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Hitlers Weg zur Verständigung mit Rußland im Jahre 1939 | APuZ 51/1959 | bpb.de

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APuZ 51/1959 Hitlers Weg zur Verständigung mit Rußland im Jahre 1939 Freiheit und Gleichheit -Schlagworte oder Wirklichkeiten?

Hitlers Weg zur Verständigung mit Rußland im Jahre 1939

\uf vielseitigen Wunsch veröffentlichen wir den Vortrag, den Professor Max Braubach aus Anlaß des Rektoratswechsels an der Universität Bonn am 14. November 1959 gehalten hat. Der Autor behält sich vor, ihn in erweiterter Form und unter Beigabe des wissenschaftlichen Apparates gesondert herauszugeben.

Daß es ein Wagnis ist, einen Vorgang zum Gegenstand eines wissenschaftlichen Vortrags zu machen, der erst 20 Jahre zurückliegt, dessen bin ich mir wohl bewußt. Aber im Gegensatz zu manchen meiner Fachkollegen halte ich es für eine wichtige Aufgabe des Historikers, sich in Forschung und Lehre gerade auch der neuesten Geschichte zuzuwenden, denn wie sollen die jetzige und die kommende Generation auf festem Grund denken und handeln können, wenn sie nicht sichere Kenntnisse über das Werden des heutigen Weltsystems besitzen, wenn insbesondere wir Deutsche nicht um Ursachen und Entwicklung des verhängnisvollen Weges wissen, der unser Volk in die heutige Lage der Ohnmacht und Spaltung geführt hat! Ein Wagnis freilich bleibt die öffentliche Behandlung gerade des von mir gewählten Themas in besonderem Maße. Einmal sind die dafür zur Verfügung stehenden Quellen noch lückenhaft. Zwar sind nach dem radikalen historischen Einschnitt des Jahres 1945 alle noch erhaltenen deutschen Akten über die unmittelbare Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges und damit auch über die Entstehung der überraschenden deutsch-russischen Verständigung vom August 1939 veröffentlicht oder wenigstens zugänglich gemacht worden, und ihr Inhalt läßt sich kontrollieren und erweitern durch gleichfalls bereits publizierte diplomatische Korrespondenzen der Italiener und Engländer, in geringerem Umfang auch der Franzosen und Amerikaner sowie durch Aussagen beteiligter Persönlichkeiten in Nachkriegsprozessen, Erinnerungswerken und bei Befragungen. Wenn dann auch einige Dokumente von russischer Seite zum Vorschein gekommen sind, so beziehen sie sich allerdings nur auf den Verlauf der gescheiterten Verhandlungen zwischen den Westmächten und der Sowjetunion, und es scheint mir daher kaum möglich, ein unbedingt sicheres Urteil über die Motive des russischen Verhaltens gegenüber Deutschland in jenen entscheidungsvollen Monaten vor dem Kriegsausbruch zu fällen.

Zurückhaltung im Urteil ist aber auch noch auf Grund einer Gefahr für die eigene Meinungsbildung geboten, die selbst für den ehrlich um Objektivität bemühten Wissenschaftler besteht: ist der Abstand von jenen Ereignissen nicht doch zu kurz, unterliegt man nicht doch dem Einfluß einer aus ideologischen oder politischen Überzeugungen entstehenden Voreingenommenheit? Man darf daher von diesem Vortrag keine Sensationen, keine handfesten Thesen erwarten, die in den Auseinandersetzungen der Gegenwart verwandt werden könnten. Aus nüchterner Quellenarbeit in Seminarübungen erwachsen versucht er nur eine Rekonstruktion der Erwägungen, Vorgänge und Aktionen auf deutscher Seite, die zu dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 führten, und damit die Klärung eines immerhin bedeutungsvollen Strangs der die Katastrophe des Krieges auslösenden Politik des damaligen Führers des deutschen Reiches.

In der Zeit der Weimarer Republik haben sich Berlin und Moskau lange Zeit recht gut verstanden, man hatte sich im Rapallo-Vertrag von 1922 im Widerspruch und Mißtrauen gegen die in Versailles aufgerichtete Ordnung der Dinge zusammengefunden und die Freundschaft, die vor allem auf wirtschaftlichem, aber auch auf militärischem Gebiete gegenseitige Unterstützung in sich schloß, in dem Berliner Abkommen von 1926 bestätigt. Wenn dann um 1930 eine Abkühlung eintrat, so blieben doch zunächst noch in beiden Lagern die Kräfte einflußreich, die einen Bruch unter allen Umständen vermieden wissen wollten. Selbst der als erklärter Todfeind des Bolschewismus auftretende Hitler hat im ersten Jahr seiner Regierung es sorgfältig vermieden, die Sowjetunion vor den Kopf zu stoßen, während man auch dort offensichtlich einen erträglichen modus vivendi mit dem nationalsozialistisch gewordenen Reich zu finden suchte. Das ist erst um die Jahreswende 1933/34 anders geworden. Mit dem Nichtangriffspakt, den er damals mit Polen schloß, hat Hitler eine der Grundlagen des Zusammengehens Deutschlands mit Rußland, nämlich die Gegnerschaft gegen jene zwischen beiden liegende, in Versailles auf beider Kosten ausgebaute Macht aufgegeben. In Moskau, wo man zudem eigene Anträge auf eine deutsche Garantie der baltischen Staaten abgelehnt sah und an die Wendung Hitlers zur Vorbereitung der von ihm ja immer wieder ange-kündigten Abrechnung mit dem Bolschewismus glaubte, ist man darauf entschlossen in die Politik der kollektiven Sicherheit eingelenkt, die durch Eintritt in den Völkerbund und Verständigung mit den Demokratien im Westen und Südosten Europas eine Deckung gegen etwaige Aggressionen des sich nunmehr in dem Antikominternpakt mit Japan und Italien zusammenschließenden Hitlerreichs zu gewinnen suchte. So zeigen die Jahre 1934 bis 1938 eine ausgesprochene Feindseligkeit zwischen den beiden Mächten, die vor allem von deutscher Seite in haßvollen Reden und Verlautbarungen betont wurde und sich offensichtlich auch auf die politisch-diplomatischen Aktionen auswirkte. Daran hat auch die Tatsache nichts geändert, daß Hitler auf dem energisch beschrittenen Weg zur Wiederherstellung der Macht Deutschlands durch Aufrüstung und Beseitigung der dem Reiche aufgezwungenen oder von ihm freiwillig übernommenen Beschränkungen seiner Bewegungsfreiheit und Ausdehnungsmöglichkeit sich zunächst mit den Demokratien des Westens auseinandersetzen mußte: ihnen gegenüber ist dabei gerade die Behauptung von der Deutschland zufallenden Rolle als Bollwerk und Vorkämpfer gegen den die europäischen Kultur bedrohenden Bolschewismus als Argument verwandt worden, das nicht ohne Wirkung blieb.

