Zwanzig Jahre lang war es den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen durch eine vorsichtige, Bindungen an größere Machtgruppen vermeidende Außenpolitik gelungen, ihre in den Jahren 1918/19 gewonnene Selbständigkeit erfolgreich zu behaupten 1). Lettland und Estland hatten durch gegenseitige Verträge und Abkommen mit den benachbarten Staaten außenpolitische Reibungsflächen weitgehend beseitigt, wogegen Litauen, mit Polen wegen Wilna verfeindet und Deutschland gegenüber durch die Memelfrage belastet, noch vor ungelösten Problemen stand. Aus diesem Grunde kam es auch zu keiner Ausdehnung des bereits 1923 zwischen Lettland und Estland abgeschlossenen Militärbündnisses auf Litauen; der in Genf 1934 von den drei baltischen Staaten unterzeichnete Freundschaftsvertrag sah nur eine Koordinierung der Außenpolitik durch regelmäßige Außenministerkonferenzen vor.
Umsiedlung der Deutschen und Estland-Schweden Erste sowjetische Besetzung (1940/41). Durch Vernichtung, Verschickung und Einberufung Deutsche Besetzung (1941/42). Verluste der kämpfenden Verbände und durch Arbeitseinsatz in Deutschland Arbeitseinsatz in Deutschland (Russen und Polen) Vernichtung der Juden Flüchtlinge Zweite sowjetische Besetzung (1944—). U. a. Verschickung im Zusammenhang mit der Kollektivierung Durch Umsiedlung nach Polen 1945/47 • Estland 26 500 60 000 10 000 4 000 65 000 7 5 000 238 500
Umsiedlung der Deutschen und Estland-Schweden Erste sowjetische Besetzung (1940/41). Durch Vernichtung, Verschickung und Einberufung Deutsche Besetzung (1941/42). Verluste der kämpfenden Verbände und durch Arbeitseinsatz in Deutschland Arbeitseinsatz in Deutschland (Russen und Polen) Vernichtung der Juden Flüchtlinge Zweite sowjetische Besetzung (1944—). U. a. Verschickung im Zusammenhang mit der Kollektivierung Durch Umsiedlung nach Polen 1945/47 • Estland 26 500 60 000 10 000 4 000 65 000 7 5 000 238 500
Daß die politische Entwicklung im baltischen Raum in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen trotz den vorhandenen Spannungen in verhältnismäßig ruhigen Bahnen verlaufen konnte, war vornehmlich eine Folge des Schwächezustandes, in dem sich die beiden benachbarten Großmächte, die Sowjetunion und Deutschland, befanden. Das im Laufe seiner wechselvollen Geschichte von seinen Nachbarn wiederholt zum Felde politischer Ambitionen erkorene baltische Gebiet wurde nun deren Machteinflüssen für einige Zeit entrückt. Verhältnismäßig frei von äußeren Einwirkungen konnten die drei neuentstandenen Staaten ihren inneren Aufbau vollziehen und im Bewußtsein ihrer Völker die junge Selbständigkeit fest verankern
Erzbischöfe und Bischöfe Priester Angehörige geistlicher Orden in Benutzung befindliche Kirchen Theologische Seminare Theologische Fakultäten 1939 14 1646 1586 1202 4 1 1948 1 ca. 400 — 600 1 —
Erzbischöfe und Bischöfe Priester Angehörige geistlicher Orden in Benutzung befindliche Kirchen Theologische Seminare Theologische Fakultäten 1939 14 1646 1586 1202 4 1 1948 1 ca. 400 — 600 1 —
Als dann in den dreißiger Jahren das Wiedererstarken Deutschlands und der Sowjetunion einen Wandel im Spiel der Kräfte ankündigte, hielten die sich vertiefenden politischen und weltanschaulichen Gegensätze zwischen den beiden Großmächten das Gleichgewicht zunächst weiter aufrecht. Dieser Zustand änderte sich jedoch von Grund auf, als die bisher gegeneinanderstehenden Mächte sich 1939 im Moskauer Vertrage einigten und in den Geheimprotokollen vom 23. August und 28. September 1939 ihre Interessensphären auf Kosten der kleinen Länder absteckten. Die baltischen Staaten wurden dadurch völlig überrascht. Vom Deutschen Reich im Stiche gelassen und ohne Aussicht auf wirksame Hilfe seitens der Westmächte, sahen sie sich zum Abschluß von Beistandspakten mit der Sowjetunion gezwungen, der sie militärische Stützpunkte und Flugplätze auf ihren Hoheitsgebieten einräumen mußten. Dagegen verpflichtete sich die Sowjetunion, die Souveränität ihrer Vertragspartner vorbehaltlos anzuerkennen und sich nicht in deren innere Angelegenheiten einzumischen
