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Aus den Erinnerungen eines Diplomaten | APuZ 52/1959 | bpb.de

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APuZ 52/1959 „Die ganze Welt ist von Sehnsucht nach Frieden erfüllt" Sozialpolitik und christliche Liebe Aus den Erinnerungen eines Diplomaten

Aus den Erinnerungen eines Diplomaten

PIETRO QUARONI

Mit freundlicher Genehmigung des Heinrich Scheffler Verlages, Frankfurt a. M., entnehmen wir dem Buch von Pietro Quaroni „Diplomaten unter sich" die folgenden fünf Kapitel.

Der Sonderling

Zum erstenmal wurde ich ihm wenige Tage nach meiner Ankunft in Moskau bei einem Essen in der Botschaft vorgestellt.

Tschitscherin war als erster der Gäste gekommen. Es war der Abschluß langer, geduldiger Bemühungen des Botschafters Manzoni, Tschitscherin zu bändigen.

Tschitscherin hatte viele besondere Gewohnheiten, aber zwei davon waren durch ihre Konsequenzen für das Diplomatische Korps besonders lästig. Er arbeitete nur nachts, ging gegen zehn Uhr morgens zu Bett und stand gegen sechs Uhr abends auf. Er fand es ganz natürlich, die ausländischen Botschafter während der Nacht zu sich zu bitten.

Bei den Diners, die man ihm zu Ehren gab, erschien er mit mindestens einer Stunde Verspätung.

Als Manzoni zum erstenmal für elf Uhr nachts zu ihm gebeten wurde, antwortete er in aller Ruhe, er schließe sein Büro um acht Uhr abends, gehe dann zum Essen, und übrigens sehe er in den italienisch-russischen Beziehungen nichts so Ernstes und Dringendes, das eine Abweichung von diesen Gewohnheiten rechtfertigen könnte; er bitte ihn daher, ihn an einem anderen Tage nach seinem Belieben, aber vor acht Uhr, zu empfangen.

Tschitscherin, für Viertel vor neun zu einem Diner geladen, kam in aller Ruhe gegen zehn Uhr an und fand zu seiner Überraschung alle Gäste bei Tisch bei fast beendeter Mahlzeit vor. Manzoni ging ihm, höflich und lächelnd wie immer, entgegen und sagte ihm, es sei nicht möglich gewesen, länger als zwanzig Minuten zu warten, ohne das ganze Menü zu verderben. Als Feinschmecker werde er verstehen, daß ein Hausherr es nicht riskieren könne, seinen Gästen ein ungenießbares Mahl vorzusetzen.

Tschitscherin verstand und ließ den Botschafter Italiens von da an spätestens bis sieben Uhr ins Ministerium rufen; zu den Diners der Botschaft kam er pünktlich. Mit Cerruti machte er noch einen schüchternen Versuch, zu seinen alten Gewohnheiten zurückzukehren, merkte aber bald, daß es besser sei, nicht darauf zu bestehen.

Gute alte Zeit.. . Bei meiner zweiten Moskauer Inkarnation ließ Molotow den amerikanischen und den englischen Botschafter um drei Uhr nachts zu sich rufen, um ihnen eine Verlautbarung vorzulesen, die bald darauf in der Presse veröffentlicht werden sollte: Niemandem kam auch nur von fern der Gedanke, dagegen zu protestieren.

Ich kam ganz frisch von Argentinien, und Tschitscherin benutzte die Gelegenheit, mir einen langen Vortrag über den Klassenkampf in Argentinien zu halten. Ich bekenne, daß ich ein wenig erstaunt war, einen Menschen, der intelligent zu sein schien, sogar sehr intelligent, so viele Dummheiten und Gemeinplätze auskramen zu sehen. Den dialektischen Materialismus hatte ich damals freilich noch nicht studiert und war mir noch nicht darüber klar geworden, daß das dialektische Denken auch einem intelligenten Menschen am Ende jedes Verstehen unmöglich macht. Ich muß sagen, daß ich später Zeit genug hatte zu merken, daß Tschitscherin, wenn er die Dialektik beiseite ließ, wirklich sehr intelligent war, sicher der intelligenteste aller Außenminister der Sowjetunion, mit denen zu verhandeln ich die Ehre gehabt habe.

Von Figur war er eher klein und vierschrötig, hatte einen schönen, vollkommen runden Schädel, wie man ihn oft bei Russen sieht, die tatarisches Blut in den Adern haben; deren gibt es viele, besonders in der alten Aristokratie. Rötlich melierter Spitzbart und kleine, gescheite, durchdringende, böse Augen.

Er sprach das perfekte Französisch der Russen des alten Regimes, ein Französisch, das nur dadurch den Ausländer verrät, daß es ein wenig zu korrekt ist. Ich habe ihn deutsch mit gleicher Vollkommenheit sprechen hören. Es hieß, er spreche auch italienisch, aber das haben wir nie feststellen können. Eine zarte, etwas schrille Stimme; es war, als streiche man mit der Hand über Glaspapier.

Er trug immer die Uniform eines Ehrensoldaten der Roten Armee — es waren noch die romantischen Zeiten der Revolution, und es war eine Ehre, Soldat, nicht General zu sein, — und er trug diese streng vorschriftsmäßige Uniform mit der gewissen Lässigkeit eines großen Herrn.

Denn Tschitscherin gehörte, vor allem von der mütterlichen Seite, zum höchsten russischen Adel. Er war kaiserlicher Diplomat gewesen und hatte dieses Amt 1914 aufgegeben, um sich revolutionärer Tätigkeit zu widmen. Er begann sie damit, daß er seinen ziemlich ausgedehnten Grundbesitz an die Bauern verteilte. Eine alte Kusine von ihm, die ich manchmal sah und die ihn nicht leiden konnte, erzählte boshaft, er habe die kaiserliche Diplomatie wegen eines, sagen wir — sokratischen Skandals verlassen, sein Grundbesitz sei zum größten Teil hypothekarisch belastet gewesen, und die Verteilung habe bei der nächtlichen Zusammenkunft in St. Petersburg stattgefunden, deren Atmosphäre wenig revolutionären Ernst gehabt habe — aber soll man glauben, was säuerliche Verwandte erzählen?

Ohne Zweifel war er ein überzeugter Kommunist, er hatte sich keine Villa in der Umgebung Moskaus gebaut wie seine Nachfolger. Wenn er Lust hatte, ein wenig Luft zu schöpfen, verbrachte er einige Tage in dem Erholungsheim des Außenministeriums, zusammen mit allen anderen und hielt streng die finanziellen Grenzen’ein, die sich damals die Mitglieder der Partei auferlegt hatten. Bei alledem aber hielt er sehr auf seinen Anteil an blauem Blut; er sprach gern von seinen russischen und deutschen Verwandten, und wenn er irgendeine ausländische Per-

sönlichkeit besonders auszeichnen wollte, schenkte er ihr eine Tabaksdose, die einer seiner Vorfahren, der nach der Sitte seiner Zeit eine Passion für Handarbeit gehabt, selbst gefertigt hatte. Ich habe einmal eine gesehen — der Vorfahr hätte besser daran getan, Tabaksdosen zu kaufen, statt sie selbst herzustellen; aber auf der Dose war eben das Wappen der Tschitscherins und ihrer Verwandten abgebildet.

Er war ein glänzender, unterhaltsamer Causeur. Ich hörte einmal, wie er von seinem Besuch bei d’Annunzio während der Konferenz von Genua erzählte. Wie gewöhnlich hatte der Kommandant versucht, ihm zu imponieren. Den ersten Teil des Frühstücks hatte er damit zugebracht, Tschitscherin zu überzeugen, daß seine Anhänger ihm mit Leib und Seele ergeben seien, daß sie jeden Beliebigen auf das kleinste Zeichen von ihm niederschlagen würden und daß er in seinem Bereich über jedem Gesetz stehe. Während des zweiten Teils dagegen hatte er von den Giften der Borgia gesprochen, von der Unmöglichkeit, sie in Speisen und Getränken am Geschmack oder auch an den ersten Zeichen ihrer Wirkung zu erkennen. Der erste Teil machte auf Tschitscherin keinen großen Eindruck, aber im zweiten Teil fragte er sich an einem gewissen Punkte denn doch, ob er es nicht mit einem Narren zu tun habe. Ohne eine Geste, ohne den Ton zu wechseln, war es ihm gelungen, um sich eine Atmosphäre von Teufelsspuk zu schaffen.

Einen Mann wie Tschitscherin, der immer schlagfertig und zu sarkastischen Antworten bereit war, konnte man schwer überraschen. Die Engländer suchten mit der Zähigkeit, deren sie fähig sind, das Tafelsilber ihrer Botschaft in St. Petersburg zusammen, das während der Revolution zerstreut worden war und sich nicht wiederfinden wollte. Nun entdeckte eines schönen Tages, beim Jahresessen des Diplomatischen Korps, der englische Geschäftsträger — war es bloß ein Zufall? — an seinem Platz ein Besteck mit der Devise Hanny soit qui mal y pense. Kaum war das Essen zu Ende, stürzte er zu Tschitscherin und schwang mit drohender Miene eine Gabel: „Sie sagen mir fortwährend, daß Sie das Silber der Botschaft nicht finden können, und dabei benützen Sie es für Ihre eigene Tafel!“ „Sie haben wirklich Glück“, antwortete Tschitscherin in aller Ruhe, „nehmen Sie inzwischen dies, vielleicht findet sich mit der Zeit auch der Rest.“

Er war auch ein Feinschmecker, und das, obwohl er zuckerkrank war. Außer dem Jahresessen des Diplomatischen Korps pflegte er gelegentlich eine oder zwei Botschaften zu einem intimen Diner einzuladen; seine Spezialität waren die Vorspeisen n la russe; er verstand es gut, sie seinen Gästen anzubieten. Lind dann: „Versuchen Sie diesen Burgunder: er ist wirklich ausgezeichnet, er stammt aus den Kellern des Fürsten X . . . oder diesen Rheinwein, er kommt aus den Kellern des Grafen Y . .

Wenn er schrieb, hatte er einen ganz persönlichen Stil, klar präzis, ironisch und hart. Eine Note, einen Zeitungsartikel, die er verfaßt hatte, erkannte man schon von weitem.

Er war überzeugt, der Kommunismus könne nur gedeihen, wenn die kapitalistischen Staaten gegeneinander Krieg führten, daher sei es die Aufgabe Rußlands, die unzufriedenen Länder zu stützen und aufzuwiegeln. Als profunder Kenner der westlichen Welt und ihrer Reaktionen verstand er diese Politik mit großer Schlauheit zu führen. Ich habe mich manchmal gefragt, was aus uns allen geworden wäre, wenn nach dem zweiten Weltkrieg wieder ein Tschitscherin an der Spitze der russischen Außenpolitik gestanden hätte.

