Teilweiser Vorabdruck aus einer demnächst erscheinenden Abhandlung „Britisches UnterhausWahlrecht und Zweiparteiensystem“.
I. Zur soziologischen Zusammensetzung des modernen englischen Unterhauses
INHALT II. Kandidaten, Abgeordnete und ihre Wahlkreise Das sogenannte englische „Persönlichkeitswahlrecht“
Kandidatenaufstellung in der konservativen Partei Die Labour-Kandidaten Vorherrschaft der zwei Großparteien bei der Kandidatenauswahl Die Wahlfinanzen der Konservativen Die Wahlfinanzen der Labour-Partei Die Finanzierungslage bei den kleinen Parteien Persönliche Beziehungen zwischen Abgeordneten und Bevölkerung Sprechstunde, Postverkehr, Verpflichtungen III. Das Verhalten der Wählerschaft (Voting B
INHALT II. Kandidaten, Abgeordnete und ihre Wahlkreise Das sogenannte englische „Persönlichkeitswahlrecht“
Kandidatenaufstellung in der konservativen Partei Die Labour-Kandidaten Vorherrschaft der zwei Großparteien bei der Kandidatenauswahl Die Wahlfinanzen der Konservativen Die Wahlfinanzen der Labour-Partei Die Finanzierungslage bei den kleinen Parteien Persönliche Beziehungen zwischen Abgeordneten und Bevölkerung Sprechstunde, Postverkehr, Verpflichtungen III. Das Verhalten der Wählerschaft (Voting B
Es liegt in der Struktur des Wahlrechts begründet, daß Wert und Unwert seiner verschiedenen Systeme (Mehrlieitsoder Verhältniswahl insbesondere) sich bis zu einem gewissen Grade an konkreten Ergebnissen beurteilen lassen, die eine Frucht der jeweiligen rechtlichen Regelung darstellen. Dies gilt insbesondere für die Rückwirkungen der verschiedenen Wahlsysteme auf die Parteienstruktur in den Parlamenten. Hier handelt es sich um die Frage, deren Beantwortung vom Standpunkt einer Bemühung um die Konsolidierung des modern-demokratischen Verfassungsstaates vielleicht den entscheidenden Beurteilungsmaßstab über eine bestimmte Wahlform abgibt. Man kann die Frage aber zunächst auch anders stellen und untersuchen, inwieweit eine Wahlordnung Einflüsse auf die individuell-personelle Zusammensetzung des nach ihr gewählten Parlamentes ausübt, ob unter ihr bestimmte Berufsgruppen besonders günstige Chancen auf Parlamentssitze haben, ob gewisse soziale Schichten in den Vordergrund treten u. ä. Die Antworten hierauf sind nicht unwichtig, da infolge des Anwachsens der legislativen Aufgaben moderner Parlamente in den letzten Jahrzehnten das Bedürfnis eher zugenommen hat, möglichst zahlreiche Abgeordnete in den Volksversammlungen zu besitzen, die für diese Aufgaben in der einen oder anderen Weise qualifiziert sind
Berufliche Herkunft der Unterhausabgeordneten
Berufe Barrister 7)
Solicitor )
Arzt, Zahnarzt Architekt Revisor Ingenieur Verwaltungsbeamte (auch Kolonien und Commonwealth), Kommunalbeamte Bewaffnete Streitkräfte Lehrberufe:
Universität Erwachsenenbildung Schule Religionsdiener Zusammen „Professions *) Kons. Abg. 66 11 2 3 11 3 12 47 2 — 2 — 159 Labour Abg. 27 9 8 — 2 — 9 3 10 4 25 3 100
Berufe Barrister 7)
Solicitor )
Arzt, Zahnarzt Architekt Revisor Ingenieur Verwaltungsbeamte (auch Kolonien und Commonwealth), Kommunalbeamte Bewaffnete Streitkräfte Lehrberufe:
Universität Erwachsenenbildung Schule Religionsdiener Zusammen „Professions *) Kons. Abg. 66 11 2 3 11 3 12 47 2 — 2 — 159 Labour Abg. 27 9 8 — 2 — 9 3 10 4 25 3 100
In Großbritannien ist die Zusammensetzung des Unterhauses unter diesen soziologischen Aspekten mehrfach untersucht worden, und insbesondere die britische parlamentarische Geschichte seit 1918 hat sich besonderer Aufmerksamkeit in dieser Richtung erfreut. Vor allem J. F. S. Ross hat in verschiedenen Studien die Herkunft der Parlamentsmitglieder bis ins äußerste Detail vom Standpunkt eines der Einführung der Verhältniswahl zugeneigten englischen Liberalen untersucht
Nach der oben umrissenen Fragestellung interessiert unter den verschiedenen möglichen Analysen
Vorherrschaft der „Professions”, Geschäftswelt und Gewerkschaften
Berufe Kleinere Geschäftsleute Direktoren von Gesellschaften Andere leitende Angestellte von Gesellschaften (Manager) Kaufleute, bes. Versicherungswesen, Banken: Leitendes Personal Angestellte Zusammen Geschäftswelt Kons. Abg. — 62 16 16 7 101 Labour Abg. 9 2 3 6 14 34
Berufe Kleinere Geschäftsleute Direktoren von Gesellschaften Andere leitende Angestellte von Gesellschaften (Manager) Kaufleute, bes. Versicherungswesen, Banken: Leitendes Personal Angestellte Zusammen Geschäftswelt Kons. Abg. — 62 16 16 7 101 Labour Abg. 9 2 3 6 14 34
Die Tabellen werfen ein deutliches Licht auf die Verschiedenartigkeit des sozialen Hintergrundes beider Parteien, wie sie für die Nachkriegs-Parlamente typisch ist. Die konservativen Abgeordneten haben zum guten Teil althergebrachte und einflußreiche Berufsstellungen inne: Barristers, pensionierte Offiziere, Direktoren größerer Gesellschaften und Landbesitzer, d. h. durchweg Personen in weitgehend unabhängiger finanzieller Stellung; Angehörige der oberen Schichten machen nahezu zwei Drittel der konservativen Parlamentarier im Hause von 1955 aus. Hinzu treten einzelne Parlamentarier aus den verschiedenen anderen Professions; eine nicht unbeträchtliche Anzahl aus mittleren Stellungen in Handel und Gewerbe sowie aus dem Journalismus und politischen Stellungen innerhalb der Partei. Dagegen ist die Arbeiterschaft in der parlamentarischen konservativen Partei seit jeher beinahe unvertreten gewesen; der eine Abgeordnete im Parlament von 1955 kann den berühmten „Tory working man“, den Disraeli bereits nach der zweiten Reformbill 1867 entdeckte, nur symbolisch repräsentieren.
