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Gesetz und Richter im Rechtsstaat | APuZ 47/1959 | bpb.de

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APuZ 47/1959 Gesetz und Richter im Rechtsstaat Rußland und Europa

Gesetz und Richter im Rechtsstaat

MAX GUDE

Als Vortrag gehalten am 15. Oktober 1959 von Generalbundesanwalt Dr. h. c. Max Güde vor der Verwaltungs-und Wirtschaftsakademie in Karlsruhe.

Sie haben sich wohl gefragt, warum Ihnen zur Eröffnung des Akademie-Semesters ein Thema geboten wird, das abseitig und dem Kerngebiet Ihrer Interessen fern scheinen könnte. Ist das lediglich darauf zurückzuführen, daß der Studienleiter Jurist ist und nun einmal über juristische Fragen sprechen will? Doch das, worüber ich in dieser Stunde sprechen möchte, ist nur soweit juristisch, handelt nur soviel vom j u s im Sinne des Juristen, als es alle angeht. Nicht die Juristerei, aber das Recht geht alle an. Kein spezialisiertes Juristenwissen gedenke ich vor Ihnen auszubreiten, sondern nur einige Gedanken über den Rechtsstaat und seine beiden wesentlichen Grundpfeiler: Gesetz und Richter.

Was der Rechtsstaat für uns ist? Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes schrieb Radbruch im Jahre 1956: „Der Rechtsstaat ist wie das tägliche Brot, wie Wasser zum Trinken und wie Luft zum Atmen, und das Beste an der Demokratie ist gerade dieses, daß nur sie geeignet ist, den Rechtsstaat zu sidtern“.

Da spürt man noch den Hunger und Durst nach der lang entbehrten Gerechtigkeit und Freiheit. Aber wie uns seitdem das tägliche Brot zur Selbstverständlichkeit geworden ist, so auch der Rechtsstaat und seine Frucht, die Freiheit. Dabei vergessen wir, daß Rechtsstaat und Freiheit noch vor 15 Jahren verloren waren, daß das andere Deutschland sie noch nicht wieder gewonnen hat, und daß auch unser Rechtsstaat und unsere Freiheit eine junge Gründung sind, die unserer Sorge und Bemühung bedürfen. Verstehen wir also unser Thema nicht so sehr als ein Lehrstück aus der juristischen Wissenschaft als vielmehr als ein Kapital unserer Zeitgeschichte.

Lassen Sie uns dementsprechend auf philosophischen Tiefsinn und profunde Gelehrsamkeit verzichten und unsere Begriffe in dem einfachen Verständnis des Bürgers und Zeitgenossen, der Rechtsstaat und Unrechtsstaat, Freiheit und Unfreiheit erlebt hat, zum Ausgangspunkt nehmen. Jenem einfachen Verständnis scheinen Rechtsstaat und Freiheit so geschwisterlich zusammenzugehören, daß es versucht ist zu sagen: Freiheit und Rechtsstaat seien da, wo die Macht dem Rechte dienen muß — Unfreiheit und Unrechtsstaat dort, wo die Macht bestimmt, was Recht ist.

Vor einem Menschenalter noch, als ich ein junger Jurist war, hätten weder unsere Lehrer noch wir solche Sätze ausgesprochen oder in ihrem Pathos auch nur verstanden. Macht und Recht schienen uns damals, trotz der Mahnungen und Warnungen einzelner, in einer Art prästabilierter, unerschütterlich vorgegebener Harmonie aufeinander zugeordnet zu sein. Störungen dieser Harmonie konnten nicht absolut und nicht das Ganze in Frage stellend, sondern nur relativ und behebbar sein. Es stand ja über allem die erhabene Welt der Gesetze. Was auch im Staate und durch den Staat geschah, vollzog sich nach Maßgabe dieser Gesetze oder wie die hergebrachte Terminologie deutschen Verfassungsrechts sagt: „Auf Grund eines Gesetzes“. Die Gewaltenteilung und die aus ihr sich ergebende materielle Unterscheidung zwischen der Justiz und den anderen Formen staatlicher Tätigkeit wies unserem Wirken in den Justizämtern die Funktion eines Regulators in dem vorausgesetzten Gleichgewichtssystem der Mächte zu. An uns war es, zu entscheiden, ob die Wirklichkeit den Gesetzen entsprach. Unsere „Erkenntnis“, daß eine Handlung oder ein Zustand im Widerspruch zu den Gesetzen stand, enthielt in sich schon die Wiederherstellung der gestörten Ordnung, denn die Gesetze, sofern nur die Verdunkelung aus Irrtum oder Entstellung aufgehellt war, vollzogen sich sozusagen von selbst. Auf dem Boden einer selbstverständlichen bürgerlichen Rechtschaffenheit, ja eigentlich eines idealistischen Eifers für das Recht, fühlten wir uns als Träger unserer Rechtsämter doch nicht so sehr in unserem Willen aufgerufen als in unserem Intellekt. Es war uns ja nicht aufgegeben, eine Ordnung zu schaffen oder zu verbessern, sondern lediglich eine vorgegebene Ordnung zu erkennen und als erkanntes Maß prüfend an die Wirklichkeit zu halten. Diejenigen unter uns, die für eine Ordnung bestimmter Art, sei sie christlich oder sozialistisch, konservativ oder liberal, eintraten, standen in Verdacht, durch ihre Hinneigung oder gar Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder Gruppe die reine Erkenntnis der Gesetze zu trüben. Die pathetische Formel, die uns unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen nannte, gab uns das Gefühl einer Überlegenheit über das Getriebe des Mehrparteienstaates der Weimarer Republik. Diese Haltung mag uns zwar vor den kleinen Infektionen des damaligen Alltags bewahrt haben, aber sie schuf nicht zugleich in uns eine Sterilität gegenüber den großen Impulsen der Zeit, ihren Problemen und ihrer Bedrängnis. Als die Stunde einer echten Entscheidung — eine Stunde, die zwölf Jahre dauerte — ein Ja oder Nein zu einer wahren Ordnung oder ihrem Gegenbild, ein Ja oder Nein zu Recht oder Unrecht forderte, zeigte sich, daß wir als einzelne wie als Stand von einer lähmenden Ohnmacht befallen waren, weil sich die Unterworfenheit unter die Gesetze des Staates als eine Fessel erwies, die wir nicht abzuschütteln vermochten. In dieser Fessel erstickte die Freiheit der einzelnen wie die Freiheit des Volkes als eines politischen Körpers; auch die Freiheit der Justiz!