Sicherlich sind die Besorgnisse des Kreml über Hitlers Absicht, zum Stoß gegen die Sowjetunion anzusetzen, berechtigt gewesen. Von seinem Willen, nach Schaffung der militärischen und politischen Voraussetzungen seine Macht zur Eroberung des,, Lebensraums“ im Osten zu gebrauchen, hat er schon unmittelbar nach der Machtergreifung vor den Führern der Reichswehr gesprochen, und auf seinen Angriffswillen gegenüber Rußland deuten ebenso vertrauliche Eröffnungen von Anfang 1934, die uns der damalige Danziger Senatspräsident Rauschning überliefert hat, wie Hitlers geheime Niederschrift über einen Vierjahresplan von 1936. Und daß mit dem Anschluß Österreichs und dem Vorgehen gegen die Tschechoslowakei im Jahre 1938 vor allem der Osten gewissermaßen sturmreif gemacht werden sollte, ist erst neuerdings in subtiler Untersuchung nachgewiesen worden. Der Verlauf der Sudetenkrise und ihre die Machtentäußerung und Spaltung der Tschechoslowakei in sich schließende Lösung durch das Münchener Abkommen, bedeuteten nun. allerdings gerade für Rußland den Anlaß zu einer Überprüfung der-eigenen Haltung: in Moskau konnte man sich kein Hehl über den Zusammenbruch der Politik der kollektiven Sicherheit machen, in der Nachgiebigkeit der Westmächte glaubte man eine Ermutigung Hitlers zum Vorgehen gegen den Bolschewismus zu sehen, voll Schrecken fürch zum Vorgehen gegen den Bolschewismus zu sehen,, voll Schrecken fürchMußte man nicht wenigstens Zeit zu gewinnen suchen, indem man sich selbst gegenüber Deutschland verständigungsbereit zeigte und damit vielleicht das Fortwirken von Gegensätzen im Westen begünstigte, die trotz München ja noch keineswegs verschwunden waren? Aber bestand für eine solche Besänftigung Hitlers die geringste Aussicht?

Daß Hitler seinerseits durch die Haltung der Westmächte trotz ihres schließlichen Zurückweichens gereizt, daß er durch München nicht befriedigt war, daß ihn dann englische Rüstungsmaßnahmen in neue Wut versetzten und polnische Unzugänglichkeit gegenüber eigenen Vorschlägen ihn auch gegen diese Macht verstimmten, ist unzweifelhaft. Lind es lassen sich schon bald nach München merkwürdige Vorgänge beobachten, auskdenen man auch deutsche Wünsche auf eine Entspannung mit der Sowjetunion herauslesen kann. Im Oktober 1938 wurde vereinbart, daß Presse und Rundfunk hier und dort sich künftig direkter Angriffe gegen die Staatsleiter des anderen Landes enthalten sollten. Es kam ferner nicht nur die Verlängerung eines früheren deutsch-russischen Handelsabkommens für das nächste Jahs ohne Mühe zustande, es wurden vielmehr auch ältere Pläne eines weitergehenden Vertrags über Lieferung russischer Rohstoffe auf deutschen Kredit und gegen entsprechende Gegenleistungen wieder ausgenommen und in Besprechungen in Berlin im Dezember 193 8 und Januar 1939 eine grundsätzliche Übereinstimmung darüber erzielt, die beiderseitigen wirtschaftlichen: Wünsche und Forderungen zu präzisieren. Es mußte dann auffallen, daß Hitler beim, Neujahrsempfang 1939 sich ostentativ längere Zeit mit.dem russischen Botschafter unterhielt und daß in seiner Ansprache zum:

30. Januar die üblichen scharfen Ausfälle gegen die Sowjetunion fehlten. Und doch war er von der Idee einer Annäherung an Rußland damals noch weit entfernt. Bei jenen Gesprächen mit den Polen ist es, wie wir feststellen können, nicht nur um die Erfüllung deutscher Revisionswünsche betreffs Danzigs und des Korridors gegangen, sondern gerade auch um die politische Zustimmung zu einer großen antisowjetischen Kombination. Beide Vorschläge hat nun freilich der polnische Außenminister Beck zunächst mit der Herstellung eines besseren Verhältnisses zu Moskau beantwortet und sie dann in persönlichem Gespräch mit Hitler Anfang Januar 1939 abgelehnt, und auch ein neuer Vorstoß, den Hitlers Außenminister Ribbentrop gegen Ende des Monats bei einem Besuch in Warschau unternahm, scheiterte. Aber damals hat Ribbentrop zugleich, wütend über die Störung seiner Gespräche mit Polen durch Pressemeldungen über die Entsendung einer deutschen Wirtschaftsdelegation nach Moskau, die in der Tat bereits vereinbarte Reise des für die Osthandelsfragen im Auswärtigen Amt zuständigen Legationsrates Schnurre nach dort abgesagt und damit die Russen vor den Kopf gestoßen. Wenn es der deutschen Botschaft auch gelang, trotzdem Gespräche mit dem Außenhandelskommissar Mikojan wieder in Gang zu bringen, so kam man nun doch nicht mehr weiter. Hitler selbst war mit anderen Dingen beschäftigt, mit dem Plan, aus dem Antikomintern-pakt ein festes Dreierbündnis zu entwickeln, mit Erwägungen einer Offensive gegen England, schließlich mit den Vorbereitungen zur völligen Zerschlagung der Tschechoslowakei, die dann blitzartig am 15. März erfolgte.

Gerade die Folgen dieses Einmarsches in Prag haben nun freilich auf der einen Seite die Lage der Sowjetunion wesentlich verbessert, auf der anderen deutsche Erwägungen und Pläne ausgelöst, die auf eine stärkere Rücksichtnahme auf Rußland gingen. Voll Empörung wandten sich die Westmächte gegen den Mann, der sie in voller Mißachtung der Münchener Zusicherungen schwer kompromittiert hatte, und als er nun in schärferem Tone erneut jene Forderungen an Polen stellen ließ, beeilte sich England, Polen eine Garantie seines Besitzstandes anzubieten, die von dem nach London eilenden Beck auch angenommen wurde. Nun war die Wut auf Hitlers Seite, der Anfang April der Wehrmacht dert Geheimbefehl gab, den Angriff auf Polen so vorzubereiten, daß die Durchführung ab 1. September jederzeit möglich sei. Durfte er aber das Risiko eines Krieges auf sich nehmen, in dem ihm von den verschiedensten Seiten mächtige Feinde entgegentreten konnten? Er hat jene Dreierpaktverhandlungen mit Japan und Italien weitergeführt, aus ihnen ging aber nur der trotz seines Namens nicht eben bedeutende Stahlpakt mit Italien hervor, während Japan angesichts zunehmender eigener Spannung zu Rußland sich nicht auf einen gegen den Westen gerichteten Kurs festlegen lassen wollte. Er mochte auch erwägen, die Regierungen in London und Paris erneut wie im vergangenen Jahr einzuschüchtern und Polen so zu isolieren, aber sie schienen im Gegenteil nun gewillt, zum Schutze Polens auch die Russen zu gewinnen und so eine gewaltige Front gegen Deutschland aufzubauen. So mußte sich Hitlers Blick weit mehr als vordem auf Moskau zu richten. Nicht nur um das neue Programm zu verwirklichen, sondern schon um die bisher errungene Macht zu behaupten, galt es für ihn vor allem, jene offen einsetzenden Werbungen des Westens um die Sowjetunion zum Scheitern zu bringen. Aber auf welchem Wege war es möglich, die bisher so heftig befehdeten Bolschewisten zum mindesten zum Stillesitzen zu bewegen?