1945 1950 1955 Estland 24 56 69 Lettland 50 96 120 Litauen — 113 135
1945 1950 1955 Estland 24 56 69 Lettland 50 96 120 Litauen — 113 135
Noch am 29. März 1940 erklärte Molotow vor dem Obersten Sowjet in Moskau, daß die zufriedenstellende Ausführung der Verträge mit Estland, Lettland und Litauen die Voraussetzungen für eine weitere Besserung der Beziehungen zwischen den baltischen Staaten und der Sowjetunion schaffe. Keine drei Monate später forderte die Sowjetunion jedoch, ohne für ihr Vorgehen stichhaltige Gründe aufführen zu können, unter Ausnutzung der durch den Fall von Paris entstandenen außenpolitischen Lage von ihren Vertragspartnern in ultimativer Form die Zustimmung zur uneingeschränkten Besetzung ihres Staats-gebietes durch die Rote Armee und zur Bildung sowjetfreundlicher Regierungen. Angesichts der Bedrohung durch die sowjetischen Stützpunkte blieb den baltischen Staaten nichts anderes übrig, als sich dem Ultimatum zu fügen. Am 15. Juni nahm Litauen die sowjetischen Forderungen an; am 16. folgten Lettland und Estland. AIs Gegenleistung erklärte sich die Sowjetunion bereit, ihnen im Rahmen der geltenden Vertragsbestimmungen die staatliche Unabhängigkeit zuzusichern, doch war auch dieses Zugeständnis, wie sich bald erweisen sollte, keineswegs ernst gemeint
Dezember 1947 Januar 1949 März 1949 Mai 1949 September 1949 Dezember 1949 7 455 530 2 90'2 975 3 017 Estland 72, 0 82, 0 Lettland Zahl der Prozentsatz Zahl der Prozentsatz Zahl der Prozentsatz Kolchose der Betriebe Kolchose der Betriebe Kolchose der Betriebe 5 1 090 1 248 3 700 3 879 4 035 75, 0 90, 0 20 926 4 884 6 000 Litauen 50, 0
Dezember 1947 Januar 1949 März 1949 Mai 1949 September 1949 Dezember 1949 7 455 530 2 90'2 975 3 017 Estland 72, 0 82, 0 Lettland Zahl der Prozentsatz Zahl der Prozentsatz Zahl der Prozentsatz Kolchose der Betriebe Kolchose der Betriebe Kolchose der Betriebe 5 1 090 1 248 3 700 3 879 4 035 75, 0 90, 0 20 926 4 884 6 000 Litauen 50, 0
Seit dem 15. Juni marschierten sowjetische Truppen in die baltischen Staaten ein; zur gleichen Zeit begaben sich der Sekretär des Zentral-komitees und Leiter der Leningrader Parteiorganisation Zdanov sowie die stellvertretenden Außenminister Vysinskij und Dekanosov nach Reval, Riga und Kaunas, um als Beauftragte Moskaus die Bildung neuer, den Sowjets genehmer Regierungen durchzusetzen. Alle Fäden liefen bei Zdanov zusammen, der in der Revaler Sowjetgesandtschaft sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte.
Der Verlauf der weiteren Entwicklung, die nach wenigen Wochen in der Umgestaltung der baltischen Staaten zu sozialistischen Sowjetrepubliken und ihrer Einverleibung in die Sowjetunion gipfelte, ist mehrfach ausführlich dargestellt worden;
Zunächst zeigte man sich auf sowjetischer Seite bemüht, die erregte Bevölkerung durch Versprechungen zu beruhigen. So versicherte Zdanov dem zum Ministerpräsidenten Estlands ausersehenen Arzt und Dichter Johannes Vares-Barbarus, die staatliche Unabhängigkeit Estlands würde erhalten bleiben, auch sei in Aussicht genommen, die sowjetischen Truppen bald wieder zurückzuziehen. Übereinstimmend erklärten die auf sowjetischen Druck eingesetzten neuen Regierungen zunächst, daß die Unabhängigkeit ihrer Staaten durch die Beistandspakte mit der Sowjetunion garantiert sei, daß keine verfassungswidrigen Reformen erfolgen würden und niemand an die Errichtung eines Sowjetregimes denke.