Die Wiedererrichtung Polens und der baltischen Staaten hat er nie verwunden. Er haßte Frankreich und England, aber gegen Polen hegte er jenen zähen Haß, dessen nur die Russen fähig sind. Eines Tages war irgend ein polnischer General nach Italien gekommen. Tschitscherin ließ mich rufen — ich war damals Geschäftsträger — und hielt mir eine flammende Rede gegen die Polen und gegen uns, wie ich sie selten von einem Außenminister gehört habe. Er hielt daran fest, daß Rußland zu den Opfern des Friedensvertrages gehöre; seine ganze Außenpolitik basierte auf dem Revisionismus. Die Hauptstützpunkte seiner Europapolitik waren Deutschland, Litauen und die Türkei — die rebellierende Türkei von damals, die den Vertrag von Sevres mit Waffengewalt gebrochen hatte. Vor allem aber Deutschland. Der Vertrag von Rapallo war der Edestein seiner Politik, und er hütete ihn wie seinen Augapfel.

Sein Verhältnis zu dem deutschen Botschafter, dem Grafen Brockdorff-Rantzau, war ein wirkliches Schaustück. Beide liebten den Cognac, aber nur eine ganz bestimmte Marke, und ich muß zugeben, gegen ihren Geschmack war nichts einzuwenden. Da es eine seltene und sehr teure Marke war, hielt die Mehrzahl der diplomatischen Vertretungen nur einige wenige Flaschen davon auf Lager, und wenn, was oft vor-kam, die beiden zusammen auf einem Diner oder bei einem Empfang erschienen, zogen sie sich nach den üblichen Komplimenten in einen abgesonderten Winkel zurück; dann erschien ein Diener, der mit feierlicher Miene auf einem Tablett „die Flasche“ brachte. Die Unterhaltung zu zweit dauerte so lange, bis die Flasche leer war.

Sprachen sie wirklich von Politik? Ich habe einige Zweifel darüber. Das Publikum hat oft den Eindruck, wenn zwei Diplomaten beiseite gehen, um allein miteinander zu sprechen, es müsse sich um sehr ernste Dinge handeln, aber das stimmt nicht immer. Eines Tages, als ich zufällig in Hörweite war, hörte ich, wie Brockdorff von den ehelichen Mißhelligkeiten einer seiner Cousinen erzählte. Jedoch der Effekt war da, und diese ostentativen Unterhaltungen der beiden machten in der diplomatischen Welt viel mehr Eindruck als viele wirkliche Taten der Zusammenarbeit zwischen Rußland und Deutschland.

Tschitscherin machte mancherlei Versuche, um auch Italien in diese Politik einzubeziehen. Das hätte in Rom kaum Mißfallen erregt. Wenn dennoch nichts geschah, so war dies dem Wirken zweier meiner Chefs, Manzonis und Cerrutis, zuzuschreiben, die, jeder auf seine Art, durchaus dagegen waren, etwas zu unternehmen, was Italien auf den Weg der Abenteuer führen konnte. Sie hatten den Mut, auf persönliche Erfolge zu verzichten, die gegen die Interessen Italiens gerichtet gewesen wären, und haben daher beide zu ihrer Zeit für ihre politische Redlichkeit bezahlen müssen.

Tschitscherin genoß nicht die Gunst Stalins; er besaß alles was nötig war, um sich unerträglich zu machen. Er war intelligent, gebildet, ein Mann von Welt, und er kannte das Ausland wirklich. Seinen Gewohnheiten entsprechend bediente sich Stalin Litwinows, um ihn loszuwerden. Litwinow machte dabei zum Teil in gutem Glauben mit; er glaubte nicht an eine gemeinsame Politik mit Deutschland, er war Anhänger einer Verständigung mit den angelsächsischen Großmächten und einer Politik der kollektiven Sicherheit. Außerdem konnte er Tschitscherin nicht leiden; er war auch, glaube ich, für seine unmittelbaren Mitarbeiter kein angenehmer Vorgesetzter.

Wirklich lahmgelegt aber hat ihn — wahrscheinlich ohne es zu wollen — Stresemann: der Locarnopakt wurde in Rußland als Verrat an der Rapallopolitik aufgefaßt.

Lind eines schönen Tages verschwand Tschitscherin; er verschwand, wie die Leute in der Sowjetunion zu verschwinden pflegen: den einen Tag steht man vorn an der Rampe, am nächsten hat niemand mehr die geringste Vorstellung davon, was geschehen ist. Ein paar Jahre später meldeten zwei Zeilen in den Zeitungen, daß Georg Wassiljewitsch Tschitscherin in einer unbekannten Klinik gestorben sei.

Aber in Rußland begnügt man sich nicht mit dem physischen Verschwinden einer großen Figur; sie muß auch aus den Seiten der Geschichte verschwinden, und heute sucht man in der offiziellen russischen Geschichte vergebens nach einer Bemerkung darüber, daß Tschitscherin mehr als acht Jahre lang mit fester und geschickter Hand die Außenpolitik der Sowjetunion geleitet hat.

Der arme Litwinow

Auf den ersten Blick erschien er mir ausgesprochen unsympathisch, ja beinahe abstoßend. Seine äußere Erscheinung war sonderbar schweine-mäßig. Ein dickes, viereckiges, gerötetes Gesicht, ein breiter Mund mit fleischigen, mehr als sinnlichen, lasterhaften Lippen, eine flachgedrückte Nase, hervortretende helle Augen, eine dichte graublonde Haartolle, die immer in Unordnung war. Vor allem aber erschien er rüde und unhöflich, das gerade Gegenteil der etwas manierierten Höflichkeit Tschitscherins. Nur die Stimme war angenehm: eine tiefe, vibrierende, heitere Stimme; auch das schleppende R, das für die Juden Osteuropas kennzeichnend ist, war nicht störend.

Während Tschitscherin seinen Besucher stehend empfing, blieb Litwinow hinter seinem Schreibtisch sitzen und las in seinen Akten oder tat so, als lese er — genau so, als habe er überhaupt nicht bemerkt, daß jemand da sei; erst nach einiger Zeit ließ er sich herab, von der Anwesenheit des Besuchers Kenntnis zu nehmen.

Seine Frau war eine wirklich originelle Erscheinung, dermaßen schlampig und unordentlich, daß ich mir nie darüber klargeworden bin, ob sie eigentlich häßlich oder nur verwahrlost war. Ganz gewiß aber gelang es ihr, den Eindruck hervorzurufen, daß sie ein ganz persönliches Verhältnis zu Wasser und Seife habe.

Sie stammte, wie es hieß, aus einer sehr guten jüdischen Familie Englands.

Litwinow hatte sie geheiratet, während er als politischer Flüchtling in England lebte. Sie hatte sich kopfüber in den Kommunismus gestürzt. Zu einer gewissen Zeit geriet sie in den Ruf, Trotzkistin zu sein: sie hatte damals ernste Schwierigkeiten und mußte einen Ausflug nach Sibirien machen. Sie brachte es jedoch fertig, wieder zurückzukommen und Botschafterin in Washington zu werden. Ich glaube nicht, daß ihr Mann sich sehr viel Mühe gegeben hat, sie zurückzubekommen; er hatte in dieser Zeit allzuviel damit zu tun, seine eigene Stellung zu wahren — und auch seine eigene Haut.

Übrigens war sie Schriftstellerin. Frau Cerruti hat mir einmal Novellen gezeigt, die ihr Frau Litwinow zur Lektüre gegeben hatte. Mir ist in meinem ganzen Leben nichts Pornographischeres vorgekommen.

Eine der Novellen war noch gröber als die übrigen, und Frau Cerruti fragte die Autorin diskret, ob sie nicht auch finde, daß die Geschichte ein bißchen unwahrscheinlich sei. „Aber nein, das ist wir selber passiert", war die Antwort.

Erste Eindrücke sind manchmal trügerisch; aber man muß erst menschlichen Kontakt gewinnen, um sie richtigzustellen. Dieser menschliche Kontakt zwischen Litwinow und mir kam durch einen Zufall zustande.

Es geschah bei einem Essen in der Botschaft, dem ersten offiziellen Essen, das die Cerrutis gaben; sie kannten daher die Gewohnheiten des Hauses noch nicht. Damals konnte man nämlich in Moskau beobachten, daß die Regeln der guten Erziehung allgemein laxer gehandhabt zu werden begannen; unter anderem hatte sich die Gewohnheit ausgebreitet, bei Tisch zu rauchen, was 1927 noch nicht allgemein üblich war.

Daher zog denn auch Litwinow an einem bestimmten Punkt der Mahlzeit — sie war noch längst nicht zu Ende — eine Zigarette aus der Tasche, zündete sie an und bot auch mir eine an. Wir saßen nebeneinander, der Hausfrau gegenüber; von ihrer Seite her traf uns ein niederschmetternder Blick. Ich weiß nicht, ob man mich einmal füsilieren wird, und ich weiß auch nicht, ob der Verurteilte Zeit hat, das schicksalhafte Zeichen des Befehlshabers an das Exekutionskommando zu sehen, aber ich glaube nicht, daß dieses Zeichen einen tieferen Eindruck auf mich machen würde als jenes, welches mir damals Frau Cerrutis Augen gaben. Die Wirkung auf Litwinow war dieselbe. „Mir scheint, die Dame des Hauses sieht es nicht gern, daß bei Tisch geraudtt wird“, sagte er zu mir: dann, nach einer Pause: „Was machen wir nun?"

Eine wenig überlegte Reflexhandlung hatte ihn veranlaßt, die brennende Zigarette in der Tasche seines Smokings zu verbergen.

Ich griff sehr behutsam in seine Tasche, holte die Zigarette heraus und trat sie aus, wie schon vorher meine eigene, alles mit der unschuldigsten Miene der Welt. „Danke“, flüsterte mir Litwinow zu.

Es war kein idealer Abend für Litwinow. Unsere Beziehungen zu Rußland hätten besser sein können, und Cerruti hatte ihm manches zu sagen. Nach dem Essen placierte er ihn auf ein Sofa, Zigaretten, Kaffee und Likör standen bereit, so daß der Unterredner keinen Vorwand mehr hatte zu entschlüpfen. Cerruti konnte, wenn es nötig war, sehr scharf sein. An diesem Abend war er besonders gut in Form, und an Argumenten fehlte es nicht. Ich schaute alle Augenblicke einmal hin und sah die rundlichen Formen Litwinows sich auf dem Sofa winden.

