„Unser siegreiches Land ist wie das Meer nach dem Sturm, wenn es versucht, sich selbst des Schmutzes und des Schlammes der Vergangenheit zu entledigen. Doch Du greifst wieder zu Deinen alten Methoden, versteckst Dich hinter alten Schlagworten und versuchst, das zu zerstören, was wir aufbauen. Zum Unterschied von Dir, Pharisäer, vermag ich keine leeren Reden zu halten, und wir wollen keinen Anteil an Deinem Bankrott.“ (Gevork Emin, Gespräch mit einem Pharisäer)
I. Idee und Realität des „sowjetischen Menschen"
„Besichtigten da kürzlich Kliineut Jefremowitsch Woroschilow
Der nun schon alte Präsident, wohl ein schwacher Ideologe, aber noch immer ein unerschrockener Soldat, parierte den Hieb mit dem Gegen-hieb: . Recht hast du, Nikita Sergejewitsch, ich nehme deine Berichtigung an, aber — ich bleibe dabei: , Das gleiche schlechte Land, die gleichen schlechten Menschen und doch ungleiche Ergebnisse! Das ist es, worauf es ankommt! Hörst du, Nikita Sergejewitsch?
(Aus: „Die Welt“ vom 2. 3. 1957, „Kliment und Nikita).
Der fingierte oder tatsächliche Disput Woroschilows und Chruschtschows führt unmittelbar in unser Thema ein: Die große Unbekannte in der nicht ausgehenden Gleichung zwischen einander entsprechenden äußeren Bedingungen und unterschiedlichen Ergebnissen ist der Mensch. Der Mensch in all seiner rätselhaften Unberechenbarkeit: nicht ein einfaches Produkt seiner Umwelt; nicht ein willkürlich zu formendes Objekt der Dingwelt; keine typologische Größe dieser oder jener Art, sondern ein sich letztlich selbst gestaltendes Subjekt eigener Dignität.
Doch gilt das, so wird man mit Recht fragen, auch für den sowjetischen Osten? Ist es nicht gerade ein Privileg unserer westlichen Lebensart, eine soziale Errungenschaft abendländischer Kultur, ein Ergebnis freiheitlicher Bildung, in Denken, Fühlen und Wollen sich nicht einfach dem Lebensumfeld auszuliefern, sondern, wie Humboldt es verstand, die Welt in sich zur Darstellung zu bringen und sie nach eigenen Vorstellungen zu gestalten? Das heißt, im Gegensatz zur Auffassung des Marxismus, daß der Mensch kraft Vorherrschaft der Idee über die Dinge zum Herrn der Welt und nicht zu ihrem Sklaven berufen ist.
Es unterliegt keinem Zweifel: In der Sowjetunion ist der massivste Versuch aller Zeiten unternommen worden, dem Menschen das Recht auf Selbstverwirklichung zu nehmen — die Pervertierung des eigentlichen Agens der Marx’schen Sozialphilosophie und wohl folgenschwerste Modifikation des Marxismus durch den Bolchewismus. Der junge Marx träumte vom „vollkommenen Menschen im Sinne der Aufklärung. Die russischen Volkssozialisten, die N a r o d n i k i , gingen Weisung für eine bessere, bewußte Selbstgestaltung ihres sozialen Schicksals vorzubereiten. Auch die russischen Sozialdemokraten unter Plechanow erstrebten vornehmlich auf pädagogisch-reformerischem Wege ihr politisches Ziel des gesellschaftlichen Strukturwandels. Dieses blieb ihnen, wie Marx, eigentlich nur ein Mittel zu dem einen Zweck, den Menschen wirklich Mensch werden zu lassen. Unter den vielen Korrekturen, die sich der Marxismus unter Lenin gefallen lassen mußte, findet sich dann auch jene von der Unterordnung der Kultur und Bildung, ja der geistigen Entfaltung und Freiheit des Menschen dem Zwecke des Klassenkampfes. „Die Schule“, heißt es ausdrücklich, „muß das Werkzeug der Diktatur des Proletariats werden“. Stalin hat bekanntlich diese Forderung Lenins realisiert. Aber er hat sich zugleich den Wunschtraum der so bezeichneten Edelkommunisten, dem im Grunde auch Marx anhing, zueigen gemacht, in den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen ein Menschengeschlecht höherer Art zu entwickeln. So entstehen die Schlagwörter vom Menschen „neuen Typs“, vom „fortschrittlichen und bewußten Menschen“, vom „richtigen und neuen"
oder auch einfach vom „sowjetischen Menschen" — dem Hellenen der Moderne — so etwa stellt man sich selbst vor: „Wir sind heute nicht die, die wir gestern waren, und werden morgen nicht die sein, die wir heute sind. Wir sind nicht wehr die Russen, die wir bis zuw Jahre 1917 waren . . ." usw, erklärte 1946 Shdanow, der Hofideologe Stalins.
Es ist interessant festzustellen, daß Stalins Parole vom Menschen neuen Typs und höherer Art auf Trotzki zurückgeht. Dieser hatte 1924 geschrieben: „Der Mensch wird es sich zur Aufgabe wachen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf den Gipfel des Bewußtseins zu heben, sie durchsichtig klar zu wachen, Leitungsfäden vorn Willen unter die Schwelle des Bewußtseins zu führen und sich selber dawit auf eine höhere Stufe zu bringen, also einen höher-stehenden biologischen Typus oder, wenn wan will, einen Über-menschen zu sdtaffen.“ „Der Mensch wird unvergleichlidt stärker, klüger, feiner werden.“ „Der menschliche Durchschnitt wird sich bis zum Niveau eines Aristoteles, Goethe, Marx erheben. Über diesem Berggrat werden sich neue Gipfel erheben.“
Die nicht nur in der ganzen übrigen Welt, sondern ebenfalls von sowjetischen Biologen als unrichtig beurteilten Theorien Lyssenkos, von der milieubedingten Veränderbarkeit des Erbgutes, werden von Stalin gutgeheißen. Lyssenkos Experimente wurden mit allen Mitteln gefördert, weil sie als „Beleg“ für jenes Theorem vom „neuen Sowjetmenschen" dienen sollten. Stalin hat sich dieser Idee mit zunehmendem Alter mit „Leib und Seele“ verschrieben, da er, Hitler vergleichbar, der befreite Prometheus der Weltgeschichte zu sein glaubte. Es war in diesem Geiste und in Stalins Sinne, wenn zu dessen Lebzeiten in der Sowjet-presse „Charakterisierungen", wie die folgende, erschienen (Izvestija vom 9. 12. 1936): „Idt aber beneide die künftigen Geschled^ter, idt beneide sogar den Schüler, der, sagen wir im Jahre 2436, auf den ersten Seiten seines Geschichtsbuches lesen wird: , Die Gesdtidite der Mensdiheit wird in zwei Perioden eingeteilt: Bis zur Stalinschen Verfassung und nach der Annahme der Stalinschen Verfassung ."
Geschichtsmythologien haben erfreulicherweise den Vorzug, wirklichkeitsfremd zu sein. Sie überleben häufig kaum ihre Götzengestalt. Wir wissen heute, so gut wie die Sowjets selbst, daß die Prophezeiung, so wenig wie etwa Orwells für das näherliegende Jahr „ 1984", nicht in Erfüllung gehen wird. Mit Stalin ist die eingebildete Verkörperung des „neuen Menschentums" zu Grabe getragen worden. Luigi Volpicelli, der bekannte italienische Erziehungswissenschaftler, schließt die jüngst erschienene, um den Ertrag seiner Studienreise durch die Sowjetunion bereicherte, deutsche Ausgabe seiner „Geschichte der sowjetischen Schule" mit dem Urteil: „Allem Ansdiein nach ist also der ehrgeizigste Traum der sowjetisdien Revolution — der, dessen Verwirklidtung den Augen Lunatscharskijs Tränen entlod-cte, die Sdtaffung des , neuen Mensdien , des , sowjetisdien Menschen nidit erreidit worden. Die Revolution hat die industrielle und wilitärisdie Macht Rußlands gesdiaffen, hat die Schule und die Bildung über das ganze weite Reich der UdSSR verbreitet, aber die Krankheit des Individualismus ist noch . verbreitet unter den Kleinen nidit weniger als unter den Erwachsenen .
Die angebliche, vielleicht wirkliche Kontroverse Woroschilows und Chruschtschows hat einen sehr realen Hintergrund: Spätestens seit dem heftigen Aufbegehren der Moskauer Studentenschaft gegen das Eingreifen in Ungarn, ist der sowjetischen Führung bewußt geworden, daß ihr klischeehaftes Bild von der parteiergebenen Jugend, wie sie es etwa nach dem Gesinnungsmotto des Fürnberg sehen Liedes: „die Partei, die Partei, die hat immer recht" als selbstverständliches Ergebnis von der sowjetischen Erziehung erwartete, revisionsbedürftig ist. Nur der nicht versetzte Musterschüler Ulbricht, so scheint es, hält noch an diesem Idol fest: Der Bericht über die „Konferenz des Lehrstuhls für Philosophie des Institutes für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED über theoretische und praktische Probleme der sozialistischen Moral" im April 1957 trägt den Titel „Neues Leben. Neue Menschen“ .
Vor allem literarisch-künstlerische, von der kulturpolitischen „Generallinie“ abweichende sowjetische Neuerscheinungen — man denke nur an die drei dem deutschen Leser zugänglichen Bücher von Ehren-burg „Tauwetter", an D u d i n z e w s „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“, an Pasternaks „Dr. Shiwago" — haben jenen Eindruck bestätigt und verfestigt: E s ist lei ch ter in den Kosmos vorzustoßen, als den Schöpfungsakt zu modifizieren. Der Mensch ist auch gerade für die Sowjets nicht allein das unerschließbare „X“ zwischen Sein und Wollen. Man beginnt zu ahnen, daß er selbst eine Gleichung mit vielen Unbekannten und somit das Haupthindernis auf dem Wege zum Kommunismus ist. An dieser Stelle wird der circulus vitiosus deutlich, in dem sich der Sowjetsozialismus verfangen hat. Es geht, wie Tito Chruschtschow entgegengehalten hat, nicht um den Stalinschen Persönlichkeitskult, sondern es geht um das System. Dieses ist in seiner Grundstruktur immer noch das bolschewistische System und hat sich vom genuinen Marx’schen Anliegen, dem Menschen äußerlich weniger bevorzugter Herkunft zur personalen Würde zu verhelfen, hat sich dem Menschen überhaupt soweit entfernt, daß nicht nur das System ihm, sondern auch der Mensch dem System fremd geworden ist.
Der Jugend lehrt man das Lied „Du hast ja ein Ziel vor den Augen“, aber wenn sie erwachsen ist — das haben die Ost-Berliner, die War-schauer, Budapester und Moskauer Studenten anschaulich demonstriert — gehen ihnen die Augen darüber auf, daß der Sozialismus bolschewistischer Prägung sein Ideal aus den Augen verloren und im Stalinismus in gröbster Form verraten hat. Wie kann die Partei alten Schlages diesem, von der Wirklichkeit selbst aufgeklärten, wahrhaft bewußten Sozialisten gegenüber den Führungsanspruch behaupten; einen Genossen, der zum Experiment G o m u 1 k a s, dem Gesellschaftssystem Titos oder gar zur bürgerlich-sozialistischen Lebensform Schwedens hinüberschielt? Und wie erst der Masse einfacher Sowjetbürger gegenüber, denen im wahren Sinne des Wortes das schlichte Hemd auf dem Leibe heute wichtiger ist als der verheißende Purpurrock des Kommunismus? Das ist Chruschtschows bange Frage.
In der dreistündigen Huldigungsrede auf die 40jährigen sowjetischen Errungenschaften, am 6. November 1957, im Lijshniki-Sportpalast ist diese Problematik nur indirekt berührt worden. Aber mit der ihm eigenen Schläue und Unmittelbarkeit hat Chruschtschow erkannt und ausgesprochen, was als verhängnisvollste „Errungenschaft“ des Sowjet-sozialismus bezeichnet werden muß. Er erklärte: „Die Versudie, die sozialistisdie Bewegung von innen her zu untergraben, die sozialistischen Länder und Parteien zu zersetzen und gegeneinander auszuspielen . . . dies ist eine der Hauptgefahren, und gegen sie müssen wir den entsdriedensten Kampf führen.“
Lind kurz davor: „Der ganze Verlauf der Entwicklung stellt für die revolutionären Parteien der Arbeiterklasse in den Vordergrund, das Ringen um die Festigung der Einheit und die Entwiddung der Formen der Zusammenarbeit auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus.“ Chruschtschow behauptet zwar, daß in der Sowjetunion bereits jetzt „alle materiellen und moralischen Voraussetzungen“ vorlägen, „um zur höchsten Stufe des Aufbaus des Kommunismus überzugehen“. Aber er vermag die dazwischenstehende entscheidende Frage nicht zu beantworten, wie sich diese Aussage mit jener über die permanente und akute Hauptgefahr des innerparteilichen Zwiespalts reimt. Und niemand weiß besser als er, wie unzureichend und unzutreffend der Hinweis ist, daß hier einer der „raffiniertesten“ Eingriffe des „Imperialismus“ vorläge.
Das Übergewicht wirtschaftlich-technischer Daten in der Rede Chruschtschows ist symtomatisch für das Porträt des sowjetischen Gesellschaftssystems. Darin liegt eine große Macht und Ohnmacht! — Man ist heute in der Lage — welch grandiose Leistung innerhalb eines Generationswechsels bei einem Analphabetenvolk in einem ausgesprochenen Agrarland — Raketen auf den Mond zu schießen und interplanetarische Flüge vorzubereiten. Sie sind fraglos ein großartiges Geistesprodukt des Systems, funktionieren roboterhaft exakt nach den Anweisungen der Zentrale und tragen schwerelos den Sowjetstern durch den Raum. Die Raumsatelliten denken gar nicht daran, wie man boshafterweise unterstellt hat, im Westen landen und um politisches Asyl bitten zu wollen. Aber die Sputniks auf der Erde, die Gefährten aus Fleisch und Blut und gar mit Herz, sind nicht so folgsam. Sie können so wenig als Trabanten des Systems bezeichnet werden, wie die soge-nannten Volksdemokratien unterschiedslos als Satelliten der Sowjetunion. Heute, da sie nicht mehr im Schatten des „Übermenschen“ leben, tragen sie den Kopf wieder höher und ersehnen die Realisierung des Rechts auf Selbstbestimmung.
Chruschtschow weiß sehr wohl: der Gegner kommt nicht von rechts, er kommt von links; er steht nicht draußen, sondern drinnen; er hat keine objektive Macht, aber eine subjektive Meinung. Nicht nur Stalin, auch Berdjajew irrte. Der Mensch hat sich unter dem sowjetischen System nicht verwandelt, weder im positiven noch im negativen Sinne. Gewandelt hat sich die Gesellschaft, die Nation; gewandelt haben sich Schichten und Klassen; gewandelt hat sich mancher einzelne mit der Wahrnehmung dieser oder jener Funktionen. Nicht gewandelt hat sich der russische Mensch des Durchschnitts und als Ganzes. Verschiedene Züge am russischen Menschen und Volkscharakter sind verengt und bis zu einem gewissen Grade verkümmert, andere sind neu hinzugekommen. Das eigentliche Hauptziel 40jährigen ideologisch-erzieherischen Bemühens — der sowjetische Mensch — ist jedoch nicht erreicht worden. Es gibt die sowjetische Nation. Aber in ihr führt der einzelne als Ukrainer oder Usbeke, als Arbeiter oder Ingenieur, als Griechisch-orthodoxer oder Freireligiöser, als Funktionär oder Bürger ein weit über das offiziell ihm zugebilligte Maß hinausgehende
Eigendasein, in der Familie wie im Freundeskreis, daß ihn vor der bezweckten Gleichschaltung bewahrt. Täuschen wir uns nicht durch den uniformen Schein. Nirgends wurde so viel und so gut Theater gespielt, wie im modernen Rußland — gerade auch im Alltag!
Interessant ist, daß die Sowjetführung neuerdings in offiziellen Selbstdarstellungen, dem „sowjetischen Menschen“ ebenfalls eine nüchternere Einschätzung zu Teil werden läßt. Chruschtschow spricht vorsichtigerweise vom „Sowjetmenschen der Zukunft“, den es zu erziehen gelte. In dem Band „UdSSR“ der Weltausstellung in Brüssel, der im sowjetischen Pavillon angeboten wurde, heißt es im Kapitel über „Die sozialistische Kultur“: „Die Menschen in der UdSSR sind den Mensdten in der ganzen Welt gleichgeartet, ihr . besonderes'Vertrauen in ihre eigenen Kräfte und in die Zukunft wird lediglidt dadurd't bestimmt, daß sie durch den Sieg der großen Revolution Bedingungen gesdtaffen haben, die für die Entfaltung jedes einzelnen Menschen am günstigsten sind." Ein zu Stalins Zeiten bei einem solchen Publikationsanlaß undenkbares Eingeständnis steht im Schlußteil des Kapitels: „Es gibt natürlich audt in der Sowjetunion Menschen, denen nidtt alles gelingt und deren persönlidtes Leben sich unglüdtlidt gestaltet. Das ist unvermeidlidt, aber nid'it außergewöhnlidt."