In unserer Vorstellung war ja bis dahin das Problem der Freiheit, wenn überhaupt gestellt, so auf jeden Fall schon damit beantwortet gewesen, daß jede scheinbare oder wirkliche Beschränkung der Freiheit nach Maßgabe der Gesetze und auf Grund eines Gesetzes geschah. In dieser Formel gefangen, hatten wir auch dann kein Argument, wenn auf Grund eines in verfahrensmäßig nicht beanstandbaren Formen zustande gekommenen Gesetzes die Freiheit abgeschafft wurde. Dabei war das, was da den Namen des Gesetzes trug, vielfach nur noch ein Zerrbild dessen, was einst an Inhalt und Bedeutung unter Gesetz verstanden worden war. Rationalismus und Aufklärung, aus deren Boden Begriff und Wert des Rechtsstaats erwachsen waren, hatten an den ordre naturel einer vorgegebenen Weltordnung geglaubt, die es zu erkennen und sich vollziehen zu lassen galt. Von dorther hatten auch die Gesetze des Staates ihre Würde und ihre Geltung. Sie galten, weil sie der Intention nach an der richtigen Ordnung teilhatten und insofern wahr waren. Ihre Wahrheit wies sie aus. Nach einem Ideenverschleiß von zwei Jahrhunderten aber sprach man von einem Gesetzgebungsapparat und nannte alle seine Produkte Gesetze. Wenn nun gar die brutale Macht sich dieses Gesetzgebungsapparates bemächtigte, dann war Gesetz nur noch der Ausdruck des Willens dieser Macht. Freilich konnten wir dann immer noch mit der überlieferten Formel sagen, wir seien „unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen“, aber der Sinn dieser Worte war schmählich verkehrt; wir hätten ebensogut sagen können, wir seien der Lenkung durch Gesetze beliebigen Inhalts unterworfen und dadurch in völliger Abhängigkeit von denen, die schrankenlos über den Inhalt dieser Gesetze verfügten.

Ich entwerfe diese Reminiszenz nicht um ihrer selbst willen, auch nicht um eines rechtstheoretischen Gehalts willen, sondern um ein entscheidendes Erlebnis meiner Generation zu beschreiben. Wir sind in unserer Auffassung und Handhabung des Rechts in unserer Lebenszeit in eine Sackgasse geraten, so daß uns gerade die zentralen Werte Rechtsstaat und Freiheit verloren gegangen sind. Seitdem unterscheiden sich diejenigen, die dieses Scheitern nicht einsehen oder nicht wahrhaben wollen von den anderen, die wir aus dem Erlebnis des Scheiterns neue Wege suchen, um Rechtsstaat und Freiheit besser zu sichern als wir es gestern taten.

Wenn uns das ganze Deutschland nicht nur eine Phrase ist, wenn wir nicht nur gesamtdeutsch reden, sondern auch gesamtdeutsch leiden, bietet uns das Bild des Zonenregimes unseren fortlebenden Sündenfall von gestern, nur noch schlimmer und anders eingefärbt. Nach der ganz objektiv gemeinten Darstellung des Leipziger Prof. Jacobi in der Festgabe für Smend ist in der Zone „die Trennung von Justiz und Verwaltung, überhaupt die Gewaltenteilung des bürgerlid-ien Rechtsstaats aufgegeben und der Grundsatz der einheitlidten, in der Hand des werktätigen Volkes liegenden Staatsgewalt proklamiert . . .der Rechtssdiutz des Bürgers fällt in erster Linie den Volkvertretungen zu, wenn ihnen gegenüber auch kein Redusschutzansprudt im Sinne eines Rechts auf Bescheid gegeben zu sein braudit ... Es bleibt dann auf dem Gebiet der Verwaltung und auf dem Gesamtgebiet des Rednts die Überwachung durch die Volksvertretung und die Volkskontrolle ..."

Soweit Jacobi. In dem von ihm geschilderten System ist die soge-nannte demokratische oder sozialistische Gesetzlichkeit nichts anderes als die Transmission, die das Ganze immer noch und wieder in die von Machthabern jeweils gewollte und befohlene Richtung treibt. Ich zitiere aus amtlichen Verlautbarungen der Sojwetzonenjustiz: „Die sozialistische Gesetzlidikeit wird dann von einem Geridrt gewahrt, wenn die Gesetze unseres Staates politisch durd-idadit und in Übereinstimmung mit den Zielen der deutsdien demokratischen Republik angewandt werden . . . Das Prinzip der sozialistischen Gesetzlidikeit stellt den Gerichten die Aufgabe, in Verfahren und in jeder Entsdreidung einen Beitrag zur Festigung der Arbeiter-und Bauernmad-tt zu geben und der Bevölkerung bewußt zu machen, daß unsere Reditsordnung mit den Interessen der Bürger übereinstimmt“. „Deshalb bedeutet Einhaltung der Gesetzlidikeit auch Wahrung der Parteilichkeit.“ „Es muß sidi die allgemeine Erkenntnis durchsetzen, daß Gesetzlidikeit und Parteilich keit eine Einheit bilden.“ Parteilichkeit ist „richtige Anwendung der Gesetze im Sinne von Partei und Regierung.“ „In der richterlichen Entscheidung muß sich die Bereitschaft widerspiegeln, die von der Partei der Arbeiterklasse und von der Regierung gefaßten Besdilüsse durchzusetzen“.