In der Folge hatte ich noch öfter Gelegenheit, ihn zu sehen; ich fand ihn alles andere als angenehm. Seine Art war brüsk, aber im Grunde bieder; man wußte wenigstens, wie man mit ihm dran war. Wenn er ja sagte, konnte man sicher sein, daß es auch Ja war. Er war ein überzeugter, aber humaner Kommunist. Er hatte lange im Ausland gelebt und hatte sich nicht die schematisierten Vorstellungen von der bürgerlichen Welt zu eigen gemacht, die die Stalinsche Dialektik geprägt hat. Er führte einen heftigen, skrupellosen Kampf, um Tschitscherin zu Fall zu bringen. Als Anhänger einer Zusammenarbeit mit der angelsächsischen Welt, viel mehr als der mit Deutschland, suchte er seine Stellung als Vertreter Rußlands in der Abrüstungskonferenz geschickt auszunützen.

Vor allem aber war er human; das ist selten im neuen Rußland. Er hat mir den Beweis dafür geliefert.

Ich war im Begriff, Rußland zu verlassen, und wollte für meine künftigen Schwiegereltern die Ausreiseerlaubnis haben. Die Sache war ein wenig delikat; es schien mir daher am besten, sie geradeaus und ganz undiplomatisch anzupacken. „Wenn es sich um ein anderes Land handelte“, sagte ich zu Litwinow, „würde es mich nicht beschweren, sie zurückzulassen, aber so wie die Dinge in Rußland liegen . . . Sie verstehen.“ Litwinow dachte einen Augenblick nach, dann antwortete er: „Wenn es von mir abhinge, würde ich Ihnen sagen: Lassen Sie sie ruhig hier und seien Sie unbesorgt. Da es aber von denen da abhängt“ — und er wies mit der Hand nach dem Gebäude der GPU, das man von seinem Fenster aus sehen konnte, — „kann ich Ihnen nicht Unrecht geben. Ich werde tun, was ich kann.“ Und er hatte Erfolg.

Ich sah ihn in Rom wieder, wenn ich nicht irre, war es 193 3, als er in amtlicher Mission, im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des italienisch-russischen Paktes, hinkam. Tatsächlich wollte Litwinow zur Unterzeichnung selbst nach Rom kommen. Aber der russische Botschafter in Rom, Potemkin, drohte einen Skandal heraufzubeschwören. Er hatte den Pakt ausgehandelt und wollte ihn unterzeichnen; wolle man Litwinow unterzeichnen lassen, dann werde der Pakt nicht zustande kommen. Potemkin versuchte Litwinow ein Bein zu stellen, genau wie dieser es mit Tschitscherin gemacht hatte — es gelang ihm dann auch, aber nur für kurze Zeit —, und Stalin sollte mit seinen gewohnten Methoden bei dem Spiel mitwirken. Im übrigen hatte Litwinow, von gewissen unumgänglichen Zugeständnissen abgesehen, Charakter und muß für Stalin kein bequemer Mitarbeiter gewesen sein. Unter anderem brachte er es fertig, bei der Sowjetregierung durchzusetzen, daß zwei seiner vertrauten Mitarbeiter zu Botschaftern ernannt wurden, Maiski und Stein, die nicht einmal eingeschriebene Mitglieder der Kommunistischen Partei waren, und das war in Rußland auch zu jener Zeit keine Kleinigkeit.

Zu mir war er freundschaftlich und höflich; aber er hatte sich ja mit so vielen Leuten abzugeben.

Dann sah ich ihn bei meinem zweiten Moskauer Aufenthalt wieder. Er war tatsächlich der einzige Übriggebliebene von so vielen, mit denen ich bei meinem ersten Aufenthalt zu tun gehabt hatte. Die bedeutendsten waren alle erschossen, die anderen vielleicht auch, oder sie waren in den unendlichen Weiten Sibiriens verschwunden.

Er war sehr verändert. Die wenigen noch übrigen Haare waren weiß, das Gesicht weniger gespannt, weniger animalisch, er schien mir weni-ger häßlich als beim erstenmal. Der einzige Mißklang war die fast schon ganz militärische Uniform, die alle Beamten des auswärtigen Dienstes tragen mußten. Litwinow war wirklich nicht dazu geschaffen, eine Uniform zu tragen.

Wir sprachen viel von vergangenen Dingen und Menschen, wirklich wie alte Freunde. Und als wir auf die italienischen Angelegenheiten von damals kamen — das war noch 1944 —, fand ich ihn freundschaftlich und verständnisvoll.

Meine ersten Kontakte mit Moskau waren nicht gerade ermutigend; überall begegnete man einer vollkommenen, aber eisigen Höflichkeit; man stand vor einer Mauer. Ich kehrte nach Hause zurück mit dem tröstlichen Gedanken, daß ich immerhin die schwache Stelle in der Rüstung entdeckt hatte und daß es mir mit Hilfe Litwinows vielleicht gelingen würde, zu irgend etwas zu gelangen.

Sobald es schicklicherweise möglich war, bat ich ihn, mich abermals zu empfangen. Er tat es sofort, was mich verblüffte, denn im allgemeinen beeilte man sich mit der Antwort auf solche Gesuche durchaus nicht. Noch mehr überraschte es midi, daß er mich in einem anderen Büro als beim erstenmal empfing. Und so mußte ich leider bemerken, daß Litwinow absolut nichts mehr galt. Er hatte nicht einmal mehr ein eigenes Büro im Ministerium, und wenn er jemanden empfangen wollte, war er gezwungen, einen höheren Beamten zu bitten, ihm das seine zu überlassen. Angesichts seiner angelsächsischen Antezedenzien benützte ihn die Sowjetregierung als eine Art Lockspiegel für Lerchen. Er führte den Titel eines LInterstaatssekretärs, er ging im Ministerium herum, er redete, aber von den Russen schenkte ihm keiner Gehör.

Seine Frau war noch veränderter als er. Sie war fett geworden und bot den Anblick einer würdigen Matrone mit einem riesigen Kranz weißer Haare. Wenn nicht schön, so war sie doch wenigstens sauberer geworden, imponierend und äußerst liebenswürdig.

Er flößte mir tatsächlich ein rein menschliches Mitleid ein. Es war 1946, auf einem abendlichen Empfang, den die Sowjetregierung, ich weiß nicht mehr zu Ehren welcher Oberhäupter von Satellitenstaaten gab, die nach Moskau gekommen waren, um ihre Vasallenhuldigung darzubringen. Wenige Tage vorher hatte er eine raffinierte Ohrfeige erhalten, ganz im Stil des Orients. In Moskau werden zweimal im Jahr Orden verliehen. Dem Unterstaatssekretär Litwinow hatte man eine Auszeichnung verliehen, die einem niedrigeren Rang entsprach als dem des Vizechefs des Protokolls. Beide saßen in einer entfernten Ecke des Saals; um sie herum fühlte man beinahe körperlich die drückend feindselige Leere, die in den totalitären Staaten jene Personen umgibt, die in Ungnade sind. Nur ein paar ausländische Diplomaten dachten noch daran, einen Augenblick stehenzubleiben, zu grüßen und einige Worte zu wechseln. Ich verabschiedete mich von ihm, als ich Moskau verließ. Er sprach lange von Paris, von den Leuten, die er dort gekannt hatte, von vergangenen Zeiten, von dem, was damals hätte getan werden können. Von alldem sprach er in einem distanzierten Ton; man hätte meinen können, er sei dabei, die Geschichte unserer Zeit zu schreiben. Als wir Abschied nahmen, wünschte er mir Glück zu meiner neuen Mission; dann sagte er, meine Hand festhaltend: „Im Krieg hat es einmal einen Augenblick gegeben, in dem ich wirklich geglaubt habe, daß das, wofür ich heiß gekämpft hatte, nämlich eine aufrichtige und wahrhafte Zusammenarbeit zwischen Rußland, England und den Vereinigten Staaten, verwirklicht werden könne. Heute muß ich zugeben, daß sie unmöglich ist.“ Nach einem langen, lastenden Schweigen fügte er hinzu: „Lind ich würde gern die Überzeugung haben können, daß das nur die Schuld der anderen ist.“

Armer Litwinow! Wenigstens hat er das Glück gehabt, eines schönen natürlichen Todes zu sterben, in seiner hübschen kleinen Stadt-villa, an der er so sehr hing.

Ein Chef der GPU

Einige Freunde von der georgischen Regierung, die gütigerweise gekommen waren, um mir Lebewohl zu sagen, hatten ihn mir auf dem Bahnhof zu Tiflis vorgestellt. 1926 war es in Tiflis sogar noch möglich, persönliche Beziehungen zu Regierungsstellen zu unterhalten.

Ich hatte so etwas wie Iwan Iwanowitsch verstanden. Wenn man sich zu einer Eisenbahnfahrt von fünf Tagen anschickt, ist ein Reisegefährte schon etwas wert. Mein Reisegefährte war offensichtlich eine wichtige Persönlichkeit und auf den ersten Blick auch ziemlich sympathisch. Aber wer zum Teufel war er?

LIneingeweihte stellen sich vor, die schwierigen Augenblicke im Leben eines Diplomaten seien, sagen wir, ein unvorhergesehener Zwischenfall, eine schwierige Verhandlung, aber das stimmt nicht: die wirklich tragischen Fälle sind jene, wo man einer augenscheinlichen bedeutenden Persönlichkeit gegenübersteht, nicht die leiseste Ahnung hat, wer es sein mag, und zu erraten suchen muß, wer es ist, ohne sich merken zu lassen, daß man es nicht weiß.

Auf dem Bahnhof von Baku begann ich etwas klarer zu sehen. Mein Begleiter schlug mir vor, zum Frühstück in ein kleines Restaurant in der Stadt zu gehen, das ganz hervorragend sei.

Man kann nicht sagen, daß die Züge in Rußland nicht fahrplanmäßig ankommen; nur, sie haben eben keinen Fahrplan. Meine Frau ist einmal mit 39 Stunden Verspätung angekommen, und das war kein extremer Fall. Es kommt daher vor, daß einem an einer Station gesagt wird, der Zug habe fünf Minuten Aufenthalt, und daß man tatsächlich drei Stunden liegenbleibt, und umgekehrt.

Als ich meine Befürchtungen meinem Begleiter gegenüber aussprach, meinte er: „Haben Sie keine Angst!“, rief einen Oberst der GPU, der auf dem Bahnsteig auf und ab ging, und befahl ihm, dafür zu sorgen, daß der Zug nicht abfahre, bevor wir zurück seien. Kein Zweifel mehr: er gehörte zum Hause, und nicht als einer der Letzten. Man brauchte nur zu hören, in welchem Ton der Oberst „Jawohl, mein Herr! sagte.

Das Frühstück war wirklich ausgezeichnet. Es war die Zeit des NEP (der neuen Wirtschaftspolitik), es gab noch einen privaten Handel;

daher konnte man noch ein Restaurant einem anderen vorziehen, weil es besser war, und die Russen hatten noch nicht völlig vergessen, daß man auch besser essen kann. Ein paar Flaschen vorzüglichen Kaukasusweins legten die letzten Barrieren nieder: mein Begleiter war der Generalprokurator der GPU.

