Dieser Artikel ist noch vor Ende der Genfer Außenministerkonferenz in der amerikanischen Monatsschrift „Foreign Affairs" (Juli 1959) veröffentlicht worden. Die darin enthaltenen Ausführungen haben jedoch nichts an Aktualität verloren. Sie geben selbstverständlich nur die persönliche Auffassung Professor Kissingers wieder.
Keine Lebensfragen aus dem Auge verlieren
Während diese Zeilen niedergeschrieben werden, ist die Außenministerkonferenz noch in vollem Gange. Obwohl sich der Ausgang dieser Konferenz noch nicht mit Sicherheit voraussagen läßt, zeichnet sich doch die allgemeine Entwicklungstendenz des diplomatischen Geschehens in den nächsten Monaten deutlich ab.
Der Westen hat ein „Paket“ vorgeschlagen, durch das die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands mit dem der europäischen Sicherheit gekoppelt wurde. Dieses Junktim ist von der Gegenseite abgelehnt worden. Die Sowjetunion hat ihrerseits darauf bestanden, daß die deutsche Wiedervereinigung den beiden deutschen Staaten selber überlassen werden muß, und daß sich die Außenministerkonferenz auf diejenigen Streitfragen konzentriert, die nach Auffassung der sowjetischen Führung wirklich zu „lösen“ sind. Man scheint ganz offensichtlich auf der Gegenseite die Verhandlungskunst, den Einfallsreichtum und vor allem die innersten Überzeugungen des Westens auf die Probe stellen zu wollen. Die Antwort des Westens auf solche Versuche wird daher für die Zukunft der Freiheit in unserem Zeitalter von großer, wenn nicht sogar von ausschlaggebender Bedeutung sein.
Man kann nur hoffen, daß der Westen in den kommenden Monaten ein wenig mehr Selbstvertrauen an den Tag legt, als das in der unmittelbar hinter uns liegenden Zeit der Fall gewesen ist. In einem Bündnissystem sind Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich. Auch können verschiedene Wege, ein bestimmtes Problem anzugehen, den dann schließlich doch noch erzielten Konsensus vielleicht sogar dauerhafter werden lassen. Da in demokratischen Ländern die Politik entscheidend auf die Unterstützung der öffentlichen Meinung angewiesen ist, kommt die politische Willensbildung auf dem Wege öffentlicher Auseinandersetzungen zustande. Dadurch werden dann zwangsläufig vorhandene Meinungsverschiedenheiten überbetont. Selbst wenn wir aber diesen Faktor im Westen in Rechnung stellen, dann haben wir immer noch allen Grund, uns ernste Sorgen zu machen. Die westlichen Verbündeten haben auf die klar zutage tretende Bedrohung ihres Lebensnervs durch die Sowjets nur sehr zaghaft und unentschlossen reagiert. Bei uns im Westen hat man viel mehr darüber diskutiert, wie weit man in der Konzessionsbereitschaft dem Osten gegenüber gehen darf, als darüber, was nun eigentlich die Ziele sind, die wir ansteuern sollten.
Die von den Westmächten bei der Ausarbeitung ihres Paketes an den Tag gelegte, ausgesprochen zögernde Haltung, läßt nicht die Hoffnung aufkommen, daß wir an diesem Paket nun auch mit aller Entschlossenheit festhalten werden.
Wenn die in Genf unterbreiteten Vorschläge des Westens heute Gültigkeit haben, dann fragt man sich eigentlich, warum wir nicht die Einfallsgabe aufbrachten und solche Vorschläge zu einem Zeitpunkt unterbreiteten, als noch nicht unter sowjetischem Druck der Verdacht aufkommen konnte, es handele sich im Grunde nur um improvisierte Versuche, aus einer schwierigen Lage wieder herauszukommen.
Für den Westen gibt es in der Tat nichts wichtigeres, als daß er sich endlich über die Ursachen seiner augenblicklichen Schwäche klar wird und aus einer echten Überzeugung heraus Maßnahmen zur Überwindung dieses Schwächezustandes vorschlägt. Ob solche Maßnahmen dann Gegenstand echter Verhandlungen sein können oder nicht, das ist nicht so entscheidend. Lebensgefährlich ist eben nur, wenn man die Komponente eines etwaigen Zustandes der Stabilität mit den Bedingungen verwechselt, zu denen die Sowjetunion bereit ist, abzuschließen. Bei unserem Wunsch nach einem Übereinkommen dürfen wir weder die Lebensfragen aus dem Auge verlieren, um die hier mit dem letzten Einsatz gespielt werden soll, noch die Ziele, die wir selber stellen.
Eine Dauerlösung wird erst dann möglich sein, wenn sich die sowjetischen Führer davon überzeugt haben, daß sie den Westen nicht mit Hilfe seiner eigenen Friedensliebe demoralisieren können. Wenn die Sowjets wirklich ernsthaft einen Krieg vermeiden wollen, dann muß ihnen klar gesagt werden, daß man sich des Mittels der Verhandlungen nicht beliebig lange aus Gründen der reinen Taktik bedienen kann, und daß die dabei etwa erzielten Gewinne verschwindend gering sind im Vergleich zu den Gefahren einer solchen Politik. Unsererseits sollten wir versuchen, den sowjetischen Führern klar zu machen, daß sie eine echte politische Entscheidung zu treffen haben, die wir ihnen nach Kräften erleichtern wollen. Sie müssen nämlich zu der Erkenntnis gelangen, daß durch ihre Politik des ständigen Druckes auf den Westen, alle Völker der Welt noch garnicht abzusehenden Gefahren ausgesetzt werden. Auf der anderen Seite gilt es sie davon zu überzeugen, daß sie ihre eigene Sicherheit durch Verhandlungen erhöhen können, und daß wir im Westen aus einem Geist sowohl der Flexibilität wie der Konzilianz heraus wirklich bemüht sind, echte Garantien gegen Angriffe auf ihr Land ins Auge zu fassen.
Wie ernst ist es nun dem Westen, wenn er sich zum Fürsprecher einer deutschen Wiedervereinigung macht? Welcher Art ist das Verhältnis zwischen Wiedervereinigung und europäischer Sicherheit? Lind welche Maßnahmen schließlich kommen in Betracht, wenn es gilt, ganz legitime Besorgnisse der Sowjets in Punkto Sicherheit zu zerstreuen?
Anerkennung des Status quo?
Es wird oft behauptet, daß die Sowjets mit der augenblicklichen Krise unter anderem den Westen zu einer Hinnahme des Status quo in Osteuropa zu bewegen suchen. Man legt uns daher nahe, daß wir uns der Macht der Tatsache beugen, die wir ohnehin nicht zu ändern in der Lage sind. (Nebenbei bemerkt ist es doch äußerst zweifelhaft, ob nun die einzig „vernünftige“ Antwort auf gegebene Tatsachen darin besteht, daß man sich ihnen einfach anpaßt!)
Im Hinblick auf das von uns hier angeschnittene, spezielle Problem ist es nun aber sehr wichtig, daß wir zwischen Deutschland und den Satellitenstaaten in Osteuropa unterscheiden.
Was letztere betrifft, so hat ja der Westen seit langem die bestehenden Regierungen anerkannt, diplomatische Beziehungen mit ihnen angeknüpft und Handelsabkommen geschlossen.
Selbst Wirtschaftshilfe ist diesen Ländern — so etwa im Falle Polen — gewährt worden. Das Beispiel Ungarn hat schlüssig bewiesen, daß der Westen nicht bereit ist, Aufstände in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang mit eigenen Machtmitteln zu unterstützen. Angesichts solcher Tatsachen ist es eigentlich schwer, irgendeinen Sinn in dem Begriff von der „Anerkennung des Status quo“ zu sehen, oder sich überhaupt noch etwas auszudenken, das der Westen noch tun könnte, um sich den bestehenden Verhältnissen anzupassen. Die sowjetische Herrschaft ist vor allem dadurch bedroht, daß die kommunistischen Führer in den Ländern ihres Blocks die eigene Bevölkerung nicht für sich gewinnen können. Die einzig denkbare, zusätzliche Konzession vonseiten des Westens würde also nur darin bestehen können, daß man mit den Russen bei der Unterdrückung der Freiheit gemeinsame Sache macht und somit das P r i n -
z i p der Selbstbestimmung a u f g i b t.
In Deutschland liegt der Fall jedoch völlig anders. Hier ist ein kommunistisches Regime nur in einem Teil des Landes an die Macht gelangt, dazu noch in einem Teil, der sich in seiner kulturellen, ethnischen oder historischen Tradition von Deutschland als ganzem in keiner Weise unterscheidet. Das Problem besteht in Ostdeutschland nicht nur darin, daß man einer feindseligen Bevölkerung eine Marionettenregierung aufgezwungen hat; würde es dort zu einer endgültig separaten Staatsbildung kommen, dann würde dies dem Wunsche der Deutschen nach einer Wiedervereinigung selbst dann noch völlig zuwiderlaufen, wenn es sich um einen nicht-kommunistischen Staat handelte. Sogar Chruschtschow sah sich während seiner letzten Reise durch die Ostzone genötigt, ständig zu wiederholen, daß die Wiedervereinigung das letzte Ziel sei — allerdings erst dann zu verwirklichen, wenn Westdeutschland bereit wäre, das sowjetische System zu akzeptieren. Solange Deutschland geteilt bleibt, muß auch die Stellung der Ostzonenregierung zwangsläufig äußerst gefährdet sein.
Dieses Ostzonenregime ist nämlich einer ständigen Bedrohung ausgesetzt, nicht nur vonseiten seiner eigenen, feindseligen Bevölkerung, sondern auch durch die bloße Existenz eines in Freiheit und Wohlstand lebenden Westdeutschland. Jede westdeutsche Regierung muß sich für die Wiedervereinigung einsetzen. Dabei ist es im Grunde völlig unerheblich, ob diese Regierung ihr Ziel mit Mässigung und Geduld zu erreichen sucht. Keine westdeutsche Regierung kann die aufgezwungene Teilung des deutschen Staats-gebietes als endgültig hinnehmen, wenn sie sich nicht ihrer eigenen, innenpolitischen Basis berauben will. Ein Bündnis, das dem deutschen Volk einen solchen Preis abverlangen würde, müßte in den Augen dieses Volkes jeden Sinn verlieren. Auch wenn die Bundesrepublik oder die westlichen Verbündeten eine Politik der Selbstbescheidung betreiben würden, so könnte dies nicht über die Erfahrungen der europäischen Geschichte des 19. und der antikolonialen Kämpfe des 20. Jahrhunderts hinwegtäuschen. Diese Erfahrungen zeigen nämlich, daß Regierungen den Drang nach nationaler Unabhängigkeit auf die Dauer nicht ignorieren können.
Oder sollten wir etwa unterstellen, daß dieser Drang nach Selbstbestimmung und nationaler Würde in Europa weniger ausgeprägt ist als in Asien oder Afrika?
Man würde der Bundesrepublik einen vielleicht nie wieder gut zu machenden Stoß versetzen, wenn die Alliierten die augenblicklichen Grenzen als endgültig akzeptieren, und sei es nur in der Form, daß die Wiedervereinigung nicht mehr als vordringlich angesehen wird. Es mag sein, daß die Teilung Deutschlands unvermeidlich ist. Für den Westen hängt aber sehr viel davon ab, ob er klarstellt, warum es nicht zu einer Wiedervereinigung kommt. Wenn wir bei der Hinnahme dieser deutschen Teilung zu viel „Realismus“ an den Tag legen, ermöglichen wir es der Sowjetunion nur, uns mit der Verantwortung für das Nichtzustandekommen der Wiedervereinigung zu belasten. Einen Vorgeschmack davon haben wir ja schon durch Chruschtschows Erklärung gegenüber einigen Redakteuren aus Westdeutschland erhalten, daß der Westen sowohl aus wirtschaftlichen wie aus militärischen Gründen ein geteiltes Deutschland vorziehe.