Es hatte gerade in letzter Zeit gewisse Anzeichen dafür gegeben, daß die Russen keine Neigung hätten, sich dem Reich gegenüber zu exponieren. Die Rede, die Stalin am 10. März, noch vor dem deutschen Griff nach'Prag, vor dem 18. Kongreß der Kommunistischen Partei gehalten hatte, enthielt zwar manche scharfen Wendungen gegen die faschistischen Aggressoren, zugleich aber, auch hach Meinung'der deutschen Botschaft, eine noch erheblich schärfere Kritik an den Westmächten, an" deren Adresse zweifellos der Ausruf gerichtet war,, man werde sieh nicht in Konflikte durch Kriegstreiber verwickeln lassen, die gewohnt seien, durch andere sich die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, Al$ein halbes Jahr später im August der russisch-deutsche Vertrag unterzeichnet worden war,, haben Stalin und Molotow darauf hingewiesen, daß durch diese Märzrede der Umschwung in den beiderseitigen Beziehungen eingeleitet worden sei, -und Ribbentrop beeilte sich zu versichern, daß man in Deutschland den hier gegebenen Wink sofort verstanden habe. Es ist jedoch fraglich, ob Hitler wirklich Stalins Äußerungen in diesem Sinne aufgefaßt, ja ob er, der gerade den Todesstoß gegen die Tschechei führte, sie überhaupt genauer gelesen hat. Von Seiten der deutschen Botschaft in Moskau hat man zwar betont, daß die merkwürdige Haltung der Sowjetregierung besondere Aufmerksamkeit erregen müsse, in deren mißbilligender Note über die Auslöschung der Tschechei man nur eine Meinungsäußerung, keinen Protest sehen wollte. Auch in Berlin wurde seit Anfang April im Auswärtigen Amt mehrfach von der Möglichkeit, ein besseres Verhältnis zu den Russen herzustellen, gesprochen, und Göring hat sich während eines Besuches in Italien Mitte des Monats sogar mit Mussolini über Stalins Rede und eine etwaige Anknüpfung mit Moskau unterhalten. Über Erwägungen und unverbindliche Sondierungen scheint man aber zunächst nicht hinausgekommen zu sein. Ein Vertrauensmann Ribbentrops will zwar am 7. April von diesem den überraschenden Auftrag erhalten haben, seine persön-liehen Beziehungen zu den Leuten der Sowjetbotschaft in Berlin zu verbessern. Als er über ein freundliches Gespräch mit dem Botschaftsrat Astachow berichtete, erfolgte indessen ein erschreckter Rüdepfiff, er möge weiterer Berührung ausweichen, da dem Führer die Fortführung solcher Unterhaltung doch wohl nicht erwünscht sei. Es hat auch nicht den Anschein, als ob Bemerkungen des russischen Botschafters Merekalow in einem aus anderem Anlaß geführten Gespräch mit dem Staatssekretär Weizsäcker am 17. April auf Hitler Eindruck gemacht haben, wonach für Rußland kein Grund bestehe, mit Deutschland nicht auf normalem Fuß zu leben, und aus normalen wachsend bessere Beziehungen werden könnten. Fürchtete Hitler eine Falle, einen Bluff, durch den der Kreml sich höhere Angebote der Westmächte verschaffen wollte, hatte er Besorgnis, Japan zu verstimmen, dessen Druck auf die Sowjetunion andererseits vielleicht auch schon genügte, sie zur Zurückhaltung in Europa zu bestimmen, oder war er überzeugt, daß eine Verständigung doch unmöglich war?

Auswirkung der Ersetzung Litwinows durch Molotow

Offenbar ist dann für ihn eine neue Lage eingetreten, als Anfang Mai mit der Erkenntnis des negativen Ausgangs der Bündnisverhandlungen mit Japan die Nachricht der plötzlichen Ersetzung des als pro-westlich geltenden russischen Außenkommissars Litwinow durch Molotow zusammentraf. Durchaus möglich, daß vertrauliche Mitteilungen, die schon in den nächsten Tagen der mit Göring eng verbundene General Bodenschatz dem französischen Militärattache über Hitlers Absicht machte, sich angesichts der Starrköpfigkeit der Polen, der Feindseligkeit der Westmächte und des Zögerns der Japaner mit Rußland zu verständigen, eine Kombination waren, deren Weitergabe vielleicht den Weg zu einem neuen München bereiten sollte. Tatsache aber ist, daß bereits am 6. Mai, drei Tage nach Litwinows Entlassung, der Befehl an Schulenburg zur sofortigen Reise nach Deutschland zwecks Instruktionserteilung erging und daß dann, da mit dem Eintreffen des gerade zur Hochzeit des persischen Kronprinzen in Teheran weilenden Botschafters nicht so schnell zu rechnen war, sein schon am 4. Mai nach Berlin beorderter Mitarbeiter Legationsrat Hilger, der als bester Kenner Rußlands und der Russen galt, zusammen mit Schnurre schleunigst nach München berufen wurde und nach Unterredung mit Ribbentrop am 10. Mai vor Hitler auf dem Obersalzberg zum Vortrag erscheinen mußte. Offensichtlich war zwar Hitler von Hilgers Hinweisen auf die Stärke der Sowjetunion sehr wenig erfreut, aber im Anschluß an die Konferenz kam es doch zu einem ersten wichtigen Schritt: der in den nächsten Tagen in München eintreffende Schulenburg erhielt Anweisung, umgehend nach Moskau zurückzukehren, wo er den ersten Besuch bei Molotow benutzen sollte, um, allerdings mit äußerster Vorsicht, die Aussichten einer Versöhnung zu erkunden und zu diesem Zweck Wiederaufnahme der Wirtschaftsverhandlungen anzuregen, ja auch die Ende Januar abgesagte Entsendung Schnurres anzubieten.

Der Besuch Schulenburgs bei dem neuen Außenminister fand am 20. Mai statt, mit dem Ergebnis der LInterredung aber war man auch in der Botschaft nicht sehr zufrieden. Nach mancherlei Vorwürfen gegen das frühere Verhalten der Deutschen erklärte Molotow, neuen Besprechungen über ein Wirtschaftsabkommen erst dann zustimmen zu können, wenn hierfür die notwendige politische Grundlage geschaffen sei, doch ließen sich weder er noch sein Stellvertreter Potemkin zu Angaben bewegen, was sie darunter verständen. Wenn schon Schulenburg diese Haltung sehr verdächtig erschien, so glaubte man in Berlin bzw. Berchtesgaden wohl daraus schließen zu müssen, daß die Russen nur deutsche Angebote herauslocken und damit den Gang der eigenen Gespräche mit den Engländern und Franzosen beeinflussen wollten. So wurde der Botschafter schleunigst angewiesen, nunmehr wieder ganz stillzuhalten und abzuwarten, ob die Russen ihrerseits mit der Sprache herausrückten. Deutlich kommen die neuerlichen Zweifel noch in der Ansprache zum Ausdruck, in der Hitler am 23. Mai den hohen Militärs die Notwendigkeit einer baldigen kriegerischen Auseinandersetzung mit Polen oder mit England — möglichst freilich nicht mit beiden zugleich — vorführte. Da war gesagt, daß ein Desinteressement Rußlands an der Zertrümmerung Polens nicht ausgeschlossen sei, wenn man aber dort weiter gegen Deutschland sich stelle, könne das eigene Verhältnis zu Japan enger ausgebaut werden.

