schrieben werden können, haben uns die beiden großen Beispiele totalitärer Staaten: der nationalsozialistische und der sowjetische vorexerziert, In beiden war die moderne°Kunst als „entartet“ und „volksfremd“ verpönt und verboten, in beiden wurde ein konventioneller „Realismus“ zum offiziellen Kunstkanon erhoben, beide Male war der Niedergang der Kunst die notwendige Folge,
Noch weniger als auf wirtschaftlichem Gebiet trauen wir auf künstlerischem, weltanschaulichem und religiösem Gebiet dem Staat ein höheres Wissen zu. Hier muß er den verschiedenen Richtungen und Gruppen volle Freiheit lassen, gerade auch um seinetwillen. Die für die moderne industrielle Gesellschaft unentbehrliche Wissenschaft kann nur in vollkommener Freiheit gedeihen. Ihre Existenz ist durch totalitäre Staatsordnungen bedroht. Es liegt eine gewisse welthistorische Gerechtigkeit darin, daß Hitler hervorragende jüdische Gelehrte zur Emigration gezwungen hat, die dann zum Siege der Alliierten über die „Achsenmächte" wesentlich beigetragen haben. So groß aber auch immer die Erfolge der sowjetrussischen Physiker und Raketenforscher sein mögen, so wenig kann daran gezweifelt werden, daß der Beitrag dieses begabten Volkes zur Wissenschaft der Welt noch viel bedeutender sein könnte, wenn sich auf allen Gebieten seine Qualitäten so frei entfalten könnten, wie in den wenigen vom Staate wegen ihres militärisch-technischen Nutzens nachdrücklich geförderten und von ideologischer Gängelung fast gänzlich befreiten Disziplinen.
Es ist schier unvermeidlich, daß von der gebotenen Freiheit oft auch ein falscher Gebrauch gemacht wird. Daß unter den Weltanschauungen und künstlerischen Richtungen, unter wirtschaftlichen Unternehmungen undinteressengruppen eine ganze Anzahl sich entwickeln, um deren Verlust es nicht schade wäre. Aber diejenigen verkennen das Wesen unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung und ihrer Institutionen, die allemal gleich nach dem Arm des Staates rufen. Zunächst und vor allem sind wir alle aufgerufen, wenn es um den Kampf gegen Mißstände und Mißbrauch der Freiheit geht. In der freiheitlichen demokratischen Welt des Westens ist keineswegs jeder nur sich selbst der Nächste, sondern jeder verantwortlich für alle. Zwar darf sich keiner zum Vormund des anderen aufwerfen, aber ebensowenig darf er sich vom Schicksal des Mitmenschen abwenden. Ich habe die tiefere Rechtfertigung dieses Systems der Freiheit in dem Menschenbild der christlich-humanistischen Tradition gesucht. Das bedeutet aber zugleich auch, daß nur durch eine sittliche verantwortliche Haltung der Staatsbürger die freie Welt im Konkurrenzkampf mit den auf reibungsloses Funktionieren konstruierten totalitären Staaten bestehen kann. An die Stelle wo dort der Zwang steht, muß bei uns die Selbstdisziplin treten, nur dann wird sich die freie Gemeinschaft dem Zwangskollektiv gegenüber wirklich als überlegen bewähren.
Man hat gelegentlich gesagt, daß der Westen von der Jugend zu wenig und der Osten zu viel verlange. Vordergründig scheint das zu stimmen. Aber im Grunde fordert die freie Welt von ihren Bürgern viel mehr als die totalitäre. Aller Wohlstand und alle Freiheiten, die wir in der Bundesrepublik genießen, dürfen uns keinen Augenblick vergessen lassen, daß wir in einer immer kleiner werdenden Welt eine ständig wachsende Verantwortung tragen, die an den Grenzen unseres Landes nicht halt macht. Wir sind , zu Partnern in der großen Gemeinschaft der freien Völker geworden und tragen mit an deren gemeinsamer Verantwortung. Kein Fehler eines Nachbars darf uns Gefühle der Schadenfreude erwecken, sondern nur ernste Besorgnis, kein Mangel in einem der Entwicklungsländer kann uns gleichgültig sein, wenn wir imstande wären, ihm abzuhelfen. Je weniger wir gezwungen sind, desto größer ist unsere Verantwortung. Die Freiheit ist nicht nur ein köstliches Geschenk, sondern legt uns auch große Pflichten auf. Seien wir der sowjetischen Welt dankbar, daß sie uns ständig an sie gemahnt.
Mit freundlicher Genehmigung der Europa-Union bringen wir hier den Vortrag zum Abdruck, den der italienische Botschafter in der Bundesrepublik Dr. Pietro Quaroni, anläßlich des XI. Kongresses der EuropaUnion am 3. Oktober 1959 in Dortmund gehalten hat.
Wenn man von der heutigen Stellung Europas in der Welt spricht, könnte man im Geiste des berühmten Ausspruchs von Sieyes über den dritten Stand sagen: Was war Europa? Alles. Was ist Europa heute? Nichts. Es ist heute selbst für uns alte Leute schwer, uns an die Stellung zu erinnern, die Europa noch zu Anfang der Jahrhundertwende besaß. Man erinnere sich auch zum Beispiel nur daran, daß in den letzten diplomatischen Verhandlungen vor dem ersten Weltkrieg sich die sechs führenden europäischen Staaten nicht einen Moment lang über die Haltung Amerikas kümmerten: man diskutierte darüber, was Griechenland oder Bulgarien machen könnte, aber nicht darüber, was die Vereinigten Staaten tun könnten.
Noch im Jahre 1932 hat Mussolini einem italienischen Diplomaten folgendes gesagt: Idi habe Sie zum Botschafter befördert. Leider kann ich Ihnen nicht einen Posten in Europa geben. Sie müssen sich mit Washington begnügen.
Bis zu Anfang des ersten Weltkrieges und bis zu einem gewissen Punkt noch am Vorabend des zweiten Weltkrieges konnte man meinen, daß eine in Europa gewonnene oder verlorene Schlacht über das Los von anderen Kontinenten entscheiden konnte.