Bolschewistisches Gesamtdeutschland das Ziel
Mit ihrer derzeitigen Politik beabsichtigen die Sowjets noch sehr viel mehr, als nur eine Verewigung des Status quo. Offensichtlich sieht die Sowjetunion in der Konsolidierung ihres ostdeutschen Satelliten nicht nur ein Mittel zur Aufweichung der westlichen Einheitsfront, sondern gleichzeitig den ersten Schritt auf dem Wege zu einem bolschewistischen Gesamt-deutschland. „Auf welcher Grundlage sollte es zu einer deutschen Wiedervereinigung komwen?", fragte Chruschtschow in Leipzig am 7. März dieses Jahres, um dann fortzufahren:
„Können wir dawit einverstanden sein, daß die kapitalistischen Mächte die deutsche Wiedervereinigung auf Kosten der DDR zustande-bringen wollen, uw auf diese Weise die Front des Sozialismus zu schwülem? Wir haben in der Vergangenheit nicht den Kapitalisten nachgegeben und wir werden das auch in Zukunft nidit tun. . . Man kann die Frage auch andersheruw formulieren: warum sollte man Deutschland nicht dadurch wiedervereinigen, daß man den Kapitalismus in Westdeutschland abschafft und in diesem Teil des Landes die Arbeiterklasse an die Macht bringt? . . . Heute wäre allerdings eine solche Politik unrealistisch . . . Wenn Ihr wollt, daß Eure Kinder und Kindeskinder Euerer einst in Dankbarkeit gedenken, dann solltet Ihr für den Abschluß eines deutschen Friedensvertrages kämpfen, der einen wichtigen Sdrritt auf dem Wege zur Wiedervereinigung Deutschlands darsteilen würde. . .“.
Der sowjetische Friedensvertragsentwurf steht also nicht am Ende, sondern am Anfang eines ganz bestimmten Prozesses; er stellt eine Maßnahme dar, mittels derer eine taktische Ausgangsposition gefestigt werden soll. Beinahe jede Bestimmung des sowjetischen Vertragsentwurfes bietet Möglichkeiten einer ständigen Intervention. Die von der Sowjetunion vorgeschlagene Konföderation wird nämlich nur solange eine Verminderung der Spannungen mit sich bringen, bis die Sowjetunion bereit und in der Lage ist, die Wiedervereinigung Deutschlands unter kommunistischen Vorzeichen zu forcieren. Bis dahin würde der ganze Konföderationsgedanke dazu dienen, Westdeutschland zu demoralisieren und von seinen Verbündeten zu trennen. Die Geschichte der Koalitionsregierungen in Polen, Rumänien, Ungarn und selbst China deutet doch ganz klar darauf hin, daß die Kommunisten ihre Anerkennung der Bundesrepublik rückgängig machen würden, sobald sie sich stark genug dazu fühlen. Sie würden dann behaupten, daß ihre Marionettenregierung in Pankow das ganze Deutschland repräsentiere, — genau wie sie dies seiner Zeit mit der Lubliner Regierung in Polen taten. Den Vorgeschmack einer solchen Entwicklung haben wir ja schon mit den ungehemmten sowjetischen Angriffen auf die westdeutsche Regierung bei den Genfer Verhandlungen, und mit Chruschtschow’s Leipziger Rede bekommen, in der er wörtlich erklärte: „Die DDR ist eine Republik der Arbeiterklasse. Sie ist eine Republik der Arbeiter und Bauern, die Heimstatt aller deutschen Arbeiter."
In allen Verhandlungen muß der Westen daher die russische Propaganda-Parole, daß die beiden Deutschland selber eine Wiedervereinigung herbeiführen müssen, als glatten Zynismus entlarven. Wenn nämlich das deutsche selber diese - Volk Wiedervereinigung herbeifüh ren soll, dann sind doch freie Wahlen das beste Mittel auf einem solchen Wege. Mit Hilfe einer Konföderation hingegen würde der ostdeutsche Satellit in den Angelegenheiten Westdeutschlands ein Mitspracherecht erhalten. Dieser Satellit könnte dann durch eine Verstärkung der Opposition gegen die jeweilige Regierung das politische Leben in der Bundesrepublik demoralisieren, zumindest aber festgefahrene Zu-stände herbeiführen, die für die weitere Entwicklung der Demokratie in Deutschland sehr gefährlich werden müßten. Das ostdeutsche Regime würde sich Jann auch mit aller Gewalt für eine Lockerung der von der Bundesrepublik eingegangenen europäischen Bindungen einsetzen können, und zwar mit dem Argument, daß diese Bindungen einer Wiedervereinigungspolitik zuwiderliefen. Wenn die Bundesrepublik es ablehnen sollte, ihre europäischen Bindungen aufzugeben, dann würde die DDR — grade auf Grund der Konföderation international endlich anerkannt — dieser Konföderation wieder den Rücken kehren, und somit aus der ganzen Sadie als Anwalt der deutschen Einheit hervorgehen. Würde hingegen die Bundesrepublik den östlichen Schalmeientönen folgen, dann gäbe das dem Mißtrauen des Westens Deutschland gegenüber neue Nahrung, — was wiederum eine weitere Entfremdung zur Folge hätte.
Man kann an dieser Stelle natürlich einwenden, daß sich der Konföderationsgedanke nach zwei Seiten hin ausspinnen läßt. So könnte man argumentieren, daß die Bundesrepublik durch die Schaffung einer gesamtdeutschen Institution in die Lage versetzt werden würde, ihrerseits auf die Geschehnisse im Osten Einfluß zu nehmen. Bei einer solchen Argumentation trügt jedoch der Schein. Der ganze polizeistaatliche Apparat macht das ostzonale Regime gegenüber einem Druck von innen relativ immun, besonders dann, wenn sowjetische Truppen auf deutschem Boden verbleiben. Selbst ohne die Anwesenheit sowjetischer Truppen würde man aber sehr wenig in Punkto einer Liberalisierung des ostzonalen Regimes erwarten dürfen. Das Beispiel Polen kann man in diesem Zusammenhang schlecht zum Beweis des Gegenteils heranziehen. Die Tschechoslowakei, Bulgarien und Rumänien haben alle keinen Liberalisierungsprozeß durchgemacht, obwohl die sowjetischen Truppen zurückgezogen wurden. Ja in der Tschechoslowakei standen überhaupt keine sowjetischen Truppen, als sich das kommunistische Regime in den Sattel schwang. In Polen liegen die Dinge insofern ein wenig anders, als hier nationale und religiöse Momente zusammenfielen und ein liberalisiertes kommunistisches Regime begünstigten. Nur auf diese Weise ließ sich die nationale Eigenständigkeit des Landes behaupten. In Ostdeutschland fallen solche Faktoren völlig weg. Ja dort sieht das Volk gerade in dem kommunistischen Regime selber das Haupthindernis auf dem Wege zu einer Erfüllung nationaler Aspirationen.
Bei Verhandlungen über Deutschland muß man somit von zwei scheinbar einander völlig widersprechenden Gefahren ausgehen: entweder der Gefahr, daß man sich doch mit der Teilung Deutschlands abfindet, oder aber der Gefahr, daß der Westen in seinem Wunsch, die Wiedervereinigung auf dem Verhandlungswege zu erreichen, Lösungen akzeptiert, die es den Sowjets ermöglichen, eines Tages die Herrschaft über ganz Deutschland auszudehnen. Tatsächlich ist der westliche Pakt-Vorschlag bedenklich weit in Richtung auf die letztere Mög-lichkeit gegangen. Eine Kommission von west-und ostdeutschen Experten zur Erweiterung des Kontaktes zwischen beiden Teilen Deutschlands weist vom sowjetischen Standpunkt aus eine ganze Reihe von Vorteilen auf, die auch in dem Konföderationsplan liegen. Es überrascht daher nicht, daß Herr Gromyko diesen Vorschlag als „konstruktiv“ bezeichnet hat. Auch der Vorschlag einer Volksabstimmung über die rein technische Frage eines Wahlgesetzes kann zu einem Trick werden, mit dessen Hilfe sich der derzeitige Wahlmodus in der Ostzone legalisieren läßt. Solche Bedenken gelten um so mehr, als mit diesem ganzen Vorschlag keinerlei Bestimmungen für einen vorgeschalteten Zeitraum freier politischer Betätigung gekoppelt wurden
Für den Westen ist es mithin wichtig, daß er nicht nur die Wiedervereinigung befürwortet, sondern daß er auch in solchen Punkten fest-bleibt, die sich für ein „Techtelmechtel“ nicht eignen. Wir können durchaus Formeln anbieten, die dem Ziel einer Wahrung des sowjetischen Prestiges dienen — so etwa den Vorschlag, einer Übergangszeit vor der Abhaltung freier Wahlen. Wir dürfen aber nicht das Recht des deutschen Volkes aufgeben, in einer einigermaßen absehbaren Zeit selber über sein Schicksal zu entscheiden. Würden wir je den festen Boden dieses Prinzips verlassen, dann begäben wir uns damit in den Bereich technischer Aushilfen. Lind gerade in diesem Bereich würden sich dann den Sowjets eine Fülle von Möglichkeiten anbieten, die Dinge zu manipulieren, oder sich völlig unzugänglich zu zeigen. Keine Wahl-formel — mag sie auch noch so subtil erdacht sein — vermag ein russisches Einverständnis zu einer Freien Willenskundgebung des Volkes überflüssig zu machen.
Die Sowjetführer werden Ostdeutschland nicht sozusagen aus Versehen aufgeben. Wir leisten weder uns noch der Sache der Verhandlungen einen Dienst, wenn wir so tun, als ob sich eine deutsche Wiedervereinigung durch eine bloße Politik der Raffinessen erreichen ließe. Wir können erhebliche Konzessionen machen, wenn es um den Modus und um den Zeitpunkt von Wahlen geht. Wenn wir aber dem ostzonalen Regime ein direktes oder indirektes Veto in Sachen Wiedervereinigung zugestehen, dann würde das bedeuten, daß wir entweder die Fortdauer der deutschen Spaltung legalisieren — was verheerende Konsequenzen für die politische Stabilität in Westdeutschland mit sich bringen müßte — oder aber es würde bedeuten, daß wir den Weg frei machen für ein kommunistisches Gesamtdeutschland.
Manche Leute behaupten, daß im Grunde niemand die deutsche Wiedervereinigung wirklich wünscht. Sicherlich aber haben wir es doch in der Hand, unsere eigenen Ziele aufzustellen. Wenn der Westen seine eigene Interessenlage richtig deutet, dann muß er sich trotz aller Erfahrungen von zwei Weltkriegen und bei aller verständlichen Furcht vor einem Wiederaufleben teutonischer Blutrünstigkeit für eine deutsche Wiedervereinigung einsetzen. Es mag sein, daß der Westen gezwungen ist, sich mit der Teilung Deutschlands abzufinden, aber er kann einem solchen Zustand auf keinen Fall seinen Segen geben. Jede andere Politik wird uns im Endeffekt nur das bescheren, was wir am meisten fürchten sollten, nämlich eine militante, völlig unzufriedene Macht im Herzen des europäischen Festlandes. Die Wiedervereinigung Deutschlands als diplomatisches Ziel kann in unseren Augen nicht ein Verhandlungstrick sein, sondern ist im Grunde die Voraussetzung für stabile Zustände in Europa.