Kein Zweifel, daß hier das Recht keine Eigengeltung mehr hat, daß aus dem Recht und nach dem Recht nichts mehr entschieden wird, und daß, was hier Recht heißt, nur eine Funktion des politischen Führungswillens ist. Insofern kann dort von Rechtsstaat und Freiheit natürlich keine Rede sein. Diejenigen, die das hohnvoll und überlegen feststellen, sollten nur nicht vergessen und nicht verschweigen, daß der Weg zu diesem totalen Rechtsverlust unser gemeinsamer Weg von gestern war, von dem jene, die aus einer Knechtschaft in die andere gefallen sind, nur noch nicht haben umkehren können. Es ist ein wenig billig, um nur ein Beispiel zu nennen, über die abstoßende Politisierung des Ehe-und Ehescheidungsrechts in der Zone sich zu erheben, ohne sich der schmachvollen Deformierung desselben Ehe-und Ehescheidungsrechts durch den nationalsozialistischen Rassegedanken zu erinnern. Daß der Weg drüben ein Irrweg ist, werden wir nur dann glaubwürdig sagen können, wenn wir selbst sichtbar einen neuen Weg beschreiten, der auch unseren eigenen von gestern als einen Irrweg hinter sich läßt.

Was schon das nationalsozialistische Regime angestrebt hatte, hat jetzt das kommunistische Regime der Sowjetzone konsequent zu Ende geführt: die restlose Unterwerfung der Rechtsprechung unter den staatlichen Willen. In der trügerischen Verfassung der Zone ist zwar noch der überlieferte Satz festgehalten, daß der Richter unabhängig und dem Gesetz unterworfen sei. Aber nun ist ei wahrhaft und endgültig unterworfen, denn für ihn, der an das gebunden ist, was sie dort sozialistische Gesetzlichkeit nennen, erschöpft sich das Recht in den Gesetzen. In der Auslegung dieser Gesetze ist der Richter wie unsere Zitate zeigen, willenlos dem unterworfen, was Partei und Regierung für zweckmäßige und richtige Anwendung der Gesetze halten.

Sie fragen midi vielleicht, ob sich für uns nicht auch das Recht in den Gesetzen erschöpft. Ist Gesetz nicht gleich Recht und Recht nicht gleich Gesetz? Lind kann der Richter, wenn er Recht spricht, etwas anderes anwenden als die Gesetze? Ist seine Situation je eine andere als die eben beschriebene des Richters in der Zone: daß nämlich der Staat in seinen Gesetzen ihm den Maßstab des Richtens zwingend vorschreiben kann?

Dahinter steckt in der Tat eine Vorstellung vom Richter und der Rechtsprechung, die von der Rechtsauffassung der Aufklärung herkommt. In dieser Auffassung heißt der Richter: la bouche de la loi, der Mund des Gesetzes. Das erhabene Gesetz spricht durch den Richter. In seiner Entscheidung ist nichts, was von ihm selbst käme; sein Erkennen ist nichts als das Erkennen des Gesetzes und seine Anwendung auf den Fall eine logische Prozedur, die man Subsumtion nennt. In solchen Gedankengängen ist allerdings ein erhabenes Gesetz gemeint, mit der unerschöpflichen Zahl der Gesetze des 20. Jahrhunderts nicht vergleichbar. Dem lag die Vorstellung von einer völlig durchsichtigen, restlos erkennbaren, vorgegebenen natürlichen Ordnung der Dinge zugrunde, die sich schon darin durchsetzt, daß sie erkannt wird. Die großen Gedanken und die allgemeinen Wahrheiten dieser vorgegebenen Ordnung waren, so meint man, in den Gesetzen erkannt und formuliert, sie waren das Recht, das ganze Recht.

Vorstellungen dieser Art haben nachgewirkt bis in unsere Tage. Ihre Götterdämmerung kam erst, als wir uns der Einsicht nicht verschließen konnten, daß es auch ungerechte Gesetze gab; nicht nur nicht ganz gerechte Gesetze, wie es immer vorkommen mag, sondern gewolltes Unrecht in Gesetzesform. Von diesem entscheidenden Erlebnis her haben wir das Problem von Gesetz und Recht und Richter neu durchzudenken begonnen und dabei nicht nur in bezug auf das politisch beeinflußte Recht, sondern in der ganzen Breite die übertriebene Gesetzesgläubigkeit von gestern eingeschränkt und zurückgedrängt, und haben in gleichem Maße begonnen, den Richter freier, selbständiger und verantwortungsvoller uns vorzustellen. Ich will diesen bedeutsamen Vorgang nur in einigen Sätzen andeuten. Wenn das Grundgesetz heute in Art. 20 die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ bindet, kommt darin etwas ganz Wesentliches zum Ausdruck: Das Gesetzesrecht ist nicht das ganze Recht, sondern es ist eingebettet in einen breiten Strom außergesetzlichen Rechts. Das Gesetzes-recht ist nicht vollständig und lückenlos in dem Sinne, daß jeder nur denkbare Konflikt von ihm schon vorbedacht und vorentschieden sei. Oft ist das Gesetz unklar und unvollständig und bedarf daher der Auslegung und Ergänzung. Oft läßt sein Wortlaut verschiedene Sinndeutungen zu, unter denen der Richter wählen muß. Nach welchen Maßstäben wählt er dann? Nicht nach einem von ihm erfundenen, sondern nach dem von ihm vorgefundenen, von ihm mitgeschaffenen, von ihm eben in seiner Entscheidung noch mitzuschaffenden Maßstab des Rechts. Wir haben eingesehen, daß es da einen breiten Bereich dessen gibt, was wir heute Richterrecht nennen. Dieses Richterrecht enthält ebenso-wohl die Entfaltung des gesetzlichen Rechts wie die Bildung außergesetzlichen Rechts. Es ist nicht willkürlich geschaffen, sondern es bindet sich selbst an eine in lebendiger Überlieferung stetig sich fortbildende Hierarchie von Werten und Wertungsgesichtspunkten. Es ist gebunden an die Wertungen des Verfassungsgebers, in denen sich die letzten Grundwerte verkörpern, von denen alle Rechtsfindung ausgeht und auf die sie sich ausrichten muß. Es ist vor allem gebunden an die vielfältigen Grundsätze richterlicher Gerechtigkeit und Billigkeit, wie sie in der Rechtsprechung selbst ihren Niederschlag finden und von ihr festgehalten werden. In all dem verblaßt zwangsläufig das Bild vom Richter als einem mit den Mitteln nur der formalen Logik arbeitenden Deduktions-und Subsumtionsautomaten.