Andererseits liegt das Schwergewicht auf der Seite der Labour-Partei ebenfalls deutlich bei einer bestimmten Berufsgruppe. Ein gutes Drittel wird hier von der Gruppe der von den Gewerkschaften befürworteten Arbeiterkandidaten (meist zugleich Gewerkschaftsfunktionäre) gestellt. Interessant zu beobachten ist in der parlamentarischen Labour-Partei außerdem der verhältnismäßig starke Anteil der „hommes de lettre“ aus Lehrberufen und Journalismus, eine für Linksparteien oftmals charakteristische Erscheinung. Weiter bilden die juristischen Berufe, darunter wiederum die sozial besonders geachteten Barristers an erster Stelle eine ausgeprägte Fraktion innerhalb der parlamentarischen Arbeiterpartei
Diese für die Zusammensetzung des modernen britischen Unterhauses charakteristische Konzentration auf bestimmte Berufe, hat in wechselnder Form seit langem bestanden. Schließlich war das House of Commons ursprünglich als die Vertretung eines bestimmten Standes, des niederen Landadels, geschaffen worden. In späteren Zeiten, besonders nach den Bürgerkriegen des 17. Jahrhunderts bis eigentlich zur zweiten Reform 1867, wurde das Unterhaus weitgehend von der land-besitzenden Gentry beherrscht, die sich gleichermaßen in den Rängen der Whigs und Tories wiederfand. Walter Bagehot hat den homogenen Charakter der Parlamente in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus zeitgenössischer Erfahrung beschrieben, „. . . they were educated at the sawe sdtools, know one another's fawily nawe frow boyhood, form a Society, are tbe same kind of men, marry the same kind of women“
Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts veränderte sich, hauptsächlich durch das Auftreten der Labour-Partei, der soziologische Hintergrund des britischen Unterhauses. Die konservative Partei wies zwar im wesentlichen bereits die Struktur auf, welche sie sich bis heute bewahrt hat, unter allmählicher Abschwächung des Einflusses der Landbesitzer zugunsten der industriellen Kreise und der Professions. Unter den Liberalen gewannen gleichfalls die professionellen Berufe eine steigende Bedeutung, ihre beiden letzten Premiers, Asquith und Lloyd George, waren Barrister, beziehungsweise Solicitor. Vor allem aber fand die Arbeiterklasse in der bizarren Gestalt des schottischen Bergmannes Keir Hardie 1892 zum ersten Male eine Vertretung in den ehrwürdigen Räumen des Unterhauses und seit den Wahlen 1906 waren die Arbeiter mit zunächst etwa 30 Sitzen ein ernstzunehmender Faktor geworden. Nachdem Labour dann später in den zwanziger Jahren die Liberalen aus ihrer Rolle als Gegenspielerin der Konservativen im britischen Zweiparteiensystem verdrängt hatte, fand sich in ihren Reihen ein Teil des früher liberalen Mittelstandes wieder ein. Diese Tendenz hat sich bis heute eher verstärkt, wie aus der angeführten Tabelle ablesbar ist.
Wert und Unwert des Hervortretens bestimmter Berufe
Berufe Verschiedene Bürotätigkeiten Privatleute Berufspolitiker, Parteifunktionäre Journalisten, Verleger Farmer 8)
Hausfrauen Zusammen Verschiedene Berufe Kons. Abg. 4 11 17 19 31 1 83 Labour Abg. 5 — 7 27 5 2 46
Berufe Verschiedene Bürotätigkeiten Privatleute Berufspolitiker, Parteifunktionäre Journalisten, Verleger Farmer 8)
Hausfrauen Zusammen Verschiedene Berufe Kons. Abg. 4 11 17 19 31 1 83 Labour Abg. 5 — 7 27 5 2 46
Die Präponderanz bestimmter Berufsklassen im Unterhaus — Land-besitz, große Geschäftsleute, Professions bei den Konservativen, Gewerkschaftsfunktionäre, darunter besonders Bergleute und in geringerem Maße die Professions in der Labour-Partei — ist bisweilen kritisiert worden. J. F. S. Ross insbesondere hat errechnet
Die geschichtliche Erfahrung in den Parlamenten verschiedener Nationen zeigt, daß es bestimmte Berufe gibt, die sich kraft ihrer Eigenart besonders gut mit einer parlamentarischen Laufbahn verbinden lassen. Rechtsanwälte, Journalisten, die Lehrberufe, um nur einige Beispiele zu nennen, haben in Deutschland und Frankreich seit dem 19. Jahrhundert eine große Anzahl von Parlamentariern gestellt. Derartige Beobachtungen brauchen nicht im Sinne einer Verteidigung von Partikularinteressen gedeutet zu werden, wenn auch etwa die starke Vertretung von Geschäftsleuten und Landbesitz im Unterhaus sicherlich nicht ohne Einfluß auf die Geschicke dieser Berufsstände geblieben ist. Gruppen wie die des Anwaltstandes oder von Personen mit Verwaltungserfahrung
Ebenso kann man die ausgeprägte Vertretung der Geschäftswelt und der Gewerkschaften, in geringerem Maße heute des Landbesitzes im Unterhaus für gerechtfertigt und vielleicht sogar glücklich halten. In einer Zeit, in der sich auch in Großbritannien die innerpolitisch wichtigsten Auseinandersetzungen auf der industriellen Ebene zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer abspielen, ist es keine unangebrachte Lösung, wenn diese Berufsgruppen eine starke Vertretung im Parlament haben. Dies sichert ihnen eigene sachverständige Mitwirkung bei vieler sie betreffender Gesetzgebung und bedeutet zugleich vom Standpunkt des Staates eine Verbindung dieser machtvollen Interessengruppen mit dem Parlament. Ob die englische Lösung der teilweisen direkten Einbeziehung der modernen „Feudalitäten" in das Parlament in allen Einzelheiten als wünschenswert angesehen werden kann, bleibt natürlich eine offene Frage, deren eingehendere Beantwortung nicht in den Bereich dieser Studie fällt
Hat das Wahlsystem Einfluß auf die berufliche Zusammensetzung des Unterhauses?