Doch schon wenige Tage darauf ist das Thema des Werbens um Moskau in Berlin und auf dem Obersalzberg erneut ernsthaft diskutiert worden. Wahrscheinlich hat dazu eine allzu optimistische Erklärung des englischen Premierministers Chamberlain vom 24. Mai über einen bevorstehenden erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen mit den Russen den Anstoß gegeben. In einer Niederschrift Weizsäckers vom 25. Mai ist von drei möglichen Aktionen die Rede, um doch noch eine russische Festlegung gegen das Reich zu verhindern, oder wenigstens aufzuhalten: entweder durch Hilger, der soeben in Berlin mit Schnurre die deutschen Wünsche für ein etwaiges erweitertes Handelsabkommen erörtert hatte, die Bereitschaft nicht nur zur Intensivierung der Wirtschaftsbeziehungen, sondern in lockerer Form auch zur Bereinigung anderer Fragen zu zeigen oder den italienischen Botschafter in Moskau mit Versicherungen der deutschen Geneigtheit zu engerem Kontakt vorzuschieben oder endlich ein Gespräch des Reichsaußenministers persönlich mit Merekalow herbeizuführen, falls dieser von seiner schon im April angetretenen Reise nach Moskau zurückkehrte. Am folgenden Tag hat Weizsäcker dann einen Brief an Schulenburg geschrieben, durch den der erste Vorschlag in Gang gebracht werden sollte: nach seinem Wiedereintreffen in Moskau möge Hilger wegen des Handelsvertrages vorstellig werden und bei Fragen nach der politischen Basis erklären, daß nach seinen in Berlin gewonnenen Eindrücken diese wohl gefunden werden könnte. Lim die gleiche Zeit aber wurde der Entwurf einer umfangreichen Instruktion Ribbentrops an Schulenburg verfaßt, der noch einen vierten Weg, nämlich unzweideutige Erklärungen des Botschafters an Molotow vorsah: die deutsche Auffassung gehe dahin, daß ein realer Interessengegensatz zwischen beiden Mächten nicht bestehe, dem Reich lägen Absichten auf die Ukraine völlig fern, man sei wie mit Italien, so auch mit Japan verbunden, wolle aber russisch-japanischen Gegensätzen entgegenwirken und würde bei einem Konflikt mit Polen russischen Interessen Rechnung tragen, angesichts dieser Einstellung könnte man ein Eingehen des Kreml auf die Einkreisungsbestrebungen Englands, das gemäß seiner traditionellen Politik anderer Mächte für sich die Kastanien aus dem Feuer holen lasse — das Bild aus Stalins Rede —, nicht verstehen, zumal er sich dadurch Deutschland und Japan endgültig zu Feinden mache. Wohl in Kenntnis der diesen Schreiben zugrunde liegenden Entscheidungen ist Hilger von Berlin abgereist, aber statt jener Weisungen, von denen weder die eine noch die andere wirklich abging, überholte ihn ein Telegramm mit der Mitteilung, daß neue Überlegungen zu dem Entschluß geführt hätten, weder durch ihn noch durch den Botschafter Schritte zu unternehmen. Die Berichte des Berliner Vertreters Italiens Attolico nach Rom lassen uns einigermaßen erkennen, warum dieser erste ernsthafte Ansatz, zu dem auch Hitler anscheinend seine Zustim-mung gegeben hatte, doch wieder abgestoppt wurde: Ribbentrop hatte am 26. Mai die Botschafter Japans und Italiens von dem Vorhaben einer Annäherung an Rußland in Kenntnis gesetzt, von ihnen aber erhob der Japaner entschieden Einspruch, da mit solchen Zusicherungen an Rußland nur das Gegenteil dessen, was man beabsichtigte, erreicht, zugleich aber auch die japanischen Sympathien für Deutschland schwer erschüttert werden könnten, und der Italiener äußerte gleichfalls Bedenken. Auf die Meldung hiervon hat Hitler Gegenordre erteilt. In einem Brief an Schulenburg vom 27. Mai gab Weizsäcker die sich wohl auf Hitler beziehende Erläuterung, man habe die Wahrscheinlichkeit, die russisch-englischen Kombinationen zu bremsen, immer recht bescheiden eintaxiert, „so daß man abwägen müßte, ob eine sehr offene Aussprache in Moskau statt zu nützen, vielleicht eher schaden und sogar vielleicht ein Tatarengelächter hervorrufen könnte"; auch hätte in der Abwägung eine Rolle gespielt, daß die Japaner ein Glied in der ganzen Kette, nämlich einen schrittweisen Ausgleich zwischen Moskau und Tokio, als äußerst problematisch bezeichnet und auch die Italiener sich sehr zurückhaltend gezeigt hätten. Es erwies sich indessen, daß das letzte Wort damit noch keineswegs gesprochen worden war. Schon am 29. Mai — es war der Pfingstmontag — berief Ribbentrop Weizsäcker, den Leiter der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Gaus, und Schnurre auf seinen bei Berlin gelegenen Landsitz Sonnenburg zu einem Gespräch, zu dem dann auch Attolico zugezogen wurde. Der Führer, so ergab sich, wünsche nun doch irgendeine unverfängliche Anknüpfung mit den Russen, man erörterte zunächst jenen Weg einer italienischen Vermittlung. Auf Grund der skeptischen Beurteilung Attolicos wurde das Projekt fallen gelassen, dafür aber beschlossen, eine gegenüber dem Plan vom 26.

allerdings entschieden modifizierte Fühlungnahme mit den Russen durch ein Gespräch Weizsäckers mit dem Geschäftsträger Astachow einzuleiten. Es fand bereits am Vormittag des nächsten Tages statt, wobei ein russischer Wunsch auf Weiterbestehen einer Handesvertretung in Prag den Vorwand bildete. Dazu äußerte der Staatssekretär, daß eine deutsche Zustimmung angesichts der wenig ermutigenden Äußerungen Molotows zu der Frage der Wiederaufnahme der Handelsbesprechungen nicht leicht falle, und er benutzte dann eifrige Versicherungen Astachows, daß der Außenkommissar keineswegs einen Riegel vor weitere Erörterungen habe schieben wollen, um allgemein die deutsche Einstellung gegenüber der Sowjetunion zu entwickeln: sie sei nicht engherzig, aber auch nicht aufdringlich, es gebe eine Auswahl von einer Normalisierung der Beziehungen bis zu unnachgiebiger Gegnerschaft, man wisse nun nicht, ob die Sowjetunion den englischen Lockungen schon Gehör geschenkt habe, selbst verlange man von Moskau nichts, wolle sich später aber nicht sagen lassen, man habe hinter dem Berg gehalten und eine Schweigemauer aufgerichtet. Am selben Abend wurde dann auch noch Hilger die Ermächtigung erteilt, von sich aus Verbindung mit Mikojan aufzunehmen, wobei er Zweifel an dem Ernst des deutschen Willens zur Verbreiterung der Wirtschaftsbeziehungen zerstreuen, bei Aufwerfen politischer Fragen aber sich auf die Erklärungen Weizsäckers beziehen sollte.

Die letzten Maitage hatten so nach manchem Hin und Her, das deutlich die Unsicherheit und das Schwanken der Staatsführung enthüllt, doch von deutscher Seite einen Schritt vorwärts gebracht. Würde er aber genügen, um die russische Haltung zu beeinflussen? Astachow, der schon vorher in Unterredungen mit Schnurre sich sehr freundlich geäußert hatte, nahm zwar die Erklärungen Weizsäckers mit sichtbarer Befriedigung auf. Und von der ersten Rede, die Molotow am 31. Mai vor dem Obersten Sowjet hielt, berichtete Schulenburg, daß sie bei grundsätzlicher Ablehnung der Politik der sogenannten Aggressorstaaten Ausfälle gegen Deutschland vermieden und die Geneigtheit zur Fortsetzung der in Berlin und Moskau begonnenen Gespräche zu erkennen gegeben habe, wobei der Botschafter freilich doch glaubte, daß die Sowjetunion mit den Westmächten bei Bewilligung aller ihrer Forderungen abschließen werde. AIs Mikojan bei einer ersten Besprechung mit Hilger am 2. Juni im wesentlichen nur nach dem weiteren modus procedendi fragte, drängte in Berlin Schnurre darauf, durch das Angebot seiner Reise nach Moskau die Dinge voranzutreiben. Daß Mikojan in einer neuen Unterredung am 8. Juni unter Würdigung auch der politischen Bedeutung dieser Mission das russische Einverständnis damit erklärte, scheint in der Botschaft einen gewissen Optimismus ausgelöst zu haben, obwohl die von den Russen gestellte Bedingung, daß die Deutschen dem letzten sowjetischen Vorschlag vom Februar über die Lieferungen im wesentlichen zustimmten, für Berlin kaum annehmbar war. Man hielt indessen, um weiter zu kommen, volle Klärung der deutschen Absichten für nötig, und so flog am 10. Juni Schulenburg erneut nach Berlin, und ihm folgte seinem Wunsch gemäß einige Tage später auch Hilger. Dieser kehrte bereits am 17. Juni wieder nach Moskau zurück mit dem Auftrag, zu erklären, daß eine Festlegung auf die alten russischen Forderungen nicht angängig sei, da diese ja gerade Gegenstand der von Schnurre zu führenden und abzuschließenden Verhandlungen bilden sollten, daß man aber inzwischen sich bemüht habe, manche Hindernisse, die ehemals aufgetreten seien, aus dem Wege zu räumen. Schulenburg blieb noch in Berlin, wo er am 17. Juni Astachow den Wunsch Deutschlands auf Verbesserung der Beziehungen zum Ausdruck brachte, vor allem aber wohl zu ergründen suchte, wieweit er etwa bei Molotow mit politischen Angeboten gehen könne. Wie er nach seiner Rückreise seinem italienischen Kollegen anvertraute, war er in Berlin wieder auf starke Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit einer Vereitelung des russisch-westmächtlichen Zusammenschlusses gestoßen, man hatte dann den Gedanken dreiseitiger Nichtangriffszusicherungen Deutschlands, Japans und Rußlands erörtert, und schließlich war er wenigstens autorisiert worden, unter Umständen bei den Russen ein entsprechendes Abkommen mit dem Reich anzuregen, wie es soeben Astachow nach Mitteilungen des bulgarischen Gesandten diesem gegenüber als Voraussetzung für den sowjetischen Verzicht auf einen Vertrag mit England und Frankreich bezeichnet hatte.

