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Was verstehen wir unter Freiheit ? | APuZ 46/1959 | bpb.de

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APuZ 46/1959 Was verstehen wir unter Freiheit ? Europa in der Weltpolitik

Was verstehen wir unter Freiheit ?

Iringfetscher

AIs Vortrag gehalten vor der „Arbeitsgemeinschaft Bonner Lehrerseminare" am 13. 10. 1959 in Bonn unter dem Titel „Was bedeutet Freiheit im westlichen Sinne?"

Bekanntlich gibt es heute kaum noch Staatsmänner und politische Ideologen, die sich offen als Feinde der Freiheit bekennen. Die Führer des Sowjetimperiums und die Diktatoren exotischer Kleinstaaten, die verfassungsmäßig gewählten Ministerpräsidenten und die durch Staats-streich an die Spitze gelangten, Kapitalisten und Sozialisten, Nationalisten und Internationalisten, alle führen sie täglich und stündlich die Freiheit im Munde und stellen ihre jeweiligen Staaten und Gesellschaften als Muster der Freiheit hin. Dabei versuchen sie stets zugleich die von ihnen verfochtene Art der Freiheit, als die einzige reale und wahre, gegen die gegnerischen Freiheitsformen auszuspielen, deren Unwirklichkeit und Verlogenheit sie aufzuweisen versuchen. Von einem Standpunkt über den Fronten aus, den wir nur des Experiments wegen für kurze Zeit einmal beziehen wollen, könnte man in dieser verbalen Einmütigkeit immerhin einen gewissen Fortschritt erblicken. Wie die Heuchelei Freiheits-Ideologie eine indirekte Huldigung an die Tugend, so ist die eine solche an die wirkliche Freiheit. Wenn sich niemand mehr offenherzig als Freiheitsfeind und Unterdrücker ausrufen läßt, so weist das immerhin auf gewisse Schwierigkeiten hin, denen Feinde der Freiheit heute begegnen. Aber allzuviel bedeutet jene verbale Einmütigkeit nicht.

Was kann nicht alles als Freiheit bezeichnet und im Namen der Freiheit gerechtfertigt werden! So scheint es denn auch beinahe bedenklich, wenn wir die geistige Position des Westens mit diesem einen Worte zu charakterisieren suchen. Und doch kann es kein anderes geben. Die Auffassung von der Freiheit ist es, die allein die verschiedenen politischen und weltanschaulichen Richtungen im Westen in der Ablehnung der totalitären Spielart des Sozialismus eint. Jede Fixierung auf eine bestimmte Weltanschauung, eine bestimmte parteipolitische Position oder gar eine Konfession muß hier notwendig aus dem Spiele bleiben, wo wir die Stellung des freiheitlichen Westens im Ganzen ins Auge zu fassen suchen.

Immer wieder hört man, daß in dieser „formal bleibenden" Freiheit und in der Ablehnung einer verbindlichen umfassenden Weltanschauung die Schwäche des Westens läge, und daß es daher notwendig ist, auch hier eine einheitliche und umfassende Weltanschauung zu entwikkeln, um den Anfechtungen des dialektischen Materialismus begegnen zu können. Theodor Litt hat mit großem Ernst und dem nötigen Nachdruck darauf hingewiesen, daß es eine solche obligatorische und universale Weltanschauung für den Westen nicht geben darf, wenn anders wir die Freiheit behalten wollen, deren Verteidigung doch das Hauptmotiv für unsere Ablehnung des totalitären Sozialismus ist. Wie die Gegner sich im materiellen Kriege einander anzugleichen pflegen, so besteht auch die Gefahr, daß in der geistigen Auseinandersetzung aus Bequemlichkeit und Unwissenheit der Gegner imitiert wird, und wir — um ein Wort eines lateinischen Autors zu variieren — um der Verteidigung willen das zu Verteidigende verlieren.

Das Fehlen einer einheitlichen Weltanschauung ist aber nur scheinbar eine Schwäche des Westens. In Wahrheit besitzen wir, oder vermögen wir wenigstens durch kritische Selbstbesinnung zu unserem Besitz zu machen, was viel wertvoller als eine derartige — von außen aufgezwungene oder ansuggerierte Einmütigkeit, ist: das Wissen um die Würde und Freiheit der Person und jene gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen, innerhalb derer allein — bei aller Bedrohtheit — ihre Freiheit geschützt ist.

Eine Besinnung auf das Wesen der „westlichen“ Freiheit ist zugleich auch immer eine Besinnung auf das Wesen der menschlichen Person. Mein Vortrag beginnt daher mit einer kurzen philosophischen Besinnung über den Menschen, um erst von da aus auf die — im engeren Sinne — politischen Fragen zu führen.

I. Individuum — Person — Gewissen

Die „allerdemokratischste" Einheitsliste 100°/0 Wahlbeteiligung 1000/0 für die Einheitsliste A Regierung

Nach der Lehre des historischen Materialismus sind die Menschen prinzipiell durch die Gesellschaftsformation und ihre Klassenzugehörigkeit bestimmt. Mit der geschichtlichen Entwicklung ändern sich daher auch die sittlichen Normen, und die für einen Bourgeois geltenden moralischen Vorschriften haben keine Gültigkeit für einen Proletarier.

Ja im Grunde gibt es überhaupt keine rein moralischen Regeln, sondern lediglich Vorschriften, die eine herrschende Klasse im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft — oder eine unterdrückte Klasse im Interesse der Erlangung der Herrschaft — den Individuen gegenüber geltend macht. Für den Marxismus beschränkt sich dementsprechend Moral-philosophie auf eine Beschreibung dessen, was in verschiedenen Epochen von verschiedenen Gesellschaftsklassen jeweils als „moralisch“ angesehen wurde. Das Motiv für den Gehorsam der Individuen gegenüber den moralischen Forderungen der Klasse, wird dabei selbst nicht untersucht. Dieser Gehorsam könnte aber Klugheit, Nützlichkeitserwägungen oder auch spezifisch sittlichen Haltungen wie Treue, Verantwortungsgefühl usw. entspringen. In das System des Marxismus paßt lediglich die Zurückführung auf Nützlichkeitserwägungen. Aber diese werden nicht immer ausreichen, um ein Verhalten zu motivieren, daß dem „Interesse der Klasse“ entspricht. In vielen Fällen könnte ja der individuelle Nutzen gerade durch eine Loslösung von der ursprünglichen Klasse erreicht werden. Zumindest der unmittelbare Nutzen wäre dann bei Verletzung der Klassennorm größer als bei ihrer Befolgung. Unver-

meidlich müssen daher die heutigen Marxisten immer wieder an e c h t e moralische Haltung appellieren, deren Möglichkeit ihnen andererseits unerklärlich bleibt, ja die sie häufig und wenn sie an der Macht sind, regelmäßig selbst zerstören.