Wir dürfen allerdings sicher sein, daß sich die Sowjetunion jeder Form der Wiedervereinigung widersetzen wird, die Gesamtdeutschland im Endeffekt nicht zu einem sowjetischen Staat macht. Der Westen kann sich aber nicht auf Vorschläge beschränken, deren Annahme die Sowjetunion in Aussicht gestellt hat, es sei denn, wir wären bereit, in allen strittigen Punkten die sowjetischen Bedingungen anzunehmen. Flexibilität kann für den Westen nicht bedeuten, daß er das Prinzip der Selbstbestimmung preisgibt. Sollten schließlich unsere Grundsätze überall dort nicht mehr gelten, wo die Sowjetunion es erreicht hat, einen fait accompli zu schaffen? Zweifellos ist eine Anpassung an die Realitäten oft wünschenswert. Wenn wir eine solche Anpassung aber zu einem universalen Prinzip erheben, dann verschreiben wir uns damit selber ein Rezept der völligen Stagnierung. Während der Suez-Krise bestanden wir darauf, daß wir unsere Grundsätze sogar gegen unsere Verbündeten aufrecht erhalten würden. Sollen wir jetzt den Eindruck erwecken, als ob wir diese Grundsätze nur gegen unsere Verbündeten aufrecht erhalten wollen?
Wir sind dazu verpflichtet, verantwortungsbewußte Vorschläge zu unterbreiten, die den berechtigten Sicherheitsbedürfnissen aller Parteien Rechnung tragen. Wenn die Sowjetunion ernstlich'um ihre Sicherheit besorgt ist, dann sollte der Westen auf ein solches Sicherheitsbedürfnis in sehr entgegenkommender Weise reagieren. Wie steht es aber nun um die Vorschläge für ein europäisches Sicherheitssystem?
Berechtigte Sicherheitsbedürfnisse beider Seiten
Man hat behauptet, daß alles Gerede von einer „Befriedigung berechtigter sowjetischer Sicherheitsbedürfnisse" im Grunde jeder realen Bedeutung entbehrt. Die Erfahrungen sowohl des zweiten Weltkrieges wie der letzten zehn Jahre Kalter Krieg sollten uns dieses Problem ein wenig besser verstehen helfen. Ein Abkommen, daß den „berechtigten“ Sicherheitsbedürfnissen beider Seiten Rechnung trägt, muß der Sowjetunion Schutz gegen die Gefahr eines neu erwachten deutschen Militarismus sowie gegen einen Angriff aus dem NATO-Raum heraus gewähren. Gleichzeitig aber muß auch der Westen vor dem Risiko eines sowjetischen Druckes und etwaiger sowjetischer Expansionsgelüste gesichert werden. Es trifft zweifellos zu, daß die Sowjetunion auf Grund ihrer in diesem Jahrhundert gemachten Erfahrungen empfindlich geworden ist gegenüber einem militärisch starken Deutschland. Es ist aber genau so wahr, daß seit mehr als 100 Jahren das russische Imperium in der einen oder anderen Form einen Druck auf alle Gebiete an seiner Peripherie ausgeübt hat, einschließlich des europäischen Raumes. Die Sowjetunion hat ein Recht darauf, Schutz vor der Möglichkeit eines militärischen Angriffes zu verlangen. In einer Gemeinschaft souveräner Staaten läßt sich jedoch eine absolute Sicherheit nur dann erzielen, wenn ein Staat alle übrigen entmachtet. Das aber entspricht genau dem Entwicklungsgesetz der großen Weltreiche in der Geschichte.
Die Stabilität eines internationalen Staaten-systems hingegen hängt davon ab, in welchem Umfange es gelingt, das Sicherheitsbedürfnis dieser Staaten mit ihrer Verpflichtung zur Selbstbescheidung zu koppeln. Sich ausschließlich auf einen unbegrenzt guten Willen eines anderen souveränen Staates zu verlassen, würde der Preisgabe jeglicher staatsmännischen Politik und aller nationalen Selbstachtung gleichkommen. Wer auf der anderen Seite Sicherheit allein durch eine physische Beherrschung des anderen zu erreichen sucht, der bedroht damit alle übrigen Staaten. Absolute. Sicherheit für einen Staat muß nämlich die absolute Unsicherheit für alle übrigen mit sich bringen. Man kann nicht abstracto entscheiden, an welchem Punkt diese beiden Faktoren gegeneinander ausbalanciert werden müssen. Darin liegt ja gerade der Anspruch der Diplomatie begründet, eine Kunst und nicht so sehr eine Wissenschaft zu sein. Beide Faktoren müssen jedoch in Über-einstimmung gebracht werden, wenn die internationale Ordnung stabil sein soll.
Von einem solchen Gesichtspunkt aus wird man sagen müssen, daß das revolutionäre Element der sowjetischen Politik bisher nicht darin lag, daß sich die Sowjetunion bedroht fühlte; ganz ausschalten läßt sich schließlich in den Beziehungen souveräner Staaten der Faktor Bedrohung niemals. Bemerkenswert war und ist vielmehr die Tatsache, daß nichts bisher die Sowjetunion von ihren «Sorgen um die eigene Sicherheit zu befreien vermochte. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges ist der kommunistische Block um Osteuropa und um das kommunistische China erweitert worden. Auch Nordkorea und der nördliche Teil von Indochina sind kommunistisch geworden. Die Sowjetunion verschaffte sich weiter einen Zugang zum Nahen Osten und versetzte sich mit Hilfe ihres neu-geschaffenen Atom-Arsenals in die Lage, das Territorium der USA direkt bedrohen zu können. Auch wirtschaftlich gewinnt die Sowjetunion ständig an Boden. Trotz alledem aber haben die Russen nicht im mindesten aufgehört zu behaupten, daß sie bedroht seien. Es ist daher im Grunde zwecklos die Frage zu diskutieren, ob es die Sowjetunion denn nun „wirklich“ auf eine Welteroberung abgesehen hat. Das eigentliche Problem könnte vielmehr darin bestehen, daß die sowjetische Vorstellung von Sicherheit auf die Unterminierung aller übrigen Staaten hinausläuft.
Mit relativer Sicherheit abfinden
Die Voraussetzung für ein wirksames Sicherheitssystem wäre somit, daß sich die sowjetische Politik mit einer relativen Sicherheit abfindet und von dem gefährlichen Kurs abläßt, Sicherheit durch eine imperialistische Politik erlangen zu wollen. Daneben muß der Westen die bisher für seine Bemühungen um ein Sicherheitssystem charakteristische Politik der Ausflüchte und des Durcheinanders über Bord werfen. Bei dem Mangel an Übereinstimmung über Ziel und Ausmaß der westlichen Verteidigungsanstrengungen ist es an sich nicht überraschend, daß man sich bisher überhaupt nicht über die Grundlinien eines Europäischen Sicherheitssystems schlüssig geworden ist.
Man hat zum Beispiel auch das Argument vorgebracht, daß die NATO bisher einen sowjetischen Angriff verhindert hat, ohne jemals die geplanten Sollstärken erreicht zu haben.
Da die Sowjets aber, seit es eine NATO gibt, immer eine Überlegenheit an Bodentruppen aufweisen konnten, ist der Weltfrieden dieser Argumentation zu Folge bisher aus einem der zwei folgenden Gründe — oder aus beiden zusammen — erhalten worden: entweder hat es niemals in der sowjetischen Absicht gelegen, Europa überhaupt militärisch anzugreifen, oder aber die Sowjetunion schreckte vor einem solchen Angriff zurück, weil im Hintergrund die amerikanische Drohung mit dem globalen Krieg stand. Es wird auf dieser Linie schließlich weiter argumentiert, daß es einer Abschwä-
chung der Abschreckung gleichkommen würde, wenn man die Kapazität zur Führung örtlich begrenzter Verteidigungs-Kriege steigert, da eine solche Form der Aufrüstung nur die Illusion nähren könnte, daß ein Angriff nicht unbedingt einen totalen Gegenangriff zur Folge haben muß. Die Verfechter dieser ganzen Theorie halten den europäischen Raum für so wichtig, daß ihrer Ansicht nach jeder Angriff auf diesen Raum automatisch die amerikanischen und britischen Vergeltungs-Schläge auslösen muß.
Hand in Hand mit einer solchen Argumentation geht die Auffassung, daß ein begrenzter Krieg in Europa „nicht denkbar“ ist. Es muß — wenn man von dieser Annahme ausgeht — dann auch durchaus möglich erscheinen, die sich gegenüberstehenden Streitkräfte physisch auseinanderzurücken, ohne daß dadurch die gegen einen sowjetischen Angriff vorhandene Abschreckung abgeschwächt würde. Natürlich wird die Möglichkeit einer Rückeroberung geräumter Gebiete durch die Sowjets nicht ausgeschlossen.
In den Worten von Mr. Kennan könnten die Sowjets dies jedoch „nur eimrtal und nur in einem Spiel mit dem größtmöglichen Einsatz tun: nämlidi nur dann, wenn es sich um den allgemeinen globalen Krieg handelt." Eine massive Vergeltung würde dann — immer dieser Theorie zufolge — die notwendige Abschrek-
kung gegen einen sowjetischen Angriff darstellen, sei es an der Elbe, an der Oder oder aber auch am Bug.
Solcherlei Argumente haben wenigstens insofern einen negativen Nutzeffekt gehabt, als an ihnen deutlich wurde, daß die derzeitige strategische Konzeption der NATO in sich selbst unlogisch ist. Dieses Bündnis-System hat sich nämlich in erster Linie auf eine Waffe verlassen, die der ausschließlichen Kontrolle von zwei nichtkontinentalen Mächten d. h.der USA und Großbritanniens, unterliegt. Diese Tatsache hat ihrerseits dazu geführt, daß unsere europäischen Verbündeten eindeutige Garantien für das Verbleiben amerikanischer und britischer Truppen auf dem Festland gefordert haben. In diesen Truppen hat man beinahe so etwas wie Geiseln gesehen, die sicherstellen sollen, daß die westliche Vergeltungsmacht wirklich gegen einen sowjetischen Angriff eingesetzt würde. Da man sich auf eine Strategie des „globalen Krieges“ verlassen hat, sind unsere Verbündeten nur sehr zögernd daran gegangen, einen eigenen Verteidigungsbeitrag zu leisten, der allein ein Engagement der anglo-amerikanischen Truppen militärisch wertvoll gemacht hätte.
Nicht allein wirtschaftliche Gründe sind dafür verantwortlich, daß unsere Verbündeten nur mit halbem Herzen an den Ausbau eines eigenen, örtlichen Verteidigungssystems herangegangen sind. Sie haben sich dabei auch von dem Glauben leiten lassen, daß bei größeren Anstrengungen ihrerseits die Vereinigten Staaten und Großbritannien in ihrer Bereitschaft nachlassen könnten, notfalls einen globalen Krieg zu führen, der nach der bisher gültigen, strategischen Konzeption des Westens alleine eine sowjetische Aggression verhindert.
Die amerikanischen und britischen Truppen im Herzen Europas erfüllen somit . nicht nur eine militärische, sondern auch eine psychologische Funktion. Für unsere Verbündeten stellen sie einen Beweis unseres Engagements dar, während sie für einen potentiellen Angreifer eine unmißverständliche Warnung bedeuten. Diese ganze Einstellung erklärt aber auch, warum eine Reihe von nachdenklichen Leuten in den Aufrüstungsmaßnahmen unserer Verbündeten auf dem europäischen Festland in erster Linie so etwas wie ein Tauschobjekt gesehen haben. Da man sich hiervon letzten Endes keinen ernstlichen militärischen Gewinn versprach, konnte man auch eine Beschränkung dieser Aufrüstung ins Auge fassen, wenn sich dadurch ein politischer Vorteil erzielen lassen würde. Und schließlich kann ja — nach dieser Theorie der symbolische Charakter der kontinentalen Aufrüstung wettgemacht werden durch eine noch eindeutigere Verteidigungsgarantie von Seiten der Vereinigten Staaten.