Wenn auch die Diktion der Sätze wie der Rahmen, in den sie eingebettet sind, deutlich macht, wie schwer den Autoren oder Zensoren, des sonst an Selbstlob nicht armen Heftes, ein solches Zugeständnis fällt, so ist es doch schon wohltuend, nicht mehr den Menschen „neuen Typs“ als gegeben präsentiert zu erhalten. Es bleibt zu hoffen, daß der reaktivierte Lyssenko nicht zu einem restaurierten „Übermenschentum“ führt. Selbstverständlich bleibt die Wirklichkeit des sowjetischen Alltags weiter hinter allen kulturpropagandistisch zurechtgemachten Selbstzeugnissen zurück. Die Sowjets täten auf weitere Sicht gut daran zu erkennen, daß damit keinem gedient ist. Der Schein hält auf Dauer nie, was er verspricht. Der Fremdbetrug wirkt sich als Selbstbetrug aus. Es ist schwerer ein verlorenes Gesicht wiederzugewinnen, als es zu wahren, und lasse das grelle Licht der Wahrheit noch so viel Schattenseiten offenbar werden.
Die Vorgänge um einige originelle Erscheinungen der sowjetischen Literatur in den letzten Jahren, zeigt beispielhaft, daß die nachstalinsche Ära sich in einem echten Zwiespalt befindet. Man hat wohl die Notwendigkeit eingesehen, Konzessionen zu machen; man hat aber — zumal nach dem Aufbegehren in Osteuropa — eine begründete Furcht davor, zu weit zu gehen. Die ins Kreuzfeuer der literaturpolitischen Kritik geratenen Schriften sind nicht nur geschichtliche Zeugen einer anderen Zukunft, die in der Sowjetunion bereits begonnen hat, sondern zugleich Deuter einer Gegenwart, wie sie wirklich ist.
II. Der schicksalsschwere Weg der sowjetischen Literatur
Das bald nach Stalins Tod durch Ilja Ehrenburgs Novelle „Tauwette r“ eingeleitete literaturkritische Intermezzo, hat eine beachtenswerte Vorgeschichte. Diese reicht in die Zeit unmittelbar nach der Revolution zurück und kristallisiert sich um die Gestalt Maxim Gorkijs (1868— 1936). Der Bogen der innersowjetischen geistigen Auseinandersetzung spannt sich von Gorkij zu Pasternak. Sie standen mit vielen anderen in einer Front. Es war ein personifizierter Kampf. Gorkij war zunächst der offene, Pasternak später der geheime Gegner des Stalinschen Geisterterrors.
Gorkij’s Ringen um die schöpferische Freiheit des Künstlers, des Schriftstellers wiederum ist älter als Stalins Machtherrschaft. Er hatte diesen Kampf schon Lenin gegenüber zu bestehen, zu dem er immerhin in Hochachtung, ja Liebe aufschaute. Aber der mit europäischer Denkungsart vertraute Lenin, unterstützt von den humanistisch gebildeten Kulturfunktionären Krupskaja und Lunatscharskij, stellte der These „Weg mit der parteilosen Literatur“ die Einschränkung gegenüber, daß das Schriftstellertum einen größeren individuellen Spielraum benötige und nicht leichterhand von oben reglementiert werden dürfe. In einer eindeutig an die Adresse Stalins gerichteten Kritik in der „Pravda“ schrieb er kurz vor seinem Tode: „Unsere Leute treiben zu großzügig und zu frivol das, was sie . proletarische Kultur'nennen.“ „In allen kulturellen Angelegenheiten sind Hast und durdtgreifende Maßnahmen das denkbar Sdilechteste.“ Trotzki sekundierte Lenin in einer Schrift über „Literatur und Revolution“: „Es gibt Gebiete, wo die Partei unmittelbar und gebieterisch leitet. Es gibt Gebiete, wo sie kontrolliert und fördert. Es gibt Gebiete, wo sie nur fördert. Es gibt schließlich Gebiete, wo sie sich nur orientiert. Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist. Sie kann und soll schützen, fördern und nur indirekt leiten.“
Gorkij genügte das nicht. Er ließ sich vom bedeutendsten Vorkämfer für die Freiheit der russischen Literatur inspirieren und betitelte seinen Artikel gegen die herrschenden Zustände wie ehemals LeoTolstoi mit dem Anklageruf: „Ich kann nicht schweigen!“ Gorkij, der der Kunst leben und nur in ihr sein soziales und personales „Glaubensbekenntnis“ niederlegen wollte, verabscheute die Politik — insbesondere die Parteipolitik, zu der Lenin ihn bewegen wollte — und ignorierte das marxistische Dogma. Bereits im Revolutionsjahr hatte er in seinem Blatt „Neues Leben“ (Novaja zizn‘) offenherzig und drastisch polemisiert: „Lenin, Trotzki und ihre Anhänger sind sdron angesteckt vom Gift der Macht, wie ihre beschämende Einstellung gegenüber der freien Meinungsäußerung und der Freiheit des Individuums zeigt, um die die Demokratie gekämpft hat.“ Schon einmal, vor 1917, hatte Gorkij der Despotie in seinem Lande den Rücken gekehrt. 1921 geht er, angewidert von der Kulturbarbarei der Revolutionäre, den „sinnlosen Aktionen der Volkskommissare“, erneut ins Ausland. Aber das Heimweh, vielleicht auch das Verantwortungsgefühl, möglicherweise sogar die Hoffnung auf einen echten Neuanfang trieb ihn zehn Jahre später zurück — in die Arme seines „kleinen“ großen Gegners. Das Versöhnungsbemühen Stalins, das die einseitige Unterordnung zum Inhalt hatte, endete mit neuen Enttäuschungen. Er flüchtete das eine Mal in die Öffentlichkeit, als Redner, als Publizist und schließlich als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes, das andere Mal in die innere Emigration. Zynisch hatte Stalin seinerzeit auf Gorkijs Protest erwidert: „Nun gut, jeder ist seines Glückes Schmied“.
2.
Maxim Gorkijs tragisches Schicksal ist charakteristisch für den Weg der sowjetischen Literatur und Kunst, insbesondere derer, die sie verkörpern. Die Jahre 1921 und 1930, 1936 und 1956 — die Todesjahre großer Namen — haben symbolische Bedeutung. Die Hinrichtung N i -kolaj Gumiljows (1886— 1921) und der verfrühte Tod Alexander Blocks (18 80— 1921) warfen die Schatten des Stalinregimes voraus. Gorkijs Autorität sowie die ihm von Lenin zugeschanzte Stellung des Leiters der „Kommission für die Verbesserung der Lage der Wissenschaftler“ reichten nicht aus, um das zu verhindern. Er konnte sich nur durch seine Emigration entrüstet davon abwenden.
Mehr und mehr Namen von Rang verließen das Land. Die meisten kehrten nicht mehr zurück. Ihre Repräsentanten sind: der Vorgänger Pasternaks, der erste russische Träger des Nobelpreises für Literatur Iwan Bunin (1870— 1953) und Jewgenij Samjatin (1884 bis 1937), der in seinem Roman „Wir“ (My) das Modell für die politischen Romanvisionen Orwells und Hyxleys geschaffen hatte. Beide weisen interessante Parallelen zum „Fall Pasternak“ auf. Samjatins Roman, illegal ins Ausland gebracht und sensationell und entstellt herausgebracht, lenkte die Argusaugen der Partei auf sich. Er schied aus dem Schriftstellerverband aus. Ein Brief an Stalin persönlich ermöglichte ihm 1931 den Weg ins Ausland. Welch ein Szenenwechsel! Unter Stalin war das der einzige Weg, um mit „heiler Haut“ davonzukommen; Pasternak bittet aber Chruschtschow, ihn nicht des Landes zu verweisen.
Im Falle Bunins ist es wirklich nicht angängig, von einem politischen Preis zu sprechen, wie es die Sowjets bereits damals taten. Der Nobelpreis war nicht die erste hohe Auszeichnung, die er 19
Im Unterschied zu Bunin und Samjatin, hielt das Land und die selbst-gestellte Aufgabe andere, wie Wladimir Majakowskij (1893 bis 1930) und eben Boris Pasternak (geb. 1890) zurück. Sie verband vieles. Majakowskij und Pasternak gehören jener Generation der 30järigen an, die die Revolution von 1917 mit aufrichtiger Begeisterung begrüßten. 1905 war es nicht mehr als „billiges Rebellentum", wie Pasternak sagt 3). 1917 war das anders. Pasternak drückt das Revolutionsempfinden — es war noch kein Revolutionsbewußtsein — mit den Worten Jurij Shiwagos so aus
Majakowskij und Pasternak verband dieses Thema des objektiven Geistes ihrer Zeit und ihres Landes, das sich an ihnen subjektiviert hatte und das sie nun wieder in dichterische Objektivation umzusetzen trachteten. Der drei Jahre jüngere Majakowskij, genial und selbstbewußt, erschien dem schwächeren Pasternak als d a s Vorbild. Nicht nur in dem virtuos zelebrierten neuen Mittel der Dichtung, der futuristischen Poesie. In ihm suchte Pasternak wohl vergeblich den Anker, um sich ganz aus dem Symbolismus zu lösen. Majakowskij eilte ihm auch „weltanschaulich“ voraus. Mit vierzehn Jahren war er der Kommunistischen Partei beigetreten. Das soziale Thema hatte ihn — vielleicht die Frucht seiner Begegnung mit Gorkij — „gepackt“ und erlaubte ihm, wie Pasternak schreibt, in einer „neuen Weise“ zu arbeiten.
Man konnte Majakowskij nicht folgen. Er entfloh der sowjetischen Wirklichkeit, die ihn ebenso bitter wie die anderen enttäuschte, indem er poetisch die kommunistische Zukunft zu erstürmen suchte. Hier ist eine und wohl nicht die unbedeutendste Wurzel jener inneren Unruhe zu suchen, die ihn während einer seiner gelegentlichen Reisen ins Ausland, 1 9 3 0 in Paris, den Weg der freiwilligen Emigration aus dem Leben wählen ließ. Es ist nicht überzeugend und wohl mehr als Postskriptum für die Zensur gedacht, wenn Pasternak am Schluß des 1931 (!) erschienenen Teils seiner „Schutzurkunde“ den Vergleich zieht ’): „Plötzlich war mir, als sähe ich draußen vor dem Fenster sein Leben, das jetzt ganz der Vergangenheit angehörte. Es entfernte sich in schräger Richtung vom Fenster wie eine stille, baumgesäumte Straße, ähnlich der Prowarskaja. Und der erste, der auf dieser Straße stand, ganz dicht beim Fenster, war unser Staat, unser nie dagewesener, unvorstellbarer Staat, der auf die Jahrhunderte zueilte und für immer von ihnen ausgenommen wurde. Er stand dort unten, mau konnte ihn anrufen und bei der Hand nehmen. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war so verblüffend, daß sie Zwillinge sein können.“
Fünf Jahre vor ihm hatte der andere große Lyriker der Revolution Sergej Jessenin (1895— 1925) Selbstmord begangen. Laut hatte er angeklagt: „Der rauhe Oktober hat mich betrogen.“ „Wenn Falschheit und Heuchelei zur Religion eines Landes erhoben werden, kann nur und Anarchie Majakowskij klagte Auflehnung die Folge sein.“
leise: „Wie /erledigt, /man sagt: Der Fall ist die Liebesbarke /am Leben zerschellt. /Dem Leben blieb ich nichts schuldig. /Überflüssig ist es, /aufzuzählen, /die Leiden, /Schmerzen /und Bitternisse des Daseins. /Lebt wohl!"
Boris Pasternak, zu wahr den Unterschied zwischen der Originalität Majakowskijs und sich selbst empfindend, folgte glücklicherweise nicht diesem Beispiel seines vergötterten Freundes. Er wählte einen gemäßigten und dennoch wahren Weg, den Weg in die innere Emigration. Er verlegte sich auf die Übersetzung Shakespeares sowie der deutschen Klassiker. So überlebte er die politischen Massensäuberungen, die nach dem Tode Gorkijs, dem alten Schirmherrn der „Geistesschaffenden“, gerade auch von den Intellektuellen nicht Halt machten. Ein bezeichnendes Beispiel dafür ist das Schicksal des Gorkij-Schülers Boris Pilnjak (1894— 1937). Es handelt sich um einen Parallelfall zu Semjatin und neuerdings zu Pasternak. Pilnjaks Roman „Mahagoni“ (Krasnoe derevo) erschien im Ausland; er wurde aus dem Schriftstellerverband ausgestoßen; die Partei wollte ihn „strafrechtlich“ verfolgen. Gorkij gelang die Rettung seines Schützlings — so lange er noch lebte. Vielleicht besteht zwischen diesem Aufbegehren und dem plötzlichen Tode Maxim Gorkijs 1 9 3 6 ein Zusammenhang. Pilnjak wurde bald darauf ohne Aufsehen erschossen. Pasternak überlebte, ohne „aus seiner Seele eine Mördergrube zu machen“; er überlebte Stalin und wurde damit zu einem Fanal der Geistesfreiheit im modernen Rußland. Es gibt kein Urteil und keinen Preis, die zu hoch wären, ihn zu ehren.
Dritten, wie Alexander Fadejew (1901— 1956) und Michail Scholochow (geb. 1905), die wie Pasternak in der Sowjetunion blieben, aber sich im Gegensatz zu ihm mehr oder minder der „Generallinie“ der Partei anpaßten, gelang es ebenfalls, Stalin zu überleben: Fadejew mit Einfügung, Scholochow durch Überlistung. Scholochow, als Romandichter zweifellos bedeutender als Pasternak und mit dem „Stillen Don“ (Tichij Don) gewiß ein starker Konkurrent um den Nobelpreis, machte dem Regime gegenüber ausreichende Konzessionen, um als linientreu zu gelten. Das zeigt schon sein Lobgesang auf die Kollektivierung („Neuland unter dem Pflug“). Dadurch ersparte er seinem Hauptwerk zu grobschlächtige Umarbeitungen. Schließlich war er 1932 noch rechtzeitig Parteimitglied geworden. Heute ist er Mitglied des Obersten Sowjets.
Scholochow hat am geschicktesten, wenngleich nicht am gradlinigsten, alle Klippen parteilicher Kursschwankungen umschifft. Er gilt bis heute offiziell als eine unumstrittene Autorität. Ihm hätte die Partei den Nobelpreis wohl gegönnt, obwohl er sich im „Stillen Don“ grundsätzlich genau wie Pasternak in „Dr. Shiwago“ zu Freiheit und Menschenwürde bekennt. Ein Gerücht besagt, Chruschtschow habe den Roman Pasternaks gelesen und ihn gar nicht so schlecht gefunden. Es wird deutlich, worum es bei der ganzen Kampagne gegen Pasternak ging. Er mußte, wie vor ihm Dudinzew und bedingt auch Ehrenburg, „exemplarisch“ herhalten, um der Partei wieder die Oberhand über die Morgenluft witternden Schriftsteller zu verschaffen. Anlaß dazu waren nicht in erster Linie der Freimut des Romans, sondern die Begleitumstände des Erscheinens des geheimnisumwitterten Spätwerkes, sowie die Person des Autors selbst, der „Sphinx“ Pasternak, wie ihn seine Freunde nannten. Scholochow wäre das Malheur nicht passiert. Die Partei hätte bei ihm keine unkontrollierbaren Auswirkungen zu befürchten gehabt.
Aus dieser „gesicherten“ Position heraus vermochte Scholochow, sich wirkungsvoll sowohl in dem Streit um den Tauwetter-Kurs der Sowjetliteratur wie um Pasternak einzuschalten. Wie ehedem, versteht er es aber auch jetzt, soweit mit dem Strom zu schwimmen, daß er für sich und seine Stellung nichts zu fürchten braucht. Seine früheren Attacken auf Fadejew und neuerliche Angriffe auf Pasternak beweisen das. Auf dem XX. Parteitag rechnete Scholochow — im Zeichen der Anti-Stalin-Rede Chruschtschows — massiv mit Fadejew, gleichsam als einem Prototyp des Stalinismus im eigenen Revier, ab. Nicht so scharf, aber kaum vornehmer ist seine Kritik an die Adresse Pasternaks, die er vor der westlichen Presse im April dieses Jahres gelegentlich einer „Privatreise“ verlauten ließ. Er nannte Pasternak einen „wenig bekannten Schriftsteller mit einem kleinen Kreis snobistischer Leser." Mit Ausnahme seiner „brillanten“ Übersetzungen, seien die Arbeiten Pasternaks uninteressant; „Dr. Shiwago“ sei eine „amorphe Masse“, die den Titel Roman nicht verdiene. Es sei inhaltlich der „Versuch einer verallgemeinernden Darstellung unserer Intelligenzschicht, und es ist ein verleumderischer Versuch. Wenn dieses Buch in der Sowjetunion veröffentlicht werden würde, würde sein Verfasser von den Lesern gestäupt werden." Es wird weiter unten belegt werden können, wie wenig diese propagandistischen Äußerungen Scholochows den Tatsachen entsprechen.