Es steht dahinter aber auch die tiefere Einsicht, daß das Gleichgewichtssystem, auf dem die überlieferte Konzeption des Rechtsstaates beruht, keineswegs so selbstverständlich, so statisch und so gesichert ist wie wir selbst noch geglaubt hatten. Wenn es je ein Gleichgewicht der sozialen Kräfte, Mächte und Interessen gegeben hat, so ist es auf jeden Fall längst verloren. Wenn der gewaltengeteilte Rechtsstaat funktionieren soll, kann er sich längst nicht mehr auf einen sich selbst regulierenden Ausgleich verlassen, sondern er muß von dem bewußten Willen zum Ausgleich in einer gerechten Ordnung getragen sein. Den frühen Architekten des europäischen Rechtsstaates war die Notwendigkeit bewußter Entscheidung über das Gesamtkonzept ohnehin klarer als uns späten Nachfahren. So findet man etwa bei Filangieri, einem italienischen Theoretiker des 18. Jahrhunderts, den instruktiven Satz: „Fünf Grad Sidterheit wehr für den Beschuldigten vor Geridu werden Euch hundert'Grad Sicherheit weniger in der Gesellschaft gewähren.“

In einer solchen Äußerung ist auf dem allerdings beispielhaften Gebiete des Strafprozeßrechtes die Gegensätzlichkeit der Interessen, die auszugleichen sind, schlagend aufgezeigt: Das Schutzinteresse der Gesellschaft auf der einen und das Freiheitsinteresse des einzelnen auf der anderen Seite. Filangieri meint, was Ihr dem Beschuldigten zuviel an Rechten gebt, gebt Ihr ihm auf Kosten der Gesellschaft. Wir freilich, die wir die völlige Rechtsunsicherheit erlebt haben, kennen auch die Umkehrbarkeit eines solchen Satzes: Was Ihr dem Beschuldigten an Rechten versagt, versagt ihr potentiell jedem, also auch der Gesellschaft im Ganzen. Denn was an Recht allein mit der Begründung verlorengehen kann, daß einer ein Beschuldigter sei, ist in diesem Jahrhundert ungesichertes Recht, weil im Zeitalter dauernd latenten Bürgerkriegs jeder ein möglicher Beschuldigter ist.

Wie zeitlos solche Überlegungen sind, mag man daraus ersehen, daß in einem führenden Kommentar zum Grundgesetz die Frage aufgeworfen wird, ob Methoden wie Eunarkose, Lügendetektor und dergleichen, die im allgemeinen als würdeverletzend abgelehnt werden, bei einem „entmenschten Verbrecher, der leugnet“ nicht doch angewendet werden dürfen — als ob vor einem ordnungsmäßig durchgeführten Verfahren, das nicht nur den Beschuldigten, sondern uns selbst vor unseren Kurzschlüssen schützen soll, überhaupt jemand wissen könnte, wer ein „entmenschter Verbrecher“ ist und zu Unrecht leugnet. Der große italienische Kriminalist Ferri hat alle solche Versuchungen mit einer großartigen Gegenüberstellung beiseite geschoben, indem er sagt, das Strafgesetzbuch sei il codice dei malfattori, die Prozeßordnung aber il codice dei galant’uomini. Das heißt: Bis einer überführt ist, gilt er als Ehrenmann, und erst recht bei der Prüfung, ob er überführt werden kann, ist er als Ehrenmann zu behandeln und hat die Rechte eines Ehrenmannes. Das sind Formulierungen aus dem echtesten Geist des Rechtsstaates.

Der Richter vor neuen Aufgaben

Doch wollen wir uns auf Einzelheiten wie etwa des Prozeßrechts gar nicht einlassen. Es kam jetzt nur darauf an, die natürliche Antinomie des Ganzen und die stete Notwendigkeit eines Ausgleichs an einem Beispiel aufzuzeigen. Dieser Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen dem Schutzzweck für das Ganze und dem Schutz-und Freiheitsbedürfnis des einzelnen mag sich zuallererst der Gesetzgeber bewußt sein, aber auch der Richter kann sich nicht mehr der Illusion hingeben, daß der im ganzen und in allen Teilen zu vollziehende gerechte Ausgleich vorgegeben sei, so daß es nur der hergebrachten Subsumierung bedürfe, um auch die steuernde Funktion des Rechts zu erzielen, denn soweit dem Gesetzgeber von gestern solche Ausgleichsprobleme überhaupt bewußt waren, haben sich vielfach die realen Elemente des Ausgleichs verschoben, so daß sich Spannungen und Lücken im Gefüge des Rechtes ergeben haben. Vielfach neigt der neuere Gesetzgeber aber auch dazu — in einerWeise, die dem ursprünglichen Konzept des Rechtsstaates längst nicht mehr entspricht —, nur die ungefähre Zielrichtung der gewünschten Regelung in Generalklauseln anzudeuten und dem Richter die Ausfüllung zu überlassen. Auf dem einen oder anderen Wege bedarf 3er Richter des Leitbildes einer bestimmten Ordnung, um dem Text des Gesetzes einen anwendungsfähigen Sinn zu geben. Das gilt nicht erst für den Bereich des ausgesprochen politischen Rechts.

Sie alle kennen die Rechtsprechung, nach der bei einem Blutalkohol von l, 5°/00 ein jeder Fahrer eines Kraftfahrzeugs, auch der an Alkohol angeblich gewöhnte, nicht mehr in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen. Im Gesetz steht das nicht. Das Gesetz spricht von dem, der „ein Fahrzeug führt, obwohl er infolge des Genusses geistiger Getränke oder anderer berauschender Mittel nidtt in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen“.

Die Behauptung, daß dieser gesetzliche Tatbestand einen Spielraum der Anwendung in sich enthalte, so daß eine Konkretisierung auf einem Stück Willensentscheidung des Richters beruhe, ist mit der alten Vorstellung, der Richter sei auf die reine Subsumtion beschränkt, und seine Entscheidung müsse sich logisch zwingend aus dem Gesetz ergeben, nicht vereinbar. Es ist aber in der Tat so, daß die Rechtsprechung im Hinblick auf diesen Tatbestand einen Spielraum der Rechtsanwendung begrenzt und festgelegt hat, indem sie erstens die Fahruntüchtigkeit durch eine bestimmte Höhe des Blutalkohols generell bewiesen sein läßt, und zweitens einen Beweis durch gewisse Methoden der Blutalkoholbestimmung als erfahrungsmäßig zuverlässig billigt.