Heute ist es etwas anders. Die wichtigste Entscheidung der Außenpolitik — Krieg oder Frieden — liegt nicht mehr in europäischen Händen. Wenn die Vereinigten Staaten und Rußland entschlossen sind, Frieden untereinander zu halten, umso besser für uns alle. Sollten jedoch Amerika und Rußland sich zum Krieg entschließen, dann würden wir alle von diesem Krieg verschluckt werden, ob wir es wollen oder nicht. Wir können versuchen, sie in dem einen oder anderen Sinn zu beeinflussen, entscheiden können wir nicht mehr.
Es gibt viele Leute in Europa, die behaupten, die Möglichkeit für unsere europäischen Länder, in einen Krieg verwickelt zu werden, hänge nur davon ab, daß wir mit Amerika in einem Bündnis stehen: der Atlantischen Allianz. Es ist nicht wahr. Sollten Rußland und Amerika sich für einen Krieg entscheiden, so wäre das viel mehr ein Weltkrieg als es der letzte war, und die Möglichkeiten, eine Neutralität zu bewahren, wären nur lächerlich gering. Eine Politik der Neutralität ist heute nur in Friedenszeiten möglich: dann, wenn die Neutralität eigentlich keine Bedeutung hat.
Neutralität als Politik ist nur für ein Land möglich, dessen Streitkräfte so stark sind, daß es für die kriegführenden Länder ein Wagnis bedeuten würde, sich mit diesem zu verfeinden. Kein Land auf der Welt, weder in Europa noch in anderen Erdteilen, besitzt heute solche Kräfte; so daß — ich wiederhole es — die Entscheidung Krieg oder Frieden nicht mehr in den Händen der europäischen Großmächte liegt, wie es drei Jahrhunderte lang der Fall war.
Vor vier Jahrhunderten war Europa nichts mehr als eine kleine Halbinsel des großen asiatischen Kontinents, von asiatischen Kräften — damals der Türkei — bedrängt. Byzanz war gefallen, die Balkanländer besetzt, Wien bedroht: Europa schien an die letzte Schanze gedrängt zu sein. Und plötzlich machen sich Portugiesen und Spanier auf den Weg zum Weltall. Was sucht Christophorus Columbus auf dem Weg nach Amerika? Den berühmten Priester Joham, einen möglichen christlichen Verbündeten gegen die Türken, und Gold, um die Armeen Europas gegen die Türken zu retten. Dasselbe suchte Vasco da Gama auf dem Weg nach Indien. Bewußt oder halbwegs bewußt, war es ein ungeheueres Umgehungsmanöver: so etwa wie es die Russen heute gegen den Westen mit ihrer Politik in den unentwickelten Ländern versuchen. Um sich gegen die Türken zu verteidigen, um sich zu retten, hat Europa die Welt erobert.
Zuerst Spanier und Portugiesen, nachher Franzosen und Engländer:
alles Europäer. Warum konnten sie die Welt erobern? Sie hatten bessere Waffen, sie waren in der Kriegshandlung überlegen. Schon immer waren die besten Waffen und die Überlegenheit in der Krieg-führung das ausschlaggebende Element. Die Mongolen von Dschingis Chan sind bis zur Adria vorgedrungen, weil ihre Pfeile eine bessere Waffe waren und ihre kriegerische Organisation der der anderen überlegen war. Die Türken haben als erste die Bedeutung der Artillerie begriffen und haben als erste eine geschulte Infanterie organisiert. Es ist schade, daß die militärische Macht noch solche Bedeutung in der Welt besitzt, aber es ist eine Tatsache, die man nicht vergessen darf. Auch die beste Zivilisation der Welt, das beste soziale System können nicht bestehen, wenn man nicht imstande ist, sie zu verteidigen.
Die Conquistadores hatten nicht nur die besten Waffen, sie waren auch überzeugte Christen. Sie haben Gold gesucht, ohne Zweifel, aber sie haben auch den christlichen Glauben gesät. Auch ihre Nachfolger waren Christen, aber sie haben sich nicht so sehr um die Verbreitung des christlichen Glaubens gekümmert; mit der Zeit ist diese christliche Idee in den Hintegrund getreten. Europa hat sich gerettet und hat die Welt erobert, weil die Europäer von damals gute Waffen, festen Glauben, Vertrauen in ihre Zukunft hatten. Das alles hat ihnen den Mut gegeben zu großen Abenteuern.
In Berlin gibt es keine Möglichkeit zu Illusionen
Diese Vorherrschaft Europas konnte natürlich nicht anhalten. Nichts auf dieser Erde ist von ewiger Dauer. Und schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts konnte man die Anzeichen einer Entwicklung erblicken, die diese Vorherrschaft Europas herausforderte und zwei Kriege während einer Generation haben diese Entwicklung beschleunigt. Nach dem 1. Weltkrieg haben die Zurückziehung Amerikas in einen neuen Isolationismus und die zeitliche Ausschaltung Rußlands wegen seiner Revolution uns die Illusion gegeben, daß es noch weitergehen könnte wie früher. Diese Illusion hat uns in den 2. Weltkrieg gestürzt, und am Ende dieses Weltkrieges war es mit Europa aus. Haben wir das völlig begriffen? Ich fürchte, nein. Vergegenwärtigen wir uns eihmal: vor 50 Jahren war die Ruhr noch das größte Stahlerzeugnungszentrum der Welt. Seitdem hat sich die Ruhr an und für sich noch mächtig entwickelt. Aber wenn man heute von den 10 größten Hüttenwerkseinheiten der Welt spricht, so handelt es sich um sieben, die in den Ver-eingten Staaten liegen, und um zwei in Rußland, während an 10. Stelle bereits ein chinesisches Werk zu finden ist. Somit beginnt diese Liste mit Magnetogorsk (Rußland) 6, 6 Mill. Tonnen Stahl jährlich, und endet mit Anshang (China) 3 Mill. Tonnen Stahl jährlich. Im Verhältnis betrachtet hat Europa enorm viel und in ausschlaggebender Weise verloren. Das ist es, was wir nicht sehen wollen, und das ist das größte Hindernis auf dem Weg der Integration Europas. Wenn man in den Straßen von London und Paris herumgeht, hat man den Eindruck, es sei alles beim alten, eigentlich viel besser als vorher. Und es gibt eine gewisse Tendenz, aus diesen Eindrücken falsche Konsequenzen zu ziehen und die Weltentwicklung nicht richtig einzuschätzen.