In uns allen spricht, mehr oder weniger laut, die Stimme des Gewissens. Sie mahnt uns wahr zu sein, aufrichtig zu sein, unseren Mitmenschen zu helfen, eigene Wünsche gegenüber berechtigten Forderungen anderer zurückzustellen und sie läßt uns manchmal, nachdem wir gehandelt haben, Reue über die Tat empfinden. Marxisten und Psychoanalytiker haben für dieses Phänomen geistreiche Erklärungen gefunden, die Ihnen wahrscheinlich bekannt sind, die ich jedoch kurz ins Gedächtnis rufen möchte, um ihre Grenze und ihre Gefahr aufzuzeigen. Nach Sigmund Freud entsteht das Gewissen letztlich dadurch, daß der heranwachsende Knabe den zugleich gehaßten und geliebten mächtigen Vater „Über-Ich" in die eigene Seele aufnimmt, sodaß künftig dessen moralische Forderungen nicht mehr „von außen", sondern aus dem eigenen Innern zu kommen scheinen.

Die Stimme des Gewissens ist also für ihn „nichts anderes als" die gebietende Stimme des Vaters und da deren Legitimität ebensowenig fundiert ist, fehlt es ihr letztlich an jedem Rechtsgrund. Freud kann nur beschreiben: zu den normal entwickelten Männern in unserer Zeit und unserer Gesellschaft gehört das Phänomen des Über-Ich und seine Gewissensfunktion. Aber er kann keineswegs aus seiner Theorie folgern, daß das Gewissen notwendig und wesensmäßig zum Mensch-sein hinzugehört. Ja, eine solche Rede vom Wesen des Menschen wäre von dem prinzipiell genetischen Standpunkt Freuds aus von vornherein zu verwerfen.

Wie erklärt der Marxist das Gewissen ?

Ganz allmählich muß nun auch der Marxist das Phänomen des Gewissens erklären und einige Marxisten — allerdings nicht in der Sowjetunion, wo die Psychoanalyse verboten ist — haben sogar beide Theorien miteinander verbunden. Auch der Marxist führt das Gewissen auf eine ursprünglich von außen kommende Forderung zurück. Nunmehr aber nicht auf den Vater, sondern auf die Gesellschaft und die Klasse, in der das Individuum aufwächst. Wenn man den Vater als den Exponenten der Klassenherkunft auffaßt, kann man also die Freudsche These mühelos an die marxistische anschließen. Was das Gewissen sagt, ist historisch und klassenmäßig bedingt. Seine Forderungen sind schlechthin relativ und können daher auch keine absolute Verbindlichkeit für das Individuum beanspruchen. Marx und Engels und ebenso Lenin wäre -ihrer Herkunft nach Bourgeois. Ilir Gewissen hätte sie daher höchstens zu bürgerlicher Klassensolidarität und zu den Tugenden des Bürgertums, nicht aber zum Eintreten für das unterdrückte Proletariat aufrufen können. Aber es besteht kein Zweifel, daß zumindest bei den ersten beiden, moralische Motive ihr Eintreten für die Arbeiterklasse mit bestimmten. — Der Marxist muß jedoch, wenn er seiner Theorie nicht aus Liebe zu den Personen untreu werden will, diesen Übergang von Marx und Engels auf die Position des Proletariats opportunistisch deuten. So heißt es im kommunistischen Manifest: „In Zeiten. . wo der Klassenkatupf sielt der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse. . . einen so grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt.“

Ist das Gewissen wirklich nur eine Introjektion der Vaterimago oder die habituell gewordene Forderung der Gesellschaftsklasse? Wenn wir das glaubten, wäre die hohe Achtung und die LInantastbarkeit des Gewissens, die u. a. auch unsere Verfassung bekundet, nicht gerechtfertigt. Was „nichts anderes als“ eine Funktion der Gesellschaft ist, kann auch durch diese Gesellschaft und ihre Machtorgane beliebig modifiziert werden. Wenn etwa die Mehrheit einer Bevölkerung für die Wehrpflicht eintritt, dann müßte nach der marxistischen Version auch das Gewissen für den Waffendienst sprechen und abweichende Stimmen würden als individuelle Irrtümer je nachdem bestraft oder klinisch behandelt. Wenn wir ausdrücklich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen anerkennen, so geschieht das deshalb, weil wir den wohlerwogenen und in der Tiefe des Gewissens begründeten Entschluß eines erwachsenen Menschen respektieren. Dabei unterstellen wir, daß der Betreffende sich zugleich die Verpflichtung jedes Gliedes einer freien Gemeinschaft zur Verteidigung der Freiheit aller bewußt gemacht hat, dennoch aber auf Grund religiöser Überzeugungen oder bestimmter sittlicher Auffassungen mit seinem Gewissen den Waffendienst nicht glaubt vereinbaren zu können.

Diese Freiheit, die der Gesetzgeber gewährt, ist durchaus logisch auf der Grundlage eines Menschenbildes, das geschichtlich vom christlichen sich herleitet, aber auch über den Rahmen der christlichen Bekenntnisse hinaus in der westlichen Welt Gültigkeit beanspruchen kann. Daß sich der Mensch vor seinem Gewissen gefordert und verantwortlich weiß, war Immanuel Kant der entscheidende Hinweis auf seine Freiheit. Nur, wenn ich mein Handeln meinem Willen gemäß einrichten kann, ist es sinnvoll, wenn mir eine Stimme innerlich das Sittliche gebietet. Wäre ich allein abhängig von meinen sinnlichen Trieben oder von den von a u ß e n an mich herangetragenen Zwang, so hätte dieser höhere innere Befehl keine Funktion.