Es zeigte sich bald, daß die politischen Ziele der unter dem Schutz der sowjetischen Truppen rasch zu Einfluß gelangenden örtlichen kommunistischen Gruppen, die ihre Weisungen unmittelbar aus Moskau erhielten, in direktem Widerspruch zu diesen Beteuerungen standen. Schließlich war es Molotov selbst, der die wahren Absichten der Sowjetregierung ausdeckte. Dem nach Moskau gereisten litauischen Ministerpräsidenten und Außenminister Prof. Kreve-Mickevicius erklärte er am 30. Juni: Sie werden sehen, es dauert keine vier Monate mehr, bis die Bevölkerung aller baltischen Staaten für den Anschluß an die Sowjet- union stimmen wird ... Sie müssen die Realitäten im Auge behalten und verstehen, daß in Zukunft die kleinen Staaten verschwinden müssen. Ihr Litauen, wie audt die anderen baltisdten Staaten, werden sich zusammen mit Finnland der ehrenhaften Familie der Sowjetunion anschließen
Die von Molotov angedeutete Frist wurde in Wirklichkeit beträchtlich unterboten: bereits am 14. und 15. Juli 1940 fanden in den drei baltischen Staaten Wahlen statt, die das von ihm vorausgesagte Ergebnis hatten. Um Mißtrauen und Furcht innerhalb der Bevölkerung zu zerstreuen, wurden sie durch eine Fülle von Versprechungen eingeleitet. Im Programm der „Blocks des werktätigen Volkes“, der kommunistischen Wählerorganisationen, die nach Ausschaltung aller Gegenkandidaten mit ihren Listen allein dastanden, wurde Unantastbarkeit der Person und des Eigentums zugesichert. Aufrufe wandten sich gegen die Gerüchte von einer bevorstehenden Zwangskollektivierung und bezeichneten sie als provokatorische Machenschaften der Feinde des Volkes. „Es wird keine Konfiskationen und Nationalisierungen geben“, schrieb in einem Leitartikel die „Gina“, das Organ der Kommunistischen Partei Lettlands. Zur gleichen Zeit aber erklärte Vysinski auf einer Arbeiterkundgebung in Riga: „Aufgabe der Arbeiter, der Bauern, der arbeitenden Intelligenz und aller ehrlichen lettischen Patrioten ist es, unter Führung der lettischen Partei den Volkswillen nadt dem Muster der Brüder im Osten, die sich vom Ausbeutungsjoch befreit haben, zu organisieren“, das heißt, auch für Lettland die Sowjetisierung anzustreben
So waren in wenigen Tagen alle früheren Versprechungen und Zusicherungen in nichts zerronnen. Mit Hilfe der sowjetischen Truppen, die während der Verhandlungen die Parlamentsgcbäude besetzt hielten, waren die gesteckten Ziele erreicht. Eine weitere Rücksichtnahme auf die Volksstimmung erschien überflüssig; der letzte Akt konnte beginnen. Delegationen der drei nunmehr völlig gleichgeschalteten Parlamente fuhren noch Moskau und trugen dort dem Obersten Sowjet ihre Bitten um Aufnahme in die UdSSR vor, denen selbstverständlich stattgegeben wurde. In Gegenwart Stalins wurden „unter stürmischem Beifall“ aller Abgeordneten des Obersten Sowjets am 3. August 1940 Litauen, am 5. August Lettland und am 6. August Estland durch einstimmig angenommene Gesetze als 14., 15. und 16. Teilrepublik der Sowjetunion einverleibt.
Durch die Eingliederung in die Sowjetunion wurden die baltischen Staaten vorbehaltlos dem kommunistischen System ausgeliefert, dessen sie sich aus eigener Kraft nun nicht mehr erwehren konnten
Nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit — von einer echten Souveränität kann bei den baltischen Sowjetrepubliken, trotz der von kommunistischer Seite immer wieder vertretenen gegenteiligen Auffassung, nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassungen nicht mehr die Rede sein — bahnte sich auf allen Gebieten des gesellschaftlichen wirtschaftlichen und kulturellen Lebens ein völliger Strukturwandel an. Nach und nach verschwanden alle staatlichen, kommunalen und privaten Organisationen, in deren Rahmen sich ein vielseitiges und reichgegliedertes Gemeinschaftsleben abgespielt hatte. Echte Parteien hatte es in den baltischen Staaten schon seit der Einführung autoritärer Regierungssysteme in den dreißiger Jahren nicht mehr gegeben; sie waren durch willfährige politische Verbände ersetzt worden, die nun als erste der Auflösung unterlagen. Ein gleiches Schicksal widerfuhr den in der Abwehr kommunistischer Einflüsse bewährten, finnischem Muster nachgebildeten halbmilitärischen Schutzwehren
Wie sich dieser Prozeß im einzelnen vollzog, wird in den folgenden Abschnitten an Hand von Beispielen näher dargestellt werden. E i n solches Beispiel aus der Reihe der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen sei hier vorweggenommen, weil es die angewandten Methoden besonders deutlich charakterisiert
So wurde durch ein System, welches sich auf der einen Seite auf Vermögenskonfiskationen, Währungsmanipulationen, Preiserhöhungen und die Zerschlagung der bisherigen sozialen Ordnung, auf der anderen auf Verhaftungen und physischen Terror stützte, das oben angedeutete Ziel im Verlaufe nur weniger Monate erreicht. Als die Bevölkerung der jüngsten Sowjetrepubliken am 12. Januar 1941 durch Teilnahme an den Wahlen in den Obersten Sowjet zum ersten Mal ihren staatsbürgerlichen Pflichten der UdSSR gegenüber nachkam, hatte der Sowjetisierungsvorgang auf vielen Gebieten bereits einen gewissen Abschluß gefunden.
Zu einer vollständigen Angleichung an die Verhältnisse im Innern der Sowjetunion ist es jedoch in der ersten, nur ein Jahr währenden Besatzungszeit noch nicht gekommen. Mit Rücksicht auf die Stimmung der ländlichen Bevölkerung wurde auf Kollektivierungspläne zunächst verzichtet, auch wurden Preise und Steuern noch nicht auf den in den übrigen Unionsrepubliken geltenden Stand gebracht. Diese Zurückhaltung wäre aber wahrscheinlich bald aufgegeben worden, wenn nicht der Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges und die Eroberung der baltischen Staaten durch deutsche Truppen im Sommer 1941 das Sowjet-regime für mehrere Jahre wieder beseitigt hätten.