Ich muß gestehen, wenn ich während meiner zweiten Moskauer Inkarnation nach dem zweiten Weltkrieg in einem Zug oder sonstwo einer Persönlichkeit dieser Art begegnet wäre, so wäre meine erste Reaktion gewesen, mich zu fragen, ob und welche Chancen ich hätte, gesund und wohlbehalten nach Moskau zu gelangen. Aber in unserer unbeschwerten Unwissenheit von 1926 waren alle Fremden, und vor allein wir Diplomaten, fest überzeugt, die Russen würden es nie wagen, uns etwas zu tun. Ich sah daher nichts weiter vor mir als die unverhoffte Gelegenheit, ein paar Tage in Gesellschaft einer interessanten Persönlichkeit zu verbringen.

Wir begannen natürlich mit allgemeinen Redensarten: Wetter, Kaviar, Theater, Kunst. Dann wagte ich es, in dem Maße, in dem das Vertrauen wuchs, einige Fragen zu stellen. Zuerst fragte ich, worin sich die GPU von der Tscheka unterscheide. Die Änderung war erst kürzlich geschehen, nach sowjetischer Sitte war sie nach allen Seiten hin ausposaunt worden, aber niemand von uns hatte verstanden, worin der Unterschied bestehe. Ein englischer Journalist hatte die Frage auf seine Weise beantwortet: „Man kann eine Rose nennen, wie man will, sie bleibt immer eine Rose.“ „Der Unterschied liegt im Wesen“, antwortete er mir. „Die Tscheka konnte sich bei ihren Urteilen einzig auf ihr revolutionäres Gewissen berufen. Die GPU muß ihre Urteile mit den Artikeln des sowjetischen Strafgesetzes begründen. Meine eigene Aufgabe ist in der Hauptsache, zu kontrollieren, daß jede Verurteilung mit dem Paragraphen des Strafgesetzbudtes begründet wird, der dem Fall tatsächlich entspricht. Man muß sagen (und in diesem Punkte stimmte ich mit ihm überein), daß das sowjetische Strafgesetzbudr sehr gut gemacht ist und alle möglidien Fälle enthält. Sollte sich übrigens eine Lücke ergeben, so habe ic die nötigen Vollmachten, um Verbesserungen oder Zusätze anbringen zu können.“ Ich stellte ihm eine andere Frage: „Wenn es, wie im vergangenen Frühjahr, Massenverhaftungen gibt, wie verfahren Sie dann?“ „Das kommt darauf an“, antwortete er, „es gibt spezifisdte Fälle, Versudre zu Verschwörungen und Spionage — Sie verstehen ohne weiteres, wie man dergleidien löst. Aber vielleidit wissen Sie nicht, daß die GPU nicht nur ein Polizeiorgan, sondern zugleidt die größte Organisation der öffentlidten Arbeiten in der Sowjetunion ist. Nidttfaddiche Arbeitskräfte zu finden ist nidit sdtwer, aber in bestimmten Fällen brauchen wir Spezialisten, Ingenieure, Chemiker usw. Dann nehmen wir eine Liste zur Hand; es ist nidit leidet, in der Sowjetunion zu leben und zu arbeiten, ohne gegen irgendweldte Gesetzesbestimmungen zu verstoßen. Aus dieser Liste wählen wir die Personen, die wir im gegebenen Fall brauchen, verhaften sie, machen ihnen den Prozeß und lassen sie zu Zwangsarbeit in ihrem Beruf verurteilen.

Ein anderer Fall ist die Liquidation der kapitalistischen Klassen. Es handelt sidr um Klassen, die materiell ausgesdialtet werden (ein Faustschlag auf die Armlehne des Sofas und ein stählerner Blitz aus seinen Augen nahmen mir jeden Zweifel — sofern ich einen hatte — über die Bedeutung des Wortes „materiell“). Für eine gewisse Zeit können wir ein Interesse daran haben, mandte Elemente zu sdionen, die einen tedmischen Beitrag leisten können, aber da handelt es sich um individuelle Fälle von begrenzter Dauer. Jetzt zum Beispiel, bei dem Fischzug im vergangenen Frühjahr, haben wir nadi folgendem Maßstab gehandelt: Wir nahmen das Moskauer Telephonbuch aus der Zeit vor der Revolution in die Hand. Wer 1914 ein Telephon hatte, war ein Bourgeois. Wir sahen nach, wie viele von diesen nodi auf freiem Fuße waren, und haben ungefähr die Hälfte davon verhaftet.“ „Haben Sie nidit den Eindruck, daß bei Ihnen eine gewisse Neigung besteht, hinsiditlich der Spionage zu übertreiben?“ Und ich nannte ihm einen Fall, der unserem Militärattache passiert war. Man hatte ihm verboten, italienische Militärflugzeuge zu besehen (es hatte sich irgendein Schaden herausgestellt), die wir an die Sowjetunion verkauft hatten. „Sie im Westen haben eine etwas oberflädilidte Vorstellung von einem Geheimnis. Sie meinen, man könne sidi damit begnügen, irgend etwas Neues oder Wichtiges, das man hat, zu schützen. Wir aber meinen, daß es in vielen Fällen noch wichtiger ist, daß der Ausländer nicht erfährt, was wir nicht haben. Sie werden zugeben, daß viel mehr Vorsidit nötig ist, um das zu verbergen, was nicht ist, als das, was ist.“

Ich konnte ihm nur zustimmen, und sagte ihm lachend, jetzt verstünde ich die Antwort, die ein Beamter der GPU einem Bekannten von mir gegeben hatte, der wissen wollte, was man unter Spionage verstehe. Die Antwort hatte gelautet: „Sie treffen einen ausländischen Freund. Dieser fragt Sie, warum Sie ein so besorgtes Gesidit madren. Sie antworten: Ich habe kein Geld. Das ist Spionage.“

„Sehr richtig“, erläuterte mein Freund, „verstehen Sie jetzt?“ An einer der vielen Stationen stiegen wir aus, um Lebensmittel einzukaufen. Ich fragte eine Bäuerin nach dem Preis der Eier. Sie antwortete: „Ein Rubel“ (damals soviel wie zehn Lire), und ich glaubte, es handle sich um zwei oder drei Eier, aber sie gab mir den ganzen Korb. Und wir begannen über den Reichtum des russischen Landes und über den Fortschritt zu diskutieren, den ich von einem Jahr zum anderen beobachtet hatte.

„Das ist wahr“, sagte er, „und das schafft eine äußerst gefährliche Situation.“

„ 77?" „Sehen Sie: Wijr, die oberste Leitung der Partei, sind der Über-zeugung, daß Rußland wirtschaftlich von oben bis unten umgewandelt werden muß“ (man begann damals schon allmählich auf das hinzuweisen, was dann der erste Fünfjahresplan wurde). „Dazu braudten wir Investitionen, und zwar in einem Maße, das in der Gesdiichte der Menschheit kein Vorbild hat. Um das nötige Kapital aufzutreiben — und es ist ausgesddossen, daß wir es im Ausland sudien! —, wird man den Konsum auf den Bereidt des absolut Unentbehrlichen einsdrränken müssen. Die Stärke Rußlands liegt in den besdieidenen Ansprüdien seines Volkes; wehe wenn das russisdte Volk Zeit hätte, sich an einen höheren Konsum zu gewöhnen — es würde uns aus den Händen gleiten. Wir werden vielmehr für lange Jahre eine Anstrengung fordern müssen, die alle Vorstellungen hinter sich läßt. Es ist nicht wahr, daß das Elend die Revolution hervorbringt. Während des Krieges hat sich das russische Proletariat infolge der Mobilisierungsunterstützung und der Mehrarbeit besser gestanden als vorher, und gerade dieser relative Wohlstand hat ihm die Möglichkeit gegeben, politisch zu denken. Das Elend bringt Unruhen hervor, die für eine Regierung nie gefährlich werden. Der Wohlstand hingegen erzeugt die Revolutionen. Das russische Volk darf für lange Zeit niemals sidrer sein, daß es am nädisten Tag nodt zu essen hat. So wird es nur daran denken, wie es morgen zu etwas Eßbarem kommt, und wird keine Zeit haben, sidr mit Politik zu befassen. Wenn wir die Industrialisierung, die wir für notwendig halten, verwirklidit haben, dann werden wir eine andere Politik ins Auge fassen können. Aber das liegt in einer fernen Zukunft; unsere Kinder werden es vielleicht nodt erleben.“

Als wir durch die Moskauer Vorstädte fuhren, verabschiedeten wir uns voneinander.

„Es ist besser für mich und für Sie, wenn wir uns nidtt wiedersehen“, erwiderte er auf eine diskrete Andeutung von mir, „sollte aber ein Freund von Ihnen verhaftet werden, so sdtreiben Sie mir ein Wort an diese Adresse hier, idt werde mein möglidistes tun.“

Und ich muß sagen, daß er in einem Falle, der mir wirklich am Herzen lag, sein Versprechen gehalten hat.

Aufstieg und Untergang eines Terroristen

Beinahe unmittelbar gegenüber der Villa, in der sich 1926 das italienische Konsulat in Tiflis befand, stand ein Haus; in ihm wohnte und arbeitete Beria.

Es war, wenn ich es mir in der Erinnerung vorzustellen suche, im Grunde genommen ein Haus wie alle anderen, ein Wohnhaus, wie dergleichen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts in vielen Teilen des Erdballs gebaut worden sind. Aber für mich und noch mehr für die Bewohner von Tiflis sah es ganz anders aus als die anderen: auf eine besondere Weise düster und unheilschwanger. Die Fenster waren immer sorgfältig geschlossen; nachts drang nie ein Lichtstrahl durch die Jalousien.

An der Tür stand ein Posten, der genau den Posten glich, die vor den anderen öffentlichen Gebäuden der Stadt Wache hielten.

Es war eine wenig belebte Nebenstraße. Ich habe, das muß ich gestehen, viele Stunden hinter einer herabgelassenen Jalousie meines Hauses verbracht, um zu sehen, was drüben vorging. Sehr wenig Bewegung. Ab und zu — öfter bei Nacht als bei Tag — kam in rasender Geschwindigkeit eines jener geschlossenen Lastautos der Polizei an, die in Rußland den sympathischen Spitznamen „Schwarzer Rabe" führen, irgend jemand stieg inmitten von Polizisten aus, ein anderer stieg ein, auch zwischen Polizisten, und der schwarze Rabe fuhr wieder ab, wieder mit rasender Geschwindigkeit, zum Metekh-Gefängnis.

