für die Frankreich angegliederten afrikanischen Territorien eingegangen. Hiervon abgesehen wird sich naturgemäß eine stärkere Tendenz geltend machen, die Hilfe besonders denjenigen Ländern zuzuweisen, die ihre Llnabhängigkeit erlangt haben, oder sie von jeher bewahrten. In ihren Formen wird die deutsche Teilnahme an der Entwicklung der außer-europäischen Länder neben wirtschaftlich-finanzieller Hilfe (Kredite, Bürgschaften für private Kreditgewährung) und technischem Beistand vor allem auch Ausbildungshilfe und Beratung umfassen. Auf diesem Felde dürfte eine stärkere Koordinierung der deutschen Bestrebungen notwendig erscheinen, die vor allem auch den im Ausland tätigen Personen einen stärkeren Rückhalt zu gewähren vermag als dies der heutige Stand erlaubt. Vor allem wird aber auch die Forschungsarbeit sich stärker mit den neuen Ländern zu beschäftigen haben. Der Vorsprung der anderen Nationen, die aus ihrer vergangenen und heutigen kolonialen Erfahrung mannigfaltig und weitausgedehnte personale Kräfte und Beziehungen einsetzen können, ist beträchtlich. Endlich darf auch die Beachtung der eigenen Äußerungen dieser Nationen und die geistige Auseinandersetzung mit ihnen nicht vernachlässigt werden.

Ein Grundproblem der deutschen Beziehungen zu den asiatischen und afrikanischen Nationen liegt in der Frage, wieweit die deutsche Mitarbeit sich als unabhängige eigene Unternehmung oder als Teil einer Mitwirkung an internationalen Institutionen vollzieht. Es ist anzunehmen, daß beide Formen in Zukunft nebeneinander hergehen werden. Doch wäre es wünschenswert, der selbständigen Betätigung ihren freien Raum und ihr Volumen nicht zu stark durch internationale Einrichtungen zu schmälern. Die Ansätze für eine finanzielle Hilfe im deutschen Haushalt sind daher besonders zu begrüßen.

Ein gewisses Hemmnis für die deutsche Politik gegenüber den Entwicklungsländern bildet die Nichtzugehörigkeit zu den Vereinten Nationen. Ist auch die Bundesrepublik durch eine beobachtende Mission in New York vertreten, so steht sie doch außerhalb des eigentlichen politischen Spieles der UN. Die Mitgliedschaft in den besonderen Organisationen der Vereinten Nationen gleicht das nicht voll aus. Die Änderung dieser Lage ist aber im geteilten Deutschland nicht im Bereich der praktischen Möglichkeiten.

Die Beziehungen zu den Entwicklungsländern der beiden großen alten Erdteile werden in Zukunft nicht nur wirtschaftlich an Bedeutung gewinnen, sondern auch politisch. Sie bilden, wie schon früher hervorgehoben, angesichts der heutigen Gegensätze in der Welt, für viele Fragen eine Art Weltforum, an das sich beide Machtblöcke wenden und um deren Zustimmung sie — nicht bloß im Hinblick auf Mehrheitsbildungen in den Vereinten Nationen — werben. Auch'das deutsche Volk bedarf dieser Stütze der Öffentlichkeit der Nationen für sein politisches Hauptanliegen, die Wiedervereinigung der staatlichen Einheit in Freiheit. Auch unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkung auf die eigene Position der Bundesrepublik in der Welt erscheint es daher von Wichtigkeit, daß sich die deutsche Öffentlichkeit den Problemen der Entwicklungsländer Asiens und Afrikas mit größtem Nachdruck zuwendet. Die Welt ist in einem noch kaum in dem stilleren Felde deutscher Politik bewußt gewordenen Sinne eine gewisse Einheit geworden. Damit ist relativ die Rolle jedes Staates, der nicht zu den führenden Weltmächten gehört, in einem gewissen Sinne schwächer geworden, und die Erhaltung seiner Position setzt ein vermehrtes Bemühen um die Beziehungen zu anderen Völkern voraus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. zu den geistigen Grundlagen der spanischen Kolonialzeit Joseph Höffner, „Christentum und Menschenwürde*, 1947, und die Würdigung des institutionellen und kulturellen Erbes der spanischen Welt Ronald Syme, Colonial Elites, Oxford 1958 S. 24 ff.

  2. Es darf nicht übersehen werden, daß vor 1800 auch die asiatischen Besitzungen der europäischen Nationen mehr den Charakter von Handels-stützpunkten als den territorialer Herrschaft trugen. Für Indien galt das jedenfalls weitgehend. Vgl. die Würdigung des portugiesischen „commercial empire* und des britischen Handels bei K. M. Panikkar, Asia and Western Domination 1953 S. 50 f., 63 ff. Nur in den niederländischen Besitzungen in Indonesien beginnt schon im 18. Jahrhundert das Plantagensystem.

  3. Die „emancipation of both the American continents“ betont die Botschaft des Präsidenten Adams an den von Bolivar einberufenen Kongreß in Panama 1825. Vgl. H. Steel-Commager, Documents of American History, 5. Ausl. 1948 Bd. 1 No 131 S. 244.

  4. Die unsichere und fast mehr zufällige Form, in der sich nach dem spanischen Kriege von 1898 die amerikanische Besitznahme überseeischer Territorien vollzog, beleuchtet George F. Kennan, American Diplomacy 1900— 1950 (1952) S. 15 ö.