Als es dann im Herbst und Winter 1944 nach der Räumung des Landes durch die Deutschen wieder eingeführt wurde, brauchten keinerlei Rücksichten mehr genommen zu werden. Jetzt begann die totale Sowjetisierung, deren Verlauf im folgenden kurz geschildert werden soll. 2. Staat und Verwaltung Bei der Eingliederung in die UdSSR war gegenüber den baltischen Staaten die benachbarte Russische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) der stärkere Partner; das wirkte sich auch in territorialer Hinsicht ungünstig aus. Nach der zweiten sowjetischen Besetzung in den Jahren 1944/4 5 mußten sowohl Estland wie Lettland widerspruchslos Land-einbußen zugunsten der RSFSR hinnehmen, und zwar auf Kosten jener Grenzgebiete, welche ihnen die Sowjetunion 1920 in den Friedensverträgen von Dorpat und Riga abgetreten hatte
Anders liegen die Dinge bei Litauen, das 1939 durch die Rückgewinnung des Wilnagebietes einen erheblichen Gebietszuwachs (rund 13 500 qkm) erfahren hatte. Ein weiterer geringer Zuwachs ergab sich 1940 aus einigen Grenzberichtigungen mit der Weißruthenischen SSR
Wie der Gebietsstand blieb bei der ersten Besetzung der baltischen Staaten durch die Sowjetunion auch die Verwaltungsgliederung ziemlich unangetastet. Erst als die Kollektivierung des bäuerlichen Grundbesitzes 1950 in der Hauptsache abgeschlossen war, erfolgte auch in administrativer Hinsicht die Angleichung an das System der Sowjetunion. Die bisherigen Verwaltungseinheiten — Kreise und Landgemeinden (Amtsbezirke) — wurden beseitigt und durch die nach wirtschaftlichen und politischen Gesichtspunkten neu geschaffenen Rayons und Dorfsowjets ersetzt. Bei der Abschaffung der Kreise, die sich zum Teil durch Jahrhunderte in den gleichen Grenzen erhalten hatten, spielte deutlich die Absicht mit, auch verwaltungsmäßig die geschichtlich gewordenen Formen zu beseitigen und durch Bildung neuer Einheiten den Prozeß der Zersetzung aller früheren Bindungen zu fördern.
Die Veränderung im Verwaltungssystem zeigt folgende Gegenüberstellung
Die dreistufige Verwaltung wurde in Litauen bereits 1950 mit vier Gebieten (oblasti) als höheren, den Rayons übergeordneten Einheiten eingeführt; 1952 folgten Lettland und Estland mit je drei Gebieten. Diese Neuerung erwies sich aber sehr bald als unzweckmäßig, denn schon 1953 wurden die „Gebiete" als Verwaltungseinheiten wieder abgeschafft. Hauptgrund dafür war wohl das rapide Anwachsen der Bürokratie, da nach vorliegenden Schätzungen jedes Gebiet rund 400 neue Partei-und Staatsfunktionäre erforderte. Statt Partei und Staat, wie es die Parteipresse erhoffte, den breiten Schichten der Bevölkerung näherzubringen, drohte die Neuregelung den Druck des ohnehin schon überbesetzten Verwaltungsapparates ins Unerträgliche zu steigern.
So strebte denn auch die 1954 erfolgte, bisher letzte Reform auf administrativem Gebiet eine Vereinfachung an. Sie setzte die Zahl der Dorfsowjets erheblich herab: in Estland von 641 auf 320, in Lettland von 1229 auf 708, in Litauen von 2774 auf 1224, und zwar mit der Begründung, die Arbeit der Dorfsowjets müsse sowohl für die Aufgaben der Verwaltung als auch des kulturellen und wirtschaftlichen Aufbaus verbessert werden; auch sei es erforderlich gewesen, ihre Grenzen den von Kolchosen und Sowchosen genutzten Ländereien anzugleichen
Dennoch wollen die Klagen über den aufgeblähten und schwerfälligen Verwaltungsapparat nicht verstummen. Sie richten sich gegen die Ministerien und Verwaltungsstellen aller Stufen in den Städten wie auf dem Lande, und es wird von ihnen noch an anderer Stelle die Rede sein müssen.