Der „Stalinist“ Fadejew war im Grunde konsequenter als Scholochow. Scholochow ist eine Art Mitläufer der Partei. Fadejew hatte sich mit ihr auch unter Stalin weitestgehend identifiziert. Der Wunsch der Partei war ihm Befehl: mehrfach arbeitete er seine Werke („Die Neunzehn“, „Die junge Garde“) um. Als er im Zeichen des „Neuen Kurses“ vom Schriftstellerverband und namentlich von Scholochow dafür mit schweren Vorwürfen bedacht wurde, ersparte er sich weitere Umorientierungsversuche. In der Geschichte des sowjetischen Schriftstellertums, zu deren Tragödie er viel beigetragen hatte, gab cs andere „beispielhafte Lösungen“ für die Verfassung seelischer Ausweglosigkeit. Wie ehemals Jessenin, ergab sich Fadejew dem Trünke und wählte wie jener den „Ausweg“ des Selbstmordes (195 6).
Vierte schließlich, wie Alexej Tolstoj (1882— 1945) und Ilja Ehrenburg (geb. 1891), kehrten aus der Emigration als reumütige Heimkehrer in die Parteiergebenheit zurück. Alexej Tolstoj verkaufte seine Herkunft als Graf aus altem russischem Adelsgeschlecht und seine innere Verbundenheit mit dem vorrevolutionären Rußland für das Linsengericht der Freiheit von Verfolgung. Er befriedigte den Größenwahn Stalins, indem er die auf einmal wiederentdeckten historischen Gestalten „auferstehen“ ließ, unter ihnen „Peter den Ersten“ und „Ivan Groznyj“, den Schrecklichen.
Ilja Ehrenburg wiederum paßte sich auf seine Weise an. Eigentlich der europäischen Geistigkeit verbunden wie Alexej Tolstoj dem russischen Kulturerbe, verriet er sein Fierkommen noch leichtfertiger als jener. Er opferte seinen weiten Bildungshorizont, sein Bewußtsein vom Eigenwesen der Kunst und seinen Namen, den er über die Grenzen Rußlands hinaus besaß. Mehr noch: Er gab seine reiche Begabung schriftstellerischer Ausdruckskraft preis, indem er dem stalinistischen Zeitgeist zuliebe Schriften fabrizierte, deren ein Mensch mit Charakter sich zeitlebens schämen müßte. Besonders boshaft und verleumderisch sind die damals wie heute mit Vorliebe gegen Deutschland gerichteten Artikel und Pamphlete.
Nach Stalins Tod war das Stehaufmännchen Ehrenburg wieder sofort auf dem Plan. Er, der unter den „davongekommenen“ Schriftstellern vielleicht am meisten Grund zu beschämtem Schweigen gehabt hätte, begann, zunächst vorsichtig und dann immer offener, eine neue Kehrtwendung zu demonstrieren. Der wetterwindige Ehrenburg hatte erneut die Zeichen derZeit richtig einzuschätzen gewußt. Das Parteiorgan „Pravda“ (Wahrheit) lies den Titel endlich wieder vor dem Inhalt bestehen. Es forderte auf: „Schreibt die Wahrheit! Lind Ilja Ehrenburg, der soviel Ehre aufs Spiel gesetzt hatte, machte seinem Namen wieder Ehre. Er schrieb wirklich die Wahrheit — mit der Novelle „Das Tauwetter“. 3. Seither spricht man von der Tauwetterperiode. Sie wurde beherrscht von dem einen Grundthema, daß das russische Literaturerbe noch an Gorkij weitergegeben hatte, das dann aber preisgegeben worden war: der russische Mensch — als Mensch
Die sowjetische Wirklichkeit ist im mitmenschlichen Bereich alles andere als harmonisch. Es gibt nicht allein den selbstsüchtigen einzelnen und die allgütige Gesellschaft, wie es unter Stalin dargestellt werden sollte. Die Gesellschaft ist keine anonyme Größe. Für den einzelnen zerfällt sie in neue Klassen und Stände. Diesem Sozialgefüge steht er gegenüber. Er gehört zu den Aufgestiegenen oder nicht; noch nicht oder nicht mehr; er gehört zu den einen und kämpft gegen die anderen: Staatsbürokratie gegen Wirtschaftsverwaltung, Parteiapparat gegen Armee; der Ingenieur gegen den Manager; der Manager gegen den Funktionär und so weiter und so fort. Und umgekehrt: da ist die hilfreiche Hand der Familie, der Frau, des Freundes; es gibt Verantwortung, es gibt Liebe, es gibt Treue allen Gefahren und Widerwärtigkeiten zum Trotz!
So ist das Leben: auch und gerade in der Sowjetunion von heute. Auch wir sagen hier nur die Wahrheit!
III. Ilja Ehrenburg mit Gorkij:
,, Wir brauchen unseren sowjetischen Humanismus.“
-„Unsere Literatur war bisher die Literatur einer großen Lüge — nun endlich wird sie zur Literatur der großen Wahrheit." (Ausspruch eines Studenten während einer öffentlichen Diskussion
„Das Tauwetter"“) knüpft folgerichtig an Maxim Gorkij an. Ehrenburg stützt sich vorsichtig, wie er ist, auf ihn ab: „Gorkij schrieb, wir brauchen unseren sowjetischen Humanismus. Dies Wort ist irgendwie abhanden gekommen. Aber die Aufgabe ist gebliebcit. Damals hatte Gorkij sie vorausgeahnt, wir aber müssen uns jetzt ans Werk machen.“ Ehrenburg tut es, indem er die Novelle mit einer öffentlichen Diskussion über das Erstlingswerk eines jungen Schriftstellers beginnen läßt. Das ist der symbolische Startschuß.
Der Held des Buches, Dmitrij Korotejew, kritisiert mit den üblichen offiziellen Argumenten: „Vermutlich war es dem Autor darum zu tim, auf billige Art Spannung hineinzubringen. In Wirklid'ikeit sind unsere Sowjetmenschen innerlich doch viel sauberer, viel ernsthafter. Suozows Liebe hingegen scheint mir mechanisch aus den Werken bürgerlicher Schriftsteller auf die Seiten eines sowjetischen Romans übertragen zu sein.“ Ein unkompliziertes Mädchen antwortet ihm: „Mit bürgerlichen Schriftstellern hat das gar nichts zu tun. Der Mensch hat eben ein Herz, und darum leidet er. Was ist denn daran schlecht? Ich gestehe, auch in meinem Leben hat es solche Momente gegeben ..."
Charakteristisch ist das soziologische Panorama des Handlungsablaufs. Die Rollenverteilung ist wiederum der Dudinzew'schen ganz ähnlich. Der Held des Romans ist kein Funktionär, kein „Beamter“, auch kein Offizier. Er ist Ingenieur: „ein kluger Kopf“, „von den Kollegen anerkannt“. Sein Rivale ist natürlich ein negativer Typus: selbstgefäl-lig und herrschsüchtig, obwohl in leitender, politisch einflußreicher Position — ungebildet und ungerecht. Seine Partnerin ist eine „interessante Frau“, eine „tiefveranlagte Natur“, ihrem Manne „weit überlegen“. Der Liebeskonflikt löst sich für den Schriftsteller leicht auf: die „Guten“ gehören zusammen. Die erste Ehe, die dem entgegensteht, zerbricht, ohne praktische „Intervention“ des Dritten, versteht sich. Anders als Dudinzew und dann Pasternak, hält sich Ehrenburg immer noch in den Grenzen — hier: der Sowjetmoral. Nun ist der Weg frei, sich ganz zu verlieben und die zweite Ehe zu beginnen. In dieser wird alles wieder gut...
Komplizierter ist Ehrenburgs Novelle nicht, zu anspruchslos für die Bezeichnung Roman, die er ihr gegeben hat. Sie liest sich gut, so leicht, wie sie ist. Sie ist immerhin „lesbarer“ geschrieben, als der frischgebackene Roman Dudinzews und das nicht ganz geglückte Spätwerk Pasternaks. Man sieht, Ehrenburg hat das Schreiben noch nicht ganz verlernt. Aberdas künstlerische und humanitäre Ethos steht nicht wie bei jenen in unverfälschter UIrwüchsigkeit dahinter. Es wird von Ehrenburg mehr zur Schau gestellt.
Man täte Ehrenburg zu viel Ehre an, wenn man seine ÜbersollProduktion noch immer primär mit diesem Maßstab, dem Kriterium des wahrhaften Künstlers, messen wollte. Man täte ihm in einer gewissen Hinsicht auch Unrecht. Die Bedeutung seines Buches erschöpft sich keineswegs in dem skizzierten „Liebesdrama". Dem „Tauwetter“ wäre damit allein keine so große Wirkung beschieden gewesen. Interessanter ist der Hintergrund, in dem dieses eingebettet ist. Lim die drei „Liebeshelden“ rankt sich ein Leben, das ein Bild vom sowjetischen Alltags-leben entwirft, wie wir es aus dem gängig gewordenen Genre der Sowjet-literatur nicht mehr kennen.
Da sind die Gestalten des alten eigenbrötlerischen Ingenieurs Sokolowski und des jungen mutig-idealistischen Sawtschenko, kritische, unbequeme Charaktere, die ihren Beruf ernst nehmen und ihren Betrieb und der Gesellschaft mehr nützen, als andere, die im Scheinwerferlicht der grellen Anerkennung stehen. Da ist das so gegensätzliche Künstlerpaar Puchow — Saburow. Puchow, ein mit sich und dem Leben unzufriedener Mensch, der für große Gelder und noch größeres Lob Propagandaparolen in „Gemälde“ umsetzt. Saburow, einer der verkannten, in völliger Zurückgezogenheit schaffenden Künstler, lebt nur der Malerei und schafft Werke von bleibendem Wert. Da sind die Parteigegensätze Trofimow und Djomin. Der eine hat immer nur die Produktion im Auge. Der andere antwortet
Mit dem „Tauwetter“ gab Ehrenburg vielen sowjetischen Schriftstellern und Künstlern die Hoffnung, sie würden ein zweites Mal — nun als freischöpferische Menschen — leben und schaffen dürfen. Viele klammerten sich an den Silberstreif und wagten es, die Schubladen-manuskripte hervorzuholen und auf „neue Weise“ zu arbeiten. Sie vertrauten den Worten der Parteiführung, daß sich die Verhältnisse geändert hätten, und sie hofften mit dem ausgesprochenen Wunsche Ehrenburgs, „daß dies auch auf den engeren Kreis von Menschen zutrifft, der sich mit Kunst befaßt“
Hatte Ehrenburg die grundsätzliche Problematik des Mißverhältnisses von sowjetischer Ideologie und Realität am Beispiel einer kleinen Stadt aufgezeigt, so nahmen nun andere Autoren Teilbereiche der Gesellschaft „unter die Lupe“. Die einen, wie D u d i n z e w („Nicht vom Brot allein“) und Granin „(Die eigene Meinung“), die Manager und Bürokraten; die anderen, wie W a 1 z e w a („Wohnung Numero Dreizehn“) und T s c h i p a t s c h o w („Brief ohne Marke“) die Offiziere; dritte, wie Tendrjakow („Sascha macht sich auf den Weg“) und Jaschin („Die Hebel“) die Parteifunktionäre; vierte, wie Nagibin („Chasaren-Ornament") und Shdanow („Reise in die Heimat“), die Lage der Bauernschaft; fünfte, wie Moskowkin („Wie geht es, Semjon?“) und Kusnezow („Fortsetzung der Legende“), die Situation der Jugend; sechste, wie Nikolajewa („Der Kampf auf dem Wege“) und Koptajewa („Wagemut“) das Schicksal der Frau in Liebe, Ehe und Familie. Die nicht unbedingt repräsentative Auswahl könnte breit fortgeführt werden, so produktiv wirkte sich der durch eine gewisse Liberalisierung angespornte literarische Schöpfungsdrang namentlich in der jungen Generation aus.
Man würde die neuere sowjetische Literatur aber von Grund auf mißverstehen, wollte man sich das Kriterium der Parteipolemik zueigen machen und unterstellen, es ginge ihr vornehmlich um negative Kritik. Ein solcher Eindruck ist im Westen durch viele Publikationen hervorgerufen worden. Die Betroffenen waren schockiert: „Als ich diese Artikel las, erschrak ich. Hatte ich meinem Völk da nicht einen Bärendienst erwiesen, wo ich doch nur das Beste wollte.“ „Darum durfte ich wohl erwarten, daß der literarisd'ie Westen mir mit der gleichen Objektivität begegnen würde, daß er ebenso begreifen würde, was ich ableime, und daß er auch bemerkt — und wenn er nur Notiz davon nehmen wollte! — wofür ich lebe und schaffe“
Denn über aller wagemutigen Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen in der Sowjetunion, steht bei den meisten Autoren ein durchaus positives Anliegen. Dieses ist auch nicht, wie man annehmen könnte und gerade in der russischen Emigrantenliteratur leicht überbetont, primär auf eine Art Sozialreform oder gar -revolution ausgerichtet. Wie seit eh und je, geht es den ernsthaften sowjetischen Schriftstellern zunächst und vor allem um bildhafte Verdichtung von Einzel-und Gruppenschicksalen aus der gegenwärtigen Wirklichkeit ihres leidgeprüften Volkes. Wäre es anders, dann würden diese Schicksale nicht mit so viel innerer Anteilnahme dargestellt, dann würden die mißliebigen Gestalten willkürlich und böswillig entstellt werden. Nein, sowohl die negativen wie die positiven Typen der Schilderungen sind dem Leben abgelauschte Erscheinungen. Sie sind „sozialistischer Realismus“ im wahren Sinne des Wortes. Im Gegensatz zu den pseudorealistischen Darstellungen der parteiergebenen Literatur, finden sie deshalb auch so schnell den Weg zum Leser.
In den „Fehler“, die Prawda-Parole „Schreibt die Wahrheit!“ wörtlich-ernst genommen zu haben, verfielen fast alle Bereiche des sowjetischen kulturellen Lebens. Das Theater besann sich auf seine alte, in den zwanziger Jahren neubelebte Tradition und versuchte an Meyerhold, Tairow und Wachtangow anzuknüpfen. Meyerhold hatte auch nach den großen stalinschen Säuberungen es noch riskiert, offen zu rebellieren. Als er 1939 auf dem Kongreß der sowjetischen Regisseure Selbstkritik üben sollte, provozierte er seine Widersacher mit der Erklärung: „Dieses erbärmliche und sterile Etwas, das den Namen . Sozialistischer Realismus'beansprucht, hat mit Kunst nichts zu tun. Theater aber ist Kunst, und ohne Kunst gibt es kein Theater. Gehen Sie in die Moskauer Theater und sehen Sie sich die blassen, langweiligen Aufführungen an, die sich alle gleichen und nur im Grad ihrer Wehrlosigkeit untersdieiden . . . War das Ihr Ziel? Wenn ja, dann haben Sie eine furchtbare Tat begangen . .. Dann haben Sie in Ihrem Bestreben, den Formalismus“ auszurotten, die Kunst zerstört!“ Die Parteiführung antwortete in der damals eigenen „Art“: Meyer-hold und dessen Frau, die bekannte Schauspielerin Sinaide Reich, wurden für immer „aus dem Wege geräumt“. Sein Theater, das immer noch etwa mit Stücken von Majakowskij ein Credo zum Humanum und zur Humaniora war, wurde bereits 193 8 wegen „Volksfeindlichkeit“ geschlossen. Ähnlich vernahm sich nun die Moskauer Zeitschrift „Theater“ (, Teatr‘): „Unser Theater hat das Träumen verlernt“; „Aus unserem Theater ist das Göttliche verschwunden“, „Wirklichkeitstreue ist ein Maßstab, der als allgemeingültiges Kriterium für Schauspiele ungeeignet ist“; „Der Sinn der realistischen Kunstform besteht nicht darin, daß sie das Leben reproduziert, sondern daß sie der Neuschöpfung lebendiger Ideen dient“, „Das Leben des menschlichen Geistes auf der Bühne ist das größte Geheimnis...“ und so fort. Fast so scharf wie seinerzeit Meyerhold wurde der polnische Regisseur Krasowski in der Krakauer Zeitung „Dziennik Polski“ : „In einem soldien Arbeitsregime müssen alle, selbst die strengsten künstlerischen Regeln schlaff werden.“ Er meint, daß „die sowjetischen Theatervorstellungen etwas von einem Mittelding zwischen Drama und Oper, von szenischem Illusionismus und von Ästhetisierung an sich haben, und alles das wirkt sich verheerend auf das intellektuelle Niveau der Vorstellungen u aus.