  5. Uber die Pläne der arabischen Nationalisten im 1. Weltkrieg jetzt Glubb Pascha, Britain and the Arabs 1959 S. 57 ff. Tatsächlich war die Auflösung des osmanischen Reiches eine Voraussetzung der arabischen Selbständigkeit.

  6. Hier kommt vor allem in Betracht die Erläuterung der 14. Punkte durch eine offizielle Interpretation durch F. Cobb und W. Lippmann (For. Rei. of the Un. States 1918 Bd. 1 S. 405 ff.). Dort erscheint der Gedanke „that a colonial power acts not as an owner of its colonies but as trustee for the natives and for the interests of the Society of nations, that the terms on which the colonial administration is conducted are a matter of international concern and may legitimately be the Subject of international inquiry. . . ." (Punkt 5).

  7. Das gilt noch für die während des zweiten Weltkrieges entwickelten Vorstellungen. Das vom Royal Institute of International Affairs herausgegebene Buch von Alfred Cobban, National Self-Determination (1944) sieht für die afrikanischen Territorien noch nicht mehr als die Zusammenfassung in „tribal units'vor (2. Ausl. 1947 S. 132 ff ).

  8. Nach vielen schnell aufeinanderfolgenden Plänen der Vorkriegs-und Kriegszeit legte die Indian Independence Act (1947) 10 & 11 Geo 6 Ch. 30 den 15. 8. 1947 als Tag der Unabhängigkeit fest, freilich für ein in die Staaten Indien und Pakistan geteilten Subkontinent.

  9. Jean Chatelain, La nouvelle Constitution 1959; Gonidec, Droit d'outre mer Bd. I: De l’empire colonial de la France ä la Communaute 1959.

  10. Statut des Königreichs vom 29. 12. 1954. Dazu Krananburg, De nieuwe structuur van ons Koningrijk 1955.

  11. In manchen Ländern vermag die eigene Tradition heute noch eine große Macht zu entfalten. So wird der ethisch-philosophische Gehalt der indischen Politik wesentlich aus der indischen Geistesüberlieferung gespeist

  12. Seltsamerweise bleiben die meisten Entwicklungsländer hier dem Westen gegenübep mißtrauischer als der kommunistischen Welt, von der sie weit eher Hilfe und einen Einfluß auf Schlüsselstellungen hinnehmen.

  13. Es scheint, als ob die Abwendung von westlicher Verbindung in den asiatischen Ländern und vor allem im Nahen Osten stärker ausgeprägt ist als in Afrika.

  14. Die Zahl der afro-asiatischen Staaten nimmt ständig zu und damit ihr Stimmgewicht innerhalb der Generalversammlung. Zu diesem Umschichtungsprozeß, der schon die Forderung einem . gewogenen Stimmrecht" (weighted voting) hervorgerufen hat vgl. hierzu Eric Stein, Europa Archiv 12 (1957) S. 9587 ff. C. L. Patijn, A Formula for Weighted Voting in „Symbolae Verzijl* 1958 S. 255 ff.

  15. Zu den Problemen der Nationalisierung fremden Eigentums vgl. B. A. Wortley, Expropriation in Public International Law 1959 S. 70 f. Mit der früheren Bildungsvorherrschaft wird nun heute auch manchen Orts die christliche Mission identifiziert, wo sie sich nicht klar genug von ihr abgesondert hat. Die christlichen Kirchen wirken dem seit langem in der Umitellung auf eine einheimische Kirchenorganisation entgegen.

  16. über die theoretischen Grundlagen dieser kommunistischen Freundschaft zu den Entwicklungsländern als einer gegen die westlichen Länder gerichteten Umfassungsbewegung vgl. Grottian, Diese Zeitschr. Bd. 1 S 140 ff. Im Jahre 1919 hielt vorübergehend Trotzky, enttäuscht von den Vorgängen in Zentraleuropa, es für richtig, die ganze sowjetische revolutionäre Energie nach Asien zu wenden. Vgl. Isaac Deutscher, The Prophet Armed S. 455 ff.

  17. Es bleibt abzuwarten, welche Einwirkung auf die Politik Indiens der Grenzkonflikt mit China haben kann. Die Grundhaltung Indiens wird indes wohl schwerlich hiervon berührt werden.

  18. Zur Konferenz in Bandung vgl. Sasse, Die asiatisch-afrikanischen Staaten auf der Bandung-Konferenz 1958.

  19. Hierzu K. P. Karunakaran, India in World Affairs 1958 S. 47 ff.

  20. Zu den Problemen der verfassungsrechtlichen Auseinandersetzung der neuen Länder mit westlichem Erbe und Einfluß siehe Sir Ivor Jennings, The Approach to Self-Government Cambridge 1956.

  21. Uber den Vorgang der sozialen Veränderung und geistigen Umwandlung unter dem Eindruck der Kulturauseinandersetzung innerhalb der außer-europäischen Völker siehe R. A. J. van Lier, Sociale Beweging in Transculturatie Den Haag 1956 S. 15 ff.; Richard F. Behrendt, Problem und Verantwortung des Abendlandes in einer revolutionären Welt 1956 S. 11 ff., 38 ff.

  22. Man kann in einem gewissen Umfang von einem Protest gegen die westliche Färbung der internationalen Ordnung sprechen. Vgl. C. Wilfred Jenks, The Common Law of Mankind 1958 S. 74 ff.

  23. Hier zeichnen sich neuerdings aber auch andere Tendenzen ab. Der Ministerpräsident von Malaya äußerte 1958, man solle einen internationalen Schutz für Investitionen vereinbaren, um fremde Anlagen zu fördern. Vgl. Jenks a. a. O. S. 253.

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