3. Bevölkerung Bereits während der ersten sowjetischen Besetzung bahnten sich in der Bevölkerungsstruktur der baltischen Staaten Wandlungen an, die nach 1944 in raschem Tempo fortschritten. Für das baltische Gebiet ist eine charakteristische Begleiterscheinung dieser Prozesse die allmähliche Russifizierung des Landes. Sie erfolgt durch das Eindringen fremden, hauptsächlich russischen Volkstums, das in zunehmendem Maße die ansässige estnische, lettische und litauische Bevölkerung durchsetzt und zurückdrängt. Die Hauptvoraussetzungen für diesen Infiltrationsvorgang bilden die ungeheuren Menschenverluste seit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, deren Umfang sich aus der folgenden Übersicht ergibt (die freilich mangels zuverlässiger statistischer Unterlagen nur das Ergebnis von Schätzungen darstellt):
Bevölkerungsverluste
1940-1952
Vor dem Zweiten Weltkriege stellten die Esten bei einer Gesamtbevölkerung von 1 126 413 88 v. H.der Einwohner ihres Landes, die Letten bei 1 950 502 76 v. H., die Litauer bei 2 028 971 (ohne Memel-und Wilnagebiet) 83 v. H. Die amtliche Statistik der Sowjetunion nennt für 1956 folgende Bevölkerungszahlen: Estland 1 100 000, Lettland rund 2 000 000, Litauen rund 2 700 000 (mit Memel-und Wilnagebiet)
Das Einsickern fremder Elemente vollzieht sich sowohl als Unterwanderung wie als Überlagerung der einheimischen Bevölkerung. Die Überlagerung erfolgt durch die russischen Funktionäre und Militärpersonen. vor allem aber durch die in der Sowjetunion beheimatete Schicht der sogenannten Rußlandesten, -letten und -litauer. Bei ihnen handelt es sich um meist bis auf das äußere Merkmal des Namens entnationalisicrte Gruppen politischer Emigranten und früherer Rußlandauswanderer sowie ihre Nachkommen, die heute in der Partei, der Verwaltung und im Bildungswesen dieser Staaten eine erhebliche Rolle spielen. Wegen ihrer landesüblichen Namen (die bei Esten und Letten häufig deutschen Ursprungs sind) sind sie schwer von der eingesessenen Bevölkerung zu unterscheiden, deren Sprache sie jedoch oft nur noch mangelhaft beherrschen
Parallel zu dieser Überlagerung durch russische oder dem eigenen Volkstum entfremdete baltische Elemente vollzieht sich auf einer tieferen, aber auch viel breiteren Ebene ein Prozeß der LInterwanderung, an dem neben Russen Angehörige fast aller Völkerschaften der Sowjetunion in größeren oder kleineren Gruppen beteiligt sind. Seit 194 5 ergießt sich, zum Teil spontan, zum Teil durch die Behörden gelenkt, ein Strom russischer Arbeiter in das Gebiet der baltischen Staaten, wo er sich auf die größeren Städte und die stärker industrialisierten Land-gebiete, wie zum Beispiel das Ölschiefergebiet in Estland, verteilt
In ähnlicher Weise wie die Regelung der Staatsangehörigkeitsfrage erfolgte auch die Umgestaltung des Rechtswesens
Beteiligt waren dagegen die örtlichen Stellen gemäß den neuen Verfassungen, wenn auch nur in formaler Hinsicht, bei der Umgestaltung der Gerichtsordnung. Durch Dekret der Obersten Sowjets Estlands, Lettlands und Litauens wurde das nach überkommenen westlichen Rechts-prinzipien aufgebaute, in über zwei Jahrzehnten bewährte Rechtsprechungssystem der baltischen Länder beseitigt und durch die sowjetische Gerichtsverfassung ersetzt. Höchste Gerichtsorgane der baltischen Teil-republiken wurden die von dem jeweiligen Obersten Sowjet auf fünf Jahre gewählten Obersten Gerichte. Die ihrer Aufsicht unterstellten Volksgerichte waren ursprünglich von den örtlichen Sowjets ernannt; sie werden heute von den Einwohnern der Bezirke und Städte auf drei Jahre unmittelbar gewählt. Die Unabsetzbarkeit der Richter wurde beseitigt und die Möglichkeit geschaffen, sie während ihrer Amtsperiode abzuberufen. Wohl ist in den Verfassungen eine Bestimmung verankert, die den Richtern Unabhängigkeit und alleinige Unterstellung unter die Gesetze zusichert; da aber die Gerichte der ständigen Kontrolle durch die Organe des Staates und der Partei unterworfen sind, ist diese Bestimmung ohne große praktische Bedeutung. Keinesfalls vermag sie den Richtern jene Unabhängigkeit zu garantieren, wie sie in den nichtkommunistischen Ländern durch die Anwendung des Prinzips der Unabsetzbarkeit gewährleistet ist.
Im Widerspruch zu westlichem Rechtsdenken steht es auch, wenn neu-eingeführten Strafgesetzen rückwirkende Kraft verliehen wird, um eine Handhabe für die Beseitigung politischer Gegner zu gewinnen. Diesen Zweck verfolgten die Übergangsbestimmungen des Dekrets über die Einführung des Kriminalkodex der RSFSR, wonach dieser auch auf Handlungen Anwendung finden sollte, die vor der Errichtung der Sowjetherrschaft begangen worden waren, darunter auch auf solche, welche die bisher geltenden Strafgesetze nicht als strafwürdige Vergehen bezeichneten
Die gesamte Aufsicht über die verfassungsmäßige Ausübung der Staatsgewalt sowie die richtige Anwendung der geltenden Gesetze auch für die baltischen Teilrepubliken übernahm der Generalstaatsanwalt der UdSSR; dazu wurde die sowjetische Verwaltungs-Strafgerichtsbarkeit, ausgeübt durch die Organe der Ministerien des Innern (MWD), eingeführt. Diese Maßnahmen trugen vollends dazu bei, die bisher im Rechtsleben der baltischen Länder maßgebenden rechtsstaatlichen Formen zu zersetzen und den fiktiven Charakter der den Staatsbürgern auch durch die neuen Verfassungen zugesicherten Grundrechte bloßzustellen.