Der Regisseur Ochlopkow vom Moskauer Majakowskij-Theater zog die praktischen Konsequenzen. Der talentierteste Theater-regisseur nach Meyerhold, wie man ihn im Freundeskreise nennt, besann sich auf die Schule des Wachtangow-Theaters, von dem er kommt, und übersprang die Barrieren. Er inszenierte Majakowskijs „Wanze“, das Stück vom parasitären Spießbürger, und konfrontiert am Schluß bewußt die „gemeinten“ Zuschauer damit. Er brachte Pogodins „Sonett des Petrarca“ zur Aufführung, daß das „Menschenrecht“ auf Liebe verteidigt als einen Hoheitsbereich zwischenmenschlichen Seins, in den sich die Partei nicht einmischen dürfe. Dort wird freimütiig echte innersowjetische Selbstkritik geübt: „Wir haben geglaubt, mit allem schon fertig zu sein, in Wirklichkeit ist nichts fertig, und es ist ein Irrtum zu glauben, daß es auf dieser Welt nur Schwarz und Weiß gibt.
Das wiederentdeckte Thema der Liebe kreist durch alle Bereiche sowjetischer Darstellungskunst. Wir kennen im Westen Rosows „Wenn die Kraniche ziehen“ in der Regie Kalatosows, Lawrenjews „Der Einundvierzigste“ in der Regieführung verhaltener Filmkunst Tschuchrais, Korolenkos "... und alles verweht der Schnee in der an die zwanziger Jahre erinnernden Regiemeisterschaft Gaidais und Newsorows oder auch Scholochows, von Gerassimow zur Aufführung gebrachten „Stillen Don“. In ihnen allen tritt das Politische letztlich vor dem warm und echt geschilderten Liebesschicksal der Helden zurück. Diesen Eindruck können auch propagandistische Retuschen, wie beispielsweise am Schluß der „Kraniche“ — die Delegierung der vom Krieg zerbrochenen Liebe an das „Kollektiv“, symbolisiert durch Verteilung des für den Heimkehrer bereitgehaltenen Blumenstraußes an die Umstehenden — nicht ändern. Daß keine dritte Instanz, weder die Schule, der Komsomol noch die Partei, helfen können, wenn junge Menschen von der Liebe gefangen werden, erzählt ein anderer Film („Erzählung von der ersten Liebe“). Er enthält einen Dialog, der symptomatisch für den Motivwechsel in den erwähnten wie manchen anderen sowjetischen Filmen ist: „Warum interessierst Du Dich eigentlich für den Menschen?“ — „Nicht deshalb, weil man den Mensdren in der Wandzeitung behandeln muß.“ „Du bist ein sddechter Kommunist, weil Du nidits vom Mensdten weißt.“
Selbst in der Architektur brach sich das Neue Bahn. Der in der ganzen Welt beschmunzelte „Zuckerbäckerstil" der Stalin-Ara wurde hier und dort durch moderne Baukunst ersetzt. Der stets „hellhörig“ und sorgfältig beobachtende deutsche Berichterstatter Kurt Welkisch schrieb
In den Hochschulen meldeten sich lauf und vernehmlich die Studenten in öffentlichen Diskussionen zu Wort. Das Motto dieses Kapitels stammt von einem Moskauer Studenten. Bei einer Besprechung des Dudinzewschen Buches prägte er das historische, leider nicht mehr aktuelle Wort von der „groben Lüge“ der „bisherigen" Literatur und der Literatur der „großen Wahrheiten“, die damals anzuheben schien. Besonders waghalsige Äußerungen fielen während der LIngarnkrise. Ein Diskussionssprecher soll in Gegenwart des Komsomolsekretärs, der auf Grund des Protestes der Studentenversammlung dem Redner nicht das Wort entziehen durfte, gesagt haben: „Man muß sidt fragen, ob die Mißaditung der Besdtlüsse des XX. Parteitages nidit audt bei uns eine soldte Entwiddung heraufbeschwören könnte und ob unsere Werktätigen sidt nidit eines Tages unter dem Banner Lenins gegen ihre verbürgerlidtten, verbürokratisierten Ausbeuter erheben werden?“ Die Parteiführung mußte gegen die „aufsäßige" Studentenschaft vorgehen, wollte sie an den Universitäten studentische Initiative wie in Ungarn und anderen „Volksdemokratien“ verhindern. Sie ließ das Rektorat der Moskauer Universität, der Hochschule, die die Elite der sowjetischen akademischen Jugend in ihren Mauern beherbergt, am 3. Dezember 1956 140 Studenten relegieren. Nicht verbannen konnte sie die heimlichen oder halboffiziellen politischen Diskussionen. Der Moskauer Austauschstudent der Cambridge-Universität, Rex Brown, berichtet über ein sehr offenes und aufschlußreiches Gespräch mit einem russischen Studenten
„Sie werden es. Je weniger das Volk sidt um seine tägliche Nahrung und seine Kleidung Sorgen machen muß, je mehr Zeit es zum Denken haben wird, desto lauter wird es den Ruf nadt größerer Freiheit erheben. Aber freilidi wird es einige Zeit dauern, bis es so weit ist.“
Wie stark gerade die sowjetische Jugend auf eine Liberalisierung und Vermenschlichung des Lebens drängt, wie sehr sie sich nach der Wieder-einsetzung der Werte, die das Leben lebenswert machen, sehnt und wie stark es dabei dem guten russischen Erbe verbunden bleiben will, möge ein Gedicht veranschaulichen. Der sechsundzwanzigjährige Dichter Jewgenij Jewtuschenko bekennt weise im Poem „Woher sind sie?“
Die „Lösung“ mit den Studenten machte Schule. Die Parteiführung hatte von ihrem Standpunkt aus ja durchaus „recht“. Nicht allein das an allen Ecken abbröckelnde Dogmengebäude, schon die nackte Selbsterhaltung und vielleicht auch die Staatsraison zwangen sie zum Einschreiten, wollte sie verhindern, was der eine Student vorausgesagt hatte, nämlich ein Ungarn in der Sowjetunion. Man besann sich auf die zweite „R e n e s s a i n c e“ auf die Erneuerung der zwanziger Jahre im geistigen Leben der Sowjetunion nach dem Kriege, als es überall Ansätze innerer Selbstbefreiung gab. Damals hatte der „Politruk“ für Kulturfragen von der Partei, Shdanow, diese noch im Keime zu ersticken gewußt. Diesmal war die große Aufgabe schwieriger. Das sich über Nacht ausbreitende „Tauwetter“ hatte schöne Reise sprießen lassen. Wie sollte man sie aus der Welt schaffen, ohne in den Stalinismus oder in die sogenannte Shdanowschtschina zurückzufallen?!
Chruschtschow beschritt auch hier einen etwas gemäßigteren Weg, der freilich die gleichen Früchte zeitigen sollte. Er ergriff drei Maßnahmen. Mit der ersten, der eigentlich-politischen, macht er es sich unglaubwürdig einfach. Er beschuldigte just den stalinistischen Flügel der ausgebooteten Malenkow-Molotow-Gruppe und namentlich den Kulturbeauftragten S c h e p i 1 o w , jene Tendenzen begünstigt zu haben. Es ist schwerlich anzunehmen, daß gerade diejenigen, die Chruschtschow die Warschauer und die Budapester Rebellion als Folgen seiner Liberalisierung vorhielten, analoge „Experimente“ in der Sowjetunion riskieren wollten, um an der Macht zu bleiben. Schepilow hatte sich im Gegenteil wiederholt für die „Volks“ -, d. h. Parteiverbundenheit der Kunst ausgesprochen. Die Vorwürfe waren schwer genug. Man beschuldigte die „Abweichler“ unter den Schriftstellern der „Fraktionsbildung“ und des „Revisionismus“.
Die zweite Maßnahme war personalpolitischer Natur. Sie richtete sich gegen die Redaktion und Herausgeber von Blättern und Sammelbänden, die jene Stimmen zu Gehör gebracht hatten: in Leningrad gegen die „Literatur-Tribüne“ (Tribuna Literatury) und „Die Brandung“ (Priboj), in Moskau gegen die „N e u e W e 11“ (Novyj mir) und das „Literarische Moskau" (Literaturnaja Moskva), um die wichtigsten zu nennen. Der Sündenkatalog war bunt: Sentimentalität und Naturalismus, Flucht in die Ferne, Abkehr von der Aktualität, Bevorzugung negativer Erscheinungen, Entstellung der sowjetischen Wirklichkeit, „lügenhafte Darstellung der Beziehungen des Sowjetmenschen zu seiner Umwelt“. Massiver wurde man bei der beispielhaften Analyse einzelner Stücke. Gegen Walzewas „Wohnung Numero Dreizehn“ wetterte das führende Organ, die „Literaturzeitung“ (Literaturnaja gazeta): „Wer ist dieser Oberst Kowalew?“ „Ist er ein Schwein, das sich den Organen des Staatssicherheitsdienstes zur Verfügung gestellt hat? Ist er ein Klassenfeind oder ein Betrüger, der sich in die Reihen der Sowjetarmee eingeschlichen hat? Nein, keineswegs, Kowalew ist nach der Beweisführung des Dichters ein Produkt unserer sozialistischen Gesellschaftsordnung, und erst die Sowjetmacht hat diesen Menschen verdorben.“
Die Angriffe richten sich in erster Linie gegen die Verantwortlichen für das Erscheinen solcher Arbeiten. Die Zeitschrift „Moskau“ zog die'im übertragenen Sinne sicher zutreffende allgemeine Folgerung: „Entweder tragen wir den Revisionismus zu Grabe, oder der Revisionismus bringt uns den Tod. Eine dritte Lösung gibt es nicht.“ Interessant sind die praktischen Konsequenzen. Der „methodische“ Unterschied gegenüber früher ist frappant. Niemand wurde von der politischen Justiz belangt, niemand aus der Partei ausgeschlossen, niemand vom Schriftstellerkongreß ausgeschlossen. (Der „Fall“ Pasternak kam später; er steht auf einem anderen „Blatt“). Wo es früher nur die „Wahl“ zwischen freiwilligem und gewaltsamen Tode, zwischen Gefängnis und Verbannung gab, ergaben sich nun für den einzelnen Folgen, die man vergleichsweise als Bagatellprozesse bezeichnen muß.
Lim es an ein paar Beispielen zu illustrieren: Konstantin Simonow, der Herausgeber der „Neuen Welt“, im Schriftstellertum der Sowjetunion eine bedeutende Erscheinung, hatte sich mit Ehrenburg stark literaturkritisch exponiert. Sonst anpassungsfähig wie er, verharrte er diesmal mit ihm zunächst auf dem bezogenen Vorposten. Man griff ihn und seine Redaktion äußerst scharf an. Chruschtschow schaltete sich persönlich ein. In der Presse wurde seine Erzählung „Noch ein Tag“ sorgfältig „durchleuchtet“. Simonow hatte sich an das „heißeste Eisen“ herangewagt. Er erklärt die Feigheit eines Regimentskommandeurs vor dem Feinde, die vom Kriegsgericht geahndet werden muß, mit dem Leidensweg des Menschen, der unschuldig in den Folterkammern der NKWD zerbrochen wurde. Es liegt natürlich nahe, daß die parteiische Presse zwischen der „literarischen“ Gesinnung Konstantinows und etwa der Dudinzewschen Parallelen erkennt, der seinen Roman ungekürzt in dessen Zeitschrift bringen durfte. Lind das „Unmögliche“ wurde möglich: Konstantinow blieb in seinem Amt. Er hat später allerdings ein Pater-peccavi abgelegt. Die Schriftleiterin des Jubiläumsalmanachs „Die Brandung“, Wera Panowa, Verfasserin der „Jahreszeiten“, reagierte für sowjetische Verhältnisse ungewöhnlich souverän. Sie stellte ihr Amt zur Verfügung, als die Leningrader Parteileitung sich in die Angelegenheit einmischte. (Man halte sich demgegenüber das Schicksal Marina Zwetajewas unter Stalin vor Augen, die bald nach ihrer späteren Rückkehr aus der Emigration, 1941, keinen anderen Ausweg als den Selbstmord sah!). In anderen Fällen gab es aber auch massivere Eingriffe, „Relegationen“, wie bei den Studenten. So wurde zum Beispiel der Redakteur der Zeitschrift „Der sowjetische Schriftsteller“ (Sovetskij literator), V. R u d n y j , seines Postens enthoben.
Die dritte Maßnahme Chruschtschows war kulturpolitischer Art. Es wurde eine Sitzung und Tagung nach der anderen anberaumt — zum Behufe der Kritik und Selbstkritik. Die bedeutendsten unter ihnen sind: die Beratung der Sowjetschriftsteller mit der Parteiführung am 13. Mai 1957, der am 19. Mai 1957 folgende offizielle Empfang der „Kunstschaffenden“ sowie die Zusammenkunft des Parteiaktivs der Schriftsteller im Juli 1957 mit den drei Reden Chruschtschows. Es sind die Monate später veröffentlichten Vorträge, in denen Chruschtschow die „Lehre aus den Ereignissen in Ungarn“ zog und die „Abtrünnigen“ mit der „Konterrevolution“ in einem Atem nannte. Aber der Akzent wird wiederum anders als früher gesetzt. Die Beschuldigten werden nicht von oben her zu „Volksfeinden“ gemacht, sondern sie werden darauf aufmerksam gemacht, daß die Gegner ihr Werk so mißbrauchen könnten.
Man versuchte es zunächst durchaus „im Guten“.
Die Reaktion der so Angesprochenen war überraschend. Sie war, wie im Falle Panowas, verblüffend neu. Die „Angeklagten rührten sich nicht. Sie hüllten sich in Schweigen. Auffällig bei der nun folgenden Frontenbildung war, daß sich die Grenzen zwischen Parteiangehörigen und Parteilosen verwischten, ja das die Positionen vertauscht wurden. Die öffentliche und interne Kritik erhielt mehr Farbe und bekam neue Töne. Auf der durch die Parteiveranstaltungen initiierten Sitzung des leitenden Gremiums des sowjetischen Schriftstellerverbandes, Mitte Mai 1957, hatte der parteilose (!) Literaturfunktionär Leonid Sobo le w noch kameradschaftlich geworben: „Es ist bekannt, daß in der Musik die Pause manchmal mehr Gefühle und Gedanken ausdrückt als die Melodie oder der Akkord. Euer Schweigen, Genossen Schriftsteller, ist gefährlich! Was bedeutet es? Was steckt dahinter?“ „Wißt Ihr denn, daß man in der Westpresse Eudt, die Ihr heute hier auftreten solltet. . . zu eurer Verschwörung des Schweigens auffordert?“ „Ihr werdet sprechen, denn es gibt auf unserem Planeten noch Wichtigeres als die kleinen Streitereien in der Moskauer Organisation — es gibt den alten Streit der zwei Systeme.“
Die Reaktion auf diesen Appell war erneut unerwartet und ungewohnt. Die Einen schwiegen weiter, die Anderen redeten, aber sie verteidigten die von den Angegriffenen bezogene Position, sei es direkt oder indirekt.
Diese repräsentierte kein geringerer als I 1 j a E h r e n b u r g. Ehrenburghat in Lektionen über die französische Kultur sowie in kulturkritischen Abhandlungen eine Lanze für eine freiwilligeSelbstkon trolle künstlerischen Schaffens gebrochen. In den Moskauer Vorlesungen vom Dezember 1957 hat er sich den Hinweis erlaubt, daß im Westen ein Fabrikant, der wirkliche Macht besitze, noch lange nicht als zuständig gelte, um den Wert einer literarischen Neuerscheinung zu beurteilen.