Schon hinter dem Ausgangspunkt der Kantschen Ethik steht so eine metaphysische Grundüberzeugung: der Glaube an eine sinnvolle Ordnung der Welt und des menschlichen Daseins. — Du kannst — weil Du sollst, so lautete die Folgerung die Kant aus dem Vorhandensein des „kategorischen Imperativs“ schloß, der im Gewissen sich meldet. Diese sittliche Freiheit kann nun zwar durch keinerlei äußere Schranken aufgehoben werden. Wie immer auch durch Zwang, Gewalt, Bedrohung die Wirkungssphäre eines Menschen beeinträchtigt werden mag, immer bleibt seine sittliche Entscheidungsfreiheit unangetastet. Der Wille bleibt immer frei. Aber der äußere Zwang kann doch die Alternativen gewaltig einschränken und den Wollenden zwingen, im Grunde Unerwünschtes zu wählen. Im Falle des äußersten Zwanges: der Bedrohung durch den Tod, hat der Gezwungene nur noch die Freiheit der Selbstaufgabe, wenn er sich dem Zwingenden nicht beugen will. Zu solchem, die Freiheit extrem einengenden Zwang, hat in einem geordneten Staate kein Einzelner das Recht. Die Zwangsmittel, die jeder Staat benötigt, werden in einem Rechts staat ausschließlich zum Schutz der Freiheit aller und eines jeden eingesetzt. Höchste Freiheitsstrafen bedrohen denjenigen, der das Leben eines Mitmenschen absichtlich verletzt. Die Freiheit des Handelns wird insofern eingeschränkt und damit die Entscheidungsfreiheit. Derjenige, der einen Mord zu begehen beabsichtigt, weiß, daß er dabei seine Freiheit auf Lebenszeit einzubüßen riskiert. Derartige Strafandrohungen sind notwendig, weil der Staat sich nicht darauf verlassen kann, daß alle Bürger aus sittlichen Motiven heraus handelnd Mordversuche von vorn herein unterlassen. In gleicher Weise wird die Freiheit des Handelns bzw.der Entscheidung auch in bezug auf alle anderen Verbrechen und Vergehen eingeengt. Aber abgesehen von diesen Schranken läßt der freiheitliche Rechtsstaat dem Bürger eine relativ große Sphäre, innerhalb derer er sich ganz nach Gutdünken und von beliebigen Motiven veranlaßt bewegen kann. Es erscheint uns z. B. nicht wünschenswert, daß caritative Tätigkeit und Mäzenatentum durch staatliche Verordnung geregelt werde.

Wenn diese Tätigkeiten ihren Wert behalten sollen, müssen sie völlig freiwillig sein und dürfen in keiner Weise administrativem Zwang unterliegen. Das schließt freilich ein materiell sehr viel gewich-tigeres Einspringen des Staates auf diesen Gebieten nicht aus. Spenden für caritative Zwecke aber würden ihres sittlichen Wertes beraubt, wenn der Staat oder eine Einheitspartei mit Hilfe direkten und indirekten Druckes auf sie hinwirken.

Nach der Vorstellung eines veralteten Liberalismus kann der Staat den Individuen weitgehende Handlungsfreiheit einräumen, weil diese — auch wenn sie nur in egoistischer Weise auf ihren Privatvorteil ausgehen — doch dem Gemeinwohl dienen. Diese Freiheitsvorstellung ist der gesellschaftlichen Wirklichkeit und dem Menschenbild unserer Tage nicht mehr angemessen. In den meisten Polemiken von Seiten kommunistischer Ideologen (z. B. in den Reden von Grotewohl und Ulbricht)

wird freilich die Freiheitskonzeption dieses Paläoliberalismus noch immer als die westliche Auffassung unterstellt. Aber nicht um dem Egoismus der Individuen Platz zu machen, soll nach der Auffassung zeitgenössischer politischer Denker des Westens, der Staat zurückgedrängt werden, sondern um die sittliche Entscheidung der Personen zu ermöglichen. Aus diesem Grunde ist auch der „vollkommene“ Versorgungsstaat eine Gefahr, weil er den Menschen das — sicher irrige — Gefühl gibt, es bedürfe keiner Hilfsbereitschaft mehr, um die Nöte der Mitmenschen zu überwinden. Niemand kann heute auf dem Gebiet der Sozialgesetzgebung und des Rentenwesens, der Krankenversicherung usw. einen Schritt rückwärts gehen oder auch nur für die Zukunft an etwas Derartiges denken. Aber es wird gut sein, wenn wir auch der privaten Initiative noch Raum lassen und daran denken, daß es immer caritative Aufgaben gibt, die administrativ nicht geregelt werden können. Der Glaube daran, daß jeder Mensch eine sittliche Person ist — oder wenigstens sein kann — ist es, der letztlich unsere Auffassung von der Freiheit bestimmt. Weil wir in jedem Menschen eine höchste Instanz voraussetzen, vor der er sich in seinem Tun und Unterlassen, in seinem Denken und Reden zu verantworten hat, lehnen wir Eingriffe des Staates d. h.der Exekutive in dieses Heiligtum ab und verlangen dessen Respektierung.

Sittlicher Entschluß kein rationales Rechenexempel Gewiß der Inhalt der Stimme des Gewissens ist höchst unterschiedlich und auch das Gewissen kann irren. Doch vermag keine staatliche Institution uns deshalb die Entscheidung abzunehmen, soweit wir nicht mit den elementaren Notwendigkeiten jedes Gemeinschaftslebens in Konflikt geraten, aber selbst da wird im Einzelfall der Richter dem ehrlichen Gewissen noch tragen. Rechnung

Die Situation jedes Individuums ist einzigartig und kann nicht unmittelbar an einer generellen Norm gemessen werden. Aus der Einsicht in die sittlich geforderte Ordnung einerseits und dem Wissen um die Situation andererseits, bildet sich der sittliche Entschluß. Dieser aber ist kein rationales Rechenexempel und kann uns von keinem Elektronengehirn abgenommen werden. Nur in der Stille des Herzens „wenn die Leidenschaften schweigen“ und die Stimme des Gewissens spricht, wird die sittliche Entscheidung fallen.