Berufe Eisenbahnangestellte Bergleute Gelernte Arbeiter und Handwerker Teilweise angelernte und ungelernte Arbeiter Zusammen Gesamtzahl Arbeiter Kons. Abg. — — 1 — 1 344 10 33 29 25 97 Labour Abg. 277 9)
Berufe Eisenbahnangestellte Bergleute Gelernte Arbeiter und Handwerker Teilweise angelernte und ungelernte Arbeiter Zusammen Gesamtzahl Arbeiter Kons. Abg. — — 1 — 1 344 10 33 29 25 97 Labour Abg. 277 9)
Es ist nicht einfach abzuschätzen, in welchem Maße das System des Unterhauswahlrechtes als solches Einfluß auf die soziologische Zusammensetzung des Hauses genommen hat, von der ein bedeutsamer Ausschnitt im vorangehenden dargestellt wurde. Die Beantwortung dieser Frage hängt weitgehend mit der Art und Weise der Kandidatenaufstellung im englischen relativen Mehrheitswahlrecht zusammen, wie sie im folgenden Abschnitt behandelt wird. Es läßt sich jedoch allgemein sagen, daß bei der Frage, wie zukünftige Abgeordnete in den einzelnen Parteien ausgewählt werden, unter jedem Wahlsystem eine Fülle sozialer Werturteile mitspielen werden, ebenso gewisse politische Traditionen, so daß es schwerlich verläßliche Aussagen z. B. darüber geben kann, inwieweit sich die soziologische Zusammensetzung des britischen Unterhauses bei der geplanten Einführung eines Verhältniswahlsystems nach 1918 von derjenigen unterschieden hätte, wie sie sich unter dem relativen Mehrheitswahlsystem tatsächlich entwickelte. Mit einiger Sicherheit kann man nur aussagen, daß diese oder jene Eigentümlichkeit in des Unterhauses sich unter bestimmten Formen des der Gliederung Wahlsystems entwickelt hat, ohne daß man deshalb notwendigerweise jeweils den Umkehrschluß ziehen und folgern dürfte, daß ohne diese Wahlform jener Typ des Abgeordneten nicht in den Vordergrund getreten wäre.
Ein gutes Beispiel hierfür bietet der massive Block der von den Gewerkschaften unterstützten Abgeordneten der Labour-Partei, eine nach Alter und Beruf deutlich unterscheidbare Gruppe im Unterhaus. Das System der einfachen Mehrheitswahl in Einerwahlkreisen bietet den Gewerkschaften günstige Aussichten, eine nicht unbeträchtliche Anzahl dieser Kandidaten in praktisch jeder Wahl ins Parlament zu bringen. In stark industrialisierten Gegenden wie Teilen der Midlands, Schottlands, den Bergwerksdistrikten von Südwales oder in Ostlondon gibt es eine Reihe von Wahlkreisen, in denen der Anteil der Arbeiterbevölkerung so stark ist, daß Labour hier einer Mehrheit selbst unter ungünstigeren Umständen, wie etwa bei der Wahl 1931, sicher ist
J. F. S. Ross führt die große Anzahl von Abgeordneten innerhalb der konservativen Partei, die sich in finanziell unabhängigen Stellungen befinden — die große Anzahl der Gesellschaftsdirektoren, Angehörigen der Professions — auf den „Kauf“ von sicheren Sitzen zurück, der sich unter dem System der einfachen Mehrheitswahl besonders leicht. einbürgere
II. Kandidaten, Abgeordnete und ihre Wahlkreise
Zusammen Konservative Kandidaten Labour Kandidaten ILP 36) Kandidaten CW 37) Kandidaten Liberale Kandidaten Nationalliberale u. ä. Kandidaten Kommunisten Andere (Unabh. und Natio-
nalisten aus Wales und Schottland) Gesamtzahl der Wahlkreise 1945 573 605 5 23 306 51 21 99 1. 683 640 1950 568 617 5 — 475 53 100 50 1. 868 625 i(1951 617 617 3 — 109 Kons.)
10 20 1. 376 625 1955 624 620 5 — 110 (=Kons.)
17 36 1. 412 630
Zusammen Konservative Kandidaten Labour Kandidaten ILP 36) Kandidaten CW 37) Kandidaten Liberale Kandidaten Nationalliberale u. ä. Kandidaten Kommunisten Andere (Unabh. und Natio-
nalisten aus Wales und Schottland) Gesamtzahl der Wahlkreise 1945 573 605 5 23 306 51 21 99 1. 683 640 1950 568 617 5 — 475 53 100 50 1. 868 625 i(1951 617 617 3 — 109 Kons.)
10 20 1. 376 625 1955 624 620 5 — 110 (=Kons.)
17 36 1. 412 630
Das sogenannte englische „Persönlichkeitswahlrecht”
Klassenmäßige Aufgliederung Allgemeine Wahl 1945 Gesamte Nation Mittelstand Arbeiterklasse Allgemeine Wahl 1950 Gesamte Nation Mittelsand Arbeiterklasse Allgemeine Wahl 1951 Gesamte Nation Mittelstand Arbeiterklasse Kons. 9, 6 4, 8 4, 4 12, 2 5, 8 5, 8 13, 5 6, 5 6, 2 Labour 11, 9 2, 2 9, 2 13, 2 1, 9 10, 6 13, 9 1, 9 11, 3 Andere (auch Enthaltungen) 12, 1 3, 3 8, 1 8, 6 2, 7 5, 5 6, 8 2, 1 4, 5 Zusammen 33, 6 10, 3 21, 7 34, 0 10, 4 21, 9 34, 2 10, 5 22, 0 (Jeweils in Millionen Stimmen)
Klassenmäßige Aufgliederung Allgemeine Wahl 1945 Gesamte Nation Mittelstand Arbeiterklasse Allgemeine Wahl 1950 Gesamte Nation Mittelsand Arbeiterklasse Allgemeine Wahl 1951 Gesamte Nation Mittelstand Arbeiterklasse Kons. 9, 6 4, 8 4, 4 12, 2 5, 8 5, 8 13, 5 6, 5 6, 2 Labour 11, 9 2, 2 9, 2 13, 2 1, 9 10, 6 13, 9 1, 9 11, 3 Andere (auch Enthaltungen) 12, 1 3, 3 8, 1 8, 6 2, 7 5, 5 6, 8 2, 1 4, 5 Zusammen 33, 6 10, 3 21, 7 34, 0 10, 4 21, 9 34, 2 10, 5 22, 0 (Jeweils in Millionen Stimmen)
Dem System der relativen Mehrheitswahl, wie es in Großbritannien eine vollausgebildete Form gefunden hat, sind oftmals die Vorzüge eines sogenannten „Persönlichkeitswahlrechts“ zugeschrieben worden. Mit diesem Begriff, der etwa auch in der deutschen Wahlrechtsdiskussion nach dem Zweiten Weltkrieg einen festen Platz im Wortschatz der Anhänger von Mehrheitswahlformen gefunden hat
Der zweite Gedanke betrifft das Verhältnis des einmal gewählten Abgeordneten zu seinen Wählern. Hier würden die verhältnismäßig kleinen Wahlkreise, beim relativen Mehrheitswahlrecht, gute Möglichkeiten für den Abgeordneten bieten, sich um besondere Wünsche seiner Wähler zu kümmern, in einem durch das Gefühl örtlicher Verbundenheit wachgerufenen Vertrauensverhältnis zu ihnen zu stehen. Während bei Listenwahlsystemen der Wähler meist nur die Partei kenne und danach abstimme, entscheide er bei der Mehrheitswahl zwischen verschiedenen Personen und gewinne dabei, wenn auch meist in recht sublimierter Form das Gefühl, einen eigenen Abgeordneten zu haben, an den er sich gelegentlich mit einer persönlichen Frage wenden könnte. Die Mehrheitswahl fördere somit Tendenzen, die der unerwünschten Vermassung und Anonymisierung der modernen Wahlen und der durch sie zusammengerufenen Volksvertretungen entgegenwirken.