Diese Rechtsanwendung, die man ebenso Auslegung wie Ergänzung des Gesetzes nennen kann, ist von dem rechtspolitischen Willen getragen, eine Massenerscheinung des modernen Verkehrslebens in einer Weise entscheidbar zu machen, die Gleichmäßigkeit und möglichste Gerechtigkeit verbürgt; der unbegrenzte Rückgriff auf die individuellen Faktoren des Falles wird ausgeschlossen, weil er die Gefahr erheblicher Ungleichmäßigkeit in sich enthielte. Die Grenze wird aber bei einer solchen Höhe des Blutalkoholgehaltes gezogen, daß die umgekehrte Gefahr der ungerechten Entscheidung des Einzelfalles praktisch ausgeschlossen wird.

In unserem Zusammenhang sind es nicht die technischen Einzelheiten dieser Lösung, auf die ich Ihre Aufmerksamkeit richte, sondern der neue Typus von Richter, der mutig und verantwortungsbewußt eine Aufgabe auf sich nimmt, die nach alter Vorstellung dem Gesetzgeber zufiele, von ihm aber nur starr und unbeweglich gelöst werden könnte, während der Richter in dem vom Gesetzgeber gezogenen Rahmen in elastischen Formeln ebenso die rationale Anpassung an die Bedürfnisse des modernen Lebens wie dabei auch Gleichmäßigkeit und Gerechtigkeit gewährleistet.

Tiefer ins Grundsätzliche der Gesamtkonzeption reichen Entscheidungen, die die Wirtschaftsordnung als Ganzes berühren. Kronstein, ein deutsch-amerikanischer Jurist, hat kürzlich in einem Vortrag mit dem bezeichnenden Titel „Rechtsauslegung im wertgebundenen Recht" auf das Beispiel eines gegen monopolistische Tendenzen gerichteten amerikanischen Bundesgesetzes aus dem Jahre 1914 hingewiesen. Durch Jahrzehnte hindurch hat die amerikanische Rechtsprechung dieses Gesetz um seine umfassende Wirkung gebracht, weil die Gerichte den altliberal aufgefaßten Werten uneingeschränkter Vertragsfreiheit und unbeschränkten Eigentumsschutzes — bewußt oder unbewußt — den Vorrang vor verwaltungsmäßigen Eingriffen gegeben haben, die aufgrund jener Gesetze der Konzeption einer gerechteren Sozialordnung dienen sollten. An das Beispiel knüpft Kronstein den Ruf nach der „Wiedererstarkung einer bewußten Wertordnung im Recht“, damit der Richter Recht und Rechtsanwendung an einem Zielbild ausrichte, in welchem er die Wirtschaftsordnung in Übereinstimmung mit der Gerechtigkeitsidee zu bringen versucht.

So sehen wir schon auf scheinbar unpolitischen Sachgebieten Aufgaben auf den Richter zukommen, die er nicht erfüllen kann, indem er nur mit den Sätzen und Worten des Gesetzes logische Operationen vornimmt, sondern bei denen sein Wille auf eine gerechte Ordnung des menschlichen Lebens gerichtet sein muß. Das Leitbild einer gerechten Ordnung, sowohl des Ganzen wie der einzelnen Sachgebiete, gibt seiner Rechtsanwendung Mittelpunkt und zusammenhaltenden Sinn. Dieses Leitbild des Ganzen wie des Teiles darf der Richter allerdings nicht willkürlich aufrichten, er muß es dem Gesetz entnehmen, und wo das Gesetz es nicht oder nicht deutlich erkennen läßt, aus der durch das Grundgesetz geformten Gesamtordnung herleiten und auf diese Gesamtordnung ausrichten. Gerade in der vielfach planenden und regelnden Massenfürsorge des modernen Gesetzgebers bedarf es des Richters, der nicht nur nach der Formel des altliberalen Rechtsstaates la bouche de la loi — der Mund des Gesetzes ist, sondern des Richters, der die Grundordnung und ihre Werte verwirklichen will. Indem dieser Richter seine Auslegung und Gesetzesanwendung an die Gesamtordnung des Rechts bindet, am Grundgesetz orientiert und unter das Gebot der Gerechtigkeit stellt, erfüllt er den Gehorsam gegenüber Gesetz und Recht, den er schuldet, ohne in willenlose Sklaverei gegenüber jedem beliebigen Gesetzesinhalt zu geraten. Er wahrt eine Rangordnung der Rechtssätze, die es ihm ermöglicht, das Funktionsrecht der modernen Massenfürsorge am Kernbereich des Rechts zu messen, wie er neben der Verfassung auch durch die überlieferten, der Willkür des Gesetz-gebers nicht beliebig zugänglichen Kernsätze des Straf-und Zivilrechts und die Überlieferung der Rechtsprechung selbst dargestellt wird. So zerfällt diesem Richter auch seine Rechtsprechung nicht in ein unzusammenhängendes Neben-und Nacheinander von Entscheidungen, sondern in ihnen gestaltet sich eine sinnvolle Einheit verwirklichten Rechts und bewährt sich eine im Recht gründende und vom Recht gesicherte Freiheit.

Wenn die dargelegte Auffassung von der Stellung des Richters zu Gesetz und Recht richtig ist, darf sie nicht scheitern, sondern muß sich erst recht bewahrheiten im Bereich des politischen Rechts und vor allem des politischen Strafrechts. Auf keinem anderen Rechtsgebiet hat der deutsche Richter seit eh und je dazu geneigt, sich hilflos dem nackten Gesetzesb e f e h 1 ausgeliefert zu fühlen und vielleicht ist er gegenüber dem geltenden Staatsschutzrecht noch versucht, entweder in gefühlsmäßiger Abneigung zu beharren oder wiederum seufzend dem Gesetz nur zu gehorchen. Auf diesem Gebiet bedarf er mehr als auf jedem anderen der Ermutigung zu einer in Freiheit geübten, auf die Freiheit ausgerichteten Rechtsanwendung.

