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Sozialpolitik und christliche Liebe | APuZ 52/1959 | bpb.de

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APuZ 52/1959 „Die ganze Welt ist von Sehnsucht nach Frieden erfüllt" Sozialpolitik und christliche Liebe Aus den Erinnerungen eines Diplomaten

Sozialpolitik und christliche Liebe

HANS CHRISTIAN ASMUSSEN

Es herrscht weithin Unklarheit darüber, daß die Sozialpolitik und die christliche Liebe nur weitläufig miteinander verwandt sind. Ebenso weit, wie diese Unklarheit herrscht, ist die Überzeugung verbreitet, soziales Handeln sei die Erfüllung des christlichen Liebesgebotes. Es lohnt sich, der Frage nachzudenken, wie die soziale und christliche Forderung sich zueinander verhalten. Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einem Herrn, der seiner Verwunderung darüber Ausdruck gab, daß ich nicht vom sozialen Wollen gesprochen hätte, als ich versuchte, das Christliche in der Politik zur Darstellung zu bringen. Auch er hielt das Soziale für ein typisches Kennzeichen des Christlichen. Bei näherem Zusehen erkennt man aber, daß diese Meinung irrig ist. 1. Wenn ein Christ in einem Gemeinwesen lebt, das für sich den Ruhm in Anspruch nehmen darf, daß es seiner sozialen Verpflichtung im Vollmaße nachkommt, kann er nicht damit rechnen, daß ihm die Verpflichtung zur Liebe durch ein solches Gemeinwesen abgenommen wird. Wer das große Kapitel von der Liebe im Neuen Testament liest (1. Kor. 13), der wird unschwer erkennen, daß sogar die Wohltätigkeit, die ein Mensch ausübt, mit der Liebe, welche der Apostel meint, noch nichts zu tun haben muß. Es gibt Wohltätigkeit, die ohne Liebe ist, geschweige denn Sozialpolitik. Das liegt daran, daß das Neue Testament die Liebe, wovon hier im Vollsinne die Rede ist, als eine Geistesgabe versteht, die mit einer Reihe von Wundergaben auf einer Stufe steht. Wenn Christen sich der Liebe befleißigen, dann müssen sie sich um diese Geistesgabe bemühen.

Damit ist nicht gesagt, daß die christlichen Kirchen sich nicht um Wohltätigkeit und nicht um Sozialpolitik bekümmern sollten. Wohl aber heißt das, daß eine christliche Kirche ihr Hauptaugenmerk auf die Liebe zu richten hat, welche Paulus im 13. Kapitel des ersten Korinterbriefes im Auge hat. Wenn die christlichen Kirchen das nicht tun, dann gehen sie an ihrem eigentlichen Auftrage vorbei. Nach einer uralten Überlieferung wird der große Lobgesang von der Liebe an dem Sonntage in der Kirche verlesen, wo die Gemeinde aus dem Evangelium die Worte Jesu hört: „Siehe, wir gehen hinauf gen Jerusalem und es wird alles erfüllt werden." Die Gemeinde soll nämlich vor die Tatsache gestellt werden, daß die Liebe, auf welche es im Christentum eigentlich ankommt, die sich opfernde Liebe des einen Menschen Jesus Christus ist. Die Frage, welche sich daraus als Frage an die Gemeinden ergibt, ist diese: Sind wir in d i e s e Liebe mit eingeschlossen? Ob wir in der Sonne dieser Liebe stehen, ist weder aus unserer Wohltätigkeit, noch aus unserem sozialen Elan zu entnehmen.