Er mochte die Bemerkung des ihm nahestehenden Kollegen Alexander Kron im Auge haben — mit dem er in den „Aufzeichnungen eines Schriftstellers" (Literarisches Moskau, März 1957, 2. Band) Marina Zwetajewa verteidigt hattedaß in der Sowjetunion „jene die schlechter schreiben und weniger können, den Auftrag haben, jene zu lenken, die besser schreiben und mehr können“. In den „Lehren Stendhals“
(Ausländische Literatur, Juni 1957) argumentierte Ehrenburg: „Wenn die . Gesellschaft'einem Newton, Kopernikus, Mendelejew oder Einstein hätte befehlen können, was sie zu suchen und zu finden haben, die Welt bedürfte wahrhaftig nicht mehr der Genies.“
In einem großen Artikel „Eine notwendige Erläuterung“ hatte Ehren-burg vor Chruschtschows Eingriffen sogar in der offiziellen „LiteraturZeitung“ ausführen dürfen, daß Literatur und Kunst ihrem Wesen nach keine administrativen Maßnahmen vertrügen. Er definiert den „sozialistischen Realismus“ als Weltanschauung und folgert: da er keine Form und kein Stil der Kunst sei, könne es auf diesem Gebiet auch in der Sowjetunion verschiedene Schulen, Strömungen und dergleichen geben. Man müsse, unabhängig vom schwankenden internationalen politischen Klima, in regen geistigen Austausch mit dem Ausland treten. Auch hier wirke sich die Steuerung von außen und oben negativ aus. Ehrenburg meint: „Unser Zugang zur amerikanischen Wissenschaft, zur englischen Literatur, zur französischen Malerei darf nicht davon abhängig sein, in welcher Laune Herr Dulles morgens aufgestanden ist, welche Rede Herr Selwyn Lloyd gehalten hat, welcher Ansicht die französischen Minister sind.“ Wie stark die Erscheinungen auf dem sowjetischen Büchermarkt in der Beurteilung außerliterarischen Gesichtspunkten unterlägen, macht Ehrenburg am Beispiel Wera Panowas deutlich. Ihr Roman „Jahreszeiten“ wäre zunächst begeistert ausgenommen worden, aber später — wahrscheinlich, nachdem sie in Leningrad wegen der Differenzen mit der Partei ihren Redakteurposten zur Verfügung gestellt hatte — sei ihr Buch in den Zentralorganen der Partei verurteilt worden. Ehren-burg postuliert: „Meiner Meinung naclt müssen Bücher diskutiert werden, sollen verschiedene Meinungen darüber zustande kommen, aber es soll auf keinen Fall administrativ entschieden werden, seien die Bücher nun gut oder schlecht.“
IV. Wladimir Dudinzew durch Lopatkin:
,. Nicht vom Brote allein lebt der Mensch N
„ . . . ohne Wahrheit gibt es kein Glück!" (Ausspruch eines jungen sowjetischen Dichters auf einer Schriftstellertagung). i. „Das Tauwetter“ war der Parteiführung gerade noch recht. Sic trat schließlich selber für die Schmelze Stalinscher „Vereisung“ ein. Zwar prallte Ehrenburg schon relativ weit vor, aber er subsummierte alles unter eine passable Parole. Er sprach von „unserem sowjetischen Humanismus“, und in seiner Novelle steht der Satz: „Unsere Menschen sind wunderbar.“ Das Buch durfte, wie es scheint, unkorrigiert erscheinen, und zwar sowohl in der Sowjetunion wie in den „Volksdemokratien“. Sogar in Ost-Berlin ist es heute noch im Verkauf.
Bei Wladimir Dudinzews (geb. 1919) „Nicht vom Brote allein“
Als solcher nahm er sich nun Rechte heraus, wie sie Ehrenburg nie gewagt hätte. Er tat es mit dem Anspruch der Kriegsgeneration, die in dem Glauben gekämpft, geblutet und gesiegt hatte, daß es nach dem Kriege anders werde. Lind er tat es mit den vielen anderen, von denen oben die Rede war. Sie wollten kein zugebilligtes Tauwetterquantum, sondern einen richtigen Frühling. Aus der gedulteten Schneeschmelze drohte ein Sturzbach zu werden. Schon der Titel war ein Fanal: der aus der Verbannung zurückkehrende parteilose Field des Romans erteilt seinen ehemaligen Gegnern eine Lektion mit einem Bibelwort.
Ehrenburg hatte seinem Sibirienheimkehrer Wyrubin die Rolle bescheidener, glücklicher Wiedereingliederung eingeräumt. Dort heißt es
. . dann kam ich zu mir, dachte an die Arbeit, überlegte, wohin ich fahren soll, wozu ich noch tauge.“ Nach der Rückkehr: „Ich gewöhne mich ein.“ Lind schließlich: „Man hat mich wieder ausgenommen . . .
Parteizugehörigkeit seit neunzehnhundertneunzehn.“ Kein Wort der Anklage, nicht einmal des Mißmuts. Dudinzew ist anspruchsvoller. Er fordert für seinen „Spätheimkehrer“ Lopatkin nicht nur die formelle Rehabilitierung, sondern den ihm zustehenden Platz in der gesellschaftlichen Hierarchie, d. h.den Ersatz der Apparatschiki durch die unschuldig Verurteilten im Sinne politischer Wiedergutmachung
jetzt, eine Datscha. . . einen Televisor. . .“, antwortete Lopatkin mit dem Titelsatz: „Nicht vom Brote allein lebt der Mensch, wenn er ein echter Mensch (nastojascij) ist.“ Das ist nicht mehr des Marxismus'Weisheit letzter Schluß. Der Satz entstammt einer Quelle und Vorstellungswelt, die auf die Dauer den Kommunismus von innen her am stärksten bedroht. Wie sehr man sich dieser Gefahr bewußt ist, zeig•t die erneute Verstärkung der antireligiösen Propaganda im Ostblock. 2.
Es ist psychologisch sehr verständlich, wenn selbst der einer neuen Entwicklung aufgeschlossenere Teil der sowjetischen Oberschicht sich gegen das Buch Dudinzews ausspricht. Der Roman ist ein echtes Spiegelbild der bürokratisch-diktatorischen Periode des sowjetischen Staates und damit ihrer heutigen Führungsschicht. Mancher wird sich in der sorgfältigen Porträtierung bis hin zu Körper-und Verhaltungsmerkmalen wiederfinden. Aber Dudinzew zeigt darüber hinaus — und das ist die „progressive“, die hoffnungsfreudige Note seiner Analysen — den großen noch erhaltenen oder in der Bedrängnis neu gewonnenen Reichtum russischen Menschentums, auf dessen potentielle Kraft es in Zukunft allein ankommen wird. Der Autor bekennt sich zu Güte, Treue, Liebe, Wahrhaftigkeit und Gedankenfreiheit als unveräußerlichen Menschenrechten. „Sie sind noch nicht verschwunden; man kann ohne sie nicht leben. Ich glaube an sie“
In der Sowjetunion wird viel von Realismus gesprochen. Hier liegt es vor, das Bild der sowjetsozialistischen Realität. Es nutzt nichts, die Augen davor zu verschließen: die humanitären Kräfte sind da, die nach jahrzehntelanger Stauung und Verdrängung nach Auswirkung streben. Auch diejenigen sind vorhanden, die das erkannt haben und beim Namen zu nennen wissen. Ihr Bündnis entscheidet die Zukunft des modernen Rußland. Das Schicksal der sowjetischen Führung hängt davon ab, ob sie in dieser Frage realpolitisch zu denken und zu handeln vermag.
Die Hauptgestalten des Romans, der Intellektuelle und Erfinder Lopatkin, die ästhetisch veranlagte, sehr empfindsame Frau N a d - j a und der Beamte und Bürokrat Drosdow bilden das übliche Dreiecksverhältnis. Im modernen sowjetischen Roman ist ein solches durchaus nicht üblich, die „Romane“ sind selbst dem sowjetischen Leben natürlich auch nicht fremd. Die Hereinnahme des uralten Themas liebender Zwiespältigkeit gewinnt im Werk Dudinzews eine um so größere Bedeutung, weil das Hinüberwechseln Nadjas von Drosdow zu Lopatkin nur vordergründig psychologische Gründe zum Anlaß hat. Der die Mängel des Systems klar durchschauende Dichter läßt seine Gesellschaftskritik sehr deutlich werden: „. . . eine dieser Ameisen ist immerhin auf eine Birke geklettert, etwas weiter hinauf, und erlaubt sich, für alle zu denken, entscheidet, was das Volk braucht oder was es nicht braucht . . . Ich bin auch eine Ameise!“ schrie plötzlich in Lopatkin etwas auf. „Aber ich steige auf keine Birke, ich schleppe die Raupe, die zehnmal so schwer ist wie ich, auf den Ameisenhaufen"
Der „dokumentarische“ Wert des Buches zeigt sich darüber hinaus in einer Reihe wie beiläufig geschilderter Charakteristiken von Lebens-haltungen, Berufen, Institutionen. Sehr interessant ist die Schilderung der mitmenschlichen Beziehungen in der sowjetischen Schule. Es gibt in ihr, sowohl innerhalb des Kollegiums wie der Schülerschaft, zwei Par-teiungen: die Mehrheit, der es um sachliche Leistung geht und die ein vertrauensvolles, kameradschaftliches Verhältnis verbindet, und die Minderheit oder auch nur die einzelnen, die von Amts oder Charakter wegen Mißgunst säen und den Zorn der anderen ernten. In dieser mehr verborgenen als offenen Auseinandersetzung verwickeln sich beide Gruppen in einen wahren Teufelskreis, der sich für den einzelnen allenfalls durch Denunziation bzw. Resignation auflöst.
Im Westen wird häufig vom sowjetischen Staatskapitalismus gesprochen. Dudinzew braucht den Ausdruck „Kapitalismus“ im privaten Sinne. Es ist bekannt, daß der Rückfall in sogenannte bürgerlich-kapitalistische Neigungen sehr gefürchtet und deshalb in der Presse immer wieder scharf angeprangert wird. Lind doch begünstigt nichts so sehr solche Tendenzen, wie das offiziell eingeführte und verteidigte Akkord-system. „Wie wollen Sie den Kcipitcilistnns in Urjnpins Herz bezwingen?“ fragt in einem vertraulichen Gespräch über den Chef einer der „Techniker , deren Verdienst von „der Zahl der gezeichneten Blätter“ abhängt, Lopatkin
In Drosdow und anderen Fabrikdirektoren, Ministerialbeamten und dgl. begegnet uns der Typ des sowjetischen Managers; in Lopatkin, Arachowskij, Busjko die leicht idealisierte Gestalt des sowjetischen technischen Intellektuellen; in dem Kreis um Awdijew die Figur des in die Wirtschaftspolitik eingespannten Wissenschaftlers; in Nadja Sergejewna und deren Freundin Valentina Pawlowna das Bild der liebenden russischen Frau.
In dem breit gestalteten Bild des russischen Managers erkennt man drei wesensverschiedene Grundzüge. Er ist zunächst eine Erscheinung, wie seine Kollegen überall in der Welt auch: er überfordert sich selbst in körperlicher wie geistiger Hinsicht. Pflichtbewußt, organisationstüchtig und praktisch intelligent, hält er in seinem unermüdlichen Eifer alles in Bewegung. Es ist die Lebensform des „Außer-Atem-Seins“. Der zweite Grundzug ist sowjetisch. AIs solcher mißtraut der Manager allen, mit denen er zu tun hat: den Vorgesetzten, Mitarbeitern wie Untergebenen, den Verwaltungsbeamten und Parteifunktionären, den Einzelgängern und „Idealisten“. Die ihn keineswegs überzeugende „Logik“ des „Kurzen Lehrgangs“ der Parteigeschichte muß dafür herhalten, anderen wie sich selbst gegenüber die oft rücksichtslosen Maßnahmen zu verteidigen: „Ich gehöre zu der Proditzentengruppe materieller Werte. Der höchste geistige Wert in unserer Zeit besteht darin, gut arbeiten zu können und soviel wie möglich nutzbringende Dinge hervorzubringen. Wir errichten das Fundament“
Die „Technische Intelligenz“, die neue, mächtige, tragende Schicht der sowjetischen Gesellschaft, verkörpert sich in der Gestalt des Ingenieurs — auch im Werk Dudinzews: die idealtypische Erscheinung des modernen russischen Lebens. Er ist in der Hauptfigur des Romans Lopatkin dargestellt. Lopatkin ist zwar kein Berufsingenieur, aber als Lehrer der Physik technisch schöpferisch aus Passion. Er ist Erfinder aus Idealismus. In dieser Verfassung ist er, wie seine Heldenbrüder aus der klassischen russischen Literatur, zum Leiden und Dulden verurteilt, in seiner Arbeit wie im Privatleben, im Beruf und Liebe. Demgegenüber ist der sowjetische Fach wissensc ha stier dieses Bereichs, in der Zeichnung Dudinzews, unschöpferisch und erfolgsgierig. Mehr noch: er lebt von den Früchten der anderen. Als Gutachter hat er die Möglichkeit, jedes neu aufkommende Projekt von der Tagesordnung absetzen zu lassen und zugleich sich noch dessen Idee für eigene Vorhaben zu bemächtigen. Es wiederholt sich im übertragenen Sinne der obige Vorschlag Ehrenburgs : ,. Wenn Sie das gleiche hohe Ziel uns ver schiedenen Wegen verfolgen, disputieren Sie doch! Ihr Disput wird nur Nutzen bringen“
Der Wissenschaftler wird von Dudinzew nicht besser beurteilt als der Manager. Beide im „sozialistischen Aufbauprozeß“ aufeinander angewiesen, haben sie sich zum Kampfbündnis gegen ihre Rivalen zusammengeschlossen. Das können Parteifunktionäre sein; das werden immer eigenbrödlerische, „erfinderische“ Techniker und Ingenieure sein. Sie sind, nach Dudinzew, die eigentlich-schöpferischen Menschen des Landes, nicht die Wissenschaftler. Man wird an die massive Kritik Makarenko s
Wohl am skeptischsten wird man westlicherseits Dudinzews Bild der altruistischen Frauen gestalt aufnehmen. Zwar ist die russische Frau als selbstlos helfende „Matuschka“ (Mütterchen) und Ärztin den Kriegs-gefangenen in guter Erinnerung, aber man wird das nicht so ohne weiteres allgemein, insbesondere für die jüngeren sowjetischen Frauen und Mädchen gelten lassen wollen. Wir wollen hier nicht mit Dudinzew rechten, wieweit sein Ideal der modernen russischen Frau der Wirklichkeit entspricht und schon gar nicht bezüglich der Frage, wieweit man es verallgemeinern kann. Ähnlich steht es in gewisser Hinsicht um die Gestalt Lopatkins.
Der Kern ist damit nicht getroffen. Denn an dieser Stelle wird man mit Dudinzew erkennen müssen: es gibt den „idealistischen“ russischen Menschen, wie Dudinzew ihn zeichnet, sofern und soweit nicht dem objektiven, so doch dem subjektiven Charakter nach. Lind vielleicht hat der feinsinnige Beobachter Curt Emmrich mit der gewagten Prognose recht, wenn er feststellt
Außer Zweifel, Dudinzew ging für sowjetische Begriffe zu weit. Hinzu kam die Wirkung. Der Roman war schon im ganzen Lande bekannt, bevor er in Buchform erschien. Die Zeitschrift „Neue Welt“ ging von Hand zu Hand. Die Partei griff ein. Die Arbeit, zunächst sogar in der offiziellen „Literaturzeitung“ großartig angepriesen, wurde verfemt und sollte nicht in Buchform erscheinen. Die Aufnahme im westlichen Ausland tat ihr Übriges. Der Hamburger „Verlag der Sternbücher“ ließ sich trotz der Einwände des Autors nicht davon abbringen, der Übersetzung die ursprüngliche Fassung zugrundezulegen. Inzwischen war das Übersetzungsrecht einer französischen Agentur übertragen worden. Der sowjetische Auslandsvertrieb „Das internationale Buch“ (Mezdunarodnaja kniga) hatte die „Vermittlung“ übernommen. Aber das Buch trat seinen „Bestseller“ -Weg mit der deutschen Ausgabe an.
Dieses „Echo" von draußen wurde Dudinzew letztlich zum Verhängnis. Er war der „willkommene“ Fall, um als exemplarischer Sündenbock auf dem Altar sowjetliterarischer „Rechtgläubigkeit geopfert zu werden. „Der Kommunist", das ideologische Organ des Zentralkomitees der Partei, sprach von lügnerischer Verallgemeinerung und einem entstellten Bild sowjetischer Wirklichkeit. In der sozialistischen Gesellschaft könnten lediglich „hoffnungslos zurückgebliebene Leute eine Anwaltrolle zugunsten des Individuums gegen das Kollektiv übernehmen.
„Jetzt ist nur der Humanist, der das Kollektiv festigt, der den Kollektivismus lehrt.“ Zur Frage der schöpferischen Freiheit in der Kunst erklärt das Blatt: „Gibt es den wirklich eine , absolute'Freiheit des Schöpfertums, eine Freiheit , von allem', die die bürgerlichen Ideologen kolportieren? Die Tatsachen sagen: nein, es gibt sie nicht."