Verglichen mit dem Frieden des 19. Jahrhunderts befinden sich die Staaten im Ausnahmezustand, und ihr Staatsschutzrecht läßt sich dem Recht eines Ausnahmezustandes vergleichen, wie demokratisch-liberale Staaten ihn in Notzeiten vorübergehend verhängen. Daraus allein ergibt sich ein grundlegender Unterschied zum Staatsschutzrecht der totalitären Staaten. Der totalitäre Staat drückt in seinem Staatsschutzrecht seinen Normalzustand der von einer Gewalt beherrschten und gelenkten Unfreiheit aus, so daß auch die leiseste Regung nach Aufhebung oder Lockerung des monistischen Zwangssystems unterdrückt werden muß. Für den freiheitlichen Verfassungsstaat dagegen ist das spezifische Staatsschutzrecht das Recht eines Ausnahmezustandes, dessen Sinn und Grenze von der Ordnung her verstanden werden muß, zu deren Verteidigung der Ausnahmezustand erklärt ist. Die Spannung zwischen der grundsätzlichen Freiheit, auf die das Ganze ausgerichtet ist, und der Ausnahme des Verbotenseins einzelner Betätigungen ist unserem Staatsschutzrecht wesentlich; diese Spannung muß ertragen und festgehalten werden, weil sich aus ihr sowohl rechtspolitisch wie methodisch — nämlich in der Rangordnung von Regel und Ausnahme — bedeutsame Folgerungen ergaben.

Das Staatsschutzrecht des 19. Jahrhunderts hatte sich im wesentlichen auf Sanktionen gegen den gewaltsamen Umsturzversuch in Form des Hochverrats und der Vorbereitung zum Hochverrat beschränkt. Jetzt aber im Gefühl der vielfachen Bedrohtheit sagt man im Hinblick auf die „ganz net 4cn un-istiirzlerischen Bewegungen, die eben nicht mit Gewalt vorgehen, auf jeden Fall die Gewalt nicht erkennen lassen“ mit Bildern aus dem militärischen Bereich, es gelte, den Feind im Glacis, im Vorfeld, in der Annäherung an sein Angriffsziel, zu stellen. Daraus erwächst dann der besondere Bereich und Begriff der Staatsgefährdung. Der gewisse Präventivcharakter dieser besonderen Tatbestände, ihr Abwehr-und Schutzzweck, der bestimmt ist durch das Abzielen auf einen noch nicht ganz genau voraussehbaren Feind und seinen noch nicht genau beschreibbaren Angriff lassen eine gleich exakte Tatbestandsformulierung wie in den klassischen Tatbeständen des Strafrechts nicht zu. Die Tatbestände müssen sich zwangsläufig darauf beschränken, die verfassungsmäßige Ordnung als Schutzobjekt und ihre Gefährdung durch ungefähr umschriebene Angriffshandlungen zu umreißen. So spricht beispielsweise der § 93 Strafgesetzbuch vom Herbeiführen oder Fördern „von Bestrebungen, die darauf gerichtet sind, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen oder zur Unterdrückung der deniokratisdten Freiheit einen der in § 88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben.“ Auch für den Laien muß es offenkundig sein, daß hier für den Richter nur ein Feld abgesteckt wird, innerhalb dessen er noch genauer bestimmen muß, auf wen eine solche Umschreibung zutrifft. Alles was wir vorhin vom Ordnungsbild des Richters gesagt haben, gilt hier im besonderen Maße. Der Richter, der uninteressiert und gleichgültig nur logisch subsumieren wollte, müßte den Sinn des Gesetzes verfehlen. Nur wenn er sich vom Geist der freiheitlichen Grundordnung inspirieren läßt und mit angespanntem Willen auf die Erhaltung der freiheitlichen Grundordnung hinstrebt, ist er in der Lage, die entscheidenden Grundsätze eines wirksamen und doch freiheitschützenden politischen Strafrechts festzuhalten.

Wirksam für den Schutz des Staates und doch freiheitschützend — das sind die beiden Seiten der einen Aufgabe. Wer nur die eine von beiden sieht und erfüllt, verfehlt das Ganze. Denn das Ganze, das dem Richter anvertraut wird, ist die freiheitliche Grundordnung. Sie kann ebenso durch die Angriffe ihrer Feinde wie durch ein Übermaß freiheitsbeschränkender Reaktion auf diese Angriffe beeinträchtigt und gefährdet werden. Denn das grundsätzliche Recht der freien politischen Betätigung ist dieser Ordnung unabdingbar mitgegeben. Sie beruht in ihrem Wesen darauf, daß in ihr die politischen Ideen sich frei entfalten und untereinander messen können, und zwar nicht nur die konformen, mit den unseren übereinstimmenden Gedanken, die den Grundsätzen einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung entsprechen, sondern auch jene, die diese Grundsätze nicht anerkennen, sie ablehnen oder ihnen gar andere entgegensetzen. Wem das zu kühn klingt, den verweise ich auf das KP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aus dem ich zwar nicht wörtlich aber sinngemäß eben zitiert habe. Man muß also mit dem Schlagwort „Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit“ vorsichtig sein; man darf nicht aus ihm herleiten, daß es bei uns keine Freiheit für Gedanken gebe, die der freiheitlichen Grundordnung feindlich seien. Die Freiheit des Gedankens muß bei uns unbedroht bleiben, selbst die Freiheit des freiheitfeindlichen Gedankens, solange er nur als Gedanke sich äußert. Im KP-Urteil ist klar gesagt, was zu den freiheitsfeindlichen Gedanken hinzukommen muß, um ihn verfassungsfeindlich im technischen Sinne und damit strafbar zu machen. Es muß hinzukommen „eine aktiv kätnpferiscke, aggressive Haltung gegenüber der bestellenden Ordnung . . . sie Muß planvoll das Funktionieren dieser Ordnung beeinträchtigen, int weiteren Verlauf diese Ordnung selbst beseitigen wollen. Das bedeutet, daß der freiheitlich demokratische Staat gegen Parteien mit einer ihm feindlichen Zielrichtung nicht von sich aus vorgeht, er verhält sich vielmehr defensiv, er wehrt lediglich Angriffe auf seine Grundordmtng ab.“