Doch inzwischen schien sich die Aussicht, mit den Männern im Kreml in ein ernsthaftes Gespräch zu kommen, erheblich verschlechtert zu haben. Im Gegensatz zu Astachow zeigte sich Mikojan bei einer Aussprache, die Hilger unmittelbar nach seiner Rückkehr erbeten hatte, wenig freundlich: jene deutsche Erklärung zu den Wirtschaftsfragen sei enttäuschend, da sie konkrete Angaben über das, was man von den russischen Forderungen annehmen wolle und was nicht, vermissen lasse, überhaupt aber habe man nicht die Sicherheit, ob das Ganze nicht nur die Fortsetzung eines politischen Spieles sei. Wenn es die Deutschen einigermaßen beruhigt hatte, daß ein russisches Kommunique das Ergebnis einer ersten Unterredung Molotows mit dem nach Moskau gekommenen englischen Sondergesandten Strang als „nicht ganz günstig“ bezeichnete, so mußten sie jetzt für ihre Eröffnungen genau die gleiche Note hinnehmen. Erst am 25. Juni konnte Hilger den Außenhandels-kommissar erneut sprechen, der aber auf dem Standpunkt beharrte, daß man die deutschen Zugeständnisse wissen müsse, bevor man Schnurre nach Moskau kommen lasse. Würde es dem am folgenden Tag wieder eintreffenden Botschafter gelingen, das Eis zu brechen? Am 28. war er bei Molotow, der aber über Sinn und Dauer von inzwischen zwischen dem Reich und den baltischen Staaten vereinbarten Nichtangriffspakten ironische Bemerkungen machte und Fragen nach dem Inhalt der von ihm geforderten politischen Basis wieder ausweichend beantwortete. Schulenburg, nach dessen Auffassung die Russen zwar von tiefem Mißtrauen erfüllt, aber doch an der Aufrechterhaltung des Kontaktes und an genaueren Informationen über die deutsche Meinung sehr interessiert waren, schlug in Berlin vor, entweder bei Mikojan die Entsendung eines russischen Bevollmächtigten nach Deutschland anzuregen oder die Wirtschaftsbesprechungen durch ihn, den Botschafter, führen zu lassen. Beidem widersprach Schnurre, auch weil bei diesem weniger auffallenden Verfahren der erstrebte politische Zweck der störenden Einwirkung auf die westmächtlich-russischen Verhandlungen nicht erreicht werde. Aber nun griff Hitler ein und brachte das ganze Spiel wieder zum Stillstand. Zunächst kam aus Berchtesgaden telefonisch die Weisung an den Reichsaußenminister, man möge den Russen erklären, daß man angesichts ihrer untragbaren Forderungen an einer Wiederaufnahme der Wirtschaftsverhandlungen nicht mehr interessiert sei. Diese schroffe Absage scheint dann freilich wieder zurückgezogen worden zu sein, immerhin aber wurde Schulenburg am 30. Juni dahin informiert, daß auf politischem Gebiete nun genügend gesagt und das Gespräch einstweilen nicht fortzusetzen, hinsichtlich der Handelsfragen die Überlegungen noch nicht abgeschlossen, aber auch hier nichts weiter zu veranlassen und neue Instruktionen abzuwarten seien.

Für das Auf und Ab in der Haltung Hitlers ist es bezeichnend, daß er sich dann rasch entschloß, die Bemühungen um das Kredit-und Lieferungsabkommen doch weitergehen zu lassen. Jene Überlegungen, von denen in der Weisung nach Moskau die Rede war, basierten auf Vorschlägen Schnurres, wonach man den Wünschen Mikojans durch Präzisierung der offenen Punkte und Aufstellung einer genauen Tagesordnung für die Gespräche entsprechen solle. Am 5. Juli hat dann in der Reichskanzlei eine Besprechung stattgefunden, in der Hitler der Absendung der schon eine Woche vorher von Schnurre aufgesetzten Instruktionen für die Antwort an Mikojan zustimmte. Sie ist dann Mikojan übergeben worden, der seinerseits Hilger am 15. Juli von einer dadurch erreichten erheblichen Klärung der Lage sprach und vorschlug, die noch strittigen Punkte in Berlin durch Besprechungen des nach dort entsandten russischen Wirtschaftssachverständigen Babarin mit Schnurre auszugleichen. Dem am 18. Juli stattfindenden Besuch Babarins bei Schnurre folgte am 22. ein überraschender Schritt von russischer Seite: die gesamte sowjetische Presse veröffentlichte eine Mitteilung, daß die Verhandlungen mit dem Reich über ein Kredit-und Handelsabkommen wieder ausgenommen seien und durch Babarin und Schnurre in Berlin geführt würden. Natürlich konnte dahinter noch immer die Absicht stecken, Engländer und Franzosen unter Druck zu setzen, mit denen man sich gerade zu diesem Zeitpunkt über den Text eines politischen Abkommens einigte, dessen Abschluß man aber von dem Ergebnis jetzt in Moskau aufzunehmender militärischer Konferenzen abhängig machte. Immerhin lag in jener Publikation eine Ermutigung für deutsche Verständigungsbestrebungen.

Die dramatische Wendung der deutschen Politik

Indessen weder die freundliche Haltung der Russen noch auch die Nachricht von der bevorstehenden Reise westmächtlicher Militärs nach Moskau dürften für die dramatische Wendung, die die deutsche Politik nach Mitte Juli nahm, maßgebend gewesen sein. Noch um den 10. Juli hatte Weizsäcker dem von Moskau nach Berlin kommenden Botschaftsrat v. Tippelskirch erklärt, politisch sei von deutscher Seite für den Augenblick genug geschehen, wirtschaftlich könne man wohl weiterzukommen suchen, aber langsam und schrittweise. Tippelskirch fand Schnurre wegen dieser Langsamkeit in schlechter Stimmung, worauf er ironisch bemerkte, sie von der Botschaft könnten auch nicht Molotow und Mikojan durchs Brandenburger Tor heranschleppen. „Nadi meinen Eindrüd^en“, so schrieb der Botschaftsrat am 12. Juli an seinen Chef Schulenburg „ist das Problem Sowjet-Union hier nodt immer höchst interessant. Die Meinungen sind aber sdiwankend und unentsdiieden.