Inwieweit ein Wahlsystem wie das englische tatsächlich persönlichkeitsfördernd im erstgenannten Sinne sein kann, hängt von der Ausgestaltung der Kandidatenauswahl und dem Verhalten der Wählerschaft (Voting Behaviour) gegenüber den ihnen präsentierten Kandidaten ab. Dabei ist es im letzteren Falle von besonderer Wichtigkeit zu wissen, ob die Mehrzahl der heutigen Wähler ihre Entscheidung überhaupt auf Grund einer auch nur ungefähren Kenntnis der Persönlichkeiten der einzelnen Kandidaten in den Wahlkreisen trifft oder als Folge einer mehr oder weniger gefühlsmäßigen Zuneigung zu einer der großen parteimäßigen Gruppierungen, wobei der Wähler geneigt ist, selbst einen wenig versprechenden Kandidaten der illustren politischen Persönlichkeit der Gegenseite vorzuziehen, sofern der erstere nur seinen weltanschaulichen Überzeugungen oder instinktivem klassenmäßigen Zusammengehörigkeitsgefühl besser entspricht.
Die modernen englischen Unterhauswahlen mögen als Personen-wahlen bezeichnet werden. Persönlichkeitswahlen in dem besonderen oben umschriebenen Sinne sind sie heute nur in sehr beschränktem Maße. Personenwahlen darf man sie nennen, weil der Wähler beim eigentlichen Abstimmen sich letztlich nicht zwischen Parteilisten, sondern zwischen zwei oder mehr Kandidaten zu entscheiden hat, deren Parteizugehörigkeit auf den Stimmscheinen nicht einmal erwähnt ist. Diese überkommene technische Form des Wahlvorganges kann jedoch über den entscheidenden Einfluß der Parteiorganisationen nicht hinwegtäuschen, den diese bereits auf die Aufstellung der einzelnen Kandidaten genommen haben.
Kandidatenaufstellung in der konservativen Partei
Die Art der Kandidatenaufstellung ist bei den beiden großen britischen Parteien in den Grundzügen dieselbe, wenn auch auf der Seite der Arbeiterpartei ein etwas stärkerer Einfluß der zentralen Leitung der Partei besteht. Allgemein gewährt ein System der Mehrheitswahl den lokalen Parteiorganisationen stärkere Einflußmöglichkeiten auf die Auswahl der Kandidaten, da selbst bei straff organisierten die Parteien Kandidaten in den einzelnen Wahlkreisen für die örtliche Partei akzeptabel sein müssen, was dieser ohne weiteres ein gewisses Mitspracherecht eröffnet.
Bei den Konservativen kennt man sogar eine recht weitgehende Autonomie bei der Kandidatenauswahl. Die lokalen Associations der konservativen Partei sind im allgemeinen alte und respektable Einrichtungen. Grundsätzlich besteht eine Association für jeden Wahlkreis, die in Branches für die einzelnen Stimmbezirke untergliedert ist. Die Associations dienen nicht nur Wahlzwecken, wenn die Unterstützung der Kandidaten auch eine ihrer wichtigsten Aufgaben darstellt, sondern vermitteln zusammen mit angeschlossenen Frauenorganisationen und den Klubs der Jungen Konservativen allgemeine Gelegenheiten gesellschaftlichen Verkehrs
Autonomie örtlichen Konservativen Die der Organisationen der Partei wurde in der Praxis auch bisweilen ausgeübt. So lehnte etwa 1923 die Parteileitung der Abbey Division von Westminster es in einer Zwischenwahl ab, Winston Churchill als ihren offiziellen Kandidaten aufzustellen, obwohl Lord Balfour, Lord Birkenhead und Austen Chamberlain, d. h. drei leitende Persönlichkeiten der Partei, zu seinen Gunsten intervenierten, und entschied sich für einen wenig bekannten Hauptmann der Armee, der ein Neffe des zurückgetretenen Abgeordneten war
Bei aller Berücksichtigung von personellen Vorzügen wie Alter, intellektuellen Fähigkeiten, Bereitwilligkeit finanziell zum Wahlkampf und überhaupt für die Partei etwas beizutragen, bleibt auch bei der undogmatischen konservativen Partei die Frage der Anhänglichkeit zu gewissen Dingen, für welche die Partei steht, ein entscheidender Auslesegesichtspunkt. Die Auswahlkomitees werden in manchen Fällen, die für die parlamentarische Alltagsarbeit zuverläßigere Person (unfreundlich bisweilen als „Jasager“ bezeichnet) einem glanzvolleren, aber unberechenbaren Bewerber vorziehen
Die Labour-Kandidaten
Die Kandidatenauswahl innerhalb der Labour-Partei, zeichnet sich durch eine straffere Organisation aus. Ihre Prozedur ist in der Partei-verfassung und den Regeln für die örtlichen Parteigruppen schriftlich niedergelegt
Sobald man entschieden hat, einen Wahlkreis zu bestreiten, wird das allgemeine Komitee der örtlichen Labour-Partei gebeten, das örtliche Exekutivkomitee zu autorisieren, die Nominierungen für Kandidaturen entgegenzunehmen. Das lokale Exekutivkomitee lädt dan sowohl die örtliche Partei als auch die ihr angegliederten Organisationen (Affiliated Organisations) ein, Vorschläge zu machen. Insbesondere die letzteren, unter denen sich mit den Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften (Cooperative Movement) zwei Hauptstützen der Labour-Partei befinden, haben auf diese Weise Gelegenheit, ihre Leute für eine Kandidatur zu präsentieren
Im ganzen gewinnt man auf diese Weise von der Kandidatenauswahl innerhalb der Arbeiterpartei den Eindruck einer sorgfältigen Ausbalancierung der Befugnisse unter örtlichen und zentralen Instanzen. Dabei behält die Parteispitze zwar das letzte Wort, ist aber durch das Initiativrecht der örtlichen Gruppen in ihrer Auswahl vorbeschränkt. Über diese statutenmäßige Aufteilung der Kompetenzen hinaus fehlt es der Labour-Partei in vielen Fällen an geeigneten Persönlichkeiten, die sich als Kandidaten aufstellen lassen wollen, so daß der Zentrale oftmals gar nichts anderes übrig bleibt, als die eine Person zu akzeptieren, die ihr örtlicherseits vorgeschlagen wird
Vorherrschaft der zwei Großparteien bei der Kandidatenauswahl
Die große Mehrzahl der Kanditaten in den Nachkriegswahlen zum britischen Unterhaus wurde durch die konservative und die Labour-Partei aufgestellt, wie aus nachfolgender Tabelle ersichtlich ist