Selbst Chruschtschow griff in den Streit um den Roman ein. In den bekannten drei Reden vom Mai-Juni 1957 führte er aus: „In seinem Büchlein , Nicltt vom Brot allein, das jetzt reaktionäre Kräfte im Ausland gegen uns auszunutzen suchen, sind negative Tatsachen voreingenommen herausgestellt und in tendenziöser Weise von einer Position beleuchtet worden, die uns gegenüber unfreundlich ist." Er bezeichnet das Buch trotz gewisser positiver Züge als „im Grunde genommen verleumderisch" und nennt es in einem Atem mit dem anderen Extrem, „süflliche Flitterbilder“ und „widerlichen Kitsch“ zu demonstrieren, wie es beispielsweise in Stalins Lieblingsfilm „Das unvergeßliche Jahr 1919“
geschehen sei.
Gleichzeitig wurde Dudinzew vor den Vorstand des Schriftstellerverbandes zitiert. Dudinzew verteidigte sich. Die Begründung ist interessant. Er spricht aus seiner Erfahrung als Frontsoldat; er spricht mit dem Selbstbewußtsein und der Nüchternheit der Kriegsgeneration 26a): „Ich entsinne mich der ersten Tage des vaterländischen Krieges, als ich im Schützengraben lag und über mir ein Luftkampf tobte. Die deutschen Jäger schossen unsere Flugzeuge ab, obwohl die unseren ihnen zahlenmäßig weit überlegen waren." . . . „Die ganze Zeit hatte ich gehört und geglaubt, daß unsere Flugzeuge besser und schneller seien als die deutschen. Und plötzlich wußte ich, wie unsinnig und wie gefährlich es ist, die eigenen Schwächen rosa zu übertünchen und die Wirklichkeit mit Hilfe pompöser Worte beiseite zu schieben.“ Dudinzew wird deutlich, wie sein Lopatkin: „Diese Kritiker mit ihrem drohend erhobenen Krückstock haben uns jedenfalls nicht weitergebracht und audt diejenigen nicht, die uns immer au dem Seil halten wollen, mit dem man Kinder sichert, wenn sie das Schwimmen lernen.“ Er schließt mit der selbstherrliehen Empfehlung an Vorstand und Parteirevisore: „Ich meine man sollte uns ruhig schwimmen lassen — wir werden schon nicht ertrinken!“
In der Sitzung kam es zu stürmischen Szenen, weil der zweite Haupt-schuldige, Konstantin Simonow, in die gleiche Kerbe schlug und dem Roman eine programmatische Bedeutung zusprach. Er hatte vor einem halben Jahr in seinem Journal („Neue Welt“), wie Ehren-burg, gegen die Bevormundung durch den Apparat opponiert, und verteidigte nun, wie anderenorts jener, die in seiner Zeitschrift bezogene Position.
Auf die Dauer vermochten jedoch weder Dudinzew noch seine Gönner die „Stellung“ zu halten. Zum Verhängnis wurde ihm, wie dann in viel stärkerem Maße Pasternak, letztlich die Art, wie man in der westlichen Presse sein Buch aufnahm. Nun bekannte er, wie es scheint, in echter Reue
Dudinzew mußte sich ebenfalls zu einer Verbeugung vor der Partei bequemen. Er habe ihre Rolle in leichtsinniger Unerfahrenheit nicht richtig zu gestalten vermocht. Er kündigte einen Ergänzungsband, einen zweiten Teil des Romans, „Die neue Generation“ an, in dem er es „besser“ machen will. Wladimir Dudinzew ist und wird, wie man bei ihm erwarten darf, in seinen Zugeständnissen auf Kosten der Wahrheit so sparsam wie möglich bleiben. Wer dürfte bei uns, wer wollte drüben den ersten Stein der Anklage auf ihn werfen?!
Der eigentliche Antrieb im Schaffen Dudinzews wird aus keiner „Anti" - und keiner „Ismus“ -Haltung geboren. Im Gespräch mit Ruge gibt der nominelle Parteigenosse und gute Sowjetbürger Aufschluß über die ethische Motivation seines Lebens und Wirkens
Damit — nicht mit der dichterischen Gestaltungskraft eines Gorkij oder Pasternak — stellt sich Dudinzew in die große, reiche Tradition der russischen Literatur. Wie sehr er ihrem Ethos und ihrem Thema verbunden ist, bezeugen die schönen Schlußsätze seines deutschen Vor-wortes
V. Doktor Shiwago alias Boris Pasternak:
„Der Mensch wird geboren, um zu leben, und nicht, um sich auf s Leben vorzubereiten.
„Vergeblich ist es in den Jahren des Chaos Das gute Ende zu suchen.
Den einen iällt es zu, zu straien und Buße zu tun, Den anderen auf Golgatha zu enden.
Wie ihr, bin ich — ein Teil der großen Umstellung der Termine, Und ich empfange euer Urteil Ohne Zorn und ohne Vorwurf!
Wahrscheinlich werdet ihr nicht erzittern, Wenn ihr einen Menschen wegfegt.
Nun, Märtyrer des Dogmas, Ihr seid auch — ein Opfer eurer Zeit.
Dreißig Jahre habe ich ausgetragen Die Liebe zur teuren Heimat, Und eure Verzeihung Erwarte und verlier ich nicht . .
Boris Pasternak, übertragen von Artur Bay 1.
Boris Pasternak ist das letzte und größte Opfer, das der „Tauwetter" -Versuchung unterlag. Zu früh und zu laut hat er mit dem „Schwanengesang“ seines Lebensabends ein dreißigjähriges Schweigen gebrochen. Sein Spätwerk hätte erst als Nachlaßwerk das Licht seiner unduldsamen Umwelt erblicken dürfen. Pasternak beansprucht Gehör für eine Botschaft, die sein Land noch nicht aufzunehmen vermag. Vielleicht wird es ihm erst nach dem Tode den Tribut entrichten, den es ihm schuldet. Als der Dichter in den ersten Vorfrühlingswehen der Nachkriegszeit wieder Gelegenheit hatte, aus seinen Werken vorzutragen, ereignete sich etwas, was die spätere Selbsttäuschung vielleicht nicht unerheblich mitbestimmte. Der Saal erhob sich und brachte dem „Wiederaulerstandenen“ eine begeisterte Huldigung dar. Als Pasternak der Text eines seiner früheren Gedichte entglitt, vernahm man eine Stimme aus dem Publikum, die es auswendig fortführte — und viele Stimmen schlossen sich an, um es nun dem Dichter gemeinschaftlich vorzutragen. Sichtlich bewegt antwortete Pasternak: „Dank Euch, weine Lieben!“ (Spasibo vam, dorogie).
Mit vielen anderen hat sich Boris Pasternak beim Versuch einer Wiederbelebung der schöpfungsfreudigen zwanziger Jahre unmittelbar nach dem letzten Krieg getäuscht; er täuschte sich mit unzähligen Gesinnungsgefährten auch diesmal. Es ist die tiefe Tragik seines Lebens, daß in und mit seinem Lebenswerk „Doktor Shiwago“ die so verheißungsvoll begonnene dritte „Renaissance“ in der sowjetischen Literatur und Kunst zu Ende ging. Gewiß, Pasternak hat dieses Ende nicht gewollt, er hat im Gegenteil der hoffnungsvollen Entwicklung einen neuen Impuls und den eigentlichen Gehalt geben wollen. Aber eben damit hat er ihren Zusammenbruch mitverschuldet.
Ehren bürg blieb, wie immer, in den Grenzen des noch Vertretbaren. Er war außerdem, wie Simonow, Scholochow und andere, stets bereit, zu gegebener Zeit, erneut zurückzustecken. Heute schreibt er beispielsweise im Regierungsblatt außenpolitische Kommentare und hat es wieder soweit gebracht, von Chruschtschow aufgefordert zu werden, ihn gemeinsam mit Scholochow auf der Amerikareise zu begleiten. D u d i n z e w, nicht so begabt und prominent wie Ehrenburg, konnte, obwohl waghalsiger und geradliniger als er, sich eben noch halten. Er glitt auf dem von Ehrenburg gespannten Seil aus, versuchte es von Neuem, stürzte, fing sich aber rechtzeitig ab — und kehrte auf halbem Wege um. Von außen betrachtet, fällt ihm zur Last, das „Tauwetter“ zum Stillstand gebracht zu haben. Pasternak aber, bedeutender als Ehrenburg, gewissenhafter noch als Dudinzew, und unbekümmert wie er, erklomm den allein von Routiniers beherrschbaren Draht, wagte einen halsbrecherischen Hochseilakt, stürzte, berauscht vom Applaus, im letzten Augenblick ab und riß das Seil mit in die Tiefe. Einem von unsichtbarer Hand gehaltenen Netz verdankt er sein „Leben“. Immerhin: der Frühling fiel zurück in den Winter, die Vereisung setzte wieder ein.
Boris Pasternak überschritt zeitlich und geistig die Grenzen der Sowjetunion und arbeitete sich in einen „Raum“ vor, in den ihm weder die offizielle „Gesellschaft“ noch die Masse des Volkes heute schon folgen kann. Er hat sich nicht aus der Gemeinschaft seines Volkes ausgeschlossen, wie ihm drüben unterstellt wird; diese ist noch nicht reif, um ihn als einen der Treuesten und Besten zu begreifen. Im Grunde vertritt er formal das, was sonst vom „sozialistischen Realismus“ gefordert wird, das Morgen im Heute vorwegzunehmen, den kommunistischen Utopismus. Auch dort, wo er, wie namentlich im „Shiwago“, die Vergangenheit zum Gegenstand hat, zielt er programmatisch auf ein „anderes“, auf ein kommendes Rußland, ein Rußland, wie es dem Wollen nach immer war, sein soll — und sein wird. Das bleibt Pasternaks Hoffnung, wie er sie in dem zu früh erschienen Roman seiner Nachwelt überliefern wollte. Es hat etwas von der Vision eines „johanneischen" Rußlands
Darin besteht das eigentliche „Verbrechen“ Boris Pasternaks, daß er von. einem russischen „Kommunismus“ träumt, der mit einem anderen Lebensinhalt als der bolschewistische gefüllt wäre. Es ist dazu ein Inhalt, zu dem sich zu bekennen eine der sieben Todsünden eines „fortschrittlichen“ Menschen (im Sowjetverstande) ist. Es ist das offene Bekenntnis zum Gehalt des Evangeliums. Die Freundin Shiwagos, die spätere „Revolutionärin“ Lara lauscht hingebungsvoll der Verkündigung in der Kirche: „Selig sind die geistig Aruten . . . Selig sind die Leidtragenden . . . Selig sind, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit . . In einem Gespräch zwischen Shiwago und dessen Kriegsgefährten Gordon heißt es: das Evangelium verkündete, daß es „in der vom Herzen erkorenen neuen Art des Daseins und neuen Form der Gemeinschaft, die sich Reich Gottes nennt, keine Völker gibt, sondern Persönlichkeiten!“ Und in einem anderen Zwiegespräch anderer Shiwago nahestehender Personen steht der Satz: die Ideen der „freien Persönlichkeit“ sowie „eines Lebens als Opfer“ seien Wesenselemente, „ohne die der moderne Mensch nicht denkbar“ wäre. Wer die Persönlichkeit so hoch einschätzt, verfällt leicht in eine andere „Todsünde“, in den — falschen! — „Persönlichkeitskult“. Pasternak preist den Menschensohn Jesus und Gottessohn Christus — den Menschen der Demut — als ein Inbegriff des Menschseins überhaupt. Er fragt: „Wie konnten sie eine Seele von so überwältigender Schönheit und Kraft gehen lassen . . .?"
In „Doktor Shiwago“ erzählt Pasternak die Geschichte einer Einzel-persönlichkeit in der neu erstehenden sowjetischen Gesellschaft. Es ist die Erlebensgeschichte des Dichters im Gegenbilde der Revolution. Es kündet nicht, was näher läge und viele vor ihm getan haben, vom Inbegriff dieser Gesellschaft, dem sowjetsozialistischen Kollektiv. Es verkündet die christliche Idee von der individuellen Eigenart und personalen Freiheit des Menschen — auch in der modernen Massengesellschaft sowjetischer Auflage! Er dokumentiert sie als Realität an Dr. Shiwago, will sagen: an sich selbst
Wer das Lebensporträt Boris Pasternaks kennt, konnte etwas grundlegend anderes auch nicht erwarten. Von seiner Haltung innerhalb des wie ein Schilfrohr schwankenden Sowjetschriftstellertums war schon die Rede. Die Skizze muß ausgefüllt und belebt werden durch farbenreiche Details aus seiner Kindheit und Jugend, seinen Studenten-und Mannesjahren. Es handelt sich nicht um ein Einzelschicksal. Der individuelle Weg Pasternaks verkörpert paradigmatisch den Lebens-und Leidensweg des geistigen Rußland. Es ist mehr als symptomatisch, daß Leo Tolstoj in seinem Leben eine so große Rolle gespielt hat 32a).
Versucht man den Lebenslauf Boris Pasternaks schlagwortartig zu charakterisieren, so könnte man sagen: es war ein Leben aus der Kunst für die Kunst. Schon die äußeren Daten bestätigen das. Aus der Ehe des Kunstmalers Leonid Pasternak und der Pianistin Rosa Kaufmann hervorgegangen, im Lebenskreise von Kunstfreunden ausgewachsen, in einer Zeit russischer Kunstblüte geboren, mit den bedeutendsten Dichtern seiner Zeit verkehrend — lebte er aus der „Vorstellung vom Leben als dem Leben des Didtters“, wie er in der „Schutzurkunde“ bekennt. Sein Vater, Professor an der Kunstakademie, war mit L. Tolstoj eng befreundet
Außer Tolstoj verkehrten im Hause Pasternak die größten Künstler jener Zeit, um dem Vater Modell zu sitzen oder der Mutter zuzuhören. Sie war eine Schülerin Arthur Rubinsteins, die schon als fünfzehnjährige auf Tournee gegangen war. Auch dieser Einfluß wirkte nach. Die Söhne B. Pasternaks spielen wieder die Meisterwerke der Musik. Pasternak erlebt in seinen Kinder-und Jugendjahren den mutigen Aufbruch der russischen Kunst: Skrjabin und Strawinski j, Djaghilew und Gorkij, Malewitsch und G a b o, Chagall und Gontscharowa. Er wurde Zeuge und schon Mitgestalter der ersten „Renaissance“ im frühsowjetischen Kunstschaffen: der Regieführung Stanislawskijs und Meyerholds, der Filmgestaltung Eisensteins und Pudowkins, der Romandichtung Fedins und P i 1 n j a k s, der Lyrik Jessenins und Majakowskijs, der Satire Sosch ts chenko s und Katajews, der Malerei Kandinskijs, der Baukunst Le Corbusiers, der Musik Prokofjews und S c h o s t a k o w i t s c h s.
Er begegnete großen Namen des Auslandes: Rainer Maria Rilke, dem er die „Schutzurkunde“ öffentlich widmete, wie jener dem Vater private Widmungen in Gedichtbände geschrieben hatte; Hermann Cohen und Nikolaj Hartmann, die er in Marburg hörte und in deren Seminar er Referate hielt, wie auch P a ul N a t o r p und Rudolf Stammler; Cohen hätte sein Doktor-Vater werden können, wenn sein Interesse für Philosophie nicht durch eine andere geistige Leidenschaft verdrängt worden wäre: Deutschland, dessen Sprache in seinem Hause gepflegt wird, wurde ihm zur zweiten, geistigen Heimat; neben Rilke ist er stark von Kleist und Lenau beeinflußt worden. Er wird zum Interpreten europäischen Geistes: in den hochgerühmten Übersetzungen Goethes und Shakespeares, Rilkes und Kleists, J. Keats'und P e t ö f i s, Verlaines und H. Sachs', Shelleys und Verhaerens ohne alle nennen zu können. Er pflegte in Rußland Umgang mit den Dichtern B e 1 y j, B a 1 m o n t, G u m i 1 j e w, Z w e t a j e w a, Majakowskij und anderen.
Der Bildungsweg Pasternaks entspricht der Tiefe und Weite dieses geistigen Horizonts. Es war ein humanistischer Studienweg. Er begann mit dem Studium der Jurisprudenz, wie sein Vater, wechselte dann aber von einem Tag zum anderen zur Historisch-Philologischen Fakultät hinüber, wie es ihm Skrjabin, der ältere Freund und Förderer, empfohlen hatte. Seine eigentliche Liebe gehörte der Musik, der ausführenden vor allem; er hört auch Musiktheorie. Er studiert Philosophie, in Moskau und in Marburg. Sie behält ihn gerade solange, wie er seine Bestimmung für ein Reich des Geistes bändigen kann, das ihn schon in der Musik gefesselt hatte und das für ihn „höher“ stand als „alle Vernunft.“ Er verschreibt sich mit Herz, Sinnen und Verstand der Dichtung. Er geht in die symbolistische Schule Blocks und Beyljs, verkehrt im futuristischen Zirkel „Die Zentrifuge“, berauscht sich an Majakowskij und überwindet die Entwicklungsstadien, um eine eigene Stilkunst zu erproben.