Aus der Tatsache, daß diese Widersprüche in der strategischen Konzeption der Nato in den vergangenen zehn Jahren von der Sowjetunion nicht voll ausgenutzt wurden, nun jedoch den Schluß ziehen zu wollen, daß die Sowjets sich auch dann nicht anders verhalten werden, wenn erst einmal ihr Atomarsenal zur vollen Entfaltung gelangt ist — das wäre eine äußerst gefährliche Sache. Tatsächlich scheint ja auch die sowjetische Herausforderung in Berlin das genaue Gegenteil anzudeuten. Es wäre ein schwerwiegender Fehler, wenn man versuchen sollte, die Erfahrungen der ersten zehn Jahre NATO auf eine zukünftige Entwicklung zu projizieren, bei der sehr viel davon abhängen wird, ob sich der Westen einer grundlegenden Veränderung der strategischen Gesamtlage anzupassen vermag.
Eine der Schwierigkeiten in unserem Atomzeitalter besteht doch gerade darin, daß jede neue technologische Errungenschaft, kaum, daß sie sich in der Konzeption und Politik der Staaten niedergeschlagen hat, auch schon wieder durch neue Entwicklungen überholt wird. Wir müssen in der Vergangenheit vier Phasen unterscheiden:
Erstens, den Zeitraum, in dem die Vereinigten Staaten ein Monopol besaßen sowohl hinsichtlich der Atombomben selber wie auch hinsichtlich ihrer „Bombenträger“.
Zweitens, den Zeitraum, in dem unser Monopol an Atomwaffen sein Ende fand, in dem wir aber immer noch einen überwältigenden Vorsprung hinsichtlich der Bombenträger besaßen.
Drittens, die Zeit, in der die Sowjetunion damit begann, ein recht beachtliches System der Bombenträger aufzubauen, wir jedoch auf Grund unserer Überlegenheit in Punkto Qualität und hinsichtlich der strategischen Streuung unseres Stützpunktsystems immer noch einen eindeutigen Vorsprung hatten.
Und viertens, den Zeitraum, in dem beide Seiten sowohl hinsichtlich der Zahl ihrer Atomwaffen wie auch hinsichtlich ihrer Bombenträger anfingen, gleichzuziehen.
Während der Phasen 1) und 2) d. h. also in der Zeit unserer atomaren Überlegenheit, ließ sich unser Vergeltungspotential theoretisch durchaus als eine Abschreckung gegen jede Aggression einsetzen, der Widerstand zu leisten wir entschlossen waren. Dabei handelte es sich um eine positive Abschreckung in dem Sinne, daß wir in unseren Gegenmaßnahmen nicht abhängig waren von dem Ausmaß der eventuellen Bedrohung. Vielmehr mußte es damals unsere erste Sorge sein, daß wir uns erst einmal darüber schlüssig wurden, o b wir überhaupt reagieren sollten. Damals konnte eine Politik der massiven Vergeltung noch einigermaßen wirksam sein, weil unsere vor jedem Angriff geschützte, eigene Position der Drohung mit einem globalen Krieg ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit verlieh. Selbst damals aber ließ sich natürlich unsere Drohung nur auf die wenigsten Streitfragen anwenden, die aller Wahrscheinlichkeit nach Gegenstand einer Auseinandersetzung sein mußten. Find schließlich hat ja auch diese unsere Drohung in keiner Weise die Berliner Blockade und den koreanischen Krieg verhindert.
Drohung mit globalem Krieg wird irreal
Wie nützlich auch immer der Faktor einer massiven Vergeltung in dem Zeitraum unseres Atommonopols gewesen sein mag — so mußte der Spielraum zwischen einer gegebenen Provokation und dem tatsächlichen Auslösen der anglo-amerikanischen Vergeltungsmacht in dem Maße zunehmen, in dem sich die sowjetische Kapazität sowohl auf dem Gebiet der Atombomben wie auf dem der Raketentechnik vergrößerte. Mindestens aber war ein potentieller Angreifer dazu berechtigt, eine solche Kalkulation aufzustellen. Unter den gegebenen Umständen wird sich die Drohung mit dem globalen Krieg auf einen immer kleiner werdenden Radius möglicher gegnerischen Maßnahmen anwenden lassen. Die Glaubwürdigkeit einer solchen Drohung wird daher ständig abnehmen, und so wird diejenige Seite, die sich auf das Mittel der Drohung verläßt, in zunehmendem Maße gehemmt werden. Im Endeffekt dürfte das alles viel eher zu einer Politik der Beschwichtigung (des appeasement) als zu einer Abschreckung führen. Die sowjetischen Fortschritte auf dem Gebiet der Raketentechnik haben in einem sehr erheblichen Ausmaße unser strategisches Angriffspotential neutralisiert. Auf diese Weise kann jetzt erstmals die Sowjetunion ihr enormes Übergewicht an Bodentruppen für eine Politik der Erpressung und des Druckes einsetzen. Wenn wir uns auf einen globalen Krieg so ausschließlich verlassen, dann mindern wir dadurch nicht nur die Glaubwürdigkeit unserer Abschreckungsmöglichkeiten, sondern verurteilen uns selber auch zu einer im Grunde völlig irrationalen Form der Diplomatie. Die Drohung mit einem „globalen Krieg" kann ja doch nur dann plausibel erscheinen, wenn wir uns in einer gegebenen Krise so verhalten, als ob wir bereit wären, nüchterne Erwägungen über Bord zu werfen, d. h. wenn wir etwa gar nicht erst die Frage aufwerfen, ob Berlin überhaupt den globalen Krieg „wert“ ist. Eine solche Politik kann auf lange Sicht gesehen nicht von Status-quo-
Mächten mit demokratischen Institutionen betrieben werden.
Im Grunde ist es daher sinnlos, daß wir uns weiterhin auf die strategische Konzeption der vergangenen zehn Jahre verlassen. Im Zeitalter des atomaren „Überflusses" kann die Verteidigung Europas nicht länger auf der Drohung mit dem globalen Krieg alleine basieren. Wenn mit jedem Anwachsen unseres Vernichtungspotentials gleichzeitig auch unsere Hemmungen gegen die Anwendung dieses Potentials größer werden, dann können wir nicht immer von neuem verkünden, daß eine örtlich begrenzte Verteidigung Europas unmöglich ist. Es gibt überhaupt keine einleuchtenden Gründe, warum Westeuropa und die Vereinigten Staaten, deren Reservoir sowohl an Menschen wie an wirt-
schaftlicher Kapazität dem russischen weit überlegen ist, nicht in der Lage sein sollten, sich sehr viel ernsthafter und erfolgreicher um die Vergrößerung ihres Verteidigungspotentials in einem begrenzten Krieg, besonders auf dem Gebiete der konventionellen Waffen, zu bemühen.
Häufig hört man das Argument, es bestünde eigentlich keine Notwendigkeit mehr, einen militärischen Apparat von entscheidendem Ausmaße auf dem europäischen Festland zu unterhalten, da europäische Stützpunkte für einen globalen Krieg überflüssig geworden seien.
Es kann gar kein Zweifel darüber bestehen, daß der sowjetische Versuch, die NATO zu zerschlagen, eindeutig gegen die örtliche Verteidigungskapazität des Westens gerichtet ist. Die Sowjetunion muß jedoch einsehen, daß wir in der Entwicklung der Dinge bald ein Stadium erreicht haben werden, in dem selbst die Ausschaltung der NATO den auf dem Gebiet der totalen Vergeltung erreichten Gleichstand zwischen den beiden Großmächten nicht entscheidend beeinflussen würde. Die NATO stellt aber i n d e r T a t ein Hindernis auf dem Wege zu einer russischen Eroberung Europas dar, wenn die SU Mittel anzuwenden bestrebt ist, die den Krieg rechtfertigen würden.
Es ist gar nicht nötig, die Grenzlinie zwischen einem begrenzten Krieg und einem globalen Krieg in Europa in abstracto festzulegen. Je stärker die örtlichen Verteidigungskräfte der NATO sind, um so weniger wahrscheinlich dürfte es sein, daß sich die Sowjetunion zu Abenteuern hinreißen lassen wird.
Je wirksamer das ganze Verteidigungssystem auf dem europäischen Festland ausgebaut wird, um so größer müßte auch das sowjetische Angriffspotential sein, das zu einer Niederwerfung der NATO einzuplanen ist. Je näher das erforderliche Potential aber an die Merkmale eines globalen Krieges herankommt, um so eindeutiger wird man die Bedrohung unserer eigenen Sicherheit empfinden, und um so plausibler dürfte dann auch die globale Abschreckung sein. Kurz gesagt: in dem Maße, in dem das Schreckgespenst des globalen Krieges noch furchtbarere Formen annimmt, und daher den Willen lähmt, zu diesem letzten Mittel zu greifen, in demselben Maße muß das militärische Minimal-ziel des Westens in Europa darin bestehen, den Sowjets klar zu machen, daß sie sehr erhebliche Kräfte einsetzen müßten, wenn sie im Ernstfall die NATO niederringen wollen. Aus einem solchen Einsatz der gegnerischen Kräfte müßte aber dann der Westen zwangsläufig den Schluß ziehen, daß die Sowjets zum Letzten entschlossen sind. Im Zeitalter des atomaren Überflusses brauchen wir also starke örtliche Verteidigungskräfte, wenn die globale Abschreckung überhaupt von Wert sein soll.
Das europäische Sicherheitsproblem läßt sich daher unter folgenden Gesichtspunkten zusammenfassen: 1. Die Sowjetunion kann aus ihrem eigenen Raum heraus ganz Europa bedrohen und bedarf daher zur eigenen Sicherung keiner Bündissysteme. 2. Keiner der europäischen Staaten vermag allein einem sowjetischen Druck zu widerstehen. Sicherheit für sie ist daher gleichbedeutend mit Einigkeit untereinander. 3. Die Drohung mit einem globalen Krieg verliert langsam an Glaubwürdigkeit und strategischer Bedeutung. 4. Die Verteidigung Europas läßt sich nicht alleine von Amerika aus steuern, weil der Angreifer bedrohliche Situationen herbeiführen könnte, die nicht unbedingt eine totale Vergeltung rechtfertigen. Darüber hinaus kann man ja auch selbst im Rahmen eines noch so fest gefügten Bündnisses von keiner Nation verlangen, daß sie in Verteidigung eines fremden Staatsgebietes Selbstmord verübt
Es kristallisiert sich somit bei allen Verhandlungen über die Sicherheit die entscheidende Frage heraus, ob auf dem europäischen Kontinent zwei militärische Blöcke denkbar sind, die beide eine Verteidigung gewährleisten, aber mittels eines angemessenen Kontrollsystems ihrer Offensivmöglichkeiten beraubt sind. Ein solches Überwachungssystem darf allerdings nicht — und darauf wird man sehr genau achten müssen — zu einer Auflösung der NATO führen, weil dann die Sowjetunion die europäischen Staaten einzeln unter Druck setzen könnte. Auch darf durch ein derartiges Überwachungssystem nicht die Möglichkeit einer örtlichen Verteidigung ausgeschaltet werden, da das im Endeffekt uns Amerikaner isolieren und unsere Verbündeten demoralisieren würde. Durch ein Inspektionssystem muß vielmehr bewirkt werden, daß sich die Sowjetunion vor einem Angriff aus dem NATO-Raum heraus sicher fühlt. Vor allem aber sollten sich auf diese Weise Fortschritte in der Frage der deutschen Wiedervereinigung erzielen lassen, weil ja die Hauptursache und der wichtigste, potentielle Explosionsherd der politischen Spannungen in Europa beseitigt werden würde. Lassen sich aber alle diese Ziele auf einen gemeinsamen Nenner bringen?