Eine politische Willensbildung hat sich nodi nicht durchgesetzt“. Sie muß sich nun aber im Laufe der nächsten Tage durchgesetzt haben. Das erste Anzeichen dafür liegt in einem Telegramm Weizsäckers an Schulenburg vom 22. Juli vor, in dem der aus allgemeinen Gründen bestehende Wunsch auf möglichst raschen Abschluß des Wirtschaftsabkommens festgestellt und die am 30. Juni vorgeschriebene Wartezeit für politische Besprechungen als abgelaufen bezeichnet wurde. Drei Tage später rief Ribbentrop, der sich nach der Beobachtung eines seiner Untergebenen zur Zeit brennend für alle die Sowjetunion betreffenden Fragen interessierte, Schnurre zu sich und beauftragte ihn, Astachow und Babarin zum Abendessen einzuladen und ihnen dabei bestimmte Eröffnungen zu machen. Am 26. Juli fand dies Zusammentreffen in dem Berliner Weinhaus Ewest statt. Anknüpfend an frühere Äußerungen Astachows gab Schnurre dabei weisungsgemäß zu erkennen, daß ihm die Herstellung einer engen Zusammenarbeit der beiden Mächte durchaus erreichbar schiene, wobei er sich 3 Etappen vorstellen könne, zunächst die Einigung über das Wirtschaftsabkommen, sodann Normalisierung der politischen Beziehungen und endlich deren Festigung entweder unter Anknüpfung an den Berliner Vertrg von 1926 oder als Neuordnung auf der Grundlage der Abstimmung der beiderseitigen lebenswichtigen Interessen. Daran schloß sich der bedeutsame lockende Hinweis, daß es nichts auf der ganzen Linie von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer und dem Fernen Osten gebe, über das man sich nicht verständigen könne. Als die Russen zwar eifrig zustimmten, aber angesichts des in Moskau herrschenden Mißtrauens nur eine allmähliche Entwicklung für möglich hielten, versicherte Schnurre, daß die deutsche Politik sich völlig gewendet habe und gerade jetzt die Zeit für einen weitgehenden Ausgleich günstig sei. Was könne, so erklärte er nodi, die Sowjetunion denn von England erwarten: nichts als die Beteiligung an einem Krieg und die Feindschaft Deutschlands, während dieses ihr das Herausbleiben aus dem drohenden Konflikt und eine Verständigung zu ihrem Nutzen biete.

Es kann kein Zweifel sein: die Entscheidung war gefallen, Hitler hatte sich nunmehr entschlossen, alles aufzubieten, um auf dem Wege über Rußland dem Westen die Möglichkeit zu einer wirksamen Unterstützung der Polen aus der Hand zu schlagen. Er konnte nun aber nicht mehr warten, da aus klimatischen Gründen der Angriff auf Polen, falls er raschen Erfolg haben sollte, spätestens um den 1. September beginnen mußte. So wurde denn, während noch dem Gesandten in Helsinki gegenüber auf durch die Finnen veranlaßte Anfrage Behauptungen von einer bevorstehenden deutsch-russischen Verständigung auf dem Rücken der baltischen Staaten als böswillige Erfindung abgetan wurden, ein unerhörtes Tempo eingeschlagen, um eben dieses Geschäft zustande zu bringen. Das Problem Rußland, so konnte Schnurre am 2. August dem Grafen Schulenburg berichten, werde nun mit außerordentlicher Dringlichkeit behandelt, fast täglich habe er in den letzten 10 Tagen mündliche oder telefonische Besprechungen mit Ribbentrop gehabt, der, wie er wisse, mit dem Führer in ständigem Meinungsaustausch hierüber stehe; Ziel sei dabei nicht nur die Störung der englischen Aktion in Moskau, sondern eine wirkliche Verständigung. Schon war in der Weisung, die am 29. Juli an die Botschaft gegangen war, das, was man anbieten wollte, etwas deutlicher umrissen: bei jeder Entwicklung der polnischen Frage, wie auch im Baltikum sollten die russischen Interessen ihre Befriedigung finden. Während Schulenburg dieses Molotow am 3. August andeutete, hatte schon am Tage vorher in Berlin der Reichsaußenminister persönlich Astachow die Äußerungen Schnurres autoritativ bestätigt, und weisungsgemäß stieß Schnurre am folgenden Tage nach, indem er dem Geschäftsträger erklärte, daß es nun auf die Zustimmung Moskaus zur Konkretisierung der Gespräche ankomme.

Es war in der Tat die große Frage, ob Mißtrauen und Bedenken der Russen zu überwinden, ob sie überhaupt bereit waren, wirklich für die Macht zu optieren, die noch vor kurzem als der grimmigste Feind hatte gelten müssen. Die Antwort, die Molotow Schulenburg gab und die Astachow am 5. August Schnurre gegenüber wiederholte, war gewiß nicht unfreundlich, doch meinte Astachow, daß man zunächst einmal den Kreditvertrag aushandeln solle. In Berchtesgaden, wohin Hitler wieder übergesiedelt war, konnten diese unbestimmten Äußerungen nicht befriedigen. Zusammen mit dem aus Moskau gekommenen Militärattache General Köstring wurde Schnurre nach Ribbentrops Salzburger Sitz Fuschl berufen, wo er den Auftrag erhielt, dem russischen Geschäftsträger gegenüber mit noch stärkerem Geschütz aufzufahren, was er bereits am 10. August ausführte: man wolle wissen, so erklärte er Astachow, was für Absichten die Russen hätten, von deutscher Seite sei man jedenfalls im Falle eines Krieges mit Polen, wo man nur beschränkte Interessen habe, bereit, der Sowjetunion jede Sicherheit zu geben. Und nun kam wirklich eine erste positive Reaktion. Hitler hatte am 12. August gerade den nach Berchtesgaden gekommenen italienischen Außenminister Ciano von seinen Angriffsabsichten auf Polen unterrichtet und eine optimistische Beurteilung der Lage gegeben, als ihm ein angeblich aus Moskau stammendes Telegramm überreicht wurde: in Wirklichkeit war es wohl die Meldung Schnurres über ein neues Gespräch mit Astachow, wonach die Sowjetregierung bereit sei, nicht nur die Wirtschaftsbesprechungen fortzuführen, sondern auch in Moskau das politische Problem und die Frage der Gültigkeit oder Erneuerung früherer deutsch-russischer Verträge zu erörtern. Hitler legte dies Ciano gegenüber dahin aus, daß die Russen mit der Entsendung eines deutschen Sonderbevollmächtigten nach Moskau einverstanden seien.

In den Überlegungen, wem diese wichtige Aufgabe anzuvertrauen sei, hat man zuerst den Reichsminister Dr. Frank in Aussicht genommen, den Schnurre begleiten sollte. Ribbentrop will Göring in Vorschlag gebracht haben, doch habe dann Hitler ihn, Ribbentrop, selbst bestimmt.

14. August eine Schulenburg, die Am ging ausführliche Instruktion an er wörtlich Molotow vorlesen sollte. Es war da von der Erreichung eines geschichtlichen Wendepunktes, von dem Abschluß der Periode der außenpolitischen Gegnerschaft für alle Zeiten, konkret dann von einer zur Zufriedenheit beider Länder vorzunehmenden Regelung der Ostsee, Baltikum, Polen und den Südosten betreffenden Fragen die Rede, woran sich die Erklärung schloß, daß, da angesichts der Zuspitzung des deutsch-polnischen Verhältnisses eine rasche Klärung erforderlich und dafür der übliche diplomatische Kanal ungenügend sei, der Reichsaußenminister selbst zu einem kurzen Besuch nach Moskau kommen wolle, „um namens des Führers Herrn Stalin die Auffassung des Führers auseinanderzusetzen." Bei dem am Abend des 15. August stattfindenden Empfang des Botschafters durch Molotow versprach dieser baldige Antwort, meinte indessen, daß die Reise einer entsprechenden Vorbereitung bedürfe, damit sie auch zu einem Ergebnis führe, das u. a. — hier wurden nun die Russen zum erstenmal konkreter — den Abschluß eines Nichtangriffspaktes, eine etwaige Einwirkung Deutschlands auf Japan und eine Garantie der Baltenstaaten einschließen könnte. Prompt kam von Berlin die Ermächtigung an Schulenburg, dies alles zuzusagen, zugleich aber auch die besondere Dringlichkeit vorzustellen und die Zustimmung zu der Reise des mit allen Vollmachten versehenen Ministers schon ab 18. August zu erbitten. Die neue Unterredung Schulenburgs mit Molotow am Abend des 17. nahm nun freilich nicht ganz den erhofften Verlauf. Der Volkskommissar verlas zunächst die in Aussicht gestellte Antwort, in der nach einigen Bemerkungen über die frühere unfreundliche Haltung Deutschlands dessen Schwenkung begrüßt, als erster Schritt zu einer Verständigung aber der Abschluß des Wirtschaftsabkommens gefordert wurde, worauf ein Nichtangriffspakt bzw.