Boris Pasternak gilt heute, auch nach sowjetischem LIrteil, als der größte russische Lyriker. Im Westen neigt man dazu — nicht zuletzt im Zeichen der Nobelpreisverleihung —, ihn als „bedeutendsten Dichter" Sowjetrußlands überhaupt anzusehen. Dieses LIrteil wird von der Fachliteratur bestätigt
* Über dem Gesamtwerk Pasternaks liegt, neben aller Leidenschaft und Unbeugsamkeit in Dichtung und Wahrheit, ein anheimelnder Zug stiller Zurückhaltung und Selbstbescheidung. In einem der letzten Gedichte hat er als sein Credo des Poeten geschrieben
Ständig den Schicksalsfaden, /den Faden der Geschehnisse erhaschend /leben, denken, fühlen, lieben, /entdecken.
Oh, wenn ich es nur vermöchte, /und sei es nur bruchstückhaft, /ich schriebe acht Zeilen nieder /über die Beschaffenheit der Leidenschaft! Über die Willkür, über die Schuld, /über die Flucht und Verfolgungen, /über Verfehlungen voller Hast, /über Ellenbogen und Flände...“ 3, Die Geschichte Dr. Shiwagos ist nicht allein die Geschichte B. Pasternaks; sie ist die Geschichte des heutigen russischen Volkes, nicht der sowjetischen Gesellschaft. Die Stationen des Lebens-und Leidensweges Jurij Shiwagos sind uns vertraut, weil sie eine Reihe typischer Merkmale aufweisen, wie sie zum Teil auch in den anderen genannten Schriften jüngerer Zeit pointiert herausgestellt wurden. Die nichttypischen Merkmale gehören in jenes Reich Pasternak’schen Erlebens und Schöpfens, die wie bei jedem großen Dichter ursprüngliche Einheit sind. Dieses Leben und Schaffen ist voller Geheimnisse, Rätsel, Symbole. Sie erschweren die Deutung des Romans, dessen poetischer Gehalt im Schatten des prosaischen Inhalts steht.
Auch in Pasternaks Roman steht ein echter Liebeskonflikt im Mittelpunkt des Handlungsablaufs, wie bei Ehrenburg und Dudinz e w . Aber er ist nicht, wie dort, psychologisch oder soziologisch zu erklären. Er ist mystischer, überpersönlicher Natur und, wie das Ganze der persönlichen Beziehungen und sachlichen Vorgänge, mehr allegorisch zu verstehen. In der Geliebten Schiwagos, Lara Antipowa, verkörpert sich etwas von der unermeßlichen, sich verschenkenden, stets hilfreichen und heimatstiftenden Mutterliebe Rußlands. Das ist die eine Seite. Sie birgt „zwei Seelen“ in ihrer Brust. Sie istdurch ihre Vergangenheit schuldverstrickt. Die „revolutionäre“ Hinwendung zum Neuen bringt nicht die ersehnte „Erlösung“. Sie bringt nur in den Augenblicken berauschender „Seligkeit“ und traumhafter Erinnerung eines Vorgeschmack der Erfüllung, der den faden Nachgeschmack des „Zu spät“ hinterläßt. Es gibt kein zurück mehr, und der Weg nach vorn ist versperrt, weil es zu spät ist.
Doktor Shiwago, Repräsentant des geistigen Rußland, der Arzt, der besten Willens ist zu helfen, wo und wie immer er kann, verfügt nicht über die ausreichenden Mittel dafür. Während er die therapeutischen Möglichkeiten für die Gesundung des Patienten erörtert, hat dieser sich in einem Akt verwegener blutzollender Befreiung vom Lager des Siechtums hochgerissen und stürmt, berauscht von der eingebildeten großen Tat, vorwärts — in die Selbstvernichtung. Der Arzt wird zunächst mitgerissen, glaubt an die Richtigkeit der „revolutionären“ Selbstbefreiung, vertraut auf den Sieg der Vernunft über die Leidenschaft der Macht, erwartet den Triumph der aufbauenden Kräfte über die zerstörenden, ersehnt die Einkehr der Ruhe nach dem Sturm. Er bemüht sich, mit dem Ereignissen Schritt zu halten, klagt sich an, nicht aktiv mitzuwirken, entzieht sich ungewollt der neuen Wirklichkeit, wird von ihr gefordert; aber er kann sich nicht mit all der offenbar werdenden Sinnlosigkeit identifizieren. Es war alles umsonst!
Die Ausweglosigkeit Laras und Jurijs ist nur bedingt selbstverschuldet. Sie ist Schicksal, russisches Schicksal. Andere Gestalten, personifizierte Mächte des Guten wie Bösen, sind an diesem Schicksal mitbeteiligt. Jurij Shiwagos „erste“ Frau kommt wie er aus dem gutsituierten Milieu jener Schicht des alten Rußland, die sich mit Kunst befaßt und zur Intelligenz zählt. Diese gute, bürgerliche Ehe ist von innen her nicht gefährdet. Krieg, Revolution und Bürgerkrieg bringen sie aus dem eingefahrenen Gleis. Das Neue begegnet Shiwago in der Gestalt Laras noch vor der Verehelichung mit seiner Jugendgefährtin Tonja. Es läßt ihn, trotz seiner „Vulgarität“ und Kriminalität, nicht mehr los. Es nimmt ihn gefangen, noch ehe er zum Überläufer wird. Zum Alten findet er nicht mehr zurück. Erst recht kann er Tonja nicht folgen, als sie mit den Kindern und Verwandten Rußland verläßt
Auch Antipow und Lara scheiden, nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind. Antipow, der große, enttäuschte Idealist, muß an sich selbst das Bluturteil vollstrecken, das er über so viele verhängt hat.
Die Mitkämpfer müssen verschwinden, weil sie Mitwisser sind. Das ist die unerbittliche Logik des Revolutionsterrors. Lind Lara, die soviel Leid ertragen und zu lindern wußte, ohne es je überwinden zu können, „stirbt oder verschwindet" — vergessen und namenlos — in der Verbannung, dem geschichtlichen Raum der Selbstversklavung des russischen Volkes.
Das ist das Ende des alten und des revolutionären Rußlands. Es ist zugleich das Ende des Romans. Es bleibt das nachrevolutionäre, das Stalinsche Rußland. Es bleiben die mittelmäßigen und zweitrangigen Figuren. Über sie berichtet der Epilog. Bei D u d i n z e w , Ehrenburg und anderen kehren die Verbannten zwar angeschlagen, aber „voll rehabilitiert“ an ihren Platz zurück: als könnte für sie, wie für die Gesellschaft, das Leben wieder an der alten Stelle beginnen. Aber die Toten der Revolution und der Konzentrationslager können nicht wiederauferstehen, auch diejenigen nicht, die durch Selbstverleugnung geistig gestorben sind. Der alte Shiwago ist tot. Es bleibt nur sein Schemen, der im rechten Augenblick aus der Versenkung auftaucht, der General Jewgraf Shiwago, der sich um den Nachlaß seines Stiefbruders kümmert. Lara ist tot. Es bleibt ihre aus dem Verhältnis mit Jurij hervorgegangene verwahrloste Tochter Tanja, deren Jewgraf sich annimmt. Und es bleiben die Jugendfreunde Jurij Shiwagos, im Laufe der Jahre ihm geistig entfremdet, die Offiziere Gordon und Dudurow. Sie gehörten als Bürgerliche zu den politischen Gefangenen des Systems, aber sie konnten „überwintern“; sie haben sich an der Front des letzten Krieges „freigekämpft“. Sie werden, wie die politischen Heimkehrer der anderen Autoren, auf ihre Weise einen neuen Anfang versuchen.
Sie sind durch die Leiderfahrung geläutert worden.
Ihnen bleibt das Vermächtnis Shiwagos, das sie immer wieder lesen und bald auswendig kennen. Es sind die späteren Nachkriegsjahre, es ist die Zeit des Todes Stalins. Der Name wird von dem Verfasser nicht erwähnt. Aber der Zeitraum ist wichtig. Zwar brachte der Sieg nicht die erhoffte „Befreiung“, sagt Pasternak, aber die Vorwehen der Freiheit erfüllten die Luft. Sie bildeten den „einzigen historischen Gehalt" der Nachkriegsjahre. „Den altgewordeneH Freunden am Fenster schien es, als sei diese innere Freiheit (svoboda dusi) zugegen, als habe sich die Zukunft gerade an diesetn Abend spürbar auf die Straßen niedergelegt, als seien sie selbst in diese Zukunft eingetreten und befänden sich von jetzt an in ihr“
In diesen Schlußabschnitten des Buches verdichtet sich — wie an manchen anderen Stellen auch — die Allegorie zur Symbolik. Schauplatz der Handlung ist Moskau, die „heilige Stadt": „Und das Moskau unter ihnen und in der Ferne, die Geburtsstadt des Autors und die Hälfte dessen, was mit ihm geschehen war, Moskau erschien ihnen jetzt nicht als ein Platz dieser Ereignisse, sondern als Hauptheldin einer langen Erzählung, an deren Ende sie angelangt waren — an diesem Abend mit dem Heft in der Hand“
Der Geist Doktor Shiwagos hat den Ungeist Stalins überlebt. Jurij Shiwago alias Boris Pasternak verkündet: Ich heiße Euch hoffen! 4.
Die große Hoffnung auf den Frühling, der „doch endlich kommen“ muß, hat sich des wiedererwachten russischen Geisteslebens bemächtigt und wird es auch künftig — trotz aller bereits als „schicksalhaft" empfundenen Rückschläge — beherrschen. Sie ist aus dem Gedankenkreis des ganzen Volkes nicht mehr zu verbannen. Das Bild vom hereinbrechenden Tauwetter und Frühling ist auch in Pasternaks Roman die Metapher für das sich immer wieder erneuernde Lebensgefühl. Ehrenburg könnte sie bei ihm entliehen haben, da Pasternak seine Konzeption viel früher entwickelt, niedergelegt und Teile veröffentlicht hatte, wenn das Werk als Ganzes freilich auch später erschien. Ehrenburg ist aber nicht so ideenarm, daß er das nötig hätte. Viel näher liegt die Annahme, daß die Gedankenverwandtschaft bei den wirklich fortschrittlichen russischen Schriftstellern der Gegenwart bis zu den Vorstellungsgehalten der bildhaften Sprache reicht: „Zuerst taute der Schnee von innen her auf, heimlich und versteckt. Als aber die Hälfte des Heldenwerkes vollbracht war, wurde es unmöglidi es länger zu verbergen. Das Wunder wurde offenbar. Unter dem bewegten Schneeschleier kam das Wasser hervor und stimmte sein Lied an. Die undurchdringlichen Schlupfwinkel des Waldes wurden aufgescheucht. Alles in ihnen erwachte.
Das Wasser konnte sich frei tummeln. Es stürzte von den Hängen hinunter, füllte die Teiche, breitete sich aus. Rasch wurde das Dickicht von seinem Getöse, Rauch und Dunst durchtränkt. .. Der Frühling stieg siegestrunken gen Himmel... Jurij Andrejewitsch erwachte... stützte sich auf die Ellbogen und lauschte“
Man darf bei diesem Naturgemälde nicht den Schnee schmelzen hören wollen, wie es in einem Presseartikel geschieht") -Die dort übernommene Übersetzung Reinhold von Walters verleitet mit ihrer ideologischen Komponente, wie an anderen Stellen auch, leicht zu Unterstellungen. So beispielsweise mit dem Satz: „Das Wasser hatte seine Freiheit wiedergewonnen.“ (Vode bylo gde razguljat'sja). Die lyrischen Naturschilderungen Pasternaks, die den breit erzählten Roman erst zur Dichtung machen, lassen sich wie die meisten seiner vielen Bilder nicht eindeutig rational motivieren. Die Aussagen müssen wohl in der Regel relativiert werden. Das gilt ebenso für die im vorigen Abschnitt entwickelte sinnbildhafte Deutung der handelnden Personen im Werke Pasternaks. Man wird nur sagen können, daß diese oder jene Deutung a u c h gemeint sei oder sein könne. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung wird sich bei der inhaltlichen Interpretation auf die Frage zuspitzen, ob dieser oder jener Akzent, vom Autor aus betrachtet, dominiere. Aber es gibt genug Grund zu bezweifeln, ob der Poet Pasternak über ein so eindeutiges materiales Selbstverständnis seines Werkes verfügt, daß er in jedem Falle mit Ja oder Nein antworten könnte. „Dr.
Shiwago" ist — glücklicherweise — zu sehr Dichtung, um die Frage nach der jeweiligen Eindeutigkeit der Aussage zuzulassen. Darin besteht auch der Wesensunterschied Pasternaks zu seinen gleichfalls vom „Tauwetterrausch“ angesteckten und den Frühling verkündenden literarischen Gefährten, zu Dudinzew, zu Ehrenburg, und wer immer sie seien.
Pasternaks Frühlingsbild steht in seinem umstrittenen Werk an ganz unverfänglicher Stelle. Ein zeitlicher Zusammenhang mit der nachstalinschen Übergangsperiode besteht nicht. Es ist die Zeit nach der Revolution, und natürlich liegt, zumal wenn man den Schluß des Epilogs sowie Partien aus den beigegebenen Gedichten hinzunimmt, ein symbolischer Vergleich nahe. So etwa im Gedicht „Erde“ (Zemlja): „In die Moskauer Einzelhäuser bricht der Frühling gewaltsam ein“. Es geht ihm eben nicht um die Markierung eines bestimmten Zeitpunktes. Im Epilog umschreibt er das abschließende Gespräch mit der Bemerkung: „Fünf oder zehn Jahre vergingen, und einmal, an einem ruhigen sommerlichen Abend saßen sie wieder...“ Es ist überhaupt wenig direkt angesprochen oder gemeint, weder der Stalinismus noch der Bolschewismus, weder die oberen noch die unteren politischen Funktionäre, weder „die neue Klasse“ noch andere Gesellschaftsformen. Pasternak klagt weder eine Gruppe noch einen Typus an, die heute oder auch unter Stalin gemeint sein könnten. Er klagt überhaupt nicht an. Selbst dort, wo er, wie im Epilog am Beispiel der Kollektivierung die Verurteilung bestimmter Erscheinungsformen zu erkennen gibt, ist es mehr ein Charakterisieren, eine Erklärung, eine Schlußfolgerung. Der Standpunkt wird nicht verleugnet, aber der Verfasser meidet den direkten Angriff. Pasternak spricht vornehmlich aus der souveränen Haltung eines über den Dingen stehenden Geistes — und er trifft das System an der verwundbarsten Stelle: der ideologischen. Das ist möglich, weil er aus einer geistigen Grundhaltung spricht, die jener ihrem Wesen nach überlegen ist, der christlichen. Hier liegt des „Pudels Kern" für die Verurteilung Pasternaks in der offiziellen Sowjetunion. Davon war schon die Rede.
Der äußere Grund besteht in den Begleitumständen des Erscheinens, der Anlaß in der „ertrotzten“ Veröffentlichung des Romans im Ausland. Pasternak scheint diesmal, die ihm sonst zu Gebote stehende Vorsicht verlassen zu haben. Es scheint eine Art „Torschlußpanik“ sich seiner bemächtigt zu haben. Konstantin Simonow und sein Redaktionskollegium lehnten es ab, „Dr. Shiwago“ dort abzudrucken, wo gerade „Nicht vom Brote allein" erschien. Es ist denkbar, daß die in einem persönlichen Schreiben an Pasternak im September 1956 erteilte Antwort in ihrer Begründung aufrichtig war. Daß sie Ende Oktober (Ungarn!) in der „Literaturzeitung“ veröffentlicht wurde, sollte vielleicht nur eine schlaue Sicherheitsmaßnahme sein, war aber bereits der Anstoß zur Verunglimpfung und späteren Ächtung Pasternaks. Denn neben der sachlichen Kritik am Aufbau des Romans, die Michail Scholochow später wiederholte und die bis zu einem gewissen Grade sicherlich berechtigt ist, erscheint ein anderer, der eigentliche Einwand, der ebenfalls nicht unbegründet ist. In dem Brief heißt es: „Als Leute, die auf dem Boden eines dem Ihrigen entgegengesetzten Systems stehen, sind wir natürlich der Meinung, daß von der Veröffentlichung Ihres Romans in der Zeitsdtrift „Novyj mir“ keine Rede sein kann.“ Man darf nicht übersehen, daß der Marxismus von Pasternak durch Shiwago als „die satanische Gewalt des toten Buchstaben“ abgetan, als die isolierteste und unrealistischste „Richtung“ eingestuft und als dogmatisch und unwahrhaftig verurteilt wird.