Eine Ausnahme bleibt Berlin. Berlin ist heute ein memento mori für Europa. An der Stalinallee beginnt eine russische Stadt, am Kurfürstendamm eine westliche Stadt. Zwischen diesen beiden liegen noch Ruinen des deutschen Berlins. Das sollten alle Europäer sehen und bedenken. In Berlin sieht man heute die Realität Europas. In Berlin gibt es keine Möglichkeit, sich Illusionen zu machen.
Ich habe das betont, weil meiner Meinung nach diese Anerkennung des Untergangs der ehemaligen Großmächte Europas unumgänglich für eine wirkliche und gesunde Entwicklung der Idee der Einigung Europas ist. Solange die Illusion besteht, daß die einzelnen europäischen Länder eine eigene Politik betreiben können, daß sie allein eine wenn auch zweitrangige Großmacht-Stellung in der Welt zurückerobern können, verliert die Idee der Integration Europas ihre ganze Logik. Sie scheint nur eine Alternative zu sein, die man annehmen kann oder nicht. Es gibt jedoch keine Alternative mehr, entweder Integration oder Untergang Europas.
Die Zeit der Größe Europas, die Zeit der Großmachtstellung der einzelnen europäischen Staaten ist vorbei und kann nicht wiederkehren, Das ist noch nicht immer klar. Im Gegenteil, unser politisches Denken bewegt sich noch immer in dem herkömmlichen Rahmen. Wir träumen zuviel von einer möglichen Wiederkehr der politischen Rolle, die wir vor dem 1. Weltkrieg gespielt haben. Manchmal kommt einem der Gedanke an die Verdammten der Hölle von Dante, die vorwärts schreiten mit dem Kopf nach rückwärts gedreht.
Die Geschichte geht nie zurück. Das römische Reich war das Ergebnis einer Menge von LImständen, die nicht wiederkehren können. Wohl könnte Italien theoretisch eine Großmacht werden, auch eine entscheidende Machtstellung erwerben. Aber es wäre etwas ganz anderes gewesen als das römische Reich. Ebenso könnten theoretisch unter gewissen Umständen die verschiedenen Staaten Europas, besonders wenn vereint, eine Großmachtstellung erlangen. Aber es wäre doch immer etwas ganz anderes als die Herrschaft, die Europa ungefähr drei Jahrhunderte lang in der Weltgeschichte ausgeübt hat. So müssen wir vor allem ein für allemal begreifen, daß die Vergangenheit Vergangenheit ist. Es mag schön gewesen sein, aber es ist vorbei. Noch etwas müssen wir verstehen. Eine Großmachtstellung kann keiner von uns allein zurückgewinnen. Unsere nationale Wirtschaft kann sich weiterentwickeln. Neue Reichtumsquellen können erschlossen werden, wir können einen noth größeren Wohlstand erreichen; aber eine wirkliche Großmachtstellung können wir, ein jeder von uns allein, nicht mehr erreichen. Ich wiederhole: Wenn ich von Großmachtstellung spreche, meine ich eine Stellung, die es einem ermöglicht, souverän über Krieg und Frieden zu entscheiden.
Warum? Leider bedeutet Macht immer militärische Macht. Wir können auf eine Gesellschaftsordnung der Zukunft hoffen, wo andere Elemente entscheiden werden als die bloße militärische Macht; aber das ist ein Traum der Zukunft, es ist nicht die heutige Realität. Und heute kann keine der ehemaligen Großmächte Europas sich eine militärische Macht schaffen, die groß genug ist, um sich eine Neutralität zu garantieren, um von sich selbst aus über Krieg tind Frieden entscheiden zu können. Darüber muß man sich ganz klar sein. Einige nukleare Waffen zu haben, heißt nicht, Großmacht zu sein. Wenn ich mir ein Millionärs-Auto kaufe, so ist das nicht genug, um Millionär zu sein. Die Rüstungen, die heute möglich sind, um eine moderne, kampffähige militärische Macht zu haben, sind zu teuer für den Haushalt auch der reichsten europäischen Länder.
Kein noch so entwickeltes europäisches Land kann von allein bei sich zu Haus die industrielle Organisation schaffen, die für eine komplette, moderne Rüstung nötig wäre. Heute beträgt der Haushalt der deutschen Bundeswehr ungefähr 13 Milliarden DM. Im Jahre 193 8 betrug der Militärhaushalt Deutschlands ungefähr 16 Milliarden DM. Der Unterschied ist nicht so groß. Aber die 16 Milliarden von damals waren genug, um eine Militärmacht zu schaffen, die die ganze Welt herausfordern konnte. Heute kann keine Rede davon sein.
In diesem Sinn verschlechtert sich verhältnismäßig die Stellung Europas ständig und verbessert sich nicht. Spengler hat schon vor 40 Jahren vorausgesagt, daß eine Epoche kommen würde, in der die Groß-mächte immer größer und die kleineren Mächte immer kleiner werden würden. Aber auch er ahnte nicht — glaube ich — wie schnell das eintreffen würde.
Die Atlantische Allianz ist zehn Jahre alt. Vor zehn Jahren, als die nuklearen Rüstungen nur an der Stelle der strategischen Luftwaffe des letzten Weltkrieges in Betracht kamen, war der Machtunterschied zwischen den möglichen Panzerdivisionen Europas und denen der Vereinigten Staaten oder Rußlands nicht absolut. Es war, wenn man will, ein quantitativer und kein qualitativer Unterschied. Mit der Entwicklung der nuklearen Waffen, die in diesen zehn Jahren stattgefunden hat, hat der Unterschied zwischen den europäischen Ländern und den beiden Welt-Großmächten enorm zugenommen. Das scheint so einfach und so klar: doch haben das viele Leute und Länder nicht verstanden. Einige der europäischen Staaten sind noch weit entfernt von dieser Erkenntnis, andere sind näher. Aber auf Regierungsebene, fürchte ich, hat noch keiner der europäischen Staaten dies vollkommen verstanden.
Es liegt an diesem Nicht-Verstehen-Wollen oder -Können dieser sehr einfachen Tatsache, daß es Hindernisse auf dem Wege der Integration Europas gibt.