Es wäre töricht, wenn wir deshalb leugnen wollten, daß die Men-schen durch die Gesellschaft, in der sie leben und die Schicht, der sie angehören, in ihrem Denken und Fühlen stark beeinflußt werden. Audi hier wird von den Anhängern des Marxismus dem freiheitlichen westlichen Denken eine Einseitigkeit unterstellt, die längst nicht mehr der Wahrheit entspricht. Aber wie hoch man immer die Bedeutung des Milieus veranschlagen mag, so bleibt doch unangetastet unsere Über-zeugung, daß der sittliche Kern der Person in Tiefen beheimatet ist, die allen Umwelteinflüssen entzogen sind. In der Erziehungslehre hat diese Überzeugung zur Folge, daß wir im Sittlichen mehr auf Erwek-kung des Gewissens und Entfaltung der im jungen Menschen angelegten sittlichen Einstellung Wert legen, als auf eine notwendig äußerlich bleibende moralische Dressur. Der sowjetische Erzieher dagegen sucht durch das Kollektiv für das Kollektiv zu erziehen und moralische Wertungen, Haltungen und Handlungen von außen an die Zöglinge her-anzutragen. Freilich mag es auf einer gleichsam „inoffiziellen“ Ebene daneben auch sittliche Erziehung in Form der Erweckung des Gewissens geben, etwa wenn junge Russen die große Literatur des 19. Jahrhunderts mit ihrem tiefen Humanismus lesen. Aber systemgerecht ist nur jene äußerliche Erziehung durchs Kollektiv und die von ihm oder richtiger durch die Parteiführung gesetzten Normen. Wie nach der Lehre von Lenin das Proletariat nicht im Stande ist, von sich aus zur Einsicht in die Notwendigkeit der sozialistischen Revolution und des politischen Klassenkampfes zu gelangen, wie es seiner Auffassung nach notwendig ist, das Proletariat „von außen“ — durch ehemals bürgerliche Intellektuelle und durch die klassenbewußte Vorhut des Proletariats die Partei — über seine wahren Interessen zu belehren, so verhält es sich auch mit jedem Einzelnen. Der junge, noch nicht geschulte Sowjetbürger hat erst noch lange zu lernen, was gut und was böse ist, was er lieben und was er hassen soll. Und alle sittlichen Wertungen sind der höchsten politischen Orientierung untergeordnet.

„Gut ist, was dem Sieg des Proletariats nützt“ lautet die bekannte Formel von Lenin. Was aber dem Sieg des Proletariats nützt, weiß allein die Partei oder richtiger ihre höchste Führung. Damit fällt dieser nicht nur die politische, sondern auch die moralische Leitung anheim.

Die politische Entmündigung wird durch eine sittliche ergänzt und überboten.

In der westlichen Welt gibt es äußerlich gesehen keine solche höchste Instanz, die über Gut und Böse, Liebensund Hassenswertes entscheidet und kann es eine solche Instanz nicht geben. Wie groß auch immer das moralische Ansehen von Einzelnen oder ehrwürdigen Institutionen sein mag, letztlich ausschlaggebend ist die Entscheidung des freien — vor der eigenen Seele und Gott verantwortlichen — Gewissens. Auch wenn wir nicht daran glaubten und darauf hofften, daß auf diesem Wege in tieferer und gesicherterer Weise Einmütigkeit unter den Menschen erreicht werden kann, wäre uns die Freiheit ein unaufgebbares Gut. Die westliche Welt ist der unerhört kühne Versuch der Errichtung einer Gesellschaft und von Gemeinschaften, die auf dem Glauben an den Menschen und seinen sittlichen Personkern basieren. Nicht der sowjetische Totalitarismus ist — in säkularem Maßstab gesehen — das unerhört Neue und Große, sondern die freien westlichen Gemeinschaften.

Denn autoritäre Staaten hat es zu allen Zeiten gegeben, wenn auch keine totalitären, die sich durch konsequente und radikale Durchführung und lückenlose Ideologisierung von ihnen unterscheiden. Der Versuch in der Freiheit und im Vertrauen auf die sittliche Entscheidung der mündigen Bürger zusammenzuleben, ist noch immer unerhört neu und ein großes Wagnis, das sich durch unser aller Anstrengung zu bewähren hat.

Der Glaube an die sittliche Entscheidungsfähigkeit des Einzelnen ist die Grundlage unserer freiheitlichen Demokratie. Aber dieser Glaube ist nicht mehr so radikal und ungebrochen wie im 18.

Jahrhundert. Audi fehlt uns der Glaube an die unbegrenzte Rationali-

sierbarkeit des Gemeinschaftslebens. Unsittliches und LInvernünftiges werden nicht mehr als vollständig eliminierbar angesehen. Aber in der Kritik am unbegrenzten Optimismus der Aufklärung, darf nicht über das Ziel hinausgeschossen werden. Ihr grenzenloser Glaube an Vernunft und Sittlichkeit konnte zur Anarchie (wenn beide allen Individuen zugeschrieben wurden) oder zum Despotismus (wenn sie eine Minorität in Anspruch nahm) führen, aber auch auf die Überzeugung von der radikalen Unvernunft und hoffnungslosen Verderbtheit des Menschen, kann eine absolute Herrschaftsordnung gegründet werden. Nur wenn man den Menschen als ein Wesen begreift, das beides ist: vernünftig und sittlich und irrational und böse zugleich, wird man den Gefahren der Einseitigkeit der politischen Konsequenzen entgehen. Der Glaube an Vernunft und Gewissen im Menschen läßt uns die Freiheitsspielräume verteidigen und als sinnvoll empfinden; das Mißtrauen gegenüber der Vollkommenheit des Menschen führt zur sorgfältigen Abwägung der Möglichkeiten des Mißbrauchs, die in bestimmten gesellschaftlichen und politischen Institutionen und Konstellationen liegen. Diese Einstellung ist weniger einheitlich und systematisierbar als die genannten Extreme, aber sie wird der Erfahrung gerecht und widerspricht nicht den Lehren des Christentums, auch wenn die beiden großen Konfessionen an dieser Stelle sich voneinander unterscheiden.