Handlungen, die sich aus dieser Liebe ergeben, sind nämlich Zeichen, so wie allerlei Wunder im Neuen Testament als Zeichen gelten, Zeichen für das eingebrochene Reich Gottes. So wie am Sternenhimmel hin und wieder die Novae und die Supernovae aufleuchten und uns Kunde geben von riesigen Katastrophen in der Sternenwelt, so sind Handlungen wahrer Liebe — im Sinne von 1. Kor. 13 — ein Aufleuchten in der Menschheitsgeschichte. Man kann Sonnenfinsternisse vorausberechnen, das Aufleuchten der Novae aber nicht. Man kann die Folgen bestimmter sozialer Endscheidungen vorausberechnen, die Folgen der wahren Liebe aber nicht. Es gefällt meistens den Menschen, wenn sichtbare Handlungen vollbracht werden, die einer für andere tut. Wenn man z. B. alles, was man besitzt, den Armen gibt, oder wenn man für andere Menschen sein Leben in die Schanze schlägt, so pflegt das allen zu gefallen. Ob aber die wahre Liebe den Menschen gefällt, das ist damit nicht gesagt. 2. Es sollte mich nicht wundern, wenn der Leser, der am öffentlichen Leben interessiert ist, obigen ersten Abschnitt mit Ungeduld liest. Denn wahrscheinlich ist er gar nicht daran interessiert, hier eine Predigt zu hören. Diese Lingeduld ist nicht ganz unberechtigt. Trotzdem muß man die Geduld aufbringen, sie erst einmal zu ihrem Ende gehen zu lassen, wenn sie vielleicht auch auf die Nerven geht. Denn die Erinnerung an die Liebe, welche das Christentum meint, wenn es am dezidiertesten von Liebe spricht, ist auch für das öffentliche Leben wichtig. Das ist nicht so zu verstehen, daß das öffentliche Leben von der Liebe im engsten Sinne durchdrungen werden müßte. Denn die so verstandene Liebe kann niemals ein politisches Programm werden. Sie ist etwas außerordentliches und verliert ihren Sinn, wenn man versucht, sie zum Gewöhnlichen zu machen. Wird aber das Außergewöhnliche verschwiegen, dann wird das Gewöhnliche zum letzten Wert.

Wir verdanken es dem Apostel Petrus, daß er einen Unterschied, der dem ganzen Neuen Testament eigen ist, „auf einen Nenner“ gebracht hat. Er hat nämlich die sehr wichtige Unterscheidung von „Bruderliebe" und „Liebe überhaupt" direkt ausgesprochen (2. Petr. 1, 7). Es ist nämlich ein wesentlicher Teil der christlichen Botschaft, daß die Beziehungen der Christen zu anderen Christen enger sein müssen, als zu Menschen, die keine Christen sind. Diese Unterscheidung kann ein Gemeinwesen, das nicht nur aus Christen besteht, für seine Gesetzgebung nicht gelten lassen. Wenn man etwa an die Bundesrepublik denkt, dann muß man sich wohl vor Augen halten, daß jede nur denkbare Regierung, die im Rahmen des Grundgesetzes zu regieren sich bemüht, das Wohl aller Staatsbürger im Auge haben muß, sie seien nun Christen oder nicht.

Für die Kirchen aber liegen die Dinge anders. Sie geben sich selbst auf, wenn sie den Unterschied zwischen brüderlicher Liebe und Liebe überhaupt nicht gelten lassen. Wie sollte sonst sichtbar werden, daß die Jüngergemeinschaft, die Christus gesetzt hat, für die Kirche verbindlich ist? Die Liebe der Christen muß sich darum so manifestieren, daß sie den Christen einen Vorrang läßt. Die Bemühung, welche Christen -an die um des Glaubens willen Leidenden wenden, muß allemal größer sein als ihre Bemühungen um andere Menschen. Der Aufruf, wie er in einer christlichen Gemeinde zur Liebestat gehen muß, wird darum auch zu unterscheiden wissen zwischen dem, was wir den Brüdern schuldig sind, und dem, was wir allen Menschen schulden. Das ist wichtig zu betonen, weil man sonst alle denen leicht unrecht tut, welche im 19. Jahrhundert ihren christlichen Brüdern Liebes antun wollten, den Missionen, den Diakonissenanstalten und den entsprechenden Einrichtungen auf katholischer Seite. Man kann heute oft Menschen so reden hören, als sei das alles gar nichts gewesen. Vor solchen Verirrungen sollten sich alle hüten! 3. Richten wir nun unser Augenmerk auf die allgemeine Liebe! Das Neue Testament hat uns einen Begriff geschenkt, der hinreißend plastisch ist: Der Nächste. Den Nächsten sollen wir lieben, wir, d. h. alle Menschen sollen ihren Nächsten lieben. Die bekannte Geschichte vom barmherzigen Samariter zeigt uns, daß uns unser Nächster von Gott auf den Weg gelegt wird. Ob ein Mensch oder ob eine Zeit dieses Gebot beachtet, daß es den lieben soll, den Gott uns auf den Weg legt, wird daran sichtbar, daß wir den Unterschied zwischen dem Nächsten und dem Fernsten wahrnehmen. In steigendem Maße kann man bei Christen beobachten, daß ihnen der Fernste sehr viel interessanter ist als der Nächste. Beim Fernsten sieht man den Schmutz nicht so. In der Ferne hört man das unangenehme Stöhnen nicht mehr. Es kostet darum vielleicht mehr Geld, den Fernsten zu lieben, aber sicher nicht mehr Herzblut. Darum ist die Fernstenliebe auch sehr beliebt. Wäre ich Bürger der USA, dann würde ich wahrscheinlich die unterentwickelten Gebiete mehr lieben als die Neger in den Südstaaten.