Somit war auf dem Gebiet des Rechtswesens die Sowjetisierung schon während der ersten Besatzungszeit (1940/41) nahezu abgeschlossen
Auf die Agrargesetzgebung wird im Zusammenhang mit der Entwicklung der Landwirtschaft noch einzugehen sein.
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die baltischen Republiken heute mit der RSFSR, deren Gesetzbücher sie im wesentlichen übernommen haben, ein Gebiet einheitlichen Rechts bilden, das nur durch administrative Grenzen, die erfahrungsgemäß jederzeit verschoben werden können, aufgeteilt ist und das in allen wichtigen Entscheidungen der unmittelbaren Aufsicht und Initiative der Moskauer Spitzen von Partei und Staat unterliegt. 5. Kirchliche Verhältnisse Die drei baltischen Staaten boten in konfessioneller Hinsicht kein einheitliches Bild. Während in Estland die evangelisch-lutherische Kirche mit 77, 5 v. H.der Bevölkerung das Übergewicht besaß, gehörten in Litauen nicht weniger als 8 5 v. H.der katholischen Kirche an. Lettland stand mit 56 v. H. Evangelischen und 24 v. H. Katholiken zwischen seinen beiden baltischen Nachbarn. Ebenso ungleich war die Verteilung der Anhänger der nächststärksten Konfessionen — der griechisch-orthodoxen und mosaischen. Entsprechend der Bevölkerungsverteilung wies Litauen mit 7, 6 v. H.der Gesamtbevölkerung die größte Zahl von Angehörigen des mosaischen Glaubensbekenntnisses auf, während in Estland die griechisch-orthodoxe Kirche mit fast 19 v. H.den Platz hinter der evangelisch-lutherischen Kirche behauptete. Mit 8, 5 v. H. Orthodoxen und 4, 8 v. H. Glaubensjuden nahm Lettland auch hier eine Zwischenstellung ein
Als unmittelbar nach dem Umsturz im Sommer 1940 seitens der neuen Regierungen die ersten kirchenfeindlichen Maßnahmen getroffen wurden, ließen sich in der Behandlung der einzelnen Konfessionen zunächst noch keine wesentlichen Abweichungen feststellen
Den gefährlichsten ideologischen Gegner erblickten die Kommunisten von Anbeginn an in den abendländischen Konfessionen. Im Laufe der Geschichte der baltischen Länder hatten im Norden das Luthertum, im Süden der Katholizismus ihre führende Stellung behauptet; sie blieben mit der Bevölkerung aufs engste verbunden. Diese Stellung zu vernichten und das Vertrauen der Bevölkerung zur Kirche zu untergraben, wurde das Ziel der antireligiösen Propaganda.
Ihr gegenüber befand sich die evangelisch-lutherische Kirche in ungünstiger Ausgangsstellung wegen der Einbußen, die sie durch die Umsiedlung der überwiegend evangelischen deutschen Bevölkerungsteile erlitten hatte. Allein in Estland hatten 1939/41 53 deutsche evangelische Prediger das Land verlassen, darunter 28 Betreuer estnischer Kirchengemeinden
Die erste Phase der Unterdrückung stand im Zeichen politischer und wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen. Die Kirchen büßten ihre rechtliche Sonderstellung ein, ihr Besitz wurde entschädigungslos enteignet, für die Benutzung der beschlagnahmten Kirchengebäude mußten hohe Steuern entrichtet werden. Die Theologischen Fakultäten in Dorpat und Riga wurden geschlossen, der Religionsunterricht an den Schulen untersagt, der Verkauf religiöser Schriften unterbunden
Seinen Höhepunkt erreichte der Terror in den letzten Wochen der ersten sowjetischen Besetzung, nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges. In Estland wurden zwei Pastoren ermordet, 15 verhaftet und verschleppt, darunter der ehemalige Bischof Dr. Rahamägi, in Lettland fielen 41 Geistliche den Verfolgungen zum Opfer; zu den Verhafteten zählten u. a. zwei Professoren der Rigaer Theologischen Fakultät.