eine Bestätigung des Vertrages von 1926 folgen könnte bei — wie es wörtlich heißt — „gleichzeitiger Vereinbarung eines speziellen Protokolls, das die Interessen der vertragscldieflenden Teile in diesen und jenen Fragen der auswärtigen Politik regelt". Molotow blieb dann dabei, daß die Reise Ribbentrops einer gründlichen Vorbereitung bedürfe, man ziehe es vor, ohne viel Aufheben praktische Arbeit zu leisten, zu welchem Zweck man unverzüglich Entwürfe für Nichtangriffspakt und Protokoll herstellen möge. Hitler und seinen Getreuen aber brannte es nun auf den Nägeln. Es galt schleunigst jene erste von den Russen geforderte Etappe zurückzulegen, mit der Mahnung, nicht über Zwirnsfäden zu stolpern, drängte Ribbentrop dauernd Schnurre, mit Babarin über das Kredit-und Handelsabkommen zum Abschluß zu kommen; es wurde in der Tat unter weitgehender Berücksichtigung der russischen Wünsche paraphiert und, nachdem die russischen Unterhändler zum großen Ärger der anderen Seite den festgesetzten Vollziehungstermin mehrmals abgesagt hatten, endlich in der Nacht vom 18. zum 19. unterzeichnet. Es war schon als unterschrieben bezeichnet in einer neuen Weisung an Schulenburg vom 18., die einen nur aus 2 Artikeln bestehenden Entwurf für den Nichtangriffspakt enthielt, hinsichtlich des Protokolls aber sofortige Besprechungen mit dem zur Abreise bereiten Reichsaußenminister vorschlug, der alle Details zu regeln in der Lage sei. Mit Engelszungen suchte der Botschafter am Nachmittag des 19.

August Molotow zu überzeugen, daß dies das einzige Mittel sei, um sich nicht vom Ausbruch des Krieges überraschen zu lassen. Noch kehrten er und Hilger ohne Ergebnis in die Botschaft zurück, doch eine halbe Stunde darauf wurden sie erneut in den Kreml gerufen, wo ihnen Molotow, der zweifellos inzwischen bei Stalin gewesen war, nicht nur einen eigenen Entwurf des Nichtangriffspakts überreichte, der den deutschen auf 5 Artikel erweiterte, sondern auch die Zustimmung dazu aussprach, daß Ribbentrop etwa eine Woche nach Veröffentlichung des Wirtschaftsabkommens in Moskau eintraf. Aber solange konnte und wollte Hitler nicht warten. Am Nachmittag des 20. August jagte ein neues Telegramm nach Moskau, das Schulenburg befahl, eine persönliche Botschaft des Führers an Stalin zu übergeben: in ihr wurde das Handelsabkommen als erster Schritt zur Neugestaltung des deutsch-sowjetischen Verhältnisses begrüßt, der russische Entwurf für den Nichtangriffspakt, der eine Festlegung der deutschen Politik auf lange Sicht mit allen daraus zu ziehenden Konsequenzen sein werde, akzeptiert, die substantielle Klärung des gewünschten Zusatzprotokolls für sicher erklärt, falls ein verantwortlicher deutscher Staatsmann drüben in Moskau verhandele, und schließlich gebeten, angesichts der unerträglich geworden Lage den Reichsaußenminister am 22., spätestens am 23. zu empfangen. Es war völlig unnötig, daß Ribbentrop am Vormittag des 21. noch einen persönlichen Befehl hinterherhetzte, Schulen-burg möge mit aller Energie dafür sorgen, daß die Reise zustande komme. Auf sein dauerndes Drängen erreichte der Botschafter am Nachmittag dieses Tages Molotow, der sichtlich beeindruckt war und kurz danach das Einverständnis Stalins mit Ribbentrops Eintreffen am 23. August mitteilte. Ein Kommunique sollte der Welt die sensationelle Nachricht von der deutsch-russischen Verständigung, an der nun kein Zweifel mehr sein sollte, bekanntgeben.

Voll Triumph konnte Hitler am 22. August den auf den Obersalzberg berufenen Führern der Wehrmacht verkünden, daß die Hoffnungen seiner Gegner auf Rußland durchkreuzt und Polen damit in der Lage sei, in der er es haben wollte. Inzwischen befand sich bereits Ribbentrop mit einem Stab von 30 Personen auf dem Flug nach dem Osten. Was sich nach seiner Ankunft in Moskau am Mittag des 23. abspielte, ist aus den Schilderungen beteiligter deutscher Diplomaten wie Hencke, Hilger, Gaus, Kleist und Schmidt bekannt. Über den Nichtangriffspakt bestand schon vorher Einigkeit: er enthielt gemäß dem russischen Entwurf die Zusage der Nichtunterstützung einer dritten Macht, wenn der Vertragspartner Gegenstand kriegerischer Handlungen seitens dieser Macht werden sollte, also nicht nur bei einem ausgesprochenen Angriff. Zu besprechen war der Inhalt des geheimen Zusatzprotokolls. Das geschah in einer ersten dreistündigen Konferenz am Nachmittag, bei der Ribbentrop, Schulenburg und Hilger sich bereits nicht nur Molotow, sondern auch Stalin gegenüber sahen. Es wurde — doch wohl im Wesentlichen auf Vorschlag der Russen — vereinbart, daß für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den baltischen Gebieten die nördliche Grenze Litauens die Grenze der Interessensphären bilden, d. h. Finnland, Estland und Lettland dem russischen, Litauen dem deutschen Bereich zufallen, daß hinsichtlich Polens, falls dort Veränderungen einträten, eine durch die Flüsse Narew, Weichsel und San bestimmte Demarkationslinie vorgesehen, im übrigen die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen ließen und wie er abzugrenzen sei, erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt, jedenfalls aber auf dem Wege freundschaftlicher Verständigung gelöst werden sollte, endlich daß Deutschland an dem damals zu Rumänien gehörenden Bessarabien desinteressiert sei. Eine Differenz gab es anscheinend nur hinsichtlich der baltischen Ostseeküste mit den Häfen Libau und Windau: von sich aus hielt Ribbentrop sich nicht für ermächtigt, sie dem Einfluß der Russen zu überlassen, es wurde daher eine Pause eingelegt, in der er telegraphisch die Entscheidung Hitlers zu den russischen Forderungen erbat, die umgehend mit dem Wort „einverstanden erfolgte. Am späten Abend kam man in größerem Kreise im Kreml zu einer zweiten Sitzung zusammen, in der die Unterzeichnung erfolgte und anschließend das Werk mit Trinksprüchen gefeiert wurde, während man zugleich in der Beurteilung der allgemeinen Lage weitgehende Übereinstimmung feststellte. Hierbei war auch noch von der früher ja von den Russen geforderten deutschen Mitwirkung bei einer Verbesserung der russisch-japanischen Beziehungen die Rede, die Ribbentrop bereitwillig zusagte.