Aus den Zahlen geht hervor, daß zumindest seit den Wahlen 1951 und 1955 das Übergewicht der beiden großen Parteien über die kleineren bereits nach der Aufstellung der Kandidaten feststand; es hatten sich nicht genügend Personen anderer Parteien oder Unabhängige beworben, die den Konservativen und Labour ihre Vormachtstellung, auch nur versuchsweise, hätten streitig machen können. Die Abnahme in der Zahl der nicht den beiden großen Parteien zugehörigen Kandidaten ist natürlich nur eine Folgeerscheinung der Tatsache, daß es mehr und mehr ins allgemeine Bewußtsein drang, daß abgesehen von
Das zeitweilige Anwachsen der Anzahl kleinerer Parteien, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren um Abgeordnetensitze bewarben, war demgegenüber mehr eine Übergangserscheinung gewesen, die mit dem großen Umwälzungsprozeß in der englischen Parteienstruktur zusammenhing, der Ersetzung der Liberalen durch Labour, als die zweite große Partei des Unterhauses. In demselben Maße, wie sich seit 1935 die Stellung Labours mehr und mehr konsolidierte, wurden die Chancen dritter Parteien oder Unabhängiger geringer, die Verwirrung der Meinungen in der Wählerschaft auszunutzen um als eine Art Außenseiter in einzelnen Wahlkreisen Mehrheiten zu erringen
Die Wahlfinanzen der Konservativen
Insbesondere die Frage der Finanzierung spielt eine bedeutende Rolle bei der Kandidatenauslese. Die Beschränkung des Wahlkampfes in der großen Mehrzahl der Wahlkreise auf die Kandidaten der Konservativen und Labours erklärt sich zum guten Teil daraus, daß nur von diesen Parteien unterstützte Personen eine normale Wahlkampagne finaziell durchführen können. In manchen hoffnungslosen Wahlkreisen würde die örtliche Minderheitspartei das anscheinend sinnlose Risiko der Geldausgabe scheuen, das in der Aufstellung eines Gegenkandita-ten liegt, wenn nicht die Spitzenorganisation bereit wäre, Verluste zu decken oder selbst einen opferwilligen Kandidaten von ihrer Liste benennen könnte.
Die Art, in der die beiden großen Parteien die Mittel für die Wahlkämpfe aufbringen, unterscheidet sich erheblich. Die konservative Partei hat es bis auf den heutigen Tag abgelehnt, Umfang und Herkunft; ihrer Finanzquellen zu veröffentlichen, obwohl sie oftmals dazu von ihren Gegnern aufgefordert wurde
Die Wahlfinanzen der Labour-Partei
Die Labour-Partei ist der sozialen Herkunft der Mehrheit ihrer Mitglieder nach weniger in der Lage, nennenswerte Wahlzuschüsse von Einzelpersonen erwarten zu können
werkschaften, nach dem großen Generalstreik 1926, diese Klausel dahingehend geändert, daß jedes Gewerkschaftsmitglied, daß die politische Abgabe zu entrichten wünscht, dies ausdrücklich zu beantragen habe (sogenanntes Contracting in). Die Spekulation auf die menschliche Trägheit war recht erfolgreich; die Zahl der zum politischen Fonds beitragenden Gewerkschaftler und damit deren Mittel nahmen beträchtlich ab, so daß die Labourregierung bald nach ihrem Wahlsieg 1945 das Contracting out wieder einführte, wonach die politischen Revenuen der Gewerkschaften eine erneute Aufwärtsbewegung nahmen
Infolge des Fehlens genauer Zahlen bei der konservativen Partei ist es nicht möglich, die Finanzen beider Parteien zu vergleichen. Die Ansichten, welche von ihnen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg die reichere Partei ist, gehen auseinander. Während bisweilen die Auffassung ausgedrückt wird, im Gegensatz zu früheren Zeiten müßten heute die Konservativen Labour um ihre bei jeder Wahl mit Sicherheit zu erwartenden gewerkschaftlichen Zuschüsse beneiden, schätzt M. Harrison in seiner inhaltsreichen Studie zu diesen Fragen
Finanzierungslage der kleinen Parteien
Angesichts ihrer geringen Erfolgsaussichten in den Unterhauswahlen, können die kleineren Parteien nur über weitaus beschränktere Mittel verfügen. Das politische Jahresbudget der Liberalen, von dem ein guter Teil für die laufende Unterhaltung der Parteiorganisation verwendet werden muß, wird gegenwärtig auf etwa 50 000 Pfund geschätzt, das der Kommunisten, die einige der kleineren Gewerkschaften kontrollieren, auf ungefähr das Doppelte dieser Summe. Diese Parteien müssen daher bereits bei der Auswahl ihrer Kandidaturen genau deren Erfolgschancen prüfen, um den Verlust allzu vieler Wahlbürgschaften zu verhindern. Die Wahl 1950 war z. B. eine finanzielle Katastrophe für die Liberalen, die 475 Kandidaten aufgestellt hatten, aber nur 12 durchbrachten und bei nicht weniger als 319 die Wahlbürgschaften verloren. 1951 reduzierten sie daraufhin die Anzahl ihrer Kandidaturen auf 109, verloren aber immer noch 66 Bürgschaften
Persönliche Beziehungen zwischen Abgeordneten und Bevölkerung
Wenn im vorangehenden mehrfach die Zweifelhaftigkeit gewisser Vorstellungen von der englischen relativen Mehrheitswahl als eines „Persönlichkeitswahlrechts“ in einer Zeit betont wurde, die in Großbritannien mehr denn je unter dem Zeichen der politischen Vorherrschaft zweier großer, von den mächtigsten Interessengruppen des Landes finanziell unterstützter Massenparteien steht, sollten damit keineswegs gewisse andere, allgemein begrüßenswerte Möglichkeiten verkannt werden, die sich unter dem System der Einerwahlkreise für die Beziehungen zwischen den einmal gewählten Abgeordneten und ihren Wählern eröffnen. Hierin liegt vielleicht, wie oft erkannt worden ist
sentlichen Vorzüge der Mehrheitswahlformen. Die Kleinheit der Wahlkreise mit durchschnittlich
Diese für den englischen Parlamentarismus charakteristischen starken Beziehungen zwischen dem Abgeordneten und seinen Wählern haben eine lange Geschichte hinter sich. Porritt erwähnte in seinem Werk über das alte House of Commons vor 1832 bereits für das 15. Jahrhundert häufige Reisen der Abgeordneten in ihre Wahlkreise, die damals allerdings meist den Grund hatten, den Wählern Rechnungen über Auslagen zu präsentieren, ohne deren Begleichung die oft nicht allzu vermögenden Ritter mit der Niederlegung ihrer Ämter in Westminster drohten
Sprechstunde, Postverkehr, Verpflichtungen
Die zumindest monatlich abgehaltenen Sprechstunden heutiger Unterhausabgeordneter in ihrem Wahlkreis, spiegeln noch bis zu einem gewissen Grade jene alten Einflüsse wider. Jacques Cadart macht da-auf aufmerksam