Die große Flüchtlingswelle vor der zweiten sowjetischen Besetzung im Herbst 1944 riß neue Lücken in die schon gelichteten Reihen der kirchlichen Amtsträger. Mit den Oberhäuptern der evangelisch-lutherischen Kirchen Lettlands und Estlands verließen zahlreiche Geistliche das Land, um in Deutschland oder Schweden Schutz zu suchen. Infolgedessen sank in Estland die Zahl der Pastoren von 170 (1939) auf 77 (1945); die Verhaftungen der nächsten Jahre verursachten einen weiteren Rückgang, so daß 1952 in Estland nur noc
Die große Flüchtlingswelle vor der zweiten sowjetischen Besetzung im Herbst 1944 riß neue Lücken in die schon gelichteten Reihen der kirchlichen Amtsträger. Mit den Oberhäuptern der evangelisch-lutherischen Kirchen Lettlands und Estlands verließen zahlreiche Geistliche das Land, um in Deutschland oder Schweden Schutz zu suchen. Infolgedessen sank in Estland die Zahl der Pastoren von 170 (1939) auf 77 (1945); die Verhaftungen der nächsten Jahre verursachten einen weiteren Rückgang, so daß 1952 in Estland nur noch 63 Pastoren verblieben
Seit dem Anfang der fünfziger Jahre scheint man sich sowjetischerseits immer mehr von der Unwirksamkeit des Terrorsystems überzeugt zu haben. Die Organe der politischen Polizei zogen sich zurück und überließen es der „Gesellschaft zur Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse“, den Kampf auf ideologischem Gebiet durchzufechten. Es setzte eine breit angelegte „wissenschaftlich-atheistische“ Propagandatätigkeit ein, die aber auch erfolglos blieb, weil sie mit Mitteln geführt wurde, die eher abzuschrecken als zu überzeugen vermochten
Entsprechend dem bekannten Beschluß des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion vom 11. November 1954 „über die Fehler bei der Durchführung der wissenschaftlichen Aufklärungspropaganda“ wurde der antireligiösen Agitation eine mehr von taktischen Erwägungen bestimmte Richtung gegeben. Ein estnischer Parteifunktionär gab in diesem Zusammenhang zu, daß sich die wissenschaftlichatheistische Propaganda häufig allzu primitiver Formen bedient habe. Es müsse dafür gesorgt werden, daß die religiösen Gefühle der Gläubigen wie der kirchlichen Amtsträger in Zukunft nicht mehr verletzt würden
In Litauen war die katholische Kirche wegen ihrer Machtstellung und ihres Einflusses auf das geistige und soziale Leben des Landes besonders schweren Verfolgungen ausgesetzt. Auch ihr gegenüber begannen die feindlichen Maßnahmen sofort mit der Errichtung des kommunistischen Regimes und mit noch größerer Schärfe. Die Theologische Fakultät an der Universität Kaunas wurde geschlossen, die Priesterseminare unterlagen bis auf eines der Auflösung, ihre Häuser wurden der Roten Armee übergeben. Schon während der ersten sowjetischen Besetzung wurden 42 Priester verhaftet oder getötet. Nach 1944 vermehrte sich die Zahl der Opfer derart, daß von 1646 (1939) amtierenden Priestern nur noch 400 (1948) übrigblieben. Ein Bild der Verluste gibt nachstehende Tabelle:
Wiederholte Bemühungen der kommunistischen Machthaber, die Geistlichkeit zur Gründung einer von Rom unabhängigen litauischen Nationalkirche zu bewegen, blieben erfolglos. Noch im Frühjahr 19 52 unternommene Versuche des 1. Parteisekretärs, A. Snieckus, und des Direktors der Abteilung für Kultusangelegenheiten beim Ministerrat der Litauischen SSR, B. Pusinis, konnten die Vertreter der Kirche nicht von ihrem ablehnenden Standpunkt abbringen.
Mit der Zeit ist aber auch in Litauen der Terror einer vorsichtigeren Behandlung der Kirchenfragen gewichen. Die „wissenschaftlich-atheistische Propaganda“ kann wegen des Fehlens überzeugender Argumente ebensowenig ausrichten wie gegenüber der evangelisch-lutherischen Kirche. Wenn der Einfluß’ der Kirche trotzdem geringer wird, so beruht dies auf der Tatsache, daß sie allein auf die gottesdienstlichen Handlungen beschränkt ist und über keinerlei andere Mittel der geistigen Einflußnahme mehr verfügt. Es besteht die dauernde Gefahr, daß die in Schule und Jugendorganisation ständig der antireligiösen Propaganda ausgesetzten jungen Menschen ihr allmählich entgleiten. Die wiederholten Klagen über allzu geringe Erfolge der ideologischen Schulung zeigen aber, daß der Abfall der Jugend von der Kirche noch keine sehr großen Ausmaße angenommen hat. Das entspräche nur der Wirkungslosigkeit der „wissenschaftlich-atheistischen“ Aufklärungsarbeit unter den Erwachsenen, von welcher der 1. Sekretär der KP Litauens Snieckus im Februar 1954 feststellte, daß sie ernste Mängel aufweise und es bisher nicht vermocht habe,den reaktionären Klerus in den Augen des Volkes als Handlanger des anterikaniscken Iniperialisntus zu entlarven“.
Die Nachrichten über den gegenwärtigen Zustand in den baltischen Ländern lassen darauf schließen, daß das religiöse Leben neue Impulse erhalten hat, nachdem der staatliche Druck auf die Kirchen seit Ende 1954 schwächer geworden ist. Sogar die kommunistische Presse gibt zu, daß die regelmäßig abgehaltenen Gottesdienste aller Konfessionen gut besucht sind, kirchliche Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen häufig stattfinden und junge Menschen in wachsender Zahl, darunter sogar Mitglieder des Komsomol, an den Konfirmationen teilnehmen. In Estland sind bei Schülern einer höheren Schule der im Industriebezirk gelegenen Stadt Jewe (Jöhvi) an einem Tage 20 kirchliche Gesangbücher beschlagnahmt worden. Praktisch verboten ist der Kirchenbesuch nur den sogenannten „ideologischen Arbeitern“ und den Lehrern. Das kirchliche Leben ist heute vielfach in den von den großen Städten weiter entfernten Landbezirken noch am intensivsten. Hier werden die kirchlieh'n Feiertage nach herkömmlicher Art begangen und in Einzelfällen sogar neue Kirchen erbaut; an einem Ort wurde die neue Kirche neben der früheren errichtet, die von den Kommunisten in ein Schulhaus verwandelt worden war.