Es ist nur die Integration Europas, die etwas daran ändern kann. Nicht von einem Tag zum andern natürlich. Aber ein integriertes Europa könnte mit der Zeit, mit dem erforderlichen Willen und Opfern sich eine komplette moderne Rüstung geben.
Viel Worte und wenig Taten
Ich möchte nicht mißverstanden werden. Ich glaube nicht, daß auch unter solchen Umständen Europa zur dritten Weltmacht werden könnte, einer Weltmacht, die den Vereinigten Staaten oder Rußland wirklich ebenbürtig sein würde. Aber es könnte ohne Zweifel ein wichtiger Verbündeter Amerikas werden, wie es z. B. während des zweiten Weltkrieges Großbritannien noch gewesen ist. Dazu braucht man Zeit: zehn Jahre, zwanzig Jahre wahrscheinlich. Als einzelne Staaten können wir ehemaligen europäischen Großmächte nur verhältnismäßig noch unbedeutender werden. Zusammen jedoch können wir etwas werden: zusammen und nur zusammen können wir eine Zukunft haben.
War dies von Anfang an bei der Bewegung zur europäischen Integration klar? Ich bin darüber nicht sicher. Man hat die europäische Integration eher als ein Mittel betrachtet, um den Zwietrachten zwischen den europäischen Ländern ein Ende zu machen. Wir hatten endlich begriffen, daß dieses ewige gegenseitige Bekriegen nur zur Vernichtung Europas führte. Das ist schon sehr gut: Hätten wir das nur vor vierzig Jahren schon verstanden. Aber an der Wiederherstellung der Macht Europas in der Welt hat man nicht gedacht, oder wenigstens nicht klar genug gedacht. Lind das ist heute noch so.
Man hat viel über Europa gesprochen. Hat man ebensoviel dafür getan? Meiner Meinung nach nein. Man hat für Europa bedeutend mehr Worte verwendet als Taten. Lind Worte sind keine Taten.
Der Mann, der Europa auf den Weg übernationaler Behörden für begrenzte Zwecke leitete, hat wahrscheinlich ehrlich geglaubt, damit allmählich zur Integration Europas gelangen zu können. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, glaube ich, er hat Europa in eine falsche Richtung gelenkt. Die Franzosen sagen, daß, wenn die Regierung oder das Parlament etwas nicht zu machen wünschen, man die Sache einer Kommission übergibt: eine Art von freudianischer Verdrängung und das trifft auch in bezug auf Europa zu. Die Integration Europas ist eine politische Angelegenheit und nicht eine technische oder ökonomische oder fachmännische. Sie muß politisch behandelt werden und nur als solche. Ich möchte nicht mißverstanden werden. Ich habe nichts gegen diese Organisationen. Nehmen wir zum Beispiel die letzte dieser Organisationen, den Gemeinsamen Markt. Ich bin überzeugt, daß der Gemeinsame Markt nicht nur eine sehr gute Sache ist, sondern auch für eine weitere Integration Europas absolut nötig ist, nötig, -aber nicht ausreichend. Ein Haus ohne Treppe ist undenkbar, aber wenn man nur die Treppe baut, ist das nicht ein Haus.
Es ist die Folge unserer allzu materialistischen Konzeption der Probleme unserer Gesellschaft. Es ist wahr, daß es mit einem gut gelungenen Gemeinsamen Markt wahrscheinlich möglich wäre, mehr Leute zu haben, die sich ein Auto oder einen Fernseher leisten können. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Man hat gesagt, daß man durch diese Hohen Behörden sich allmählich daran gewöhnt, auf die Souveränität des Staates zu verzichten. Das trifft nicht vollkommen zu: diese Behörden sind nur ein Scheinverzicht. Das hat uns die Montanunion gezeigt. Noch in diesem Frühjahr hatte die Hohe Behörde wegen " der Kohlenkrise einige Beschlüsse getroffen, aber die deutsche und die französische Regierung haben diese nicht angenommen und die Hohe Behörde hat ihre Beschlüsse in die Schublade zurücklegen müssen. Ich will hier nicht darüber diskutieren, ob diese Beschlüsse der Hohen Behörde gut waren oder schlecht. Das hat nur gezeigt, wenn die Regierungen nicht einverstanden sind, alle Befugnisse, die angeblich die Hohe Behörde, wenn auch vertragsmäßig, hat, belanglos sind.
Man spricht seit langem so viel von direkten europäischen Wahlen, als ob die europäischen Probleme dadurch gelöst sein könnten. Wie bekannt, gibt es neben den verschiedenen Behörden parlamentarische Ausschüsse, die von den nationalen Parlamenten gewählt sind. Man behauptet, wenn die Mitglieder dieser Ausschüsse direkt gewählt würden, hätten sie eine viel größere Autorität.
Meiner Meinung nach ist das nicht wahr. Die Macht eines Parlaments besteht darin, daß es das Recht hat, die Regierung zu kontrollieren und zu stürzen: das ist wesentlich. Wenn der Verfassung nach eine Regierung auch gegen den Willen des Parlaments an der Macht bleiben kann, dann hat das Parlament keine eigentliche Macht mehr. Dieses europäische Parlament könnte eine Macht werden, wenn zu gleicher Zeit eine europäische Regierung bestünde, die dieses Parlament stürzen könnte. Aber solange es keine europäische Regierung gibt, die einem europäischen Parlament gegenüber verantwortlich ist, ist das Parlament, auch wenn direkt gewählt, nur eine Sammlung von sehr ehrbaren Leuten, die gute Reden halten können, wohl auch vernünftige Vorschläge machen, aber keine eigentliche Macht besitzen. Auch die Ausschüsse, wie sie heute sind, können einen sehr großen Einfluß haben. Die Minister achten weiter nicht auf die Vorschläge des Ausschusses: gut, aber wenn die Parlamentarier nach Hause kommen, könten sie ihren Einfluß im nationalen Parlament ausnützen, um die Regierung zu zwingen, ihre Vorschläge anzunehmen. Sie tun das nicht, weil in dem nationalen Parlament keine Mehrheit für ihre Vorschläge besteht, oder weil sie bloß zu Hause vergessen, was sie in Straßburg oder Brüssel gesagt haben. Direkt gewählte Vertreter würden wahrscheinlich dasselbe tun. Hohe Behörde, Kommissionen, parlamentarische Ausschüsse, sind nur Auswege, um die Frage der Integration Europas, eine rein politische Frage, nicht direkt anzupacken. Man wagt nicht, die Hauptfrage aufzugreifen, man sucht nach Ersatz. Durch Ersatzmittel und Umwege hat man nie etwas konstruktives geschaffen.