Nun waren aber bereits 1954 in der Zeitschrift „Fahne“ (Znamja) Gedichte Pasternaks erschienen, die den Vorbereitungen des Werkes entnommen waren und ausdrücklich auf ihn hinwiesen. Daß 1938 ein Fragment des künftigen Romans, an dessen Niederschrift der Autor zehn Jahre später ging, in der „Literaturzeitung“ erschienen war, fiel kaum jemand auf
In der Zwischenzeit hatte die Parteiführung alles Erdenkliche versucht, um das Erscheinen im Ausland zu verhindern. Die sowjetische Botschaft in Rom, die Kommunistische Partei Italiens, der Sowjetische Schriftstellerverband und diverse Mittelsleute wurden eingeschaltet, um den jungen Verleger umzustimmen. Er war nach den Vorgängen in Ungarn aus der Partei ausgetreten und ließ sich durch nichts irre machen. Er kapitulierte auch nicht, als er ein Telegramm Pasternaks erhielt, das um Rückgabe bat, und Alexej Surkow in einer Pressekonferenz an Boris Pilnjaks „Mahagoni“ erinnerte, der bekanntlich erschossen wurde, nachdem sein Roman im Ausland erschienen und sein Schirmherr Gorkij nicht mehr unter den Lebenden war.
Wieweit Feltrinellis Entschluß im Sinne Pasternaks war, läßt sich schwer abschätzen. Es ist denkbar, daß der Autor hierbei eine ähnliche Haltung wie bei der Nobelpreisverleihung einnahm. Sowohl der Verleger wie der Autor haben sich — zumindest juristisch — durchaus korrekt verhalten, den die Einschränkung des Vertrages „nach Erscheinen in der Sowjetunion" wurde in dem Augenblick gegenstandslos, als sich herausstellte, daß man es dort überhaupt nicht drucken wolle. Natürlich können Böswillige Pasternak unterstellen, daß er das vorausgesehen habe und sich mit der Eingabe bei einem sowjetischen Verlag nur habe „decken“ wollen. Aber niemand wird Pasternak unterstellen können, daß ihm die Herausgabe im Ausland lieber als im Inland war. Er hätte, wie Dudinzew, sicher viel lieber den anderen Weg gewählt. Ob er es nun wollte oder nicht: er konnte genausowenig wie Dudinzew die Publikation in einem nichtsowjetischen Verlag verhindern — auch die sowjetischen Organe nicht —, da die LIdSSR nicht der Berner Autoren-Konvention beigetreten ist. Wie andere Länder kein Einspruchsrecht gegen die Veröffentlichung ihrer Werke in der Sowjetunion haben, hat diese kein Veto-Recht gegen die Herausgabe von Arbeiten sowjetischer Verfasser im Ausland. Diesem Umstand allein verdankt der Westen die Bekanntschaft mit den Originalniederschriften Dudinzews und Pasternaks. Denn auch Dudinzew hatte sich bemüht bzw. bemühen müssen, den „Verlag der Sternbücher“ von der Veröffentlichung seines Romans abzubringen.
An dieser Stelle setzt nun — genau wie bei Dudinzew und etwa der sogenannten Verschwörung des Schweigens — die Schuld des Westens ein, am Schicksal der betroffenen sowjetischen Schriftsteller wie der sowjetliterarischen modernen Entwicklung überhaupt. Die Art, wie man bei uns diese Erscheinungen aufnahm, führte drüben zu um so schärferen regressiven Maßnahmen. Man muß im Auge behalten, daß die Sowjets stets Ungarn vor Augen hatten! Wenn man bedenkt, wieweit sich in dieser bedrohlichen Situation — sicherlich ohne jede böse Absicht — Pasternak in Rußland und 'der kongeniale Lukacs in Ungarn vorgewagt hatten, muß man von einem gütigen Geschick sprechen, das ihnen das vorausgesagte Schicksals Pilnjaks und Nagy’s erspart hat. Wenn irgendwo, so wird an diesem Beispiel — Pasternak und Lukacs leben auf freiem Fuß! — der große innenpolitische Wandel nach dem Tode Stalins deutlich, hinter Stalin hätte Pasternak einen solchen Einsatz auch nie riskiert. Er konnte als ein „Jewgraf Shiwago“ die individuelle „Verschwörung des Schweigens“ nur dadurch „ungeschoren“ überstehen, daß er sich mit klassischen Übersetzungen, die das kulturelle Leben der Sowjetunion als Aushängeschild benötigte, „unabkömmlich“ machte; letztlich wurde er vielleicht nur von dem Schicksal des großen Vorkämpfers für die Freiheit der modernen russischen Literatur, Maxim Gorkijs bewahrt, weil er Stalins sentimentale Heimatliebe mit Übersetzungen aus der georgischen Volksdichtung befriedigte. Denn Jurij Shiwago, der stets konsequent und in allem wahrhaftig bleiben will, geht schließlich daran zugrunde. Der Stiefbruder Jewgraf verkörpert im Roman so etwas wie die „zweite“ Seele in Pasternaks Brust. Von ihm heißt es
Er meine, man dürfe nicht einfach „ergeben wie ein Lamm untergehen“
(pogibat’ tak pokorno, po baran’i).
In dieser Situation war die Verleihung des Nobelpreises an Boris Pasternak eine unkluge Maßnahme. Es war kein „Friedenspreis“. Die Unruhe brach jetzt erst richtig aus. Sie hat das Gegenteil von dem erreicht, was man vielleicht bona fide bewirken wollte: eine Ehrung nicht nur Pasternaks, sondern des modernen russischen Schriftstellertums überhaupt. Man hat damit beiden nur geschadet. Ob der andere Kandidat, Michail Scholochow, ihn eher verdient hätte oder nicht — nur mit ihm hätte man die erste Vergabe des Literaturpreises an einen sowjetischen Schriftsteller wagen können, ohne einen neuen Sturm im Wasserglas innersowjetischer Auseinandersetzungen zu entfachen. Es genügte eben nicht, daß das Nobelpreiskomitee in der öffentlichen Begründung die „zeitgenössische lyrische Dichtung“ Pasternaks apostrophiert, was sachlich unanfechtbar sein mag. Der Entschluß war in dieser Situation dazu verurteilt, politisch-propagandistisch mißdeutet zu werden
Wie wenig Boris Pasternak allerdings selbst eine so dramatische Auswirkung erwartet hatte, geht aus seinem ersten Telegramm an das Stockholmer Preiskomitee hervor. Es lautet: „Äußerst dankbar, bewegt, stolz, erstaunt, beschämt.“ So bekannte es der subjektive Charakter Pasternaks. Hier liegt eine persönliche Schuld an der Entfachung des schadenfrohen Kesseltreibens gegen ihn, das so viel Züge von Mißgunst und Neid trägt. Auch Scholochow, der sich mit Ehrenburg und wenigen anderen von der politischen Verurteilung Pasternaks durch den Schriftstellerverband fernhielt, kann seine „psychologische Abneigung — etwa aus Eifersucht?! — nicht verbergen, wie seine letzten Stellungnahmen zeigen.
Die Lawine konnte durch das zweite Telegramm Pasternaks nicht mehr aufgefangen werden. Auch aus ihm spricht der „echte Pasternak, hier freilich sein objektiver Charakter: „In Anbetracht der Deutung, die dieser Auszeichnung in der Gemeinschaft, der ich angehöre, gegeben wurde, muß ich diesen unverdienten, mir verliehenen Preis zurückweisen. Bitte nehmen Sie meine aus freiem Willen getroffene Ablehnung nicht mit Mißfallen auf.“ Inzwischen lief die Anti-Pasternak-Kampagne „auf Hochtouren“. Angeführt vom inzwischen „verabschiedeten“ Sekretär des Sowjetischen Schriftstellerverbandes Alexej Surkow, der nach einer Darstellung Feltrinellis
Boris Pasternak besitzt einen höheren Titel und Rang, dessen ihn niemand für verlustig erklären kann: Er ist der größte russische Dichter der Moderne und — wie ihn Andre Malraux 193 5 auf dem internationalen Schriftstellerkongreß in Paris gefeiert hat: „einer der größten Dicltter der Gegenwart“ I Erhaben über die kleinlichen Intrigen seiner Umgebung und eingedenk der großen Mission, die er seinem Lande und Volke schuldig bleibt, schreibt er in einem seiner letzten Briefe: „Zeiten werden vergehen. Viele große Zeiten. Ich werde schon nicht mehr da sein. Es wird keine Rückkehr zur Väter-und Großväter-zeit sein, was auch nidit nötig und wünschenswert ist. Aber das Edle, das Schöpferische und Große wird endlich wieder nach langem Sdteiden zum Vorsdrein kommen. Das wird ein Ergebniszeitalter werden. Ihr Leben wird dann am reichsten, am fruchtbarsten sein. Gedenken Sie dann meiner“
Nicht nur die Welt, auch seine Heimat wird dieser Bitte dann nachkommen. Heute aber gibt es schon, neben der haßerfüllten Stimme des Komsomolführers, liebevolle Bekenntnisse der jungen Generation zu dem Vermächtnis Pasternakschen Geistes: Der eine
Der Rausch der Begeisterung und der Sturm der Entrüstung über den „Fall Pasternak“ ist abgeklungen, und es mag an der Zeit sein, Pasternak und seinen Roman mit der Elle zu messen, die ihnen gerade auch nach der Intention des Autors allein angelegt werden sollte: dem Maßstab der Sachlichkeit. Es ist kaum etwas denkbar, das dem Werk des Dichters wie ihm selbst weniger angemessen wäre als das, war daraus gemacht worden ist. „Man“, das bezieht sich auf die sowjetische wie die westliche Öffentlichkeit; jenes Charakteristikum der modernen Massengesellschaft, die so wenig Ehrerbietung vor dem Geist und so viel Ergebenheit an die Sensation kennt; eine Gesellschaft, die sich viel ähnlicher ist, als die auf der einen oder der anderen Seite des „Eisernen Vorhanges“ Lebenden erkennen wollen.
Gewiß, die Lebenstragödie Boris Pasternaks, die sich im letzten Jahr in so bedrückender Weise konzentriert und zugespitzt hat, ist ein Schandfleck der Sowjetgesellschaft; ein Symptom, das selbst dem draußenstehenden Laien offenbarenden Einblick in den schwelenden Krisen-herd des Systems eröffnet. Wir wissen, unter Stalin wäre Pasternak heute nicht mehr unter den Lebenden, so wenig wie Hitler Ossietzky nicht überleben ließ. Vielleicht ist es wirklich ein persönliches Verdienst Chruschtschows, daß Pasternak auf dem Boden seiner Heimat bleiben und ihre Luft weiteratmen, ja daß er in die innere Emigration zurückkehren und sich wiederum der Übersetzung widmen darf. Auf dem Spielplan der Moskauer Bühnen dürfen neuerdings wieder von ihm übertragene Stücke erscheinen.
Begreifen wir doch, was es für ihn bedeutet hätte, wenn er sein Land verlassen und zu uns gekommen wäre! Subjektiv betrachtet, weniger als das, was er heute noch besitzt. Verstehen wir doch, worum er ein Leben lang gerungen hat und was er bis zum Tode ersehnen wird: die Freiheit des Geistes in seinem Land! Lind was wäre er hier? Eine Krone in erträumter freier Luft und Sonne, vielleicht? Aber dennoch ein Baum ohne Wurzeln. Haben wir noch das bittere Wort jenes jungen Leidenskollegen, des Polen H 1 a s k o im Ohr: „Idi bin ausgestoßen und liebe wein Land. Wie soll ich leben? In welcher Spradte soll ich schreiben? Es gibt nur eine Spradie für wich. Man geht vor die Hunde, wan verkowwt, wan muß in seiner Heimat die Wahrheit suchen können.“ Man spürte, daß er zurückkehren „mußte“.
Lim so notwendiger wäre vom Westen aus ein Verhalten gewesen, das demjenigen, dem man keine wirkliche Heimat bieten kann, die ohnehin begrenzte schöpferische Freiheit nicht weiterhin beschneidet, indem man seinen Widersachern die Waffen liefert. Bereits Dudinz e w mußte in einem Brief an den deutschen Verleger seinen westlichen Interpreten entgegenhalten: „Wie kann wan annehwen, daß ich wein eigenes Nest besdiwutzen wöchte. Man kehrt nicht den Dreck vor die eigene Tür"
So trägt die Hauptschuld an der Verschärfung und Erneuerung der Tragödie Pasternaks wie der Sowjetliteratur unsere, die westliche Gesellschaft. Nein, es war keine überhebliche Böswilligkeit, mit dem Pasternak-Schiwago „den Anderen eins auszuwischen“, es war nur einfältige Torheit. So wenig weiß man über die Situation des Einzelnen in der Sowjetunion, daß man meint, sich ein Puppenspiel mit ihm leisten zu können. So wenig Achtung hat man auch hier vor ihm, daß man das grausame Spiel mit dem Sensationshelden selbst dann weiterführt, wenn offenkundig wird, daß das lebendige „Gegenbild“ dadurch zu Fall kommt. Die Regieführung ist nicht in Verlegenheit: sie vertauscht leichterhand LIrsache und Wirkung und schreibt einen neuen Schlußakt: der dramatische Niedergang des Helden. — Nun ja, Pasternak ist darin keine Ausnahme. Man treibt es mit wirklichen oder hochgespielten Größen hierzulande nicht anders. Wenn es das Geschäft der Massenwirkung geraten erscheinen läßt, fragt man nicht viel nach der Auswirkung für den Betroffenen. Marek Hlaskos Grundhaltung reicht nicht aus: „Idi pfeife auf das, was die Leute weinen. Sie sollen Etiketts auf Essigflasdien kleben.“ EineÖffentlicheSelbstkontrolle des gesamten Publikationswesens sollte dafür Sorge tragen, daß geistiges Eigentum nicht wie Konsumartikel behandelt wird.
Welchen Sinn hat eine solche „selbstkritische“ Feststellung? Welchen Sinn hat die Beschäftigung mit geistigen Erscheinungen des Bolschewismus oder Sowjetsozialismus vom Westen aus überhaupt? Der Zweck des Befassens mit den sowjetöstlichen Verhältnissen und Ideen bedarf wohl keiner Begründung. Der Sinn dieses Erforschens und Erkennens liegt auf einer anderen Ebene: Sie führt uns im Vergleich auf uns selbst zurück und nötigt zur kritischen Durchleuchtung unseres eigenen geistigen und realen Standortes. Diese Standortbestimmung unserer Demokratie der Gegenwart zwingt zu dem Eingeständnis, daß wir keinen Grund zur Selbstgefälligkeit und Selbstgerechtigkeit haben.
Im Geleitwort zu dem bekannten Buch des Polen M i 1 o c z „Verführtes Denken“ fragt Karl Jaspers an die sowjetische Adresse: „Ein neuer Mensch?“ Er antwortet, zurückgewendet zum Westen: „Nein, sondern der Mensch, der wir alle der Möglidikeit nadt sind, unter solchen Bedingungen.“ Wir haben und müssen heute zu einem Teil wiederum analoge Bedingungen an unserem Volkskörper erfahren. Lind wir wissen, daß sie überall und zu jeder Zeit entstehen können!
Thornton Wilder hat in der Frankfurter Paulskirche auf die noch keineswegs bewältigte, häufig nicht einmal gesehene Kulturaufgabe der Demokratie hingewiesen: „Demokratie ist nicht nur das Streben nadt einer sozialen Gleichheit der Menschen, sondern auch das Bemühen, ihnen die Gewißheit zu geben, daß sie in Gottes Gnade gleich sind. . .“ „Ihr eröffnet sidt ein neues ungeheures Thema, das zu beschreiben, das mit Denken zu durdtdringen, das auszudrücken und das zu erforsdien ist: Der Mensdt erhobenen Hauptes.“
Vor dieser Sinnbestimmung menschlichen Daseins in der Welt werden schließlich alle politisch-ideologischen Frontbildungen kapitulieren. Sie gilt für jeden Menschen, wer und wo immer er sei. Es ist die unverlierbare und unvertauschbare christlich-abendländische Vorstellung vom Menschen als einem „Abbilde“ Gottes. Saint-Exupery hat uns im Schlußwort zu „Wind, Sand und Sterne“ das Vermächtnis neu zu Bewußtsein gebracht: „. . . id-i sehe die Mensdien an wie ein Gärtner. Darum quält mich nicht die tiefe Armut . . . Mich quält etwas, was die Volksküchen nidit beseitigen können. Nidtt Beulen und Falten und alle Häßlidikeit; midi bedrückt, daß in jedem dieser Menschen etwas von einem ermordeten Mozart steckt.“ „Nur der Geist, wenn er den Lehnt behaucht, kann den Menschen erschaffen.“