II. Gesellschaftliche und politische Voraussetzungen

Regierung A 50°/0 + 1 Partei 1 (Opposition) A —«Kritik + Kontrolle Kritik + Toleranz *#—-50° 0 — 1 Partei 2 Eine Stimme entscheidet im Grenzfall. Theoretisch jede: die Entscheidung für die politische Gestaltung mit zu verantworten. jeder hat damit

Nachdem wir im ersten Teil meiner Ausführungen den Glauben an die sittliche Autonomie des Menschen — oder doch zumindest an seine Fähigkeit, in der Stimme des Gewissens einem leitenden Maßstab zu begegnen, der seine Würde und seine Freiheit ausmacht — kennengelernt haben, möchte ich Ihnen jetzt in einigen wenigen Grundzügen die gesellschaftlichen wie die politischen Vorbedingungen der Freiheit im „westlichen Sinne“ ins Bewußtsein rufen.

Im politischen Bereich müssen wir zwei idealtypisch voneinander scharf geschiedene Freiheitskonzeptionen auseinanderhalten: die demokratische und die liberale. Für den Liberalen besteht Freiheit in der Gewährung eines möglichst großen Spielraums, innerhalb dessen sich der Einzelne frei, d. h. nach Gutdünken, bewegen kann. Der alte, heute kaum noch irgendwo verteidigte Liberalismus forderte diesen Spielraum in der Erwartung, daß sich durch das freie Spiel der egoistischen Kräfte der Individuen automatisch und hinterrücks das Gemeinwohl einstellen werde. Sittliche Normen schienen geradezu entbehrlich, weil man glaubte, daß der private Vorteil und das individuelle Gewinnstreben eo ipso auch der Gemeinschaft am meisten Vorteile verschaffen würde. In dieser Form wird heute kaum noch ein Liberaler die Freiheit deuten. Er wird aber den Freiheitsspielraum fordern, damit sich die spontane Aktivität der Bürger in ihr entfalten und so alle intellektuellen, künstlerischen und auch sittlichen Kräfte zur Geltung kommen können. Auch wenn der Willkürspielraum für den wirtschaftenden Einzelnen durch zahlreiche staatliche Bestimmungen weit eingeengt worden ist, wird auf dem Gebiet der Meinungs-, Rede-, -Ver-

sammlungs-, Veröffentlichungsfreiheit usw.der Liberale an einem Maximum festhalten, weil er in der freien Entfaltung der Persönlichkeit einen höchsten Wert erblickt und dem Staat eine nur schützende, untergeordnete Rolle zuzuweisen neigt.

Für den Demokraten — auch wieder als reinen Idealtypus vorgestellt — besteht die Freiheit darin, daß jeder Staatsbürger an der Willensbildung der staatlichen Gemeinschaft teilnehmen kann. Freiheit ist nicht ein Spielraum für individuelle Entfaltung, sondern die Möglichkeit der T e i 1 h a b e. In je stärkerem und umfassenderem Maße diese Teilhabe möglich ist, desto „demokratischer“ und freier erscheint ihm ein Staatswesen. Beide Formen der Freiheit sind nicht nur voneinander unterschieden, sondern stehen auch in einem starken inneren Spannungsverhältnis. Liberale Freiheit ist denkbar in einem nichtdemokratischen Rechtsstaat, und eine Demokratie ist denkbar, ohne nennenswerte liberale Freiheitssphären. Im Zeitalter der sich verwirklichenden Demokratie, im 19. Jahrhundert, glaubte man, daß eine Beschränkung staatlicher Allmacht, wie sie dem absolutistischen Staat gegenüber mit Recht gefordert wurde, nicht mehr notwendig sei, da der Staat ja nur das Organ des vereinigten Volkes und daher keine diesem gegenüber feindliche Macht mehr darstelle. John Stewart Mill ist es gewesen, der in seiner Schrift über die Freiheit als erster nachdrücklich auf die Gefahr dieses Mißverständnisses hingewiesen hat: „solche Ausdrücke wie , Selbsfregieruug‘ und , die Macht des Volkes über sich selbst'entsprechen nicht der wahren Lage der Dinge. Das Volk, welches die Macht ausübt, ist nicht immer dasselbe Volk, wie das über welches sie ausgeübt wird, und die Selbstregierung, von der geredet wird, ist nicht die Regierung jedes einzelnen über sich selbst, sondern jedes einzelnen durch alle übrigen. Überdies bedeutet der Wille des Volkes praktisch den Willen des zahlreichsten oder des aktivsten seiner Teile, nämlidi der Mehrheit oder derjenigen, denen es gelingt, sich als die Mehrheit anerkennen zu lassen. Das Volk kann infolgedessen beabsichtigen, einen Teil der Gesamtheit zu bedrücken, und Vorsichtsmaßregeln dagegen sind ebenso geboten, wie gegen jeden anderen Mißbrauch der Gewalt. Die Begrenzung der Regierungsgewalt über Einzelwesen (d. i. die von mir als „liberal bezeichnete Freiheit) verliert daher nidrts von ihrer Dringlichkeit, wenn die Verwalter der Madrt weiterhin der Gemeinschaft, d. h. ihrer stärksten Partei, regelrecht verantwortlidi sind“ (dt. Ausgabe Heidelberg 1948, S. 29 f). Auch in einer demokratischen Staatsordnung kann daher auf liberale Freiheitsspielräume nicht verzichtet werden, weil stets die Möglichkeit der Vergewaltigung der Minderheit durch die Mehrheit besteht. Das Recht der Minderheit auf die Geltendmachung ihrer Eigenart — soweit sie nicht die Existenz der Gesamtheit gefährdet — wird von der Mehrheit anerkannt, weil sie den freien sittlichen Willen jedes Staatsbürgers respektiert und auch in dem, was von ihrem Standpunkt aus nur Irrtum genannt werden kann, die Freiheit achtet, die die anerkannte Grundlage der Gemeinschaft darstellt. Die Minderheit genießt auch deshalb Schutz gegenüber der Macht der Mehrheit, weil die freie Entscheidungsmöglichkeit jedes Einzelnen, der heute für die Mehrheit gestimmt hat, andernfalls aufgehoben würde. Der Minderheit muß die Chance bleiben, morgen selbst Mehrheit zu werden. Jedem Einzelnen müssen echte Alternativen offen bleiben. „Idi stimme nicht mit Ihnen überein, aber ich werde bis zum letzten dafür eintreten, daß Sie das Recht behalten, von meiner Ansidit abzuweidren . In dieser Formel hat Voltaire das Wesen politischer Toleranz prägnant zum Ausdruck gebracht. Sie ist ein notwendiges Korrelat der Freiheit und geht letztlich auf jene Auffassung vom Wesen der freien sittlichen Entscheidung zurück, die ich im ersten Teil meines Vortrages skizziert habe.