Abgesehen von der Sprechstunde besteht in der Regel ein lebhafter Postverkehr zwischen den Abgeordneten und ihrer Wählerschaft, der sich bei der Behandlung bestimmter Fragen im Parlament, bei denen die Öffentlichkeit stark mitfühlt, wie etwa die Abschaffung der Todesstrafe plötzlich vervielfachen kann
Der britische Unterhausabgeordnete hat außerdem traditionsgemäß eine Reihe sozialer Verpflichtungen in seinem Wahlkreis zu erfüllen. Vereine und Clubs verschiedenster Art möchten ihn als Ehrenpräsidenten haben und erwarten gewisse Gegenleistungen. Er hat zu Wohltätigkeitsbällen beizusteuern, Sportveranstaltungen zu eröffnen, Ansprachen zu halten und ähnliches mehr. Dies gilt in besonderem Maße für die ländlichen Wahlkreise, in denen vermögende konservative Landbesitzer diesen Aufgaben mit ihrem umfänglichen finanziellen Aufwand am ehesten gerecht werden können. Es ist natürlich im Einzelfalle nicht immer ganz einfach zu unterscheiden, wo bei all diesen Tätigkeiten der wünschenswerte Kontakt zwischen Abgeordneten und Wählerschaft aufhört und eine mehr oder weniger diskrete finanzielle Ein-flußnahme örtlich bedeutsamer Personen und Institutionen anfängt. 'Es sind auch bisweilen seitens einzelner Abgeordneten Klagen laut geworden, daß diese verschiedenartigen Verpflichtungen zu starke geldliche Lasten für sie bedeuten, und gewisse Beschränkungen wurden in dieser Richtung Ende des Zweiten Weltkrieges vorgenommen
III. Das Verhalten der Wählerschaft (Voting Behaviour)
Man kann dem schillernden Begriff des englischen „Persönlichkeitswahlrechts" schließlich eine weitere, für die Erkenntnis des Arbeitens des britischen Wahlsystems, bedeutsame Fragestellung abgewinnen. Nadi welchen Gesichtspunkten entscheidet sich der Wähler unter den ihm präsentierten Kandidaten? Beeinflußt die individuelle Persönlichkeit des Bewerbers seine Entscheidung in spürbarem Maße, oder ist das Gefühl der Zugehörigkeit oder Sympathie für eine große politische Partei der primäre Gesichtspunkt, nach dem er seine Wahl orientiert?
Kandidatenpersönlichkeit und Parteivorliebe
Eine überwältigende Anzahl von Stellungnahmen verschiedenster Art
Trotz dieser allgemeinen Entwicklung läßt sich in einzelnen Fällen nachweisen, daß die Person des Kandidaten und sein Ruf auch unter den heutigen Verhältnissen nicht ohne Einfluß auf die Entscheidung der Wähler geblieben sind. Das vielleicht erstaunlichste Beispiel hierfür verdankt die britische Wahlrechtsgeschichte dem liberalen Kandidaten F. Gray in Oxford bei den Wahlen 1923 und 1924. Oxford galt seit jeher als sicherer Sitz der Konservativen. Gray, ein vermögender Privatmann, entfaltete jedoch vor der Wahl 1923 eine fieberhafte Tätigkeit. Er besuchte nahezu alle Häuser des Wahlkreises und machte sich der überwältigenden Mehrzahl der Einwohner persönlich bekannt. Zwei Sekretäre unterhielten für ihn eine Karthotek, in der die Namen tausender von Wählern verzeichnet waren, die sich mit irgendwelchen Fragen oder Anliegen an ihn gewandt hatten. Gray versprach, sich in jeder möglichen Weise für die Verbesserung des Loses von Kranken, Kindern und Erwerbslosen einzusetzen. Bei all diesen Besuchen und in seiner umfangreichen Korrespondenz bat er niemals ausdrücklich darum, daß jemand für ihn seine Stimme abgeben möge. Er wurde 1923 und 1924 mit erheblichen Mehrheiten als Liberaler in der konservativen Hochburg gewählt. Leider entdeckte nach der zweiten Wahl der konservative Gegenkandidat eine leichte Überschreitung der Wahlkosten durch Grays Agenten und focht die Wahl daraufhin mit Erfolg an, so daß Gray sich später nicht mehr in Oxford aufstellen lassen konnte. Es kann kaum ernsthaft erwartet werden, daß eine nennenswerte Anzahl von Kandidaten jemals finanziell und zeitlich in der Lage sein werden, F. Grays Beispiel nachzuahmen; dessenungeachtet zeigt der Fall in all seiner Skurilität, daß Möglichkeiten der Beeinflussung der Wählerschaft durch die besondere Persönlichkeit des Kandidaten auch heute grundsätzlich bestehen. Die Parteivorliebe des Durchschnittswählers braucht auch in England nicht als eine Art unverrückbares Glaubensbekenntnis aufgefaßt zu werden, wenn der Wähler auch in den meisten Fällen mangels eines ähnlich intensiven persönlichen Kontaktes mit dem Kandidaten eher bereit ist, seinen abstrakten Wert-und Zusammengehörigkeitsgefühlen zu folgen
Man kann die Einwirkung der Persönlichkeitseinflüsse in schwächerem Umfang als bei jenem Paradebeispiel des Persönlichkeitskandidaten auch anderswo nachweisen. Bei der Wahl 1931 wurde der spätere Labourparteiführer und Premierminister C. Attlee in seinem damaligen Wahlkreis in Limehouse, Ostlondon, mit einer knappen Mehrheit wiedergewählt, während in allen angrenzenden Constituencies mit ähnlicher Bevölkerungszusammensetzung, die Labourkandidaten der gegnerischen Koalition unterlagen. Da Attlee zu jener Zeit noch keineswegs in der nationalen Politik eine bekannte Figur war, konnte dieser Erfolg nur auf seine Tätigkeit in der Kommunalverwaltung seines späteren Wahlbezirkes vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt werden, aus der er vielen Leuten noch in guter Erinnerung war
Ähnlich hat D. E. Butler in seiner Untersuchung über die Unterhauswahl von 1955 allgemein nachgewiesen, daß Abgeordnete, die in ihrem bisherigen Wahlkreis die Wiederwahl suchten, im allgemeinen mehr Stimmen im Durchschnitt erhielten, als neue Kandidaten in vergleichbaren Wahlkreisen
Einflüsse der Massenmedia
Man kann diese bereits weitgehend an der Stärke der beiden großen Parteien im Unterhaus ablesbare These näher von der soziologischen Seite untersuchen. Dies ist in Großbritannien gerade in den Jahren nach 1945 in stärkerem Maße unternommen worden. Es lassen sich dann eine Reihe weiterer Gründe anführen, welche die erstrangige Bedeutung der Parteiassoziation eines Kandidaten unterstreichen.