Wenn man 1926 von Tiflis nach Moskau kam, glaubte man sich in eine andere Welt versetzt. In Moskau konnte man zwar noch Leute besuchen, aber nur unter unendlichen Vorsichtsmaßregeln und mit unendlicher Gefahr für die Russen, die es wagten, zu einem zu kommen. Jede Bewegung hatte etwas von einer Verschwörung. In Tiflis war das ganz anders; da herrschte eine fast vollkommene Freiheit. Ich hatte sogleich mit moskowitischer Umsicht versucht, midi mit dem Schwiegervater von Fransoni in Verbindung zu setzen, und zu meiner größten Überraschung antwortete er mir telephonisch und lud mich ein, ihn in seiner Wohnung aufzusuchen. Ich fand ein Haus voll von Menschen vor und lernte im Handumdrehen alles kennen, was von der ehemaligen guten Gesellschaft von Tiflis noch übrig war. Gewiß, sie hatten kein Geld mehr, aber ich glaube, daß der georgische Adel, von ein paar Ausnahmen abgesehen, nie, auch in der Zarenzeit nicht, im Geld geschwommen ist. Es bestand sogar noch, wenn auch in reduziertem Maßstab, die Tifliser Entsprechung des Jagdzirkels.

Noch sonderbarer war für Moskauer Begriffe die Tatsache, daß alle diese Leute nicht nur immer noch eine Art Gesellschaftsleben führten, daß sie nicht nur ohne Furcht die wenigen Ausländer am Platze besuchten, sondern daß sie sogar die kommunistischen Notabein Georgiens besuchten und von ihnen besucht wurden. Sie duzten sich alle und schienen mit einander in den freundschaftlichsten Beziehungen zu stehen.

Den Schlüssel zu diesem Geheimnis gab mir Eliawa, damals Ministerpräsident von Georgien, später — natürlich durch Vermittlung Berias — von Stalin füsiliert. Ein schöner, sehr sympathischer Mann, der wußte, daß er es war, mit prachtvollen georgischen Augen, die er virtuos zu rollen verstand. Ein Liebhaber des Weins, der Tafelfreuden und alles dessen, was dazu gehört, vielleicht noch mehr als der marxistischen Dialektik. Als er eines Tages mit einigen Kollegen von der Regierung und mehreren Damen und Herren des ehemaligen georgischen Adels bei mir zum Essen war und in bester Laune schien, drückte ich ihm meine Verwunderung und meine Genugtuung über diese glückliche Verschmelzung der alten und der neuen Welt aus, der ich in Georgien begegnet war. „Aber das ist ganz natürlich“, sagte er, „sehen Sie, wenn ich in der Zarenzeit Scherereien mit der Polizei hatte, flüchtete ich auf das Land, in das Schloß des Fürsten X. In seinem Hause suchte mich die Polizei nicht, und so hat es der größte Teil meiner Genossen gemacht. Jetzt, da wir an der Macht sind, ist es natürlich, daß wir ihnen den gleichen Schutz gewähren, den sie uns damals gewährt haben." „Auch in Rußland“, wandte ich ein, „hat es unter dem alten Regime Leute gegeben, die die Revolutionäre schützten, aber ich habe nicht den Eindrudt, daß sich in Moskau nodi viele daran erinnern/'„O ja, die Russen! Wir Georgier sind Ehrenmänner.“ Aber auf dieser heiteren, sorglosen und sympathischen Gesellschaft lastete ein Schatten: Beria.

1924 hatte es in Georgien einen Aufstand gegeben, einen Aufstand nicht der Bourgeois und Aristokraten, sondern einen Aufstand der Arbeiter und Bauern. Es war eine ziemlich ernste Sache gewesen; den örtlichen Milizen war es nicht gelungen, damit fertig zu werden, russische Truppen aus dem Kaukasus hatten eingreifen müssen, und zwei Jahre danach gab es immer noch einzelne Banden, die sich auf dem Lande hielten. Die georgischen Behörden gaben es offen zu. Ich war einmal in Pasanauri zum Frühstück eingeladen und fragte den Innenminister, ob er nicht in meinem Wagen mit mir fahren wolle:

„O nein“, meinte er, „es ist viel besser, Sie fahren allein voraus, mit der italienischen Flagge auf dem Auto.“

Als Leiter des Kampfes gegen den Aufruhr hatte Stalin von Moskau aus Beria geschickt, und der hatte eine harte Hand gehabt: über 20 000 Erschossene — dabei war die Operation noch im Gange. Beria, ein überzeugter Stalinist, konnte an der allgemeinen Atmosphäre in Tiflis sicher keinen Gefallen finden; er traf Vorbereitungen, um reinen Tisch zu machen. Wohl brachte er die Geduld auf, noch ein paar Jahre zu warten, aber dann griff er radikal durch. Alle kommunistischen Führer der Regierungen Georgiens und Transkaukasiens wurden erschossen. Was aus meinen übrigen Freunden geworden ist, danach habe ich mich nie zu erkundigen gewagt noch vermocht, aber ich kann es mir leicht vorstellen.

Berias Position war sui generis. Offiziell war er Innenminister und Chef der GPLI in der Regierung Georgiens und Transkaukasiens. Aber er unterstand Moskau unmittelbar und trat niemals gemeinsam mit seinen Kabinettskollegen auf. Er schloß sich in sein Haus ein und spann das Netz, in dem sich eines Tages so viele unschuldige Fliegen fangen sollten.

Natürlich befaßte er sich auch mit mir. Die Art, wie er sich mit mir befaßte — das muß ich allerdings sagen —, überraschte mich nicht durch ihre Feinheit. Ich hatte in Konstantinopel einen Georgier gekannt, sogar gut gekannt. In Tiflis begegnete ich ihm zufällig auf der Straße. Er erzählte mir sofort, er sei nach Georgien zurückgekehrt, um in der Untergrundbewegung zu arbeiten, erklärte mir in allen Einzelheiten das Funktionieren seiner Organisation und fragte mich ohne weiteres, ob ich ihm in unserem Kuriergepäck einen chiffrierten Brief an seinen Chef in Paris expedieren könne.

Es bedurfte keiner besonderen Intelligenz, um zu begreifen, daß ein georgischer Emigrant nur mit Genehmigung der Polizei offiziell in sein Vaterland zurückgekehrt sein konnte, also . . .

Mit Beria hatte ich keinen Kontakt, wohl aber mit einem seiner engsten damaligen Mitarbeiter, dem General der Miliz (der Polizei) Micheladse, einem ehemaligen Fürsten. Er hatte mich auf einer meiner Reisen ins Innere begleitet, und seitdem sahen wir uns gelegentlich wieder. Bei ihm beschwerte ich mich: „Id^ protestiere nicht dagegen, daß ihr mich überwacht, es mißfällt mir, daß ihr midi für so dumm haltet.“

Am Jahrestag der Revolution machte mich mein Freund, der General, mit Beria bekannt, der allein in einer Ecke des alten Palastes des Vizekönigs stand. Er berichtete ihm lachend von meinem Protest, und Beria erwiderte ruhig und kalt: „Sie haben vollkommen redit. Idt hoffe, daß Unannehmlichkeiten dieser Art sich von nun an nicht wiederholen werden.“

Er war von mittlerer Größe, hager, die Haare sorgfältig über den Schädel verteilt, um eine schon ziemlich fortgeschrittene Glatze zu verbergen; das Gesicht bleich, beinahe leichenhaft, die Augen hell und etwas unstet hinter dem Kneifer. Im ganzen mehr die Erscheinung eines Professors der exakten Wissenschaften als eines Polizisten. Er sprach schnell, aber deutlich, wobei er kaum die schmalen Lippen öffnete. Die Andeutung eines sonderbaren Lächelns verzog den Mund leicht nach der linken Seite und ließ kleine, weiße spitze Zähne sehen. Vielleicht war ich voreingenommen, aber bei diesem Lächeln lief es mir kalt den Rücken hinunter.

Ich versuchte mich mit ihm zu unterhalten, aber das war nicht leicht.

Ich ließ eiligst alle Themen Revue passieren, die man mit einer Persönlichkeit seiner Art erörtern konnte. Auf jede Frage von mir gab er eine kurze, präzise Antwort, aber nie ging er weiter auf den Gegenstand ein, ein Verfahren, das jeden Gesprächspartner lähmen mußte. „Was hat er Ihnen gesagt? Was hat er Sie gefragt?“ bestürmte man mich sofort von allen Seiten. Hätte ich es nicht schon vorher gewußt, das fast angstvolle Interesse der Gesellschaft hätte genügt, mir klarzumachen, welche Art die Beziehungen Berias zu seinen Regierungskollegen waren.

Bei meinem zweiten Moskauer Aufenthalt, 1944, begriff ich schnell, daß es nicht angebracht war, ein Wiedersehen mit Beria zu suchen. Für alle Fälle hatte ich jedoch dem Unterstaatssekretär des Auswärtigen, Dekanosow, der ebenfalls Georgier und, wie es hieß, Mitglied der illustren Schar war, angedeutet, daß ich Beria früher gekannt hätte. Lind eines Abends, bei einem Empfang zu Ehren des Generals de Gaulle, trat Dekanosow auf mich zu: „Marschall Beria wünscht Sie zu begrüßen." Er war ein wenig dicker geworden, ein wenig bleicher, ein wenig kahler, ein wenig kälter. Er empfing mich mit jener gezwungenen Herzlichkeit, mit der manchmal ein Arrivierter einen Jugendfreund grüßt, der im Schatten geblieben ist. Nachdem die üblichen Komplimente und Redensarten gewechselt waren, begann er, um mir auf liebenswürdige Art zu verstehen zu geben, daß die Audienz beendet sei, mit Dekanosow plötzlich georgisch zu sprechen.

Allah hat bekanntlich neunundneunzig Namen. Es gibt jedoch noch einen hundertsten, den aber nur wenige Eingeweihte kennen und den niemand auszusprechen wagt. Das trifft in Rußland auf den Chef der Polizei zu. Wenn die Leute Lust hatten zu reden, sprachen sie viel leichter den Namen Stalins als den Berias aus. Man verwendet lieber Umschreibungen; es sieht fast aus, als traue man schon dem bloßen Namen eine unheilvolle Beschwörungskraft zu. Bei seinen Vorgängern war das genau so gewesen; aber keiner von den Mittleren, den Kleinen und den Großen schien ihn für weniger gefährlich zu halten als Dserschinski oder seine Nachfolger. Ich habe mir zuweilen den Scherz geleistet, seinen Namen mitten in ein Gespräch hineinzuwerfen; der eisige Effekt trat jedesmal mit unfehlbarer Sicherheit auf.

In Wirklichkeit war Beria damals keineswegs das unbeschränkte Oberhaupt der gesamten Polizei. Das Organisationsbüro — der interne Polizeiapparat der Kommunistischen Partei — war ihm nicht unterstellt.