Diese Nächstenliebe grenzt bereits an öffentliches, d. h. politisches Handeln. Vor allem in einem modernen Gemeinwesen sind die Grenzen zwischen der Nächstenliebe und dem sozialen Handeln immer fließend. Sobald nämlich die Nächstenliebe nicht nur einen einzelnen im Auge hat, sondern eine ganze Gruppe von Menschen, wird das Handeln der Liebe eine öffentliche Angelegenheit. Ein Unternehmen wie Bethel, ist immer auch ein soziales Unternehmen, d. h. eine öffentliche Bemühung, im Namen des Ganzen einer bestimmten Menschengruppe Hilfe angedeihen zu lassen. Man darf aber andererseits die Nächstenliebe nicht im sozialen Handeln aufgehen lassen. Wenn unsere Nachrichten aus Rußland richtig sind, ist es dort schwer, wenn nicht unmöglich, außerhalb des staatlichen Handelns Hilfe zu organisieren, wenn man auch sicher die Hilfe von Mann zu Mann kaum wird ganz unterbinden können. Aber auch die Hinderung, Hilfe zu organisieren, ist für das Menschsein nötig, weil kein Mensch sein Menschsein bewähren kann, ohne daß er der freiwilligen Nächstenliebe begegnet und sich aufrufen läßt, sich an solcher Hilfeleistung zu beteiligen. 4. Im 19. Jahrhundert ist der Anschein entstanden, als ob die soziale Frage auf die Arbeiterschaft beschränkt sei. Einseitig denkende Kirchen-männer haben nach 1945 das Ihre getan, diesen Eindruck wieder aufleben zu lassen. Die soziale Frage ist jedoch eine die ganze Bevölkerung angehende Sache. Wo sie recht angefaßt wird, entstammt sie der Erkenntnis, daß ein Gemeinwesen im eigenen Interesse Notstände abstellen und für eine möglichst weitgehende Beteiligung am Gesamtvermögen eintreten muß. Soziales Handeln ist demnach vordringlich politisches Handeln. Daraus folgt, daß soziales Wollen nicht mit der Nächstenliebe gepaart sein muß. Staatsmänner können ausgesprochen sozial, eingestellt sein und doch von der Liebe nicht eben viel wissen. Dadurch werden sie keineswegs schlechtere Staatsmänner. Die entscheidende soziale Einsicht ist, daß jedem geholfen ist, wenn allen geholfen wird. Der soziale Ruf muß also lauten: Fördere das allgemeine Wohl (bonum commune) und du wirst allen einzelnen helfen.