Wir haben oft das Argument gehört, daß die Sowjetunion unter den augenblicklichen Verhältnissen einer deutschen Wiedervereinigung nicht zustimmen kann, weil das die NATO bis an die polnische Grenze vorschieben würde. Die Grenzen der NATO an der Oder zu fixieren, braucht jedoch noch nicht zu bedeuten, daß NATO-T r u p p e n bis an die polnische Grenze vorgeschoben werden. Der westliche Vorschlag in Genf schloß ja ausdrücklich eine solche Möglichkeit aus. Der Westen hätte auch noch weiter gehen und Vorschlägen können, daß Ostdeutschland nach erfolgter Wiedervereinigung völlig demilitarisiert wird.
Vorzuziehen wäre allerdings die Lösung, daß ein umfassendes europäisches Sicherheitssystem an den Grenzen eines wiedervereinigten Deutschland zustande kommt. Man könnte etwa vorschlagen, daß nicht-deutsche Truppen genau so weit von der Oder zurückgenommen werden, wie nicht-polnische, und daß der Umfang des deutschen militärischen Potentials dem polnisch-tschechischen sowohl hinsichtlich der Truppenstärke wie der Ausrüstung entsprechen muß. Die amerikanischen, britischen und französischen Truppen könnten zum Beispiel bis hinter die Weser, und die russischen bis hinter die Weichsel zurückgenommen werden. Die deutschen Streitkräfte im Raume zwischen Weser und Oder könnten mit rein defensiven Waffen ausgerüstet werden, genau so wie die polnischen zwischen Oder und Weichsel. Um die Gefahr eines Angriffes aus dem deutschen Gebiet heraus noch weiter zu vermindern, könnte sich die NATO beispielsweise bereit erklären, auf deutschem Boden nur Waffen bis zu einer Reichweite von 1 OOO Kilometern zu stationieren. Alle diese Bestimmungen könnten durch ein Inspektionssystem überwacht werden. Natürlich läßt ein derartiges Schema viele Varianten zu, die alle Gegenstand von Verhandlungen sein könnten, und zwar sowohl in bezug auf die Breite der Pufferzone zwischen den westlichen und den sowjetischen Streitkräften, wie auch hinsichtlich der Waffentypen, die in einer solchen „verdünnten“ Zone stationiert werden dürften.
Vom militärischen Gesichtspunkt aus betrachtet würde eine Lösung, wie sie hier vorgeschlagen wird, offensive Operationen sehr erschweren. Die deutschen Truppen würden etwa die gleiche Stärke aufweisen wie diejenigen der Satellitenländer. Beide zusammen würden eine Pufferzone zwischen dem westlichen und dem sowjetischen Militärpotential darstellen. Gleichzeitig wäre das sowohl auf dem Festland wie auch in Deutschland selber verbleibende Poten-tial immer noch groß genug, um einerseits nicht zu einer Aggression zu verleiten, und andererseits einer solchen Aggression Widerstand entgegenzusetzen, wenn sie doch unternommen werden sollte. Durch seine weitere Zugehörigkeit zur NATO wäre das wiedervereinigti Deutschland gegen jeden Druck vom Osten hc geschützt, während gleichzeitig die „Verdün nung“ der NATO-Streitkräfte den defensiven Charakter dieses Bündnisses unter Beweis stellen würde. Eine derartige Lösung würde jedenfalls die Hauptursache der Spannungen in Europa beseitigen, sowohl den Westen wie den Osten vor offensiven Operationen des Gegners schützen und schließlich zu einer Zone der Waffeninspektion führen, die — sollte sie sic bewäh-ren — ein Vertrauensklima schaffen müßte, das dann weitere Maßnahmen nach sich ziehen würde.
Bevor jedoch der Westen überhaupt in wirk same Verhandlungen über diese Frage eintretei kann, muß er sich erst einmal eingestehen, da! die bisherige Politik der Ausflüchte und Wi r Sprüche innerhalb der NATO die Sowjets nu zu der Annahme verleiten dürfte, daß ihnei aus einem derartigen Inspektionssystem keinerlei zusätzliche Sicherheit erwachsen würde. Nicht die Stärke der Verbündeten, sondern gerade ihre Schwäche und ihre Unentschlossenheit könnten auf diese Weise erfolgreiche Verhandlungen unmöglich machen.
Atomwaffenfreie Zone keine befriedigende Lösung
Wenn die Sowjetunion — was durchaus wahrscheinlich ist — alle halbwegs vernünftigen Vorschläge für eine deutsche Wiedervereinigung ablehnt, dann dürfte es zu einer Forcierung der Pläne für verschiedene Inspektionszonen entlang der augenblicklichen politischen Trennungslinie in Europa kommen. Dazu gehören etwa Projekte für ein Einfrieren oder für eine Verdünnung der Streitkräfte. Die Schwierigkeit bei allen derartigen Vorschlägen liegt darin, daß sie alleine das eigentliche Sicherheitsproblem gar nicht entscheidend anpacken: durch sie wird nämlich die Wahrscheinlichkeit einer politischen Umwälzung in Deutschland nicht kleiner, sondern im Gegenteil eher größer. Auch werden weder die USA noch die Sowjetunion daran gehindert, einen plötzlichen Großangriff vorzutragen. Da auf der anderen Seite die derzeitige und wohl auch geplante Stärke der NATO-Truppen ohnehin schon in keiner Weise für offensive Operationen zu Lande ausreicht, würden die meisten Pläne für die Zurücknahme von Truppen lediglich zu einer Schwächung des örtlichen Verteidigungspotentials führen, ohne damit der Sowjetunion zusätzliche Sicherheitsgarantien zu verschaffen. Es würde nämlich auf diesem Wege nicht die defensive, sondern die offensive Ausgangsposition der LIdSSR verbessert werden. Selbst ein Einfrieren der Truppenstärken kann dazu führen, daß die NATO daran gehindert wird, sich wechselnden strategischen Erfordernissen anzupassen. Wenn ein solches Einfrieren nicht gekoppelt wird mit einer Herabsetzung der russischen Truppenstärke, dann würde dadurch nur ein Zustand der Ungleichheit verewigt werden. Ein solcher Zustand aber wird in zunehmendem Maße — mindestens solange der Vorrat an russischen Langstreckenraketen weiter anwächst — einer Aufforderung an die Sowjets gleichkommen, sich auf militärische Abenteuer einzulassen.
Am häufigsten wird nun aber die Errichtung einer atomfreien Zone im Zentrum Europas vorgeschlagen. Angesichts der Reichweite moderner Geschosse würde jedoch eine atomfreie Zone im Herzen Europas — wenn wir einmal von der Möglichkeit einer Stationierung von Atomwaffen in den Beneluxländern und in Frankreich ausgehen — nicht alleine schon die militärische Gesamtlage entscheidend beeinflussen. Hingegen würde dadurch tatsächlich das psychologische und politische Gleichgewicht gestört werden, da der Angreifer weiter im vollen Besitz seiner Vorräte, das bedrohte Gebiet aber ohne die Mittel für einen Vergeltungsschlag verbleiben würde. Das aber würde die Sowjets einerseits zu einer Politik der Drohungen Mitteleuropa gegenüber reizen, und zum anderen zu dem Versuch einer Aufweichung des westlichen Bündnissystems. Bei diesem letzteren Versuch würden sie sich dann an die über die Atomsprengköpfe verfügenden Amerikaner und Engländer mit dem Argument wenden, daß die jeweils gerade anstehende Streitfrage einen Atomkrieg nicht „wert sei“. Hinzu kommt schließlich noch, daß es sehr schwer sein dürfte, einem sowjetischen Drängen nach Ausdehnung der einmal geschaffenen, atomfreien Zone auf das ganze europäische Festland zu widerstehen.
So lange der Westen seine Verteidigung entscheidend auf den Atomwaffen aufbaut, werden wir es schwer haben, unsere Verbündeten davon zu überzeugen, daß ihre Sicherheit nicht ge-fährdet ist, wenn sie sich auf Waffen anderer Staaten verlassen müssen, d. h. auf Waffen, die auch noch auf fremden Staatsgebiet lagern und fremder Kontrolle unterliegen. Schließlich ist seinerzeit die Schaffung eines britischen Abschreckungspotentials ja ausdrücklich mit dem Argument gerechtfertigt worden, daß diese Abschreckung notwendig sei für Fälle, in denen die LISA mit dem eigenen Engagement zögern könnten. Nachdem wir erlebt haben, wie unterschiedlich die augenblickliche Krise innerhalb des westlichen Bündnisses selber beurteilt wird, sollten wir ein wenig mehr Verständnis dafür aufbringen, daß andere, noch unmittelbarer als Großbritannien bedrohte Länder nur sehr ungern von Waffen abhängig sein wollen, die weit weg stationiert sind und bei deren Einsatz sie nicht das geringste Mitspracherecht besitzen.
Die Fragestellung muß also lauten: läßt sich das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Einmütigkeit innerhalb des westlichen Bündnisses so stärken, daß bestimmte Gebiete zu atom-freien Zonen erklärt werden können, ohne daß dadurch unsere Verbündeten ein Gefühl der eigenen Ohnmacht entwickeln, andererseits aber die Russen sich nicht ermutigt fühlen, ihren Druck zu verstärken? Ein Plan, der sorgfältiges Studium verdient, wäre der eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft für Atomwaffen zu schaffen, der auch Deutschland angehören würde. Im Rahmen einer solchen Verteidigungsgemeinschaft würde dann jeder Mitgliedstaat hinsichtlich des Einsatzes der Waffen — wo immer diese auch stationiert wären — ein Mitspracherecht besitzen. Ein solcher Zusammenschluß von Staaten könnte in Verhandlungen mit der Gegenseite über die genaue Lokalisierung ihrer konventionellen Waffen eintreten und als Gegenleistung eine wirklich ins Gewicht fallende Herabsetzung der sowjetischen Streit-kräfte in Osteuropa fordern. Im Rahmen eines solchen Planes würden schließlich die Staaten ohne eigene nukleare Waffen einen Schutz darin sehen, daß sie über gemeinsame Atomwaffen mit zu verfügen haben. Ähnliche Grundsätze könnten auch auf andere Waffen-Inspektionspläne angewandt werden. So ließen sich zum Beispiel die Truppenstärken der NATO zwischen Rhein und östlicher Grenze der Bundesrepublik nach oben hin auf denselben Stand begrenzen wie die Truppenstärken der Warschauerpaktstaaten auf dem Gebiete der DDR. Auf diese Weise würde sich in etwa ein ausgewogenes Kräfteverhältnis zwischen den beiden Militärblöcken herstellen lassen. Es wäre aber auch denkbar, daß die NATO und die sowjetischen Truppen 150 Kilometer — um nur eine Zahl zu nennen — von beiden Seiten der Elbe zurückgenommen werden. Gleichzeitig würde eine Inspektionszone zwischen Rhein und Oder eingerichtet werden. Wir müssen jedoch uns selber ehrlicher-weise eingestehen, daß es sich bei allen derartigen Plänen letzten Endes um reine Nützlichkeitserwägungen handelt, und diese Dinge so gut wie gar nichts zu tun haben mit dem wirklichen europäischen Sicherheitsproblem. Würden solche Pläne verwirklicht, dann müßte dadurch der falsche Eindruck entstehen, als ob man Forschritte gemacht habe, während doch in Wirklichkeit die Lage in ihrem Kern völlig unverändert bliebe. Jede Umdisposition von NATO-Truppen müßte dann wenigstens Hand in Hand gehen mit dem Bestreben, ein stärkeres Gefühl der westlichen Einigkeit auf dem institutionellen Wege zu erzeugen. Mündliche Zusicherungen reichen nicht aus, um unseren europäischen Verbündeten ihr Gefühl der Unsicherheit zu nehmen.