Motive, Sinn und Ziele des Hitler-Stalin-Paktes

Das war der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939, mit dessen Zustandekommen wir unsere Untersuchung abschließen. Es gilt nun noch, zu diesem ganzen Vorgang des Werdens der russisch-deutschen Verständigung urteilend Stellung zu nehmen. Es gehört nicht zu dem eigentlichen Thema, Motive, Sinn und Ziele des Verhaltens der Russen zu deuten, aber man wird doch wenigstens einige Bemerkungen darüber erwarten. Den Ausgangspunkt für die Bereitschaft des Kreml, mit den Deutschen zu verhandeln, bildeten zweifellos der Zusammenbruch der Politik der kollektiven Sicherheit im Jahre 1938, die tiefe Enttäuschung über das Münchener Abkommen der Westmächte mit Hitler, das dadurch geförderte Mißtrauen, daß jene eine deutsche Aktion gegen die Sowjetunion wenn nicht wünschten, so doch zulassen würden, die Furcht, isoliert diesem Ansturm ausgesetzt zu sein. Die Lage wandelte sich zwar, als Hitler seine Münchener Partner durch den Griff nach Prag vor den Kopf stieß und auf Grund seiner Wendung gegen Polen erneut mit ihnen in Konflikt geriet. Es lag für die Russen nahe, die Atempause zur Befestigung der eigenen Stellung auszunutzen, die beiden europäischen Gruppen gegeneinander auszuspielen, um sowohl ein neues München zu verhindern als auch die Gefahr eines deutsch-japanischen Zusammenwirkens gegen die Sowjetunion zu beschwören. So hat man auf der einen Seite die nun von London und Paris kommenden Werbungen nicht abgewiesen, auf der anderen den Deutschen zu verstehen gegeben, daß man unter Llmständen zu der Herstellung eines modus vivendi bereit sei. Daß man die Verhandlungen mit den Westmächten gar nicht ernst genommen hat, ist nicht wahrscheinlich: hat doch ein so kluger Beobachter wie Graf Schulenburg noch Anfang August deren erfolgreichen Abschluß für möglich gehalten, falls die russischen Forderungen angenommen wurden. Mit der Durchsetzung dieser Forderungen wollte man sich wohl für den Fall eines Krieges politisch und militärisch so sichern, daß man nicht schließlich die Hauptlast tragen mußte und zugleich den eigenen Einfluß ausdehnen konnte. Man hat später erklärt — und russische, tschechische und ostdeutsche Historiker haben das eifrig bestätigt —, daß die Nichtannahme dieser Forderungen den bösen Willen der kapitalistischen Mächte enthüllt und so diese, die zugleich heimliche Ausgleichsverhandlungen mit Hitler begannen, die Sowjetunion gezwungen hätten, durch den Vertrag mit Deutschland die eigene Existenz zu retten. Möglich, daß auch in der letzten Phase das Mißtrauen gegen den Westen und die Besorgnis vor einer Verwicklung in einen Krieg mit zweifelhaften Chancen bei den Überlegungen Stalins eine Rolle gespielt haben. Aber verband sich damit nicht die Erwägung, daß die Annahme der deutschen Angebote, die man offenbar seit Molotows Wort von der politischen Basis durch eine geschickte Taktik des Hinhaltens herauszulocken suchte, eine erhebliche Macht-ausdehnung vorerst ohne eigenes Risiko versprach? Und war man sich, als man Hitlers Hand ergriff, nicht klar darüber, daß man damit den Weg zu einer neuen Teilung Polens und der Länder des Baltikums frei gab? Und hoffte man endlich nicht, daß der nun sicher zu erwartende Krieg ohne Aufwand eigener Kräfte eine gewaltige Krise in Europa herbeiführte, an deren Ende der Triumph der bolschewistischen Weltrevolution stehen konnte?

Doch, uns interessiert hier ja in erster Linie die deutsche Seite. Hitler selbst hat bei und nach dem Zustandekommen des Pakts behauptet, er sei von vornherein überzeugt gewesen, daß Stalin an der Erhaltung Polens nichts liege und er deshalb auf die englischen Angebote nicht eingehen werde, und so habe er auch in der Erkenntnis, daß man auf Japan nicht rechnen könne, nach Litwinows Ablösung die Umstellung gegenüber Rußland allmählich durchgeführt und schließlich die russische Zustimmung gewonnen. Wie wir sahen, ist der Weg zu dem Pakt doch keineswegs so gradlinig gewesen. Wenn die Männer des Auswärtigen Amts wie Weizsäcker, Schnurre, Schulenburg und seine Mitarbeiter beständig auf eine Verbesserung der Beziehungen mit Moskau hinarbeitteten, nicht, um dadurch die Zertrümmerung Polens zu ermöglichen oder Chancen für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Westen zu gewinnen, sondern um Gefahren für Deutschland und für den Frieden zu bannen, so ist Hitler, der seit dem Frühjahr in der Lösung des polnischen Problems die erste notwendige Voraussetzung weiterer Machtausdehnung sah, lange Zeit unsicher gewesen, ob er dazu die russische Unterstützung nötig hatte und ob sie zu erreichen war. Erst Mitte Juli ist der Zickzackkurs beendet und der Beschluß gefaßt worden, in rücksichtsloser Preisgabe anderer und auch deutscher Interessen die russische Zustimmung zu seinen nächsten Schritten zu erkaufen. Dabei hat wohl Verschiedenes auf ihn eingewirkt, die Besorgnis, daß England den Kreml doch noch zum Einschreiten gegen die deutsche Expansion bewegen werde, der Ärger über die japanische Zurückhaltung, die Hoffnung, auf diese Weise Polen trotz aller Garantieversprechen zu isolieren, der wachsende Glaube, daß die Russen zu einem Geschäft bereit seien, bei all dem dann die drängende Erkenntnis, daß nun keine Zeit mehr zu einer Neugestaltung der ungünstigen Weltsituation verloren werden durfte, die eine Durchführung seines Vorhabens gegen Polen zu dem letzten dafür möglichen Termin ohne ein völlig unerträgliches Risiko gestattete. Wenn davor gewarnt worden ist, bei Interpretation der Motive von Hitlers Handeln zuviel rationale Überlegungen und Folgerichtigkeit entdecken zu wollen, so wird man dies gerade auch im Hinblick auf seine Politik im Sommer 1939 berechtigt finden: sie verlor sich in einem fast grotesken Wechsel von Vorstoß und Abbremsen, bis er in einer der für ihn typischen überraschenden Entscheidungen einen Beschluß faßte, den er dann mit der ihm eigenen Energie, ohne rechts oder links zu sehen, in die Tat umsetzte. Von einer geradlinigen Entscheidung auf lange Sicht wird man dabei kaum sprechen können, so sehr er das damals nicht nur den Russen, sondern auch den Engländern gegenüber behauptete. Schon 1934 hatte er in Gesprächen mit Rauschning es für nicht ausgeschlossen erklärt, daß er eines Tages ein Bündnis mit Rußland schließe, doch werde ihn dies nicht abhalten, die Wendung zurück zu machen und Rußland anzugreisen, wenn die Ziele im Westen erreicht seien. Rauschning hatte schon damals erkannt, daß er eine rücksichtslose Gelegenheitspolitik trieb, die mit ungeheuerlicher Leichtigkeit alles über Bord warf, was vorher als ihr fester Grundsatz gegolten hatte. Es war ein frevelhaftes Spiel, das er mit allen Partnern und mit allen Völkern, nicht zuletzt auch mit dem deutschen, trieb, denn man wird die Behauptung wagen können, daß hinter all dem nicht irgend eine große politische Konzeption, sei es der Größe Deutschlands oder der Schaffung eines großräumigen Reiches in Europa oder der Vernichtung des Bolschewismus, stand, sondern der persönliche Machttrieb, der ihn immer weiter greifen und ihn zu dessen Befriedigung Helfer da suchen lidß, wo sie ihm gerade nützlich erschienen: '‘ % ‘ ‘

Fussnoten

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