Lassen Sie mich bei dem Stichwort defensiv auf einen Gedanken abschweifen, den ich kürzlich in dem Buch von Lidell Hart über Strategie gelesen habe: „Die Defensive ist die stärkere und ökonomischere Form der Strategie .... die indirekte Form der Strategie überhaupt, die bei weitem aussichtsreichste und wirtschaftlichste Form der Strategie.“ Sollte das nicht auch eine weise Lehre für die Strategie im Kalten Kriege sein, sich von einem Gegner, der in diesem Kalten Krieg tausendfach Scheinangriffe, kleine Versuchsunternehmen wie auch ernstliche Angriffe unternimmt, nicht das Gesetz des Handelns aufzwingen lassen, sondern in der gelassenen Haltung der Defensive nur diejenigen Schläge führen, die Erfolg versprechen? Bei Lidell Hart lese ich eine Begründung für seine Abneigung gegen offensive Strategie, die mich auch für die Psychologie des Kalten Krieges interessiert: „Alle Bedingungen sind besser einzukalkulieren, und alle Hindernisse leichter zu übersteigen als die der menschlichen Widerstandskraft.“ Genau das ist es, was wir auch im Kalten Krieg, das heißt auch bei der Anwendung politischen Strafrechts fürchten müssen, wenn wir das rechte Maß überschreiten. Alle Irrlehren dieser Zeit haben einen Einschlag von Wahn und Besessenheit, und es muß dieser krankhafte Einschlag sein, der als menschlicher Widerstandswille geweckt und gerufen wird, wenn wir selbst anders als maßvoll, sachlich, ruhig und gerecht reagieren. In aller Anwendung politischen Strafrechts muß das Bild einer in sich sicheren, freiheitlichen Grundordnung, eines unbeirrbaren Willens zur Freiheit sichtbar und wirksam bleiben.

Es mag sein, daß manche eine offensivere Art der Anwendung politischen Strafrechts wünschen als sie von der Justiz der Bundesrepublik geübt wird. Kürzlich las ich in der Presse eine Mahnung, endlich etwas gegen die „strafbaren Ostkontakte“ zu unternehmen. Nun gibt es zwar in dem terroristischen System der Zone strafbare Westkontakte, aber vergleichbare strafbare Ostkontakte als solche kennt unser Strafrecht nicht, sondern Ostkontakte sind bei uns nur dann strafbar, wenn sie einen der umschriebenen Tatbestände z. B. verfassungsfeindlichen oder landesverräterischen Nachrichtendienstes erfüllen. Ostkontakte dagegen, die sich in Sympathiekundgebungen für das Zonenregime erschöpfen, mögen ärgerlich und widerlich sein, aber der Wunsch, sie auch bestraft zu sehen, entspringt doch wohl der Versuchung zu einer den Feind nachahmenden Gegenoffensive.

Der Vorsitzende der Rektorenkonferenz der Bundesrepublik, Professor Jahrreiß, hat unsere selbstsichere Liberalität, die ich meine, vor einigen Tagen unter Beweis gestellt, als er für die Rektorenkonferenz den Besuch des Leipziger Universitätsjubiläums ablehnte, aber den einzelnen Professoren freistellte, nach Leipzig zu fahren, und ihnen seinen Schutz verhieß, falls ihnen jemand deswegen Schwierigkeiten machen wolle.

Es ist kein Widerspruch zu unserer grundsätzlichen Liberalität, die auf Gesinnungszwang verzichtet und daher keine Gesinnung bestraft, wenn der Staat als Dienstherr gegenüber seinen Beamten ebenso wie Parteien, Gewerkschaften und anderen Verbänden gegenüber ihren Mitgliedern in der Frage solcher „Ostkontakte“ Disziplin fordern. Wer bei solchen Kontakten die Pflichten seines Standes oder das Ethos seiner Gruppe verletzt, indem er Partei gegen'das eigene und für das feindliche Lager ergreift, muß es als natürliche Folge hinnehmen, daß er Amt oder Mitgliedschaft verliert, weil er sie verleugnet hat.

Grenzen des politischen Strafrechts

Bin ich abgewichen? Dann will ich zurückkehren und will auch rechtlich formulieren, was ich eben im Gedanken der Defensive mit einem Argument der Klugheit zu begründen versucht habe. Da die freiheitliche Grundordnung im ganzen gewahrt werden, da also die Freiheit so wenig wie möglich eingeschränkt werden soll, steht die Anwendung politischen Strafrechts wesensgemäß unter dem Gebot des rechten Maßes: die politische Strafverfolgung soll nicht weiter greifen, nicht mehr Personen erfassen und im Einzelfall nicht härter strafen als zur Verteidigung der Freiheit notwendig ist. Die Einschränkung der Freiheit, die in der Anwendung politischen Strafrechts liegt, hat ihr Maß und ihre Grenze in dem, was zur Abwendung der der Freiheit drohenden Gefahr erforderlich ist.

Natürlich ist mit solcher Einstellung und Praxis ein Risiko verbunden, weil die Gewährung der Freiheit, selbst für freiheitsfeindliche Gedanken, die Gefahr der Bildung freiheitsfeindlicher politischer Gruppen in sich enthält. Dieses Risiko kann in einer freiheitlichen Ordnung nicht völlig vermieden werden, wenn nicht die Freiheit ersticken soll.

Der Geist der Freiheit hat den Mut, das Risiko auf sich zu nehmen, freilich nicht blind und unbeschränkt, sondern mit dem durch die Erfahrung gewitzigten Willen zu wachsamer Abwehr bösartigen Mißbrauchs.

Wenn auch selbst dem freiheitsfeindlichen Gedanken die Gedankenfreiheit gewährt ist — auf dem Marsch zur Verwirklichung muß er aufgehalten werden. Das KP-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die entscheidende Grenze bezeichnet: Wer über den Gedanken hinaus die freiheitliche Ordnung tätig angreift, sie planvoll beeinträchtigt und darauf ausgeht, sie zu beseitigen, wird mit der Waffe des politischen Strafrechts abgewehrt. Lassen Sie mich beispielshalber, um ein der Öffentlichkeit aus Vorgängen der letzten Zeit vertrautes Problem zu nennen, die Frage berühren, ob der Antisemitismus als solcher schon mit dem Grundgesetz unvereinbar sei.