Rückzug fremder Streitkräfte — ein Schritt zur Wiedervereinigung?
Würde der Rückzug fremder Streitkräfte von deutschem Boden einen Schritt auf dem Wege zur Wiedervereinigung des Landes darstellen?
Manche Beobachter glauben, daß ein beiderseitiger Rückzug zum Zusammenbruch, mindestens aber zu einer Ära der Liberalisierung des ostdeutschen Satellitenstaates führen müßte, weil dieses Regime ja ausschließlich mit Hilfe der sowjetischen Bajonette aufrecht erhalten wird. Auf dieser Linie wird dann weiter argumentiert, daß die Errichtung einer kontrollierten Rüstungszone und der Rückzug amerikanischer, britischer und sowjetischer Truppen Hand in Hand gehen müßte mit „irgendeiner Form der Verhandlungen" zwischen der Bundesrepublik und dem ostdeutschen Satellitenstaat. Ganz vage wird dabei angenommen, daß auf diese Weise die beiden Regime einander näher gebracht werden könnten, was wiederum zu einer Wiedervereinigung auf der Basis irgend wie gearteter, freier Wahlen zu einem völlig unbestimmten Zeitpunkt führen müßte
An sich müßte eigentlich jeder, der die Durchführung eines solchen Planes befürwortet., gleich-zeitig auch Andeutungen darüber machen, wie er sich im einzelnen den Kontakt zwischen den beiden Teilen Deutschlands vorstellt, und auf welche Weise der große Graben zwischen den beiden Systemen überhaupt verringert werden kann. Wie bereits oben dargelegt, sollten wir die Liberalisierung in Polen nicht als Beispiel für eine möglicherweise ähnliche Entwicklung in Ostdeutschland ins Feld führen. Den ostzonalen Kommunisten steht der ganze Apparat eines Polizeistaates zur Verfügung. Der Kreml hat zu wiederholten Malen erklärt, daß er im Falle eines Aufstandes intervenieren würde
Daß dann auch die Bundesrepublik tangiert wäre, muß als äußerst wahrscheinlich gelten. Zumindest aber würden doch beide deutschen Regierungen, falls sie sich selber überlassen blieben, dem nahezu unwiderstehlichen Zwang der gegenseitigen Unterwanderung unterliegen. Ihrerseits müßten dann die anderen Satellitenstaaten alles daran setzen, um die innerdeutsche Rivalität noch zu verschärfen. Für sie ist ja schließlich auf unbestimmte Zeit hinaus ein-geteiltes Deutschland die beste Garantie für ihre eigene Sicherheit. Viele Pläne für eine Waffeninspektionszone, die sich vielleicht entlang der Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands realisieren ließen, würden sich zweifellos im Zentrum eines geteilten Landes als unwirksam oder gefährlich erweisen.
Wenn daher nun die Wiedervereinigung von so ausschlaggebender Bedeutung ist, dann erhebt sich die Frage, ob man diese Wiedervereinigung mit der Neutralisierung Deutschlands erkaufen kann. Sollte der Westen von seiner Forderung ablassen, daß ein wiedervereintes Deutschland völlig frei über seine Beziehungen zur NATO entscheiden muß, und sollte der Westen etwa dem sowjetischen Vorschlag zustimmen, daß Deutschland der Anschluß an Militärbündnisse verboten sein muß?
Viele Leute im Westen sind für eine Neutralisierung, weil sie glauben, daß Deutschland, wenn es erst einmal den Hauptanteil des NATO-„Schildes“ stellt, stark genug sein wird, um sich mit der Sowjetunion im Alleingang zu arrangieren. Dieser ganzen Argumentation zufolge wäre es klüger, einer solchen Eventualität vorzubeugen, indem man einen Rückzug unserer Truppen jetzt anbietet, weil man ihn uns später vielleicht aufzwingen kann. Sollte nämlich das Bündnis mit dem Westen jemals als ein Hindernis auf dem Wege zur deutschen Wiedervereinigung erscheinen, dann würde dieses Bündnis sehr bald für die Deutschen an Anziehungskraft verlieren
Natürlich kann man die Tatsache, daß deutsche Truppen bald das stärkste Kontingent einer an sich schon zu kleinen Streitmacht stellen werden, nicht als Rechtfertigung dafür anführen, daß man diese Streitmacht durch einen Rückzug westlicher Truppen noch weiter schwächt. Lind wenn tatsächlich die sowjetische Intervention in Ungarn seiner Zeit der Furcht entsprang, daß sich der frühere Satellitenstaat der NATO anschließen könnte, dann sollte man in Gottes Namen den Vorschlag machen, Ungarn anstelle von Deutschland zu neutralisieren.
Dennoch weist auch der Vorschlag einer Neutralisierung Deutschlands als Preis für die Wiedervereinigung einige reizvolle Aspekte auf. Einmal würde ja nun ohne alle Zweifel die deutsche Wiedervereinigung die politische Stabilität in Europa ungemein fördern. Selbst wenn das Tauschangebot vom Osten abgelehnt werden sollte, dann würde damit ja immer noch ein für alle Mal unter Beweis gestellt worden sein, daß die deutsche Mitgliedschaft in der NATO tatsächlich eine Antwort auf die sowjetische Unnachgiebigkeit darstellte. Der hier be-reits angedeutete Reiz eines solchen Tauschgeschäftes ist schließliich noch höher zu bewerten, wenn man bedenkt, daß es einer deutschen Regierung ja so gut wie unmöglich wäre, ein ähnliches Angebot vonseiten Moskaus eines Tages abzulehnen.
Was bedeutet Neutralisierung?
Es ist nun aber sehr wichtig, daß man sich völlig darüber im klaren ist, was genau unter einer Neutralisierung verstanden wird. Man könnte darunter verstehen, daß Deutschland die NATO verläßt, und der Westen seine Truppen aus der Bundesrepublik abzieht, während Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn aus dem War-schauer Pakt austreten und schließlich die sowjetischen Truppen sich aus diesen Gebieten völlig zurückziehen. Oder aber man könnte unter einer Neutralisierung auch nur den Rückzug sowjetischer Truppen nach Polen verstehen. Eine Neutualisierung könnte weiter zu einer so einschneidenden Begrenzung der deutschen Truppenstärke führen, daß Deutschland damit jedes eigenen Schutzes beraubt wäre; sie könnte sich aber auch nur auf Begrenzungen der Truppenstärken in ganz bestimmten Waffengattungen beziehen, oder schließlich auch darauf hinauslaufen, daß man Deutschland das Ausmaß seines Verteidigungspotentials völlig frei stellt, vorausgesetzt, daß es keinem Militärbündnis angehören würde.
Wenn man die sowjetischen Truppen nur bis nach Polen hinein zurücknimmt, und die deutschen Truppenstärke im Sinne des sowjetischen Friedensvertragsentwurfes begrenzt, dann wäre Rußland in der Lage, das unabhängige Deutschland einem ungeheuer starken Druck auszusetzen. Da Deutschland sich dann gegen einen eventuellen sowjetischen Angriff nicht mehr verteidigen könnte, müßte der russische Einfluß allmählich viel stärker werden, als der des Westens. Dabei würde es keine Rolle spielen, ob man die NATO-Stützpunkte einigermaßen zufriedenstellend in den Benelux-Ländern und in Frankreich unterbringen könnte — eine Möglichkeit, die wir ja in Ermangelung exakter Studien noch keineswegs für selbstverständlich halten dürfen. Auf der anderen Seite würde es zu einer Verschärfung der Spannungen in Europa kommen, wenn sich Deutschland aus eigener Kraft gegen einen sowjetischen Angriff schützen könnte. Schließlich aber müßte ein militärisch starkes Deutschland ohne irgendwelche, durch die NATO auferlegten Beschränkungen in den Augen der sowjetischen Satellitenstaaten einen Faktor der Beunruhigung darstellen und diese Länder noch mehr in die Arme der Sowjetunion treiben. Dadurch wiederum könnte der ganze Ostblock an Geschlossenheit nur gewinnen.
Am einleuchtendsten von allen Vorschlägen ist daher bislang der gewesen, die Neutralisierung von Deutschland mit der von Polen der Tschechoslowakei und Ungarn zu koppeln. Das ist im Grunde der ursprüngliche Gaitskell-Plan.
Zweifellos würde sich ein solcher Plan nachteilig auf die militärische Sicherheit des Westens auswirken. Gleichzeitig aber wäre das Ende der Spaltung Deutschlands ein politischer Gewinn.
Sehr viel würde davon abhängen, ob die NATO in Westeuropa ein genügend starkes Militär-potential unterhalten könnte, um Deutschland auf diese Weise einen indirekten Schutz zu verleihen. Würde dies nämlich nicht der Fall sein, dann müßte die Verteidigung des europäischen Festlandes ausschließlich von der amerikanischen Vergeltungsmacht abhängen. Und die Rechnung, daß eine Abschreckung, die ohnehin unter den gegenwärtigen Umständen schon an Glaubwürdigkeit verliert, Gebiete schützen könnte, die überhaupt nicht zu dem westlichen Verteidigungssystem gehören, oder von denen die LIS-Truppen zurückgezogen worden sind — diese Rechnung kann doch einfach nicht aufgehen. Würden wir selbst in Korea Widerstand geleistet haben, wenn der globale Krieg das einzige Mittel gewesen wäre, auf das wir hätten zurückgreifen können?
Gleichzeitig birgt die Idee eines neutralen Gürtels Schwierigkeiten in sich, die weit über das rein Militärische hinausgehen. Die Vorstellung, daß Deutschland, Polen die Tschechoslowakei und Ungarn so etwas wie einen geschlossenen, sowohl vom Westen wie von der Sowjetunion garantierten Block darstellen könnten, wirft doch eine Fülle verwickelter Probleme auf. Die Erinnerungen an den zweiten Weltkrieg und seine furchtbaren Folgen müßten eigentlich Gewähr dafür sein, daß die für eine Neutralisierung in dieser Form vorgesehenen Länder sich niemals als eine Einheit'verstehen werden. Es spricht sehr viel mehr dafür, daß die Beziehungen zwischen Deutschland auf der einen Seite und Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn auf der anderen von einer Atmosphäre des Mißtrauens, wenn nicht sogar der Feindseligkeit, -und nicht von einem Geist der Kooperation bestimmt sein würden. In einer solchen Situation würden sich den Garantiemächten eine Fülle von Möglichkeiten zur Intervention bieten, gerade auf Grund der Einzelbestimmungen über eine Garantie. In dem Begriff der Garantie ist ja nicht nur die Möglichkeit des Widerstandes gegen eine Aggression enthalten, sondern auch das Recht auf Intervention unter bestimmten Umständen. Herr Erler würde sogar so weit gehen, einseitige Rechte in einem solchen Garantiesystem zuzulassen, um dadurch ein sowjetisches Veto auszuschalten.
Man könnte einen sowjetischen Druck auf das wiedervereinigte Deutschland zur „Wahrung seiner Neutralität“ nur dadurch verhindern, daß man zu einer stillschweigenden Übereinkunft gelangt, wonach Deutschland unter dem Schutz der NATO, und die osteuropäischen Satellitenstaaten unter den Schutz des Warschauer Paktes gestellt würden. Der neutrale Gürtel würde dann praktisch darauf hinauslaufen, daß es entweder zu einer sowjetischen Herrschaft über Mitteleuropa kommt, oder aber eine Lage eintritt, die wir bereits von dem anderen, oben skiziierten Plan her kennen: es würde dann die Oder Trennungslinie zwischen NATO und dem Warschauer Pakt sein, während gleichzeitig eine Waffeninspektionszone zu beiden Seiten dieses Flusses die Gefahr von Überraschungsangriffen weitgehend ausschalten könnte.