Die eigentliche politische Polizei, das Ministerium für die Sicherheit des Staates, gleichfalls nicht; man behauptete, Stalin wolle nach der unangenehmen Überraschung mit Jeschow, obwohl Beria nur seine Kreatur war, nicht mehr die gesamte Polizeimacht in einer Hand vereinigen; er habe sich die Möglichkeit offengehalten, die Polizei zu überwachen. Aber für den Mann auf der Straße war die Polizei nach wie vor Beria, und meine Erfahrung in vielen Ländern sagt mir, daß sich der Mann auf der Straße, zu mindesten in solchen Dingen, nur selten täuscht.

Beria war an die Spitze des Innenministeriums gestellt worden, um die „Übergriffe“ Jeschows zu liquidieren. Er hatte eine gewisse Anzahl Leute auf freien Fuß gesetzt, die „widerrechtlich“ verhaftet worden waren — hatte dafür aber andere gefangengesetzt, genau wie es dann bei dem Prozeß gegen die Ärzte geschehen ist.

Man konnte einige Versuche konstatieren, die Vorstellung eines strengen, aber gerechten Beria in Umlauf zu setzen, eines Beria, der nicht leichtfertig Anklagen entgegennahm und der Mißstände mit fester Hand beseitigte. Aber ich habe nicht den Eindruck, daß dieser schüchterne Propagandaversuch viel Erfolg gehabt hat. Für die Russen war und blieb Beria der Mann der Lubjanka, aber auch der Mann der Konzentrationslager, der großen öffentlichen Unternehmungen, die mit Hilfe von Zwangsarbeit durchgeführt wurden, und vor allem der Mann, dessen Agenten einen nachts aus der Wohnung abholten — auf Nimmerwiedersehen.

Lim der Wahrheit willen muß allerdings auch gesagt werden, daß es immerhin die Andeutung einer gerechteren Würdigung der laufenden Prozesse durch Beria gegeben hat. Die Bestätigung dafür habe ich durch Zufall von einer russischen Bekannten erhalten, die im Auslande verheiratet ist.

Ihr Vater war verhaftet worden, wie üblich unter der Anklage der Spionage zugunsten ausländischer Mächte. Die italienische Botschaft in Moskau hatte diskret versucht, etwas für ihn zu tun, doch vergeblich. Bei der Nachricht vom Sturz Jeschows und seiner Ersetzung durch Beria hatte sie so etwas wie eine Erleuchtung: sie schrieb von Italien aus direkt an Beria und setzte ihm die sehr begreiflichen Gründe der Beziehungen ihres Vaters zu den Italienern auseinander. Bald darauf erfuhr sie, daß ihr Vater freigelassen worden sei.

Später erhielt sie detaillierte Nachrichten. Ihr Vater war von der obersten Untersuchungsbehörde vorgeladen und mit ungewohnter Rücksicht behandelt worden. Auf dem Tisch des Vernehmungsgerichts sah er einen Brief in der Handschrift seiner Tochter liegen, an dessen Rand Beria mit Blaustift geschrieben hatte: „Wenn die Dinge tatsächlich so liegen, freilassen“.

Lind er wurde nicht nur freigelassen, man überreichte ihm einen neuen Anzug und bot ihm zur Erholung von den erlittenen Aufregungen einen Sanatoriumsaufenthalt auf Staatskosten an.

Aber trotz dieses Falles (und vielleicht anderer analoger Fälle): wenn ich an den Mann zurückdenke, den ich viele Jahre vorher in Tiflis flüchtig gesehen hatte, an seine erbarmungslosen Repressionen, an den Alpdruck, der, solange er damals in Georgien war, auf dem ganzen Land lastete — ich mag mich irren, aber ich gestehe, es fällt mir sehr schwer, an die Theorie eines verständigen, vernünftigen, großherzigen Beria zu glauben.

Andererseits muß ich zugeben, daß ich mir Beria als Agenten des amerikanischen Kapitalismus noch weniger vorstellen kann. Es gab da allerdings ein merkwürdiges Zusammentreffen: wenn sie nicht gestorben ist, und wenn er sich nicht neuerdings von ihr hat scheiden lassen, muß Berias Frau eine Georgierin gewesen sein, die mit der hohen Aristokratie Georgiens verwandt war. Ich wundere mich ein wenig, daß das nicht unter den Anklagepunkten aufgeführt war, über die wir aber freilich nur sehr wenig erfahren haben.

Wenn ich höre, daß ein Mensch, der so viel Blut an seinen Händen und auf seinem Gewissen hat, ins Gefängnis und wahrscheinlich vor das Exekutionskommando gelangt ist, so verspüre ich eine gewisse Genugtuung. Sie liegt in der Feststellung, daß es allem Anschein zum Trotz doch so etwas wie eine immanente Gerechtigkeit gibt.

Die Hände derer, die ihn gerichtet haben, sind freilich nicht viel schuldloser als die seinen, aber schließlich geben Ereignisse wie diese doch der Hoffnung Raum — auch für jene.

Ein kleiner Napoleon

„Kommen Sie mit, ich will Sie Dekanosow vorstellen, Sie wissen doch, ein sehr wichtiger Mann."

Ich war erst vor wenigen Tagen in Moskau angekommen und kannte noch niemanden oder fast niemanden. Meine Situation war alles andere als geregelt. Es war wenige Monate nach unserem Waffenstillstand; welche Stellung Italien in Wahrheit einnehmen werde, war niemandem klar, mir selbst vielleicht weniger als irgendeinem anderen.

Afghanistan war ein neutrales Land; ich hatte dort siebeneinhalb Jahre zugebracht, was mir beinahe ein gewisses Bürgerrecht verlieh. Der Botschafter Afghanistans war der Doyen des Diplomatischen Korps, und ich kannte ihn seit einiger Zeit. Als Freund, so wie es nur Orientalen sein können, wenn sie wollen, gab er sich alle erdenkliche Mühe, mir die ersten Schritte zu erleichtern. Gegen alle Regeln lud er mich zu dem Empfang ein, den er zum afghanischen Nationalfeiertag gab, und tat sein Bestes, mich unter die Leute zu bringen.

Dekanosow war damals wirklich eine der wichtigsten Persönlichkeiten. Als zweiter Vizekommissar für Auswärtiges und Sonderbeauftragter für die europäischen Angelegenheiten war er der Mann, von dem vieles, was uns anging, zum größten Teil abhing.

Er war klein von Gestalt, massig, aber nicht plump, mit rötlichem, graumeliertem Haar, schon etwas kahl geworden, hoher Stirn, einem Profil mit napoleonischem Einschlag, sehr markanten, aber regelmäßigen Zügen, lebhaften, durchdringenden, intelligenten Augen unter den starken Augenbrauen. Der afghanische Botschafter flüsterte ihm etwas zu, und Dekanosow löste sich langsam von der Gruppe, mit der er eben geplaudert hatte, und kam auf mich zu. Er musterte mich mit strenger Mine: „leit kenne Sie sehr gut und sogar schon seit langer Zeit", sagte er dann brüsk.

„? ? ?“ „Ich hatte bis vor kurzem einen anderen Posten, auf den ich mich mit dem mittleren Orient und vor allem mit Afghanistan besdtäftigte. Daher habe ich Gelegenheit gehabt, Ihre ganze Tätigkeit in Kabul genau zu verfolgen. Ich kann bestimmt sagen, daß Sie nicht gefaulenzt haben."

Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß meine Tätigkeit — wenn wir es einmal so nennen wollten — unmittelbar gegen England und nicht gegen Rußland gerichtet gewesen sei; das stimmte sogar ganz genau. Er erwiderte sofort, daß es nicht leicht sei, von Kabul aus gegen Ruß-land zu arbeiten, und daß die Möglichkeiten der Arbeit im allgemeinen sehr verschieden seien; das stimmte auch. „Immerhin hoffe ich, daß Sie nicht die Absicht haben, hier in Moskau dasselbe zu madten", sagte er in einem Ton, bei dem man nicht wußte, ob er im Ernst oder im Scherz sprach.

Diese meine Tätigkeit in Afghanistan ließ ihm keine Ruhe. Sooft wir uns begegneten — und an Gelegenheiten dazu fehlte es nicht —, kam er darauf zurück. Warum ich es getan hätte, was ich wolle, was ich suchte. Ich meinerseits suchte ihm begreiflich zu machen, daß meiner Meinung nach jeder Beamte, sobald sich sein Land im Krieg befindet, die Pflicht habe, sein möglichstes zu tun, damit es ihn nicht verliere, oder wenn schon, daß es ihn wenigstens ehrenvoll verliere. Aber nach seiner Meinung galt dieser Grundsatz nur für Militärs — die hatten die Befehle ihrer Regierung ohne Diskussion auszuführen —, aber nicht für Diplomaten. Bis ich ihm eines Tages, als er beißender war als gewöhnlich, endlich sagte: „Hören Sie, verehrter Herr Vizekommissar, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, sind Sie bis zur Kriegserklärung Botsdiafter der Sowjetunion in Berlin gewesen. Und in Berlin haben Sie eine Politik der Freundsdiaft mit Deutsddand gemacht. Da ich jetzt Ihre Anschauungen kenne, bin ich mir darüber klar, daß Sie diese Politik mit dem größten inneren Widerstreben gemacht haben — aber Sie haben Sie gemadit. Nun, sehen Sie, ich war in Kabul in der gleichen Lage, in der Sie in Berlin waren.“

Zur Ehre Dekanosows muß ich sagen, daß er gut im Nehmen war und mich von diesem Tage an in Frieden ließ, wenigstens was Afghanistan betraf.

Auf Grund seiner Stellung war Dekanosow vielleicht diejenige Persönlichkeit in Moskau, die ich besonders oft aufsuchte und mit der ich während meines ganzen Aufenthaltes besonders häufig zu verhandeln hatte. Er war hart, schwierig, aber im Grunde freimütig. Ich muß anerkennen, wenn ich nicht die Möglichkeit gehabt habe, mir viele Illusionen darüber zu machen, wie der Friedensvertrag für uns aussehen würde, so verdanke ich das zum größten Teil dem rüden Freimut Dekanosows, der mir schon bei unseren ersten LInterredungen mit größter Klarheit sagte, was wir erhoffen könnten und worüber wir uns keine Illusionen machen dürften. Es war schwer, sehr schwer, von ihm ein Ja zu erlangen; hatte er es jedoch ausgesprochen, so konnte man sicher sein, daß er sein Wort halten werde.

Ich habe nie erfahren können, wie sein wirklicher Name lautete; ich glaube nicht, daß er wirklich Dekanosow hieß. Das ist kein georgischer Name, und es wäre schwer, in der Art zu sprechen, zu argumentieren, sich zu bewegen, noch georgischer zu sein als er.