Die Integration Europas, ich wiederhole es, ist vor allem eine politische Angelegenheit: es gibt keine Integration ohne eine gemeinsame Außenpolitik. Aber Außenpolitik ohne militärische Macht hinter sich ist keine Außenpolitik. Darum ist die Militärmacht-Frage die Hauptfrage Europas. Können wir für diese militärische Integration einen ge-meinsamen Nenner finden, dann ist Europa eine Realität. Gelingt uns das nicht, dann haben wir kein Europa.
Das haben die Kommunisten gut verstanden, als sie so eifrig gegen die europäische Armee gekämpft haben, und leider haben sie gewonnen. Wir haben das, fürchte ich, noch nicht vollkommen verstanden.
Man muß klar sehen, wozu man Europa schaffen muß. Nur wenn das eindeutig verstanden ist, kann man sich um das „wie“ kümmern.
Das „warum“ klar zu verstehen, ist auch noch nicht genug: einen festen Willen braucht man, festen Willen, feste Überzeugungen, Entschlossenheit. Dazu sind heute ein paar Leute nicht genug.
Mit der Vernunft allein geht es nicht
Wir leben heute in einer Zeit der Massen. Die Demokratie ist an sich eine Massenregierung. Darum ist nur das wirksam, was die Massen verstehen, was die Massen bewegen kann. Die Vereinigung Europas kann nicht das Ergebnis der Entscheidung einiger intelligenter und ehrwürdiger Leute sein. Diese Leute können höchstens Triebfedern sein, um die öffentliche Meinung zu bewegen. An sich haben sie auch keine Macht. Das hat man, fürchte ich, vergessen. Man hat die Möglichkeiten der Diplomatie, der Außenpolitik überschätzt: Diplomatie und Außenpolitik können nicht allein die Vereinigung Europas durchsetzen.
Eigentlich ist es immer so gewesen. Man sagt in Deutschland, daß es Bismarck war, der die Vereinigung Deutschlands zustande gebracht hat. Dasselbe sagt man in Italien von Cavour. Meiner Meinung nach stimmt das nicht ganz. Die Verdienste Bismarcks und Cavours für die Einigung Deutschlands und Italiens sind enorm, aber sie liegen woanders. Mit der Vereinigung Deutschlands und Italiens sind im europäischen Konzert der Mächte zwei neue Mächte aufgetreten. Eine größere Macht, Deutschland, eine kleinere, Italien. Das Auftreten einer neuen Großmacht ist immer eine Verschiebung der existierenden Machtverhältnisse. Darum stößt das immer auf einen gewissen Widerstand. Die Vereinigung Deutschlands und Italiens hat nicht unter dem Beifall der anderen Mächte stattgefunden, im Gegenteil. Das große Verdienst von Bismarck und von Cavour war, daß sie die sich bietenden außenpolitischen Möglichkeiten glänzend benützt haben, um diese Vereinigung möglich zu machen. Ohne Zweifel ein sehr großes Verdienst. Aber die Vereinigung an sich entstand nicht aus ihrem Willen heraus oder aus ihrer Tätigkeit.
Es ist auch fraglich, für Cavour wie für Bismarck, ob sie — zu Anfang wenigstens — dieses Ziel klar vor Augen gehabt haben. Die Vereinigung Deutschlands und Italiens ist aus der Tiefe des Volkes gekommen, ihre Wurzeln sind sentimentalen Ursprungs. Dichter, Philocophen, Geschichtsschreiber haben diese tiefen Gefühle, die Romantik der Massen erweckt. Cavour und Bismarck haben dieser tiefen Massen-bewegung die Möglichkeit zur Verwirklichung gegeben. Aber die Idee existierte und wirkte vor ihnen. Vernunft war auch dabei, Machtwille ebenfalls in diesem Streben nach nationaler Einheit. Es gab viele Italiener und viele Deutsche, die die Vereinigung ihres Vaterlandes wünschten, weil sie ihm eine Machtstellung in der Welt geben wollten, der Machtstellung der alten herkömmlichen Großmächte England, Frankreich oder Österreich ebenbürtig. Aber für nur sachliche Gründe läßt man sich nicht töten: und keine Idee kann verwirklicht werden, wenn junge Leute nicht bereit sind, für sie zu sterben.
Ich habe vor kurzem in Mailand, in einer Ausstellung des Jahres 1 859, einen kleinen Kupferstich gesehen: die Erstaufführung der Garibaldi-Hymne. Schlechte Musik und shiechte Dichtung, kann man heute sagen, und wahrscheinlich mit Recht. Aber tausende von jungen Leuten sind mit dieser schlechten Musik auf den Lippen gestorben. Wahrschein-lich gibt es für die deutsche Vereinigung auch so etwas, was der Garibaldi-Hymne gleichkommt.
Das ist meiner Meinung nah, was der Vereinigung Europas fehlt: etwas Lin-Vernünftiges, Romantishes, auh shleht Dihterishes, wenn man will, aber etwas, das die Gefühle der Massen der Jugend wirklih bewegen kann.
Wir Europäer, die hier oder woanders versammelt sind, haben ohne Zweifel viel geleistet und viel guten Willen gezeigt. Doh etwas fehlt: wir sind zu vernünftig, wir haben für die Vereinigung Europas nur vernünftige Gründe gehabt, und vernünftige sahlihe Wege, Kohle, und Stahl, Wirtshaft, Handel. Darum haben wir keine wirklihe Begei-sterung für Europa entdecken können. Mit Vernunft allein jedoh hat man sehr wenig in der Weltgeshihte erreiht: ein bißhen Narrheit ist unentbehrlich. Vernunft ist nötig, um tiefe, romantische Gefühle in praktishe Gleise zu lenken. Aber Vernunft allein ist niht viel wert. Die Welt wäre zu shön, könnte sie von der Vernunft regiert werden.