Durch ein solches, genau zu fixierendes Abkommen, würden sich alle Ziele verwirklichen lassen, die man sich so in Punkto Sicherheit von dem Plan einer Neutralisierung versprochen hat, ohne dabei die politische Gefahr heraufzubeschwören, daß der sowjetische Druck auf ein wiedervereinigtes Deutschland gewissermaßen noch legalisiert wird.
Der Westen solle sich aber vor allem auch über die politischen Risiken im klaren sein, wenn er sich für die Verhandlungen über die militärische Neutralisierung Deutschlands entscheidet Es könnte dabei nämlich unter dem Deckmantel einer Erweiterung des neutralen Gürtels ein Präzendenzfall geschaffen werden, mit Hilfe dessen sich die Vereinigten Staaten allmählich aus ganz Europa herausdrängen ließen. Es wäre auch möglich, daß eine solche Lösung alle bisherigen Erfolge der europäischen Integrationspolitik zunichte machen würde. Die Sowjetunion hingegen, die ja an die absolute Vorherrschaft sogenannter „objektiver“ sozialer Kräfte glaubt, würde sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit einer militärischen Neutralisierung zufrieden geben. Der Kreml, der ja seinerzeit sowohl den Marshall-Plan wie den Gemeinsamen Markt als eine Form des „aggressiven Imperialismus“ brandmarkte, hat in seinem Friedensvertragentwurf bereits vorgeschlagen, daß es Deutschland verboten sein muß, irgendwelchen Abkommen beizutreten, denen die UdSSR nicht als Signatarstaat angehört. Eine solche Bestimmung aber verurteilt im Grunde die ganze Integrationspolitik zum Untergang. Eine weitere Gefahr, vor der man auf der Hut sein muß, liegt darin begründet, daß die Sowjetunion, wenn sie erst einmal das „Prinzip“ der Neutralität grundsätzlich anerkannt hat, den ganzen Nutzeffekt einer Neutralisierung für sich buchen könnte, ohne dabei den Preis der Wiedervereinigung überhaupt zahlen zu müssen. Das könnte zum Beispiel dadurch geschehen, daß sich die Sowjetunion während der technischen Verhandlungen einfach ad Infinitum quer legt.
Schließlich dürfen wir auch eine weitere wichtige Tatsache nicht außer acht lassen, daß nämlich Deutschland im Grunde das „letzte“ Land ist, das man zu einer Politik der Flexibilität auch noch ermuntern sollte. Deutschland's Ausflüge auf dem Wege des politischen Alleingangs im Herzen des europäischen Kontinents haben Europa ja immerhin zweimal innerhalb einer Generation in eine Katastrophe geführt. Wenn Deutschland daher noch einmal in die Lage versetzt wird, daß es sich mit beiden Seiten arrangieren kann — und das wäre ja im Grunde der politische Ausdruck jeder Neutralität — dann würde dieses Deutschland wohl auch zu einer Bedrohung beider Seiten fähig sein, mindestens aber mit einem Frontwechsel drohen können. Ein solches Deutschland aber würde doch kaum der Sache des Friedens und der Stabilität in Europa förderlich sein. Die Politik des Westens muß somit gänzlich unabhängig von der endgültigen Lösung des Sicherheitsproblems darauf ausgehen, Deutschland als ein williges Mitglied der europäischen Institutionen zu erhalten
Wir kommen also zu dem Schluß, daß die Idee eines neutrales Gürtels mit unerhört großen Risiken verbunden ist. Diese Idee ist überhaupt nur denkbar unter folgenden Voraussetzungen: Erstens, wenn sie gekoppelt wird mit einem befriedigenden Plan für die deutsche Wiedervereinigung auf der Basis freier Wahlen.
Zweitens, wenn eine eingehende Prüfung zeigt, daß wirklich nennenswerte amerikanische und britische Truppen in den Beneluxstaaten und in Frankreich stationiert werden können; anderenfalls nämlich würde der ganze „neutrale Gürtel“ innerhalb kürzester Zeit nichts weiter als ein politischer Anhang der Sowjetunion sein.
Drittens, wenn die vorgesehenen Verhandlungen von vorn herein zeitlich begrenzt werden; sonst würde nämlich die Sowjetunion eine völlige Lahmlegung der NATO und das Ende der europäischen Integration einfach durch endlose Verhandlungen erreichen.
Viertens, wenn die westlichen Alliierten unter sich völlig einig darüber sind, daß eine Neutralisierung nur militärische Fragen berührt, und daß die wirtschaftlichen und politischen Bindungen Deutschlands an die anderen europäischen Staaten nicht geopfert werden dürfen, sondern im Grunde noch erweitert werden müßten; wenn man nämlich die deutsche W’iedervereinigung mit dem Verlust der europäischen Integration erkauft, dann würde der Wessen die segensreichsten und konstruktivsten Erfolge über Bord werfen, die seine Politik seit Ende des zweiten Weltkrieges überhaupt aufzuweisen hat.
Fünftens, wenn die übrigen NATO-Mitgliedstaaten glauben, einem Druck vonseiten der Sowjetunion, aber auch einem innerpolitischen Druck zugunsten einer Erweiterung der neutralen Zone auf ganz Europa widerstehen zu können, und Sechstens, wenn Deutschland ein solches Arrangement akzeptiert und sich dadurch nicht von seinen Verbündeten im Stich gelassen fühlt.
• Ein Aufzählen dieser von uns als notwendig erachteten Voraussetzungen zeigt, mit welch ungeheuren Gefahren Vorschläge für einen neutralen Gürtel verbunden sind. Ein solcher Kurs ließe sich noch ansteuern im Rahmen eines Bündnissystems, das von einem Geist der Zusammengehörigkeit und des Selbstvertrauens beseelt ist. Verbündete jedoch, die von Zweifeln geplagt sind und nicht wissen, was sie eigentlich wollen, können eine solche Politik nicht betreiben. Wenn sie sich dennoch dazu entschließen, dann sollten sie das ohne Illusionen tun, vor allen Dingen aber nicht von vorne-herein allen entscheidenden Fragen ausweichen. Wenn auf der anderen Seite das oberste Ziel unserer Politik in der Stabilität zu sehen ist, dann sollten wir den Plan einer Demarkationslinie an der Oder verfolgen, d. h.den Plan, nach dem die Warschauer Pakttruppen und die NATO-Truppen gleich weit zurückgenommen werden. In einer solchen Pufferzone müßten sich dann die einem Inspektionssystem unterworfenen deutschen und polnisch-tschechoslowakischen Verteidigungsstreitkräfte gegenseitig das Gleichgewicht halten.
Kein Abkommen um jeden Preis
Wir sehen uns jedoch dem Problem gegen-
iber, daß die Sowjetunion höchstwahrscheinlich ille Vorschläge ablehnen wird, die mit unseren Werten und Interessen vereinbar sind. In einem solchen Falle müssen wir unbedingt bereit sein, einen Fehlschlag unserer Bemühungen zu konstatieren. Wir dürfen dann nicht ein Abkommen ouer auch nur Verhandlungen als Ziel „an sich" ansehen. Als Antwort an die Adresse der Sowjetunion sollten wir unsere Reihen fester zusammenschließen, auf keinen Fall aber die gegenseitigen Beschuldigungen der letzten sechs Monate fortsetzen. Der Westen muß endlich verstehen lernen, daß seine mangelnde Geschlossenheit die eigenliche Ursache für die fehlende Flexibilität ist; daß erst durch die Weigerung, sich mit den strategischen Tatsachen auseinanderzusetzen, ein Zustand der Schwäche verursacht worden ist, der dann eine sowjetische Politik der Drohungen heraufbeschworen hat; und daß wir schließlich die Ziele der russischen Politik nur schwer beeinflussen können, cafür aber unsere eigenen um so klarer formulieren müssen.
Der Westen sollte sich nicht durch die sowjetische Herausforderung hypnotisieren lassen. Der Spielraum für eine wirklich aktive Politik ist im Grunde sehr groß, — und zwar gerade auf Gebieten, wo man nicht auf eine russische Zusammenarbeit angewiesen ist, sondern wo es viel mehr auf unsere eigene Phantasie und Dyna-
mik ankommt. Wir denken dabei an die Verbesserungen der Beziehungen sowohl im Rahmen des westlichen Bündnisses selber, wie auch derjenigen zu den jungen Völkern. Insbesondere scheint es höchste Zeit, einmal sehr gründlich die Möglichkeiten der Schaffung von supranationalen Institutionen für die ganze nordatlantische Gemeinschaft zu prüfen. Daß solche Institutionen zunächst einen ausgesprochenen experimentellen Charakter haben müßten, sollte uns nicht abschrecken. Gerade im Westen, wo ja der moderne Nationalstaat das Licht der Welt erblickte, sind die Mängel nationaler Souveränität am dramatischsten zutagegetreten. Isoliert kann kein Land der Nordatlantischen Gemeinschaft seine Probleme lösen oder seine eigenen Möglichkeiten voll ausschöpfen. Die Bemühungen des Westens um die jungen, unterentwickelten Gebiete werden von Zufallsmomenten abhängig bleiben, wenn jedes Mitglied der atlantischen Gemeinschaft in Ermangelung e’ner allumfassenden Konzeption sein eigenes Programm entwickelt. Auch das Sicherheitsproblem läßt sich letztlich auf der Basis einer einzelstaatlichen Souveränität nicht lösen. Jedes Land würde ja ständig der Versuchung ausgesetzt sein, sich ein „in Ruhe gelassen werden“ entweder zu erkaufen, und zwar entweder durch eine Neutralitätspolitik oder aber wenigstens durch das Abwälzen sowohl der Hauptlasten wie der Hauptrisiken auf irgendein anderes Mitglied der Gemeinschaft. Europa muß heute in der Nordatlantischen Gemeinschaft ein Ventil für seine Energien und Visionen finden, die es in vergangenen Jahrhunderten in überseeischen Abenteuer investierte. Es kann eben seine Sicherheit nur dann gewährleisten, wenn sich die Atlantische Gemeinschaft in zunehmendem Maße als eine geschlossene Einheit versteht.