Wie die demokratische Teilhabe der Bürger an der Gestaltung des Staates illusorisch wird ohne Freiheitsspielraum, innerhalb dessen sich die politischen Auffassungen klären und aneinander messen und die Entscheidungen reifen können, so ist der Freiheitsspielraum ungesichert, solange es keine funktionierende demokratische Kontrolle des Staates, d. h.der Regierung gibt. Beide Freiheitsarten stützen und korrigieren sich in einer funktionierenden Demokratie wechselseitig und müssen miteinander zugrundegehen: wo die liberale Freiheit unter eine bestimmte Grenze eingeschränkt wird, muß die demokratische Teilhabe zur Farce werden und wo man die demokratischen Rechte leugnet, müssen bald auch die liberalen Freiheiten fallen. Zwei Auffassungen von Demokratie Zwei Auffassungen von Demokratie stehen hier einander gegenüber. Aber nicht — wie die Marxisten-Leninisten meinen — eine formelle westliche und eine materielle sowjetische, sondern umgekehrt: eine reale bei uns und eine rationalistisch-fiktive in der kommunistischen Welt.

Ich will das an Hand einer Anekdote zu erläutern suchen. Vor einigen Jahren hatte ich die Möglichkeit, mich mit dem Präsidenten der Ostberliner Volkskammer Dieckmann über das Wesen der Demokratie zu unterhalten. Dabei kamen wir auf die sogenannten Massenorganisationen zu sprechen, die in der Sowjetzone eigene Wahllisten aufstellen. Auf meine Frage, inwiefern diese Gruppen — wie Gewerkschaftsbund, Demokratischer Frauenbund usw. von der SED-Politik abweichende Standpunkte verträten, gab Dieckmann zu, daß deren politische Orientierung mit derjenigen der SED übereinstimme. Die Aufstellung besonderer Listen erklärte er aber mit der Verstärkung des demokratischen Charakters der Wahlen auf Grund einer auf diesem Wege erzielten höherenWahlbeteiligung. Zahlreiche Menschen stünden den eigentlich politischen Fragen noch relativ fern und könnten nur auf dem Wege über diese Massenorganisationen — den Sport — ihre Gewerkschaft — den Frauenbund usw. an die Politik herangeführt werden. Je mehr Bürger wählen und je mehr von diesen die führende SED unterstützen, desto demokratischer erschien ihm der Charakter des Staates. Daß aber — einmal abgesehen von dem Wert dieser „Wahlen“ überhaupt, die Aufstellung von Wahllisten, die nur äußerlich und scheinbar sich von der Liste der SED unterscheiden, einer Irreführung der Wähler gleichkommt, schien den Volkskammer-Präsidenten nicht zu beunruhigen. Das „Ideal“, das hinter dieser Auffassung von Demokratie steht ist die 100°/oige „Zustimmung“ der Staatsbürger zur Einheitspartei.

Gegenüber dieser quantitativen Auffassung von Demokratie und dem Ideal der Einstimmigkeit würde ich die westliche Auffassung als qualitativ und vom Ideal der echten Entscheidungsmöglichkeit bestimmt bezeichnen. Nicht, daß möglichst alle Staatsbürger hinter der herrschenden Regierung stehen, sondern daß jeder wirklich mitentscheiden kann, bestimmt den Charakter einer funktionsfähigen Demokratie. Will man sich das ebenfalls am „Grenzfall veranschaulichen, so muß man sich ein Zweiparteiensystem vergegenwärtigen, in dem die beiden Konkurrenten über annähernd gleich viel Anhänger im Lande verfügen. In diesem Falle, wo eventuell eine ein-zigeStimme über die künftige Regierung entscheidet, erhält jeder Einzelne eine maximale Verantwortung, ist es gleichsam in die Hand jedes gewöhnlichen Staatsbürgers gelegt, über das Schicksal aller zu entscheiden. Ich will damit keineswegs sagen, daß es politisch besonders wünschenswert wäre, wenn nur eine knappe Mehrheit bei den Wahlen erzielt wird, obgleich ein allzugroßes Übergewicht einer Partei in der Tat auf die Dauer bedenklich sein könnte, sondern nur an einem Modell sichtbar machen, daß die wirkliche funktionsfähige Demokratie jedem einzelnen ein'Maximum an Verantwortung und realer Mitbestimmung einräumt.