An einigen europäishen Versammlungen habe ih teilgenommen, andere habe ih durh die Presse verfolgt. Es sind immer dieselben Leute, die sih versammeln, überzeugte Leute, ehrliche Leute, aber immer nur dieselben: das ist niht genug. Man sollte vielmehr herum-gehen, herumsprechen, wie die ersten Apostel der Religion. Man sollte die Leute überzeugen, die niht für Europa sind. Was ist es sonst, was wir tun? Ein Zusammentreffen überzeugter Leute. Ein Sichzufriedengeben mit dem, was man getan hat, ein Sichzufriedenstellen mit Worten. Lind man kommt niht voran.
Ih habe soeben gesagt, nah dem „wozu“ kommt die Frage „wie“. Dafür muß man zuerst klar sehen, was möglih ist und was niht Alle Europäer, oder fast alle die sih versammeln, sind im Grunde genommen Föderalisten. Ih bin auch Föderalist, in dem Sinn, daß ih über-: zeugt bin, daß das perfekte Europa, das Endziel Europas, nur eine politische Föderation sein kann. Aber ist das heute möglih?
Wo liegen die shwierigsten Hindernisse auf dem Weg zu einer europäishen Vereinigung? Sie liegen in Frankreich und in England.
Das ist auh verständlih. Deutshland und Italien haben in ihrer Geshihte zwei vershiedene Traditionen: eine nationale und eine übernationale. Deutshland und Italien haben Jahrhunderte lang in dem Rahmen zweier übernationaler Institutionen gelebt: dem Heiligen Römischen Reih und dem Papsttum. Deutshe und Italiener haben Jahrhunderte hindurh ehrlich und bewußt für andere Mähte gekämpft oder Politik und Diplomatie getrieben. So daß für uns die Vershmel-. zung in einen übernationalen Staat niht gegen unsere Tradition ist. Anders ist es bei Frankreih und bei England. Shon vor 900 Jahren sagte der König von Frankreih, daß er Kaiser in seinem Königreih sei. Auch England hat eigentlich nie dem Heiligen Römishen Reih angehört. Aber was noh wihtiger ist: Deutshland und Italien haben niht die Möglihkeit gehabt, sih täushen zu lassen. Wir haben den Krieg verloren. Unsere Machtträume wurden durh den Krieg zerstört, sie haben uns nur Trümmer und Leiden gebraht. England ist noh das Zentrum eines Commonwealth, eines Reihes, Frankreich hatte noh am Ende des Krieges weiten Kolonialbesitz, so daß für beide Länder — für England noh mehr als für Frankreih — die Illusion einer möglihen Wiederherstellung ihrer individuellen Machtstellung in der Welt im Bereih des Möglihen sein mohte.
Es ist nicht vollkommen wahr, daß England sih gegen Europa gestellt hat. England hat sih vom ersten Moment an klar gegen eine europäishe Verfassung gestellt. England will vom Föderalismus nihts hören. Die Engländer haben immer an Europa als eine Nebeneinander-. Stellung von souveränen Regierungen gedaht, um zusammenzuarbeiten nur soweit es nützlih und möglih ist. Wahrsheinlih etwas wie das britishe Commonwealth, das keine Verfassung hat, aber doh eine Realität ist: obwohl Commonwealth und Europa eigentlih niht miteinander zu vergleihen sind.
Die Kontinentalen wollten im Gegenteil eine Verfassung, sie wollten etwas mehr als die bloße Nebeneinanderstellung selbständiger Regie-: rungen. Das war der erste Brüh im Straßburgishen Europa: sechs Länder — Deutshland, Frankreih, Italien und die drei Beneluxländer — haben sih bereit erklärt, weiterzugehen in einer mehr oder weniger ausgeprägten föderativen Richtung. Aber Frankreichs Haltung war unentschlossen. Einige Franzosen, darunter der hervorragendste von ihnen, Robert Schuman, hatten begriffen, daß eine isolierte Wiederherstellung der Macht Frankreichs unmöglich war. Darum waren sie bereit, wenn auch auf dem vorsichtigen Umweg der Hohen Behörde, in einer föderalistischen Richtung weiterzugehen. Aber die Schuman’schen Franzosen waren leider nie die Mehrheit. Die Anhänger des Europa der Sechs waren in Frankreich nur eine politische Partei, die gegen andere Parteien kämpfte. Jetzt hat in Frankreich eine andere Richtung die Ober-hand gewonnen: „l’Europe des patries". Was ist eigentlich dieses Europa der Vaterländer? Es ist eine Allianz, tiefer und intimer wenn man will, als die traditionellen Allianzen, zwischen den sechs Staaten Kontinentaleuropas, um zusammen ihre gemeinsamen Interessen zu und eine größere Machtstellung in zu verteidigen gemeinsam der Welt erobern, aber unter voller Bewahrung ihrer staatlichen Persönlichkeit. Die Institutionen, Behörden oder Verfassungen werden später in dem Maße kommen, wo sie sich als nötig und reif erweisen.
Ein Europa der Vaterländer?
Diese Konzeption der „Europe des patries" steht im Gegensatz zu der Auffassung der Hohen Behörde. Man sagt, daß es unmöglich ist, „vaterlandslosen technischen Räten“ wichtige ökonomische oder politische Entscheidungen zu überlassen; nur die Regierungen können solche Entscheidungen treffen. Es gibt somit zwei mögliche Konzeptionen von Europa: Groß-Europa, das heißt ein Europa mit England und seinen befreundeten Staaten; Klein-Europa, das sind die sechs Staaten des Gemeinsamen Marktes.
Was wollen wir denn, wir Deutschen und Italiener? Wollen wir dieses Groß-Europa? Gut. Dann müssen wir es schaffen so und soweit wie die Engländer bereit sind es anzunehmen. Ökonomisch nur die Freihandelszone, politisch und militärisch nur irgendeine pragmatische Entwicklung des UEO. Nicht viel, sehr pragmatisch, sehr elastisch, sehr flüssig: und dann abwarten und sehen wie sich die Umstände entwickeln, und wie diese Umstände diese Entwicklung der öffentlichen Meinung in den verschiedenen Ländern beeinflussen.