Zunächst begünstigen mehrere allgemeine Faktoren die starke Einflußnahme politischer Massenorganisationen auf die Formung der öffentlichen Meinung. Die britische Wählerschaft ist heute eine der am besten unterrichteten der Welt. Der Einfluß der modernen Kommunikationsmittel wie vor allem Presse, Rundfunk und das in den Jahren nach 1950 immer stärker in den Vordergrund getretene Fernsehen auf den Verlauf der Wahlkampagne, ist bereits oft geschildert worden
Ein anderer Umstand, der besonders ausländischen Beobachtern in diesem Zusammenhang auffällt, ist die ausgesprochene Homogenität der britischen öffentlichen Meinung. Bereits in den Vorkriegsjahren ähnelten sich die weltanschaulich anscheinend von so grundverschiedenen Positionen ausgehenden Programme der großen Parteien in vielen Punkten 00), und seitdem die Arbeiterpartei in den Jahren nach 1945 die hauptsächlichen Anliegen ihres Nationalisierungsprogrammes verwirklicht hatte und die Konservativen nach 1951 den Großteil dieser Maßnahmen unangetastet ließen, haben sich die Gegensätze weiterhin gemildert. Eine der anerkannten Schwierigkeit für Labour seit 1951, ihre Rüdekehr als Regierungspartei vorzubereiten, liegt darin, ein sich von den konservativen Vorstellungen deutlich unterscheidendes und zugleich anziehendes Programm für die Innenpolitik zu entwerfen.
Die klassenmäßige Bevölkerungsschichtung als Wahlfaktor
Ein wesentlicher Beweggrund für die Anziehungskraft des Parteinamens bei der Wahlentscheidung dürfte schließlich in der berufs-und klassenmäßigen Zusammensetzung der Wählerschaft zu suchen sein. Dies gilt besonders im Hinblick auf die Arbeiterwähler. Die Labour-Partei ist eine politische Organisation, die sowohl nach ihrer Entstehung als auch in den Hauptpunkten der politischen Zielsetzung seit jeher in erster Linie die Interessen der Arbeiterklasse vertreten hat. Die Tatsache, daß sie sich damit zum Exponenten der im hochindustrialisierten Großbritannien weitaus überwiegenden Bevölkerungsschicht gemacht hat, — lohnempfangende Handarbeiter machten 1951 71, 8% aller Berufstätigen aus
Die Anhängerschaft der konservativen Partei ist demgegenüber ihrer soziologischen Herkunft nach differenzierter gegliedert. Die Konservativen waren gezwungen, eine Antwort auf die Herausforderung Labours zu finden, sich als die berufene Vertreterin der zahlenmäßig mächtigsten Schicht innerhalb Großbritanniens auszugeben. Diese Situation mag die ständige Aufrechterhaltung und Erneuerung des alten Grundsatzes der Konservativen erklären, eine nationale, d. h. alle Bevölkerungsschichten gleichmäßig berücksichtigende Partei sein zu wollen. Diese Haltung ist nicht nur eine Folgeerscheinung der zahlreichen Fusionen, welche die Tories in den letzten siebzig Jahren mit anderen, hauptsächlich liberalen Parteigruppen eingegangen sind, sondern bedeutet seit dem Aufstieg Labours im Grunde überhaupt eine Voraussetzung für ihren Anspruch, eine mögliche Mehrheitspartei im Unterhaus zu bleiben. Ohne einen bestimmten Anteil an den Arbeiterstimmen zu erlangen, könnten die Konservativen, wie zahlenmäßig noch zu zeigen sein wird, seit der Einführung des allgemeinen Stimmrechtes keine Regierung mehr bilden. Man weiß innerhalb der Partei seit langem um diese Notwendigkeit, sich eine aus den verschiedensten Bevölkerungs-
schichten rekrutierende Wählerschaft zu erhalten. Disraeli beschrieb bereits in einem eindrucksvollen, wenn auch sicher nicht verfassungsrechtliche Richtigkeit erheischenden Satze, eines seiner frühen Romane, die beiden herausragenden Institutionen der britischen Verfassung als „the king and the multitude"
In jüngerer Zeit haben eine Reihe von soziologischen Studien, die mit dem Verhalten der britischen Wählerschaft befaßt waren, deutlich gemacht, daß diese Betonung der Verbundenheit zu bestimmten Bevölkerungsklassen, wie sie in der Wahlpropaganda vor allem der Labour-Partei anklingt, in der Tat eine Ausnutzung realer Gegebenheiten darstellt
Die Zahlen schließen Familienangehörige und aus Altersgründen nicht mehr Berufstätige jeweils ein. Die Differenzen, die in der Tabelle zwischen der für die Gesamtwählerschaft und der aus einer Addition von Mittelstand und Arbeiterklasse gewonnenen Zahl bestehen, erklären sich durch die Nichtberücksichtigung bestimmter Zwischengruppen, hauptsächlich der ländlichen Berufe oder der zahlenmäßig schwachen Oberschicht, wie sie von J. Bonham im Interesse einer klaren Abgrenzung zwischen den beiden Begriffen vorgenommen wurde. Die eigentliche Trennungslinie zwischen Mittelstand und Arbeiterklasse wird hier in der Tatsache gesehen, ob eine bestimmte Berufsgruppe Lohnempfänger für Handarbeit ist oder nicht. („Manuel wages“ im Gegensatz zu allen anderen Arten der Vergütung.