Damit haben wir bereits die erste politische Vorbedingung für das Funktionieren einer freiheitlichen Demokratie genannt: die Existenz einer Mehrzahl (mindestens einer Zweiheit) von politischen Parteien. Nur in ganz kleinen und überschaubaren Verhältnissen kann heute noch auf Parteien verzichtet werden. Nur wenn wirklich jedes Glied der Gemeinschaft jeden oder zumindest jeden fähigen Mann kennt, ist es möglich, daß ohne die integrierende Funktion von Parteiorganisationen eine freie Wahl sinnvoll angesetzt werden kann. In allen modernen Staaten sind dagegen Parteien notwendig, um aus der Vielzahl politischer Ordnungsideen einige wenige sichtbar herauszuheben und durch Organisationen für ihre Durchsetzung zu wirken. Auch wenn diese Parteien sich ihrem Ursprung oder ihrem Wesen nach auf bestimmte Bevölkerungskreise stützen, müssen sie in ihrem Programm die Gesamtheit ansprechen und sich aufs Ganze beziehen. Das gilt in erhöhtem Maße, wenn es nur zwei Parteien gibt, sodaß es jeder von ihnen nur gelingen kann, die Regierung zu bilden, wenn sie eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. — Wie unabdingbar diese Voraussetzung einer Mehrzahl von Parteien ist, kann man leicht am Zerrbild der Einparteiendemokratie ablesen. Auch wenn „theoretisch“ eine Demokratie mit einer „Partei“ denkbar ist, — so sehr schon der sprachliche Widerspruch einer Partei, die alleine dasteht, ins Auge springt — so müßte in ihr an die Stelle des Wechselspiels der Parteien, ein freies Spiel der Fraktionen innerhalb der Partei treten. Anders ausgedrückt: nur eine wirklich funktionierende innerpolitische Demokratie und die Bildung von erkennbaren Fraktionen könnte unter diesen Umständen den demokratischen Charakter des Staatswesens garantieren. Die Erfahrungen, welche wir in den letzten Jahrzehnten mit Einparteienstaaten gemacht haben, sprechen aber nicht dafür, daß so etwas auf die Dauer möglich ist. Die Nationalsozialisten entledigten sich, im zweiten Jahr nach ihrer Machtergreifung, auf gewaltsame Weise des einen Flügels der „Bewegung“ und in der Sowjetunion wurde schon zu Lebzeiten Lenins zunächst die Fraktionsbildung und unter Stalin dann auch noch die Bildung von sogenannten innerparteilichen „Plattformen“ verboten. Wenn man aber kaum damit rechnen kann, daß eine zur Alleinherrschaft gelangte Einheitspartei demokratisch bleibt, so ist auf der anderen Seite die fehlende effektive Demokratie innerhalb einer der mehreren, miteinander um die Führung ringenden Parteien relativ ungefährlich: einmal weil die Gegenpartei — bei vorherrschender demokratischer Einstellung der Wähler — in der Auseinandersetzung stets auf diesen Punkt hinweisen wird und schon damit eventuell zur Korrektur zwingt und zum anderen, weil — ungeachtet ihrer Struktur diese Partei genötigt ist, auf den Willen der Wähler einzugehen, wenn sie Stimmen gewinnen oder gegebenenfalls die Mehrheit behalten will.

Die Erfahrungen der Weimarer Republik haben freilich bei uns dazu geführt, daß im Grundgesetz, Artikel 21, Abschnitt 2, bestimmt wird, daß Parteien „die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen“ als verfassungswidrig anzusehen sind. Die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit wird dem Bundesverfassungsgericht überlassen, wobei die Frage ausschlaggebend ist, ob die betreffende Partei grundsätzlich dazu bereit ist, in Zusammenwirkung mit anderen, gegnerischen Parteien auf parlamentarischem Wege die Politik zu bestimmen, oder ob sie einen grundsätzlichen Monopolanspruch erhebt und gewillt ist, diesen bis zur Vernichtung aller anderen politischen Gruppierungen durchzusetzen. Insofern in der undemokratischen Struktur einer Partei ein Hinweis auf eine solche Konzeption gesehen werden kann, wird sie eventuell zur Verurteilung führen (wie z. B. im Falle der SRP das „Führerprinzip“ innerhalb der Partei mit der politischen Auffassung vom Wesen des durch die Partei zu verwirklichenden Staatswesens harmonierte). Soweit aber die Verringerung der innerparteilichen Demokratie nur dem extremen Über-gewicht und dem vorherrschenden Ansehen einer Person zuzuschreiben ist, oder auf dem schwer zu vermeidenden Vorteil der kleinen Führungsgruppe beruht, wird man bei aller gebotenen Aufmerksamkeit doch noch keine unmittelbare Gefahr für den Bestand der Demokratie sehen dürfen.

Politische Vorbedingungen einer freiheitlichen Demokratie Mit der Existenz einer Mehrzahl von Parteien sind aber noch bei weitem nicht alle politischen Vorbedingungen einer freiheitlichen Demokratie gegeben. Ohne sie hier alle in der erforderlichen Ausführlichkeit schildern zu können, möchte ich nur die wichtigsten kurz nennen und begründen:

An erster Stelle steht hier — traditionsgemäß — die sogenannte Gewaltenteilung, die Montesquieu in seiner idealisierenden Beschreibung der englischen Verfassung als erster zu Ehren gebracht hat. Sie besagt, daß Gesetzgebung, Rechtsprechung und Regierung (und Verwaltung) voneinander unabhängigen Institutionen zu übergeben sei, wenn man verhindern wolle, daß die Bürger unterdrückt würden. Wenn nämlich der Gesetzgeber zugleich die praktische Durchführung der Gesetze inne-hat, kann er sich für seine Unterdrückungsgelüste jederzeit die rechtliche Grundlage verschaffen und in ähnlicher Weise könnte der Richter, der zugleich das von ihm anzuwendende Gesetz macht, seinem Macht-willen oder seiner Bequemlichkeit folgend, freiheitsfeindliche Gesetze geben. Ein wichtiger Sonderfall der Gewaltenteilung ist übrigens die Verwaltungsgerichtsbarkeit zum Schutze der Bevölkerung vor der Willkür von Verwaltungsinstanzen, deren Aufgabenbereich mit der Entwicklung zum Versorgungsstaat ständig zugenommen hat.

So wichtig aber diese Gewaltenteilung auch sein mag, stellt sie allein ebensowenig eine Garantie für die Freiheit der Bürger dar, wie die formelle Teilhabe aller an der staatlichen Willensbildung durch die Wahlen. Wenn zum Beispiel bei formaler Teilung der Gewalten deren Inhaber zusammen eine festverbundene Minderheitsgruppe darstellen, dann wird dadurch die Wirkung der Teilung notwendig wieder aufgehoben, auch wenn zugegeben ist, daß sich durch die unterschiedenen Funktionen und Aufgaben leicht von selbst eine gewisse Differenzierung der Auffassungen innerhalb der als homogen angenommenen Schicht und damit eine Art „Balancezustand" herstellen kann. Tatsächlich neigen denn auch Staaten mit einer einheitlichen Herrschaftsgruppe auch zur formellen Aufhebung der Gewaltenteilung (Sowjetunion). Auf die Dauer ist diese und ihre Wirkung jedoch nur garantiert, wenn auch in der Gesellschaft eine Mehrzahl von einflußreichen Gruppen und Schichten in spannungsvollem Gleichgewicht stehen. Durch die politische Erfahrung belehrt, wissen wir heute, daß die institutionelle Garantie der Gewaltenteilung die Bürger nur schützt, wenn es gesellschaftliche Gruppen gibt, die zugleich an ihrer Aufrechterhaltung interessiert und genügend einflußreich sind, um mit Nachdruck für sie eintreten zu können. Die politische Gewaltenteilung muß durch eine gesellschaftliche Pluralität untermauert sein, wenn im modernen Staat der Einzelne Chancen der Freiheit behalten soll.