Oder sind wir für Klein-Europa? Gut. Aber dann müssen wir uns auch damit abfinden, daß das jetzige Frankreich die föderalistische Grundidee der Schuman-Periode nicht mehr annimmt: das heißt, keine föderalistischen Träume mehr, nur das Europa der Vaterländer. Wir Deutschen und Italiener können weder die Engländer noch die Franzosen zwingen, unsere Auffassung Europas anzunehmen. Wir können nur hoffen, daß mit der Zeit die Dinge sich anders entwickeln werden.
Dann kommt noch eine andere Frage zu Klein-Europa: Frankreich verlangt für sich wenn nicht verfassungsmäßig, so doch ziemlich deutlich eine führende Stellung. Was eigentlich diese führende Stellung bedeutet, ist nicht klar und wird wahrscheinlich nie klar sein. Man könnte vielleicht sagen, daß Frankreich der Meinung ist, eine Welt-macht mit Weltinteressen zu sein; Deutschland und Italien sind hingegen nicht solche Weltmächte. Ob das wahr ist oder nicht, läßt sich diskutieren, aber eines steht fest: wenn wir Klein-Europa mit Frankreich machen wollen, müssen wir diese wenn auch unklar definierte führende Stellung Frankreichs akzeptieren. Wenn Sie wollen, ist das der Preis, den wir zahlen müssen, um Frankreich zur Europa-Idee oder auch nur zu dem Europa der Vaterländer zu bekehren.
Allerdings müssen wir auch damit rechnen, daß England dieser Form von europäischer Integration nicht vollkommen freundlich gegenüber steht. So daß, wenn wir dieses Europa wollen, wir immer auch bis zu einem gewissen Punkt und für einige Zeit gegen England gehen. Glauben wir, daß es sich lohnt, diesen Preis zu zahlen? Gut dann können wir weitergehen. Wollen wir diesen Preis nicht zahlen, so müssen wir uns auch darüber klar sein, daß wir damit auch auf die kleine europäische Integration verzichten, die nur unter diesen Bedingungen möglich ist. Nur wenn wir die politische Lage, so wie sie ist, klar sehen, können wir weiterarbeiten. Man hat gesagt, daß die Diplomatie oder die Politik die Kunst des Möglichen ist. Was im Rahmen des Möglichen ist, ist Politik. Was im Rahmen des Wünschenswerten und des Unmöglichen bleibt, ist keine Politik, das ist bloß Rhetorik. Übrigens ist das alles nur wichtig, solange die europäische Integration ein geistiges Spiel ist mit Verfassungen und juristischen oder philosophischen Anschauungen.
Wären wir wirklich überzeugt, daß die Integration Europas für uns eine rage von Leben und Tod, von Sein oder Nichtsein bedeutet, und hätten wir eine mächtige, überzeugte Massenbewegung hinter uns, dann hätten alle diese Haarspaltereien gar keinen Wert: wie sie eigentlich keinen Wert haben. Wichtig ist, Europa zu integrieren: wie, das ist belanglos.
Wie stehen eigentlich die Regierungen zu der europäischen Integration? Die deutsche Regierung war immer entschieden günstig eingestellt. Dasselbe gilt für Italien. Die französische Regierung war immer gespalten, so wie das Parlament, so wie die öffentliche Meinung Frankreichs. Eine wirkliche entschlossene Majorität für'Europa hat es dort eigentlich nie gegeben. Jetzt, allem Anschein nach, ist de Gaulle für Europa, 1‘Europe des patries. Und da de Gaulle Frankreich ist, können wir sagen, daß wir heute zum ersten Mal in Frankreich eine Regierung haben, die wirklich für eine bestimmte Form von Europa ist.
* Aber die Regierungen sind furchtbar beschäftigt. Sie haben keine Zeit für eine lange und geduldige Arbeit, wie sie die europäische Vereinigung braucht. Die Regierungen sind beschäftigt mit einer sehr wichtigen Angelegenheit: sie wollen an der Macht bleiben. Das ist keine Kritik, es ist bloß eine Binsenwahrheit, und es ist immer so gewesen. Alles was die Regierungen in einigen Jahrtausenden der Geschichte gut oder schlecht gemacht haben, diente nur dazu, um an der Macht zu bleiben. Auch Ludwig der Vierzehnte, wahrscheinlich der mächtigste Souverän, den die westliche Welt je gehabt hat, war immer von der Erinnerung der „fronde“ seiner Jugend besessen.
In einer demokratischen Regierungsform sind die Gesetze, um sich an der Macht zu halten, ganz anders. Vor der Demokratie verlor man mit der Macht auch seinen Kopf: in der Demokratie kann man die Macht verlieren und den Kopf behalten und auch die Hoffnung, noch einmal zur Macht zu gelangen. Schlumpeter hat gesagt, daß die demokratische Staatsform ein freier Wettbewerb um die Erlangung der Macht sei. Deshalb können die Regierungen, auch die europafreundlichsten, die europäische Vereinigung auch vergessen, wenn sie nicht den Eindruck haben, daß das nötig oder auch nur nützlich ist, um an der Macht zu bleiben. Europa geht weiter oder nicht in dem Maße als die europäische Bewegung sich als wichtige politische Kraft entwickelt. Die europäische Bewegung war einmal beinahe drohend geworden. Die Regierungen haben die Organisation von Straßburg zugelassen. Mit dieser Organisation waren die Europäer eine Zeitlang zufrieden. Dann haben sie sich nochmals in Bewegung gesetzt, und man hat ihnen die Montanunion gegeben. Dann ist die Enttäuschung der Europa-Armee gekommen, später eine Wiedergeburt der Bewegung, und man hat den Gemeinsamen Markt geschaffen. Man könnte manchmal den Eindruck haben, daß Vorwärtsschritte im Sinne der europäischen Vereinigung zugeteilt werden, wie Knochen einem hungrigen Hund, von dem man fürchtet, daß er beißen könnte. Dann wird der Hund ruhig, und man denkt nicht mehr an ihn. Kein böser Wille; aber eine demokratische Regierung kann sich wirklich nur mit einem Problem beschäftigen, wenn dieses Problem dringend und akut ist: sonst hat sie keine Zeit.