Die Antwort lautet etwa folgendermaßen: Eine anti-semitische Bestrebung erfüllt diese Voraussetzung dann, wenn sie nicht nur theoretisch Auffassungen über Vorzüge und Nachteile, Höher-oder Minderwertigkeit der jüdischen Rasse im Verhältnis zu anderen Rassen vertritt, sondern wenn sie aktiv einer Verwirklichung zustrebt, in der ein Ausnahmerecht gegen die Juden statuiert wird. Der aktive, der militante Antisemitismus, der an die Rechtsordnung Hand anlegt, den Gleichheitssatz aufheben will, strebt einer Gewalt-und Willkürherrschaft im Sinne des § 88 Strafgesetzbuchs zu. Diese Voraussetzung ist beispielweise dann gegeben, wenn in einer Schrift ein Sonderrecht gegen die Juden verlangt wird, das sie aus jedem Amt und Einfluß ausschließen sollte.

Nicht das Ärgerliche und Verächtliche des Antisemitismus an sich schon ist ein hinreichender Grund zur Anwendung des § 93, so daß Äußerungen des Antisemitismus, die im Bereich des Gedanklichen bleiben — wissenschaftlich-theoretisch, weltanschaulich —, jedenfalls nicht als verfassungsfeindlich strafbar sind, wenn sie auch möglicherweise unter das neue Gesetz gegen Rassenhetze fallen werden. Erst die Tendenz zur Schaffung eines mit dem Grundgesetz unvereinbaren Rechtszustandes macht die Verfassungsfeindlichkeit aus. Sie sehen, meine ich, auf der Waage solcher Erwägungen beides: sowohl die Sorge um den Schutz der Grundordnung gegen sie untergrabende Einflüsse wie andererseits die Sorge um den Schutz der Meinungsfreiheit, selbst zu Gunsten unsympathischer Meinungen.

Das letztere ist der öffentlichen Meinung nicht immer leicht klarzumachen, und doch muß sich die Geltung einer freiheitlichen Grundordnung gerade dann bewähren, wenn nicht eine nützliche oder sympathische Meinung, sondern eine an sich unsympathische Meinung, allein um des hohen Gutes der Meinungsfreiheit willen, den Schutz genießt. Überhaupt wird die freiheitliche Grundordnung nicht nur durch die Anwendung, sondern ebensosehr und ebensooft durch die bewußte Nichtanwendung politischen Strafrechts gewährleistet, sei es, daß überhaupt nicht angeklagt wird, sei es, daß das Gericht nicht verurteilt. Wir haben mancher Versuchung zur Ausweitung der politischen Tatbestände widerstanden und glauben, darin nicht weniger unseren Auftrag zur Verteidigung der freiheitlichen Grundordnung erfüllt zu haben, als wenn wir angeklagt haben. Wir halten es für ein positives Unterscheidungsmerkmal zwischen dem politischen Strafrecht des Rechtsstaats und dem Terrorstrafrecht totalitärer Staaten, daß für uns die Fälle der Nicht-anwendung politischen Strafrechts ebenso wichtig sind, wie die Fälle von Anklage und Verurteilung, weil es uns nicht so sehr auf Anklage und Verurteilung ankommt, sondern viel mehr und entscheidend auf die Wahrung und Bewährung der Ordnung der Freiheit.

Ich will nicht verschweigen, daß mancher Freund und Feind Einwendungen gegen das hat, was ich Ihnen allgemein über Grenze und Aufgabe des magistratischen Amtes sage; ich spreche gern von einem magistratischen Amt, statt vom richterlichen, weil ich den Oberbegriff gern verwende, der mein eigenes, ein staatsanwaltschaftliches Amt mit umfaßt, und weil in der Tat der Begriff eines magistratischen Amtes ein Mehr an Auftrag und ein Mehr an eigener Verantwortung enthält, als die bürokratische Auffassung des Richterfunktionärs. Der magistratischen Vollmacht, die ich meine, mute und traue ich zu, ein Stück der Aufgabe und Verantwortung des Gesetzgebers aus der Vorstellung von gestern auf sich zu nehmen: die Verdeutlichung, Konkretisierung, auch Ergänzung des gesetzgeberischen Ordnungsbildes, an dem das menschliche Leben im Recht sich ausrichtet. Aber muß man dann nicht die richterliche Willkür fürchten, so daß, was gestern nur la bouche de la loi war, morgen eigene Gedanken an die Stelle des Gesetzes setzt? Die Gefahr ist nicht zu leugnen. Immer enthält die größere Vollmacht auch die Gefahr des größeren Mißbrauchs. Aber im Grunde ist das, was wir meinen, nicht etwas so grundlegend Neues. Immer schön haben wahre Richter selbstkritisch und verantwortungsbewußt es auf sich genommen, die Gesetze deutend zu verlebendigen, der Zeit anzupassen und das Recht fortzubilden. Wir rufen nur denen, die gar so gern sich hinter den Gesetzgeber verstecken, ihren wahren Auftrag und ihre volle Verantwortung ins Bewußtsein, und wir appellieren an einen Richter, der weiß, daß Gerechtigkeit nicht von selbst wird, sondern eines männlichen Willens bedarf, der sie verwirklicht, an einen Richter, der audi morgen in einer Bedrängnis wie gestern der nationalsozialistischen sich nicht mehr zum ohnmächtigen Anwender mißbräuchlicher Gesetze machen läßt, sondern aus der Verantwortung seines Amtes sein Ja und Nein zu Recht und Unrecht zu sagen weiß.

Bei Montesquieu gibt es den vielumrätselten Satz, daß die dritte, die rechtsprechende Gewalt, als Gewalt „en quelque facon nulle“ sei, also eigentlich gar keine Gewalt sei. Was auch Montesquieu dabei gemeint haben mag, mich hat der Satz lange Jahre hindurch gebannt, als die Justiz in den Fesseln eines bösen Regimes in der Tat nicht mehr im Stande war, Unrecht zu verhindern, ja selbst manchmal zum willenlosen Werkzeug des Unrechts wurde. In dem neuen Staat, der immer noch wird, den zu bauen uns allen aufgegeben ist, sollte die Rechtsprechung als die dritte Gewalt nicht mehr en quelque facon nulle sein, sondern die Gewalt und die Macht starker Willen, die ausgerichtet sind auf eine gerechte Ordnung.

Fussnoten

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