Bedeutung und Grenzen der Wahlanalyse nach Bevölkerungsklassen
Trotz mancher notwendigen Vereinfachungen und des Risikos gewisser Fehlschätzungen, lassen sich aus diesen und ähnlichen Zahlen einige genauere Aufschlüsse über das Verhalten der britischen Wählerschaft gewinnen. Vor allem wird als fundamentale Tatsache deutlich, daß die Parteifronten in Großbritannien zum Teil mit der durch verschiedene Berufsstellung und Einkommen hervorgerufenen Gliederung der Bevölkerung parallel laufen. Wie Bonham es ausdrückt, kann man die Wahlen auf diese Weise u. a. auch als einen Wettbewerb zwischen verschiedenen Klassen der Bevölkerung auffassen, die jede eine Priorität in der Sicherstellung ihrer materiellen Bedürfnisse beanspruchen. Der Einzelwähler braucht sich dabei nicht bewußt zu sein, daß das egoistische klassenmäßige Interesse regelmäßig die Entscheidungsgrundlage seiner Wahl darstellt
Besonders stark tritt der Gedanke der Klassenvertretung, wie bereits angedeutet, bei der Labour-Partei hervor, die sich in entscheidendem Maße auf die Arbeiterwähler stützt. Sie ist zugleich eine ausgesprochene städtische Partei. Demgegenüber unterstützt nur ein ausgesprochen geringer Anteil des Mittelstandes die Arbeiterpartei, wobei es sich wiederum um die einkommenmäßig am niedrigsten stehenden Gruppen der Lower Middle Class (insbesondere Büroberufe) handelt. Gegenüber dieser Uniformität der Labourwählerschaft beziehen die Konservativen ihren Stimmanteil zu ungefähr gleichen Teilen aus dem Mittelstand und der Arbeiterklasse. Diese Unterstützung der in ihrer parlamentarischen Spitzengruppe immer noch sehr aristokratisch — exklusiv erscheinenden Tories könnte erstaunlich wirken, zöge man nicht die im vorangehenden erwähnte traditionell nationale Ausrichtung der Partei mit in Betracht. Die politische Zukunft der Konservativen, ist auf diese Weise bei der augenblicklichen Zusammensetzung der Bevölkerung, stets von der wahlmäßigen Unterstützung zumindest eines Drittels des Arbeiterstandes abhängig. Man hat das die Grund-tatsache des englischen politischen Lebens in den letzten Jahrzehnten genannt
Die genannten Zahlen sind zugleich eine eindrucksvolle Bestätigung der Tatsache, daß trotz aller Bedeutsamkeit der klassenmäßigen Zugehörigkeit für die Parteivorliebe des Durchschnittswählers, die englischen Wahlen nur in sehr beschränktem Maße als Ausdruck eines bewußten Klassenkampfes gedeutet werden können. Die im allgemeinen für eng-lische Wahlkämpfe charakteristische Mäßigung der politischen Temperamente ist oftmals gesehen worden
Man darf die in diesem Abschnitt hinsichtlich der klassenmäßigen Bindungen der britischen Wählerschaft gezogenen Schlüsse freilich nicht verabsolutieren. Sie beruhen im wesentlichen auf einem Material, das auf dem Wege der sogenannten Meinungsforschung gefunden worden ist, wobei in Großbritannien durch die allmähliche Verfeinerung der Befragungsmethoden u. ä. direkte Falschaussagen zwar weitgehend ausgeschlossen worden sind
Weitere Aspekte des Wählerverhaltens
Dies kann mit großer Sicherheit deshalb angenommen werden, da Bonhams Thesen durch die Feststellungen einer Reihe von Einzel-studien in bestimmten Wahlkreisen in glücklicher Weise bestätigt werden
Die „Floating Vote" im britischen Wahlsystem
Diese soziologischen Untersuchungen, die insgesamt gesehen unter normalen Zeitumständen eine gewisse Starrheit in der durch die Klassenzugehörigkeit vorbedingten Entscheidung der Mehrzahl der Wähler erkennen lassen, sind für eine Untersuchung des britischen Wahl-systems besonders bedeutsam. In der relativen Mehrheitswahl besteht die eigentliche Aufgabe für eine Partei, die Kandidaten ins Unterhaus bringen möchte, darin, Mehrheiten in den örtlichen Wahlkreisen zu finden. Erkennt man an, daß die Mehrzahl der englischen Wähler, entsprechend ihrer soziologischen Zugehörigkeiten, normalerweise auf eine der beiden großen Parteien festgelegt sind, lassen sich zwei Grund-situationen in den Wahlkreisen denken. Entweder besteht in bevölkerungsmäßig homogen zusammengesetzten Constituencies wie Arbeitervororten auf der einen, Villenvierteln oder ländlichen Bezirken auf der anderen Seite, in nahezu jeder Wahl eine sichere Mehrheit für eine Partei. Dies sind die sogenannten »sicheren" Sitze, ein begehrenswertes Ziel der meisten Unterhausabgeordneten. Oder aber die Bevölkerung setzt sich in anderen Wahlkreisen aus den verschiedensten Schichten zusammen, so daß die Mehrheiten von einer Partei zur anderen öfters wechseln (sogenannte „Marginal Seats"). In diesen Bezirken werden englische Unterhauswahlen eigentlich entschieden. Da aber auch in solchen Wahlkreisen, allem vorhandenen soziologischen Zahlenmaterial zufolge, die Mehrheit der Wähler eine feste Parteivorliebe hat, ist die eigentliche Entscheidung von einer relativ kleinen Bevölkerungsgruppe abhängig, die geneigt ist, ihre politischen Überzeugungen von Zeit zu Zeit zu wechseln oder sich bisweilen der Stimme zu enthalten. Eine Anzahl von Untersuchungen in der Zeit nach 1945 hat sich bemüht, nähere Tatsachen über diese sogenannte „Floating Vote“ festzustellen, die unter dem englischen System eine Schlüsselposition einnimmt und den Ausgang der Wahlen bestimmt
Dieser die „Floating Vote" im wesentlichen mit der „Lower Middle Class“ gleichsetzenden Auffassung ist jedoch in neueren Untersuchungen, u. a.derjenigen J. Bonhams über den Mittelstand, widersprochen worden. Aus den vorhandenen Einzelstudien des „Voting Behavi-our" in speziellen Wahlkreisen geht zumindest negativ hervor, daß sich die „Floating Vote" nicht geschlossen aus einer bestimmten Berufs-und Einkommensschicht zusammensetzt, sondern eine komplexere Erscheinung darstellt. Wahrscheinlich ändern mehr Leute und solche aus den verschiedensten Bevölkerungsgruppen von Zeit zu Zeit ihre politischen Ansichten, als es jene andere Theorie angenommen hatte
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT DER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Ernst Deuerleins „Deutschland in Vorstellung und Aussage des Marxismus-Leninismus" Gerhard v. Mende; „Die Situation der Turkvölker in der UdSSR"
Franz Strebin: „Autorität und Freiheit — über die Anfänge der deutschen Jugend-bewegung" Kari C. Thalheim „Die Wachstumsproblematik der Sowjetwirtschaft"
Heinrich Uhlig« „Hitlers Einwirkung auf Planung und Führung des Ostfeldzuges"
Walter Wehe; „Menschenrechte und Grundfreiheiten" *** „Pekings Wirtschaftsbeziehungen zum Ausland"