Nun ist die Lage einmal so, und man kann nichts ändern. Von einer demokratischen Regierung kann man nur sagen: la plus jolie jeune fille du monde ne peut donner que ce qu‘elle a. Aber die Erfahrung hat uns auch gezeigt, daß die schlimmste demokratische Regierung besser ist als die beste totalitäre Regierung.
Als noch die Hoffnung auf eine Ratifizierung der europäischen Armee in Frankreich bestand, hatte ein Abgeordneter, ein wirklich guter Europäer — Teitgen — eine Idee, die ich für ausgezeichnet halte. Er wollte, daß zum Beispiel 20 französische Abgeordnete auf ihr parlamentarisches Mandat verzichten sollten, um neue Wahlen anzuregen. Und ein jeder dieser Abgeordneten sollte vor den Wahlen mit einem klaren, eindeutigen Europa-Armee-Programm auftreten. Ich bin überzeugt, daß, wenn man das getan hätte, die französischen Wähler in überragender Mehrheit europäische Abgeordnete zurückgeschickt hätten. Das hätte bewiesen, daß man über die Europa-Frage sein Parlaments-mandat gewinnen oder verlieren konnte. Und vieles hätte sich damit geändert, in Frankreich wie überall.
Meine Damen und Herren, da liegt meiner Meinung nach der Weg, da liegt die Pflicht der Europa-Bewegungen. Man muß die Massen mobilisieren, man muß eine Massenbegeisterung schaffen, so daß Parlamente und Regierungen sich überzeugen, daß sie auf diesem Weg weitergehen müssen, wenn sie an der Macht bleiben wollen. Man muß zeigen, daß man scharfe Zähne hat zum beißen. Was sind wir heute hier: einige vernünftige, überzeugte, anständige Leute. Vor allem anständige Leute. Hat man aber in der Geschichte je etwas mit anständigen Leuten erreicht? Europa muß zu einer drohenden, revolutionären Bewegung werden: revolutionär, weil die europäische Vereinigung eine Revolution ist» Sie muß eine Gefahr für die Regierungen werden. Könnten wir ein paar große politische Streiks für Europa veranstalten, so wie man sie für höhere Löhne organisiert, dann wäre die Integration Europas schon lange eine Tatsache.
Diejenigen von uns, die Abgeordnete sind, sollten zu Haus eine Qual für die Regierungen werden, ihr keine Minute Ruhe lassen, sich nicht mit dieser oder jener ausweichenden Antwort begnügen.
Für die Vereinigung Deutschlands und Italiens ist man auf die Straße, auf die Barrikaden gegangen. Solange dasselbe nicht auch für Europa möglich ist, werden wir nur Ersatz-Europas bekommen. Ob das möglich ist, weiß ich nicht; aber warum nicht? Ohne Zweifel muß man, um dieses Ziel zu erreichen, eine mystische, unvernünftige Saite in der Seele der Menschen erwecken. Welches die beste Saite ist, kann ich nicht sagen. Wahrscheinlich ist nicht dieselbe Saite in allen Ländern Europas immer die beste. Persönlich bin ich überzeugt, daß ein Appell an die Machtstellung, an den Machtwillen, an die Würde Europas einen großen Widerhall haben würde. Aber man kann auch anderer Meinung sein. Wenn uns das gelingt, dann gelingt uns auch gleichzeitig die Vereinigung Europas. Gelingt uns das nicht, dann wird auch die Vereinigung Europas nicht gelingen. Mit Kommissionen, mit Technikern, mit Ausschüssen kann man nicht sehr weit kommen. Vergessen wir das bitte nicht. Aber wenn das nicht gelingt, und wenn wir nicht diesen Weg gehen wollen, dann sprechen wir nicht mehr von der Stellung, den Möglichkeiten Europas in der Welt. Europa wird zur Lage Griechenlands im Römischen Reich herabsinken: eine historische Ausstellung der Vergangenheit. Man hat doch gesagt, daß die Amerikaner die Römer der modernen Welt sind, und wir Europäer die Griechen: und vielleicht die Russen die Parther.
Vor einigen Jahren war ich bei einer Sitzung des Ministerrats irgendeiner europäischen Institution. Man verhandelte wie gewöhnlich über Personalfragen. Das und nur das ist immer das Wichtigste, leider.
Und es war, wie es zuweilen vorkommt, der uneuropäischste Kuhhandel — entschuldigen Sie den Ausdruck — den man sich vorstellen kann. Und ich habe in einem gewissen Moment eine große Versuchung gehabt: meinen Sitz zu verlassen, auf die Straße zu gehen, einige hundert Leute zu versammeln, um Steine in den Saal zu werfen, wo die Minister versammelt waren. Steine sind manchmal ein sehr gutes Argument, nicht immer demokratisch, aber auch nicht völlig undemokratisch. Ich habe das nicht getan: ich bin ruhig weiter dageblieben. Warum? Ohne Zweifel war auch ein bißchen Feigheit dabei: das hätte mich meinen Botschafterposten gekostet. Aber auch die Überzeugung, daß ich die wenigen hundert Leute nicht hätte zusammenbringen können. Man hätte mich wahrscheinlich bloß verhaftet und einer Blutanalyse unterzogen, um festzustellen, wieviel Alkohol ich absorbiert hätte: weiter hätte ich nichts erreichen können. So stehen die Dinge. Man muß eine solche Lage zustande bringen, die es ermöglicht, irgendwie und irgendwann einige hundert Leute zu versammeln, um die nicht genügend europäisch gesinnten Minister mit Steinen zu bewerfen.
Glauben Sie mir, das ist nicht eine brillante Formulierung: es sind meine Erfahrungen und, wenn Sie wollen, meine Enttäuschungen, die hier sprechen. Ohne Stockhiebe geht ein Esel nicht vorwärts: und dafür muß man einen Stock haben. Den haben wir nicht, den müssen wir uns schaffen. Dies sollte die Rolle der Europa-Mission werden: eine Peitsche für die Regierungen, die . Verwaltungen, die Parlamente.
Wenn das gelingt, dann haben wir gewonnen, sonst werden wir weiter nur Worte haben.