Solange es dem Westen an Zielstrebigkeit und Zusammenhalt fehlt, wird die Sowjetunion bei allen Auseinandersetzungen den Ball stets zu uns herüberspielen können. Der Westen wird ständig gezwungen sein, Probleme zu „lösen“, die die Sowjetunion selber geschaffen hat. Man wird ständig von dem Westen verlangen, daß er ein sowjetisches Zugeständnis, mit weniger als dem ursprünglich Geforderten zufrieden zu sein, als eine lobenswerte Kompromißbereitschaft applaudiert. Wir lassen uns in unserem Drang, jede Art von Verhandlung vor uns selbst zu rechtfertigen, ja oft dazu verleiten, in rein formellen Schachzügen der Sowjets, oder in einer vorübergehenden Einstellung ihrer Schimpfkanonaden bereits Konzessionen zu sehen. Als zum Beispiel Präsident Eisenhower seine Bereitschaft zur Teilnahme an einer Gipfelkonferenz zu erkennen gab, erklärte er, die russische Note vom 2. März sei „vernünftiger" gewesen, obwohl im Grunde diese Note alle diejenigen Forderungen wiederholte, durch die die ursprüngliche Krise hervorgerufen worden war. Die einzige „Konzession“ der Note bestand darin, daß die Forderung nach einer sofortigen Gipfelkonfernz fallen gelassen worden war. In ganz ähnlicher Weise feierte die westliche Presse einen Sieg, als Gromyko endlich von seinem Vorschlag abließ, den Ostdeutschen Sitz und Stimme am Genfer Konferenztisch einzuräumen. Tatsächlich aber hatten die Sowjets ihr entscheidendes Ziel erreicht: die Teilnahme ost-und westdeutscher Beraterdelegationen an der Außenminister-Konferenz konnte der ostdeutsche Satellit als einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer der Bundesrepublik ebenbürtigen, internationalen Anerkennung buchen. Gleichzeitig gewann dadurch die Forderung an Boden, daß die Wiedervereinigung durch direkte Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Staaten selber herbeigeführt werden sollte. Mit derartigen Mitteln können die sowjetischen Führer einen doppelten Vorteil aus ihrer intransigenten Haltung herausholen: zunächst können sie den Westen durch extreme Forderungen in noch größere Unruhe versetzen, um sich dann den Ruf der Konzilianz zuzulegen, die im Grunde aber nur darin besteht, daß man sich auf eine Position zurückzieht, die auf jeden Fall schon weit über die Ausgangslage hinausgeht. Durch diese absichtlich herbeigeführte Konfusion in bezug auf Verhandlungsmodi wird das diplomatische Ringen auf Fragen eingeengt, die den Westen in größte Verlegenheit bringen. Diese Fragen werden nämlich von den Sowjets aufgeworfen, und der Westen fühlt sich dann sofort veranlaßt, über eben diese Fragen in Verhandlungen einzutreten, weil ja — wie man so schön sagt — keine Möglichkeit ungenutzt gelassen werden darf, zu einem Abkommen zu gelangen, und weil man es sehr „ermutigend" findet, wenn die Russen bereit sind, sich über alles und jedes zu unterhalten. Umgekehrt schreckt der Westen davor zurück, seinerseits Themen zur Sprache zu bringen, die möglicherweise den Sowjets Verlegenheit bereiten können, weil eine solche Politik, wie man wiederum so schön sagt, das Vertrauensklima empfindlich stören würde. Die Diplomatie wird auf diese Weise zu einer Form der sowjetischen Kriegsführung reduziert.
Denn wenn wir nur über Fragen verhandeln dürfen, die nach Ansicht der Sowjets zu lösen sind, dann kann es doch nicht überraschen, daß sich das Augenmerk der Weltöffentlichkeit auf die Symptome anstatt auf die Ursachen der Schwierigkeiten richtet: d. h. etwa auf die NATO und nicht auf die feindselige Haltung der Sowjets, die ja erst zur Gründung der NATO führte; auf die mehr als unzulänglichen Verteidigungsanstrengungen der einzelnen westlichen Länder, anstatt auf das russische Übergewicht, das diese Verteidigungsmaßnahmen erst nötig machte; oder schließlich auf die Bedrohung des Weltfriedens durch einen Aufstand in anderen Satellitenstaaten, anstatt auf die russische Politik der Unterdrückung, ohne die eine Gefahr eines Aufstandes ja garnicht vorhanden wäre. Auf diese Weise wird dann die Illusion künstlich am Leben gehalten, daß sich der Kalte Krieg einfach durch ein paar Proklamationen beenden läßt.
Aut dem verhängnisvollen Wege zur Politik des schlechten Gewissens
Der ganze Formalismus, mit dem der Westen an Verhandlungen herangeht, berechtigt zu der Frage, ob nicht die eigentlichen Schwierigkeiten des Westens in dem Mangel an moralischem Selbstvertrauen bestehen. Nur allzuoft geht man in der an sich durchaus lobenswerten Tendenz, den Standpunkt der Gegenseite zu verstehen, so weit, daß man einfach sein eigenes moralisches Unterscheidungsvermögen aufgibt. Das führt etwa zu dem grotesken Argument, daß die brutale Politik Stalins ein Resultat der Weigerung war, Rußland im Jahre 1923 in den Völkerbund aufzunehmen, oder daß die gegenwärtige, feindselige Haltung Chruschtschows auf die Ablehnung des russischen Abrüstungs-
Paktes vom 10. 5. 1955 zurückzuführen sei
Die NATO setzt man dann auch mit dem War-schauer Pakt gleich; die britische Landung in Ägypten mit der Unterdrückung des ungarischen Aufstandes durch die Sowjets; oder unsere amerikanischen Stützpunkte in Übersee mit dem ganzen sowjetischen Satellitensystem. In einigen Verlautbarungen des Westens wird dann mit dem Bundeskanzler Adenauer schärfer ins Gericht gegangen als mit Chruschtschow, und ihm der Vorwurf gemacht, daß er die deutsche Wiedervereinigung nur um des Streites willen propagiere, sie aber in Wirklichkeit garnicht wolle
In einigen dieser hier angedeuteten Reaktionen spielt natürlich die verständliche Besorgnis mit, daß der Anspruch auf die höheren moralischen Werte in der Forderung nach einem Kreuzzug, und somit in einem Atomkrieg, gipfeln könnte.
Diese Haltung ist garnicht so verschieden von derjenigen, die viele ernst zu nehmende Leute gegenüber Hitler in den dreißiger Jahren einnahmen. „Aud'i ich begrüße, was Europa betrifft, den Versuch der Regierung, mit den neuen Staatsmännern Deutschlands in ein Gespräch zu kommen,“ erklärte ein Führer der britischen Labour Party im Jahr 1937. „Jedes Unterfangen, die Sdrafe von den Bödmen zu trennen und die Welt in zwei oder mehr weltansdiaulidte Lager aufzuteilen, würde sich auf die Zukunft der Mensdtlreit absolut tödlidi auswirken
Andere wiederum protestieren gegen die im Westen weitverbreitete Tendenz, komplizierte politische Probleme nur in schwarz-weiß zu sehen und die Politik als solche schlicht und einfach mit der Zusammenballung militärischer Macht gleichzusetzen. In ihren Angriffen auf solche übertriebenen Vereinfachungen laufen viele Kritiker jedoch ihrerseits Gefahr, alle die Welt heute bewegenden Streitfragen in einer einzigen, grauen Tönung zu sehen. Wir können doch bestimmt ein Gefühl der Selbstgerechtigkeit vermeiden, ohne dabei gleichzeitig einer Großmütigkeit zu verfallen, die sehr nahe an das herankommt, was man einen geistigen Überheblichkeitskomplex nennen könnte. Auch in der Ablehnung einer Betrachtungsweise, die alle Streitfragen auf das rein militärische reduzieren will, braucht man doch nicht so weit zu gehen und das Vorhandensein eines Sicherheitsproblems überhaupt leugnen. Der bei uns zu beobachtende Trend, unsere eigenen moralischen Mängel mit denen des Sowjetblocks auf eine Stufe zu stellen, beraubt im Grunde nur den Westen seines Selbstbewußtseins, das er bitter nötig hat, wenn er in Verhandlungen etwas erreichen will. Am Ende dieses Weges steht dann eine Politik des schlechten Gewissens. Wenn der Westen nicht von wirklich starken Überzeugungen durchdrungen ist, wird er es in der Handhabung seiner Außenpolitik immer schwerer finden, die Entwicklung der Dinge im voraus richtig zu berechnen. Jede Außenpolitik muß ja letzten Endes von einer richtigen Einschätzung der künftigen Ereignisse, der Intentionen anderer Staaten oder auch nur der Grenzen des Möglichen ausgehen. Da Untätigkeit unter Umständen zu Katastrophen führt, kann es manchmal passieren, daß eine Maßnahme selbst da getroffen werden muß, wo sie auf einer gewissermaßen noch ungesicherten Einschätzung der Lage beruht. Umgekehrt lassen sich schwierige Entscheidungen immer dadurch vermeiden, daß man die jeweilige Lage nach ihren günstigsten Aspekten beurteilt. Hätte sich der Westen zum Beispiel im Jahre 1936 Hitler widersetzt, dann würde man heute wahrscheinlich immer noch darüber streiten, ob er ein mißverstandener Nationalist gewesen ist, oder aber wirklich eine Bedrohung des Weltfriedens darstellte. „Der Erklärung Hitlers (sein Verhandlungsangebot)'', so sagte Arthur Henderson nach der Wiederbesetzung des Rheinlandes durch deutsche Truppen, „sollte man prima facie Glauben sd^enken. Herr Hitler hat eine Erklärung abgegeben, bei der er mit der einen Hand sündigte, aber mit der anderen eine Friedenspalme hinhielt, der man sich vertrauensvoll nähern sollte. Vielleicht stellt sidt einmal heraus, daß es sidt um die widttigste Geste handelt, die er bisher gemadit hat . . . es ist zwecklos zu behaupten, daß soldte Erklärungen nicht ehrlidt gemeint sind. Das entsdieidende Problem heißt nidtt Verteidigung sondern Frieden“
In den kommenden Monaten wird man auch bei uns mit dem Argument operieren, daß sowohl wir wie die Sowejtunion unannehmbare Vorschläge unterbreitet hätten, und daß daher die einzig angemessene Lösung in einem Kompromiß zwischen beiden Positionen liege. Wir werden solche Argumente unbeschadet der Tatsache zu hören bekommen, daß man sich damit nur der Notwendigkeit begibt, die Substanz der verschiedenen Vorschläge verantwortungsvoll prüfen zu müssen. Gleichzeitig werden auf diese Weise die Sowjets zwangsläufig ermutigt, weiter extreme Vorschläge zu machen, um auf dieser Basis Kompromisse abschließen zu können.
Man wird uns vorhalten, daß der Westen geradezu verpflichtet ist, den toten Punkt durch neue Vorschläge zu überwinden. Man wird sich nicht daran stören, daß ein solches Vorgehen des Westens die unnachgiebige Haltung der Sowjets nur verstärken dürfte; schließlich würde ja so dem Glauben Nahrung verliehen, die sowjetischen Unterhändler würden noch günstigere Bedingungen herausholen, wenn sie nur lange genug ausharren.
Verhandlungen sind das Gebot der Stunde. Es ist aber wichtig, daß man sie ohne alle Illusionen führt. Wir brauchen nicht an einen grundlegenden Wandel in der sowjetischen Einstellung zu glauben, nur weil wir an die Möglichkeit eines Übereinkommens glauben wollen. Um zu erfolgreichen Verhandlungen zu kommen, brauchen wir auch keineswegs so zu tun, als ob eine Minderung der gegenwärtigen Spannungen gänzlich im Belieben des Westens stünde. Wenn sich die Sowjetunion auch nur mit der Hälfte ihrer Berlin-Forderungen durchsetzt, dann bedeutet das nicht ein Kompromiß, sondern eine fundamentale und vielleicht tödliche Schwächung der westlichen Position. Der Westen muß sich ein sehr viel ernsteres Ziel setzen, als nur herausfinden zu wollen, was nun eigentlich die wahren Intentionen der Sowjets sind. Wir werden uns selbst nicht gerecht, wenn wir schon den Wunsch nach einer Minderung der Spannungen, oder nach einer Beendigung des Kalten Krieges, zu einem Ziel unserer Politik machen. Wir haben keine Zeit mehr, über Dinge zu diskutieren, die sich von selbst verstehen. Die Aufgabe des Westens ist es nicht, zu beweisen, daß der Frieden wünschenswert ist — das sollte man nämlich für selbstverständlich erachten. Vielmehr muß der Westen die Möglichkeiten eines Übereinkommens abtasten, das unsere Sicherheit nicht aufs Spiel setzt, gleichzeitig aber auch mit den von uns vertretenen Werten in Übereinstimmung gebracht werden kann.