Nun sollte man meinen, daß dort, wo die Nächstenliebe noch als christliches Gebot öffentlich gepredigt wird, auch die soziale Einsicht am deutlichsten hervortritt. Das kann man leider nicht ohne weiteres sagen. Wo die Kirchen noch öffentlich wirken können, und trotzdem die soziale Frage nicht entschlossen angepackt wird, liegt sicher auch ein Versagen der Kirche vor. Worin aber ist dieses Versagen eigentlich begründet? Die marxistische Propaganda hat das Dogma verkündet, daß die Kirche im 19. Jahrhundert einseitig an die Kapitalisten gebunden gewesen sei. Ein Körnchen Wahrheit enthält dieser Vorwurf, aber kaum mehr. Denn einmal ragen im 19. Jahrhundert kirchliche Gestalten aus der Masse auf, welche die Notwendigkeit der sozialen Tat laut genug gepredigt haben. Dann aber ist der soziale Gedanke im 19, Jahrhundert dadurch verfälscht worden, daß er von Anfang an mit dem Atheismus gepaart wurde. Endlich aber hat die soziale Krise, wie sie das 19. Jahrhundert heraufführte, sehr verschiedene Gründe, die sich zum großen Teil der Entscheidungsmöglichkeit der Menschen entzogen. Allen, denen durch soziales Handeln geholfen werden muß, wird man nur dann dienen, wenn man das Komplexe der Situation im 19. Jahrhundert sieht und nicht einfach so tut, als hätte man alles erklärt, wenn man sagt, es hätte eben den Unternehmern und der Kirche an Nächstenliebe gefehlt. 5. Die soziale Frage ist nicht ohne öffentliche Gefahr. Diese ist darin zu erblicken, daß das soziale Tun notwendig in das Ganze der Politik eingebettet ist. Darum kann es auch so leicht von der politischen Propaganda ausgenutzt werden. Das ist der Grund, weshalb westliche Menschen, auch Kirchenmänner, auf den plumpen Schwindel hereinfallen konnten, es ginge den Sowjets um den Menschen. Dabei ging es ihnen nur insoweit um den Menschen, weil das eine gute Propagandaplatte war. In der westlichen Welt sieht die Gefahr heute so aus, daß die Außenpolitik, vor allem der USA, auf das soziale Wollen angewiesen ist. Die Hilfe für unterentwickelte Gebiete ist besanntlich hauptsächliches Propagandamittel der großen Machtblöcke. Es wäre gut, wenn die Kirche rechtzeitig diesen Tatbestand zur Kenntnis nehmen würde. Politisch ist an dieser Koppelung der Außenpolitik mit der sozialen Frage sicher nichts auszusetzen. Aber die Kirchen sollten darauf achten, daß dieses politische Wollen nicht als Nächstenliebe getarnt wird. Vor allem sollten sie selbst sich einer solchen Tarnung nicht mitschuldig machen.

Je nüchterner die Tatsache gesehen wird, daß die soziale Frage eingebettet ist in das Gesamte der Politik, desto leichter läßt sich die Gefahr bannen, aber auch die andere Seite dieser Gefahr! Es liegt nämlich nahe, die Einbettung der sozialen Frage in das Gesamt der Politik zu übersehen und wie vor 30 Jahren dabei zu verbleiben, daß die „soziale Frage“ allein die Arbeiterfrage i s t. Diese Gefahr ist mindestens so groß, wie die Auslieferung des sozialen Gedankens an die Propaganda. Wenn ich die Lage richtig sehe, dann ist dieses sogar eine der Hauptgefahren kirchlicher Kreise, die sich mit der sozialen Frage befassen. Wer sich zeitgemäß um die sozialen Dingen kümmern will, der bedenke, daß die Arbeiterfrage nur eine unter vielen ist, die gelöst werden müssen, wenn wir auf sozialem Gebiet vorankommen wollen. Den Kirchen möchte man besonders die Hilfe für die Rentner ans Herz legen, deren Interessen merkwürdig selten in kirchlichen Organen laut werden. Lind alle, die es angeht, mögen daran denken, daß wir nur dann sozial handeln, wenn wir uns darum mühen, daß alle Bevölkerungsteile sich selbst zu helfen im Stande sind, also durch eigenen Besitz politischen Ausbeutern gegenüber politisch unabhängig werden, daß sie wirklich selbständige Faktoren des wirtschaftlichen Prozesses werden, daß aber vor allem alle Volksteile merken, daß ein Teil am anderen hängt. Dem Arbeiter ist an einer gesunden Wirtschaft, der Wirtschaft an einem wirtschaftlich gesunden Käufer gelegen. Wir dürfen auch die Landwirtschaft nicht vergessen. Sogar die Alten und Kranken sollten nicht nur Objekte unserer Hilfe sein. So betrachtet stände das soziale Wollen und Handeln im Gesamt unseres Gemeinwesens. Wenn wir aber künstlich die marxistische These aufrecht erhalten, die „soziale Frage“ sei allein oder in erster Linie die Arbeiterfrage, verbauen wir uns den Weg zu der Lösung dessen, was uns aufgetragen ist.

Durch vorstehende Gedanken sollte zweierlei deutlich werden: Die christliche Liebe ist kein einfaches sondern ein sehr komplexes Gebilde, das zwar an einer Stelle mit der sozialen Frage zusammenhängt, aber um keinen Preis mit dem sozialen Wollen gleichgesetzt werden darf. Andererseits muß gesehen werden, daß die soziale Frage eine politische Frage ist, die nur im Gesamt des politischen Lebens gelöst werden kann, die aber durch propagandistische Manöver oder durch Verkürzungen leicht verfälscht wird.

Fussnoten

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