Es hieß allgemein, er habe, bevor er in das Außenkommissariat eintrat, eine lange Probezeit in der Polizei absolviert und sei noch jetzt das Auge der Polizei im Außenministerium. Tatsächlich unterstand ihm die Personalabteilung. Aber auch wenn man nichts über ihn wußte, hätte man kaum Zweifel hegen können: in der Art, wie er mit einem sprach, wie er einen ansah, lag etwas, was schon von weitem den Polizisten verriet. Jede Unterhaltung über dienstliche Angelegenheiten mit ihm bekam, von einem gewissen Augenblick an, einen Beigeschmack von Verhör.

Eine dienstliche LInterredung mit ihm war gewiß weder bequem noch angenehm. Was man ihm auch sagen mochte, seine erste Reaktion war stets, daß er einem die negativste Interpretation davon gab. Er hatte ein grausames Vergnügen daran, einem zu beweisen, daß man im bösen Glauben handle, und damit nachhaltig einzuprägen, daß man ihn nicht hineinlegen könne. Er war sarkastisch, verletzend, verachtungsvoll für alle und alles.

Visconti Venosta war soeben zum Unterstaatssekretär ernannt worden und hatte mich beauftragt, Dekanosow einen Gruß zu übermitteln. „Wer ist dieser Visconti Venosta? Ist das Ihr ehemaliger Bevollmächtigter auf der Konferenz von Algeciras? fragte er, indem er sich in seinem Sessel zurücklehnte, die Beine ausstreckte und die Hände in die Hosentasche versenkte. „Das weiß ich nidrt genau, aber ich glaube eher, es ist sein Sohn", antwortete ich, „der andere ist, soviel ich weiß, gestorben; auf jeden Fall wäre er sdton ein wenig zu alt.“ „Das hatte ich mir auch gedacht", fuhr er mit spöttischer Mine fort, „aber ich war nicht ganz sidrer; mir sdieint, die italienisdre Regierung ist der Ansicht, daß sich um so besser Krieg führen läßt, je älter die Leute in der Regierung sind.“

Wenn er nicht ja sagen wollte — und das war der gewöhnlichste Fall —, wurde er ausweichend, ironisch, aggressiv; er überraschte einen mit den ausgefallensten Argumenten. Er glitt einem aus der Hand wie ein Aal; glaubte man ihn endlich mit dem Rücken an der Wand, so fand er doch noch einen Ausweg. Als echter Georgier hatte er einen gewissen Sinn für Humor und nahm, sicher mehr als viele andere, eine Antwort an. Hatte er in der Hitze der Dealektik ein besonders seltsames Argument vorgebracht und machte man ihn darauf aufmerksam, so konnte er in ein geräuschvolles Lachen ausbrechen, und dann sprach er nicht weiter davon. Er hielt sich immer sehr genau an die Parteilinie. Diskutierte man mit ihm über die allgemeine Politik, so wiederholte er im wesentlichen das, was man schon in der Zeitung gelesen hatte. Doch verfügte er über einen gewissen persönlichen Stil, es zu servieren, wodurch der Eindruck entstand, als sei es doch auf seinem Acker gewachsen. Und trotz seiner Härte hatte ich im Grunde einige Sympathie für ihn. Wenn es möglich war, verhandelte ich lieber mit ihm als mit so manchem anderen; bei ihm wußte man wenigstens, woran man war.

Es war damals gewiß nicht der Augenblick, in dem es die Russen an nationalem Stolz hätten fehlen lassen. Er besaß ihn, das muß man anerkennen, in einem Grade, der über das Normalmaß hinausging. In Moskau war es damals die große Mode, die Verschiedenheit der Rechte und der Pflichten zwischen den Großmächten — und das waren nach russischer Auffassung Rußland und die Vereinigten Staaten, mit einem herablassenden Wink in der Richtung auf England — und den anderen zu betonen; und diese anderen hatten zuzuhören, mitzumachen, zu ge-horchen und vor allem keine Scherereien zu machen. Wenn aber Deka-nosow von den Großmächten sprach, dann hatte man den Eindrude, er setze sie mit dem Fürstentum Liechtenstein auf eine Stufe. Als ich einmal ganz allgemein auf die politischen Möglichkeiten der verschiedenen europäischen Mächte in der Zeit nach dem Kriege anspielte, schien ihn meine Bemerkung nicht sehr zu interessieren; plötzlich aber unterbrach er mich; „Schauen Sie sich die Karte da an! Das hier ist Rußland. Und das sind Ihre europäischen Länder — sehen Sie nicht den Unterschied? Wie wollen Sie da noch von politischen Möglichkeiten der europäischen Mächte reden?“

Ich weiß nicht, ob er sich seines, ein wenig napoleonischen, Gebens bewußt war. Manchmal hätte man freilich meinen können, er kultiviere es. Jedesmal, wenn ich in seinem Büro war, sprang er unvermittelt auf und ging im Zimmer hin und her, wobei er mit erregter Stimme weitersprach, die eine Hand zwischen dem ersten und zweiten Knopf seiner Uniformjacke, die andere auf dem Rücken.

Ich besuchte ihn am Tag nach der Unterzeichnung der deutschen Kapitulation. Er schien entrückt. „Es ist zu Ende“, sagte er, „und es ist doch eine große Zeit gewesen. Jeden Tag hat uns das Radio eine Siegesmeldung gebracht. Die russischen Truppen besetzten die Hauptstädte Europas eine nadt der anderen. Es war eine Zeit, in der man stolz darauf war, ein Russe zu sein. Es wird nicht leidtt fallen, sich jetzt wieder an das Alltagsleben zu gewöhnen.“

Wußte er da bereits, daß schon jemand im Begriff war, sein Alltags-leben zu ändern? Sein Abgang kam ganz unverhofft. Es fing damit an, daß er in die Klinik ging, um sich ein Magengeschwür behandeln zu lassen. Dann tauchte er noch einmal für ein paar Tage im Ministerium auf und verschwand. Wer nach ihm fragte, bekam die unbestimmte Antwort, er habe andere Aufträge erhalten. Ich habe mich manchmal gefragt, ob er noch lebe oder schon tot sei, und als ich las, daß er zum Minister des Inneren in Georgien ernannt worden sei, hatte ich beinahe Lust, ihm zu gratulieren.

Ich ließ mir nicht träumen, daß ich so schnell präzise Nachrichten über sein Schicksal erhalten würde.

Lind es blieb mir nur übrig, ein tiefempfundenes mea culpa zu sprechen. Wie idiotisch, daß ich in dieser langen Zeit nicht gemerkt habe, daß ich einen Verräter und Spion vor mir hatte! In was für einem ganz anderen Ton hätte ich mit ihm reden können, wenn ich schlau genug gewesen wäre, es zu erraten!

Ein französischer Journalist, der die Anklageschrift gegen Beria und Genossen kommentierte, hat bemerkt, daß man wirklich stolz sein könne auf das, was die internationale Bourgeoisie alles ausrichte. Man kann nur sagen, es war ein wohlgelungener Streich, es fertigzubringen, daß man das ganze Innenministerium und die oberste Leitung der Polizei als Agenten im gegnerischen Lager zur Verfügung hatte, von den kleineren Leuten gar nicht zu reden. Sprechen wir es ruhig aus, daß dem gegnerischen Lager ein Unternehmen von gleicher Tragweite nicht gelungen ist. Dabei war Beria aber nicht der einzige: seine beiden Vorgänger im Amt des Polizeichefs, Jagoda und Jeschow, waren ja auch Agenten der internationalen Bourgeoisie, und gemeinsam mit ihnen Marschälle, Generäle und Botschafter. Man könnte zu dem Glauben kommen, es gäbe im Innenministerium einen höchst ansteckenden Krankheitskeim.

Ich bin aufs äußerste gespannt, wer als nächstes Opfer der bourgeoisen Sirene fallen wird.

Gentleman und Sibirier

Er kam einem noch kleiner vor, als er wirklich war, wenn man ihn inmitten der grandiosen Wucht der Empireeinrichtung seines Büros sah: der etwas flache Schädel, ein paar graue Haarbüschel, die von der rechten Schläfe ausgeliehen waren und vergebens die Glatze zu maskieren suchten, die breite, bewegliche Stirne, die sich im raschesten Wechsel runzeln und wieder glätten konnte, die kleinen, intelligenten Augen, die feine Nase, nur wenig platt gedrückt und mit der Andeutung einer knollenförmigen Spitze, der seltsame Mund mit den etwas fleischigen, leicht gespitzten Lippen, als sei er ständig im Begriff zu pfeifen, der kleine hängende Schnurrbart und eine winzige Andeutung von Bart unter der Unterlippe. Die halbmilitärische Uniform der russischen Diplomaten trug er mit ganz ziviler Akkuratesse. Er hatte breite Schultern, ziemlich kurze Arme mit kleinen, fetten und behaarten Händen; die kurzen Beinchen trugen einen üppigen Bauch. Er sprach langsam, mit einem sonderbaren Wechsel der Stimmlage: aus tiefem Baß erhob sie sich zu fast schrillen Tönen. Seine Äußerungen waren immer sehr präzis. Man empfand, daß man es mit einem geordneten Geist, einem intelligenten Menschen zu tun hatte. Lange diplomatische Erfahrung und seine nicht immer leichte Situation hatten ihm einen Firnis von Skeptizismus und Vorsicht gegeben, aber hin und wieder verriet ein Wort, eine Geste eine fast naive innere Kraft zum Glauben und zum Ideal.

Bei meinem ersten Moskauer Aufenthalt hatte ich Maiski kaum zu Gesicht bekommen. Seine Stellung damals war ziemlich unklar; er war gemeinsam mit Stein einer der vertrauten Mitarbeiter Litwinows, aber der hatte noch keine Möglichkeit gehabt, ihnen wichtige Ämter im Ausland anvertrauen zu lassen. Sie waren beide von fragwürdiger Herkunft, menschewistischen Ursprungs, und es war ihnen noch nicht gelungen, das Mitgliedsbuch der Kommunistischen Partei zu erhalten, oder sie hatten es nicht gewollt. Maiski war nicht nur sozialistischer Abkunft, sondern hatte überdies einige Zeit mit der Regierung von Samara zu tun gehabt, einer der vielen antikommunistischen Lokal-regierungen, die sich nach der Oktoberrevolution hier und da in Ruß-land gebildet hatten, und er war damals, wenigstens erzählte man sich das, nicht sehr zart gegen die Bolschewiken gewesen. Später war es Litwi-now gelungen, die Hemmungen bis zu einem gewissenGrade zu beseitigen. Stein war zum Botschafter in Rom ernannt worden, und Maiski genoß die Apotheose, Botschafter in London zu werden. Ich glaube, da ist es ihm auch gelungen, mn die Kommunistische Partei einzutreten. Er hatte einen Band Memoiren veröffentlicht, voll von Erinnerungen, auch aus seiner revolutionären Jugend. Man konnte ihm gewiß keinen Vorwurf daraus machen, daß er manches darin ausgelassen hatte. Er war Sibirier und war stolz darauf. Vielleicht die schönsten Seiten seines Buches sind jene, auf denen er schildert, welchen Einfluß die unendliche Weite der sibirischen Natur auf den Menschen ausübt. Manchmal hatten seine Augen jenen seltsamen Ausdruck, den man bei fast allen seinen Landsleuten findet, so, als blieben sie plötzlich stehen, um nach dem endlosen Horizont auszuschauen — mit dem ruhigen, geduldigen und zähen Willen der Pioniere.