Wie die freiheitliche Demokratie von der totalitären sich durch die Existenz einer legalen Opposition (der jeweils in der Minderheit befindlichen Partei oder Parteigruppierung) unterscheidet, so die freiheitliche Gesellschaftsordnung von der totalitären durch die Existenz einer Mehrzahl einander in Schach haltender Bevölkerungsgruppen und Interessenvertreter. In jeder modernen Industriegesellschaft gibt es eine Vielzahl von miteinander in Konflikt oder wenigstens in Spannung zueinander stehenden Interessen. Die totalitäre Lösung dieses Konfliktes besteht darin, daß eine politische Führungsgruppe von sich aus und ohne wirksame Kontrolle durch die Bevölkerung entscheidet, welches die zu berücksichtigenden gesamtgesellschaftlichen Interessen sind. Im Falle des Marxismus-Leninismus glaubt sie eine Theorie zu besitzen, durch die es ihr möglich ist, „wissenschaftlich" zu bestimmen, was die wahren Interessen der Gesamtheit sind. Wir glauben, daß es eine solche „wissenschaftliche“ Ermittlung des „richtig bestimmten Gemeininteresses“ nicht gibt, erwarten aber, daß die politischen Parteien sich nicht zu Sprechern einseitiger wirtschaftlicher, ideologischer und machtpolitischer Interessen machen, sondern — von unterschiedlichen Standorten aus — das Gesamtinteresse zu bestimmen suchen.

Die Interessenverbände und Berufsvertretungen — an ihrer Spitze die Gewerkschaften auf der einen und die Arbeitgeberverbände auf der anderen Seite — haben eine andere Aufgabe. Sie versuchen, in einem von der politischen Ordnung ausdrücklich freigelassenen Raum, auf einem institutionell immer besser geregeltem Wege den Konflikt ihrer Interessen auszutragen und zu einem beiderseits erträglichen Kom-p r o m i ß zu gelangen, der freilich angesichts der Dynamik der marktwirtschaftlichen Entwicklung immer wieder neu gesucht werden muß. Insofern die Stärke dieser Verbände von der Aktivität und Energie der in ihnen zusammengeschlossenen Mitglieder abhängig ist, kann — bis zu einem gewissen Grade wenigstens — damit gerechnet werden, daß diese mit dem Grad der Bedrohtheit der Interessen wächst und einen heilsamen Ausgleich gegenüber gefährlichen Verzerrungen des Macht-gefüges innerhalb einer Gesellschaft herbeiführen wird. Eine Gesellschaft erscheint uns daher umso freier, je besser der „Mechanismus" dieser Gruppen-Antagonismen wirksam ist. Wir erwarten nicht — wie die Kommunisten — von einer kommenden klassenlosen Gesellschaft die restlose Aufhebung aller Interessengegensätze und glauben den Sowjetideologen nicht, wenn sie die völlige Interessensolidarität der sowjetrussischen Oberschicht mit den Industriearbeitern und dieser mit den Kolchosbauern behaupten, aber wir halten dafür, daß es vernünftiger und besser ist, wenn diese unterschiedlichen Interessen offen beim Namen genannt und durch institutionell geregelte Auseinandersetzungen ein Ausgleich zwischen ihnen gesucht wird. Bedenklich sind all diese Interessen oder Interessenverbände nur dann, wenn sie „hintenherum“ politische Entscheidungen zu beeinflussen suchen und Parteien, Regierung und Verwaltung dazu veranlassen wollen, einseitig ihr jeweiliges Partikularinteresse zu fördern. Dem Einzelnen ist es in einer modernen Massengesellschaft nicht möglich, unmittelbar seine Bedürfnisse zur Geltung zu bringen. Eine Vielzahl von Gruppen, Verbänden und Vereinigungen übernimmt daher notwendig seine Vertretung. Je mehr Mitbürger sein Bedürfnis und sein Interesse teilen, desto größer wird auch die Zahl derer sein, die sich der betreffenden Gruppe anschließen und desto größer auch der Nachdruck, den sie ihrem Anliegen zu geben vermögen.

Derartige Bedürfnisse, die auf der Ebene der Gesellschaft ihre Vertretung finden und ihre oft gegensätzliche Vielfalt entwickeln, sind aber nicht nur wirtschaftlichen Charakters. Auch weltanschauliche Gruppen, künstlerische Interessen, sportliche, wissenschaftliche und sonstige finden hier ihren Ausdruck. Die Freiheit der Personen in einer Gesellschaft ist aber umso besser gesichert, auf je zahlreicheren Gebieten echte Dualitäten und Pluralitäten bestehen, je größer die Toleranz ist, die sie einander entgegenbringen. Keine dieser Gruppen darf einseitig und ausschließlich von der politischen Macht des Staates gefördert werden, selbst nicht eine einzelne Konfession. So sehr sich der Gläubige gegen eine Bezeichnung der Kirchen als „Interessenvertretungen mit Recht wehren würde, so wenig läßt sich leugnen, daß sie in eine m Sinne auch Interessenverbände darstellen. Wenn religiöse Bekenntnisse aber ihren vollen Wert behalten sollen, dürfen sie nicht durch staatliche Prämien belohnt werden. Das schließt eine staatliche Förderung der christlichen Kirchen keineswegs aus, allerdings jedoch eine Bevorzugung irgendwelcher Konfessionen bei der Besetzung von staatlichen Ämtern. Die vielfach geübte proportionale Aufteilung von Stellen auf die beiden großen christlichen Bekenntnisse ist eine Karikatur dieser an sich wünschenswerten Haltung des Staates. Eine Karikatur, die z. T. wohl eine Folge der Einwirkung kirchlicher Verbände in ihrer Eigenschaft als „Interessenvertretungen“ und des Mißtrauens in die staatliche Neutralität ist. — Daß auch andere z. B. künstlerische Richtungen und Weltanschauungen vom Staate normiert und vorge-

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