Die Botschafterzeit Maiskis in London hat eine Epoche bezeichnet. Mit seiner Intelligenz, mit seinem Takt, mit dem typischen Gebahren des alten russischen Intellektuellen war es ihm gelungen, viele englische Voreingenommenheiten gegen Sowjetrußland aufzuheben Er war ein überzeugter Vorkämpfer der Westpolitik Litwinows und hatte es fertig-gebracht, die Krisen — und es waren nicht wenige und keine unbedeutenden gewesen — zu überwinden, denen er auf seinem Wege begegnet war.

Aber die Londoner Zeit hatte auch ihn selber stark beeinflußt; und wenn man länger mit ihm sprach, dann kam eine seltsame Mischung von slawischer Seele und britischem Empirismus zutage. Noch deutlicher als er war seine Frau von dem langen Aufenthalt in London geprägt. Eine kuriose Frau, im Grunde fast häßlich, aber sympathisch durch ihr herzliches Lachen. In ihrem Gesicht waren völlig widerstrebende Züge unter dem gemeinsamen Nenner eines blauroten Teints vereint, angesichts dessen man sich immer fragte, ob nicht Gefahr sei, sie von einem Augenblick zum anderen unter einem Schlaganfall hinsinken zu sehen. Englisch war sie vor allem in der unbeschreiblischen Art, wie sie sich kleidete. Man brauchte ihr nur von ihrer Botschafterzeit in London zu erzählen, und sie war bewegt.

Im Jahre 1945 war Maiski einer der zahlreichen Vizekommissare; er hatte nicht, wie so viele andere, ein bestimmtes geographisches Gebiet zu bearbeiten, sondern er war im allgemeinen mit der Vorbereitung des Friedensvertrages beauftragt; daher nahm ich an, er könne eine gewisse Bedeutung für unsere Angelegenheiten haben. Seine persönliche Stellung war nicht ganz klar; er war nicht gänzlich ausgebootet wie Litwinow, der nur noch des Scheins halber da war, aber er hatte augenscheinlich auch nicht die Bedeutung eines Wyschinski oder eines Dekanosow. Es war schwierig, sein spezifisches Gewicht, ich sage nicht: zu bestimmen, sondern überhaupt nur einigermaßen zu erraten, das übrigens in Rußland bei allem immer sehr veränderlich ist.

Immerhin war er ein Typ, der sich von den anderen deutlich unterschied. Mit ihm konnte man wirklich reden. Seine Antworten mögen nicht genial gewesen sein, aber wenigstens sagte er Dinge, die man nicht schon in der Prawda oder in der Iswestija vom Tage zuvor gelesen hatte. Er ging ungern ins Detail und blieb lieber auf dem Gelände der allgemeinen Ideen. Er war, zum mindesten mir gegenüber, ein wenig trocken, ein wenig distanziert. Sichtlich interessierte ihn Italien und sein Schicksal nicht allzusehr; seine ganze Aufmerksamkeit war auf die Angelsachsen gerichtet.

Dagegen war er sehr interessiert, als er erfuhr, daß ich, wenn auch in nebensächlicher und noch sehr untergeordneter Funktion, ein wenig mit den Friedensverträgen zu tun gehabt hatte, die den ersten Weltkrieg abschlossen. „Die Friedenskonferenz von 1919 war unheilvoll. Aber diesmal wird es etwas ganz anderes“, sagte er, indem er mit entschiedener Miene die Hände auf die Armlehnen seines Sessels stützte.

Offenbar gelang es mir nicht — und ich bin nicht sicher, ob ich es überhaupt gewollt habe — eine skeptische Miene zu unterdrücken, worauf er, beinahe mit Heftigkeit, das Thema weiterspann. „Nein, es wird nicht dasselbe sein. Auf die Pariser Konferenz sind die Hauptmächte mit ungenügender Vorbereitung gegangen. Diesmal ist es anders; schon seit Monaten studieren wir alle Fragen und haben bereits in vielen grundsätzlichen Dingen Übereinstimmung erzielt. Alles ist vorbereitet; es wird keine Überraschungen geben.“ „Und Sie glauben wirklich, die Konferenz von Paris sei nicht vor-bereit gewesen?“ erwiderte ich, „das ist nicht richtig. Auch damals haben Zusammenkünfte stattgefunden, Studienkomitees sind eingesetzt worden, alles war diskutiert, viele Fragen waren gelöst worden. Ich erinnere mich, daß ich viele Denkschriften, viele Projekte gesehen habe, die dann nicht gebraucht wurden.“ „Und warum ist es damals nicht gelungen, eine Übereinstimmung zu erzielen?“ „Das könnte ich Ihnen nicht genau sagen. Vielleicht weil der Krieg anders, als vorgesehen, zu Ende gegangen war. Vielleicht, weil die Lösungen, die man theoretisdt studiert hatte, sich als der Wirklichkeit nicht entsprechend erwiesen. Vielleicht, weil es sehr oft passiert, daß man alles andere eher voraussieht als das, was dann wirklidt geschieht.“ „Sie meinen also, das gleidte könnte audt diesmal gesdrehen, trotz aller Arbeit, die wir jetzt leisten?“ „Idt kann Ihnen nur sagen, daß ich dessen beinahe sicher bin.“

Ich gestehe, daß ich ein wenig erstaunt war, einen unbestreitbar intelligenten Menschen von Erwägungen, die mir wahrhaftig nicht sehr fernliegend erschienen, derart betroffen zu sehen. Lind ich war noch erstaunter, als er, für lange Zeit, jedesmal, wenn ich ihn wiedersah, auf dasselbe Thema zurückkam und mich, oder vielleicht noch mehr sich selbst zu überzeugen suchte, es sei unmöglich, daß sich auf der nächsten Friedenskonferenz der nämliche unheilbare Zusammenprall widerstreitender Interessen, dasselbe Nichtverstehen, dieselben Irrtümer wiederholen könnten, die sich auf der Konferenz von 1919 ergeben hatten.

Erst später verstand ich den Grund dieser, seiner Reaktion. Ich war in einem Augenblick nach Moskau gekommen, der gerade den Höhepunkt der Kollaboration und des Einverständnisses zwischen den Russen und den Angelsachsen bezeichnete, in einem Augenblick, in dem man, auch ohne übertrieben optimistisch zu sein, wirklich glauben konnte, die beiden Welten hätten endlich eine Formel ihres Zusammenlebens auch für die Zeit nach dem Kriege gefunden. Lind Maiski, der an dieses Zusammenleben nicht nur geglaubt, sondern es immer gewollt hat, auf dem in einem gewissen Sinne seine ganze politische Zukunft beruhte, weigerte sich zu denken, das alles könne etwa nicht Wirklichkeit werden.

Handelte er aus wirklicher Überzeugung oder aus persönlichem Interesse? Die geheimen Triebfedern eines Menschen sind immer schwer zu erraten. Maiski, der doch sein eigenes Land kennen mußte, konnte sicher nicht annehmen, sein Schicksal werde im Fall eines Zwistes sehr glänzend sein. Er mußte auch wissen, was Ungnade in Rußland bedeutet. Aber ich vermute doch, daß er wie andere — wie ganz sicher sein alter Gönner Litwinow — diese Zusammenarbeit im eigensten Interesse seines Landes gewünscht und für notwendig gehalten hat. Er war ein russischer Patriot und Nationalist nicht weniger als viele andere. Seine Natur und seine Vergangenheit haben ihn vielleicht zu einem Mann des Kompromisses gemacht. Er muß sich angesichts der intransigenten Haltung seiner Regierung nicht immer sehr wohl gefühlt haben. Vielleicht hoffte er, es sei nur Taktik.

Ich erinnere mich einer der letzten Gelegenheiten, bei denen ich mit ihm sprach. Es war nach der salomonischen Entscheidung, durch die dem freien Territorium Triest ein theoretisches Leben eingehaucht wurde. Ich schilderte ihm die Bitterkeit, die diese Entscheidung in Italien hervorgerufen hatte.

„Sehen Sie“, sagte Maiski, „idt war der Lösung in Gestalt eines freien Territoriums auch nicht geneigt. Aber gerade vor wenigen Augenblid^en habe idt mit Ihrem jugoslawisdien Kollegen gesprochen, der unsere Formel nodt kritisdier als Sie beurteilt, und idt beginne zu glau- ben, da^ eine Lösung, die weder die Italiener noch die Jugoslawen befriedigt, vielleicht die beste sein könnte."

Wenn ich bei Beginn meines Moskauer Aufenthaltes noch Zweifel über Maiskis spezifisches Gewicht hegen mochte, so brauchte man sich gegen das Ende zu nicht mehr den Kopf zu zerbrechen. Ich hatte Muße, Tag für Tag zu beobachten, wie seine Bahn sich immer weiter abwärts neigte. Heute wurde ihm sein Auftrag entzogen, morgen trat an seine Stelle ein anderer an die Spitze einer Kommission. Aber mehr als von solchen Einzelmaßnahmen empfing man den Eindruck des Niedergangs von der Leere, die allmählich um ihn entstand, und die immer größer wurde. Wie an den Höfen von einst, entfalten anscheinend die Menschen in einem totalitären Regime einen besonders feinen Sinn dafür, die Ungnade des Souveräns zu ahnen. Bei jedem neuen offiziellen Empfang traten weniger Leute auf ihn zu, um ihn zu begrüßen. Die arme Frau Maiski lief weiter hierhin und dorthin und gab sich Mühe, ihr Lächeln nach rechts und nach links zu verteilen; er dagegen blieb in seiner Ecke, von Mal zu Mal ein wenig kleiner, ein wenig einsamer. Am Ende dachten nur noch ein paar Ausländer daran, hinzugehen und den beiden Hände die zu schütteln.

Ich weiß nicht, ob er noch am Leben ist; er ist verschwunden, und verschwinden kann in Rußland alles bedeuten. Sicher ist eines: wenn man auf der sowjetischen Bühne wieder Menschen vom Schlage Maiskis erscheinen sähe und wenn man wüßte, daß sie die wirklichen Exponenten der sowjetischen Außenpolitik sind, könnte man optimistischer sein. Aber vielleicht ist es der alte Fehler der Nichtmarxisten, daß sie immer wieder dem persönlichen Faktor mehr Bedeutung beimessen. Und doch . ..

Fussnoten

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