Die wirtschaftliche Lage der Kirche ist dank der Opferfreudigkeit ihrer Gemeindeglieder vielerorts nicht schlecht. In Litauen haben die Priester oft ein höheres Einkommen als die mittleren Beamten, obwohl sie weit höher besteuert werden. Nach Aussagen von Flüchtlingen, die freilich nicht nachgeprüft werden können, halten sich heute noch 600 000 bis 700 000 Esten, nahezu die gesamte eingesessene Bevölkerung — zur Kirche.
Man würde jedoch irren, wollte man aus diesen Tatsachen auf eine freiere und unabhängigere Stellung der Kirche schließen. Nach wie vor sind ihre Wirkungsmöglichkeiten auf das Innere der Gotteshäuser — den eigentlichen Gottesdienst — beschränkt und auch dort vielfach behindert. Nach wie vor sind der Religionsunterricht und der Druck religiöser Schriften — abgesehen von wenigen Kirchenkalendern — verboten.
Wenn sich heute der Eiserne Vorhang gelegentlich ein wenig hebt und Begegnungen zwischen Vertretern der baltischen Kirchen und ihren Amtsbrüdern in Westeuropa oder Amerika stattfinden, so geschieht dies unter strengster Bewachung und nur auf Grund propagandistischer Erwägungen. Noch sind die Kirchen Gefangene des Kremls, denen jeder Schritt, den sie nach außen tun, vorgeschrieben wird.
Schon 1945 erhielt der aus dem sozialistischen Lager zum Kommunismus übergetretene estnische Historiker Hans Kruus — früher Professor für neuere Geschichte in Dorpat, nach dem Umsturz Präsident der Akademie der Wissenschaften Sowjetestlands und zeitweiliger Außenminister — den Auftrag, die estnische Geschichte nach marxistischen Gesichtspunkten neu darzustellen. Noch war das Manuskript nicht abgeschlossen, als er 19 50 zusammen mit seinem Fachkollegen R. Kleis einer Säuberungswelle zum Opfer fiel. Beide hatten die ideologische Trennung von ihrer eigenen Vergangenheit wohl nicht mit genügender Deutlichkeit vollzogen und mußten daher als „bürgerliche Nationalisten“ weichen. Die ihnen zugedachte Auf
Wirklidtkeit zeigt, daß das Aufgelten einzelner Nationen im Vielvölnerstaat Rußland einen Vorgang von größter progressiver Bedeutung darstellt . . . Mit dem Ansdduß an Rußland erhebt sich die lettische Kultur auf eine neue Stufe, bereidtert sich die lettisdte Sprache mit neuen Wörtern, die sie der russisdten entlehnt. Auf allen Gebieten der Volkskunde, in Volksliedern, Märchen, Rätseln und Spridtwörtern, aber auch in den Volkstradtten, Ornamenten sowie bei der Herstellung von Gegenständen des täglichen Bedarfs macht sich seitdem der russische Einfluß geltend." Nadi dieser Auffassung konnte die Loslösung von Ruß-land dem selbständig gewordenen Lettland nur LInheil bringen. Demgemäß heißt es bei Zutis weiter: „Nach der Trennung verkümmerte die von der Wirtschaft Osteuropas gewaltsam getrennte Industrie. Lettland wurde ein agrarisch-rohstofflid'ies Anhängsel der imperialistischen Westmächte. Die Loslösung von Rußland widerspradt den wichtigsten nationalen Interessen des Landes wie den Lebensinteressen des lettischen Volkes." 48) Die Beseitigung der Selbständigkeit Lettlands und seine Eingliederung in die Sowjetunion sind danach nur folgerichtige Ergebnisse der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung.
Unter maßgeblicher Beteiligung sowjetrussischer Historiker werden in allen drei baltischen Ländern neue Geschichtsbücher nach gleichem Periodisierungsschema entworfen und vor ihrem Erscheinen lebhaft diskutiert. So wird von einem noch im Entwurf befindlichen Lehrbuch der litauischen Geschichte gefordert, es solle den Auseinandersetzungen der Feudalherren untereinander weniger Aufmerksamkeit schenken, dagegen die Ausbeuterklasse und das volksfeindliche Wesen ihrer Politik deutlicher entlarven. Auch solle es den Kampf , in ein helleres Licht rücken, den das Volk für nationale und soziale Freiheit mit seinen Unterdrükkern, fremden wie eigenen, geführt hat, desgleichen den Streit mit den deutschen Eroberern. 49) Die reaktionäre Geistlichkeit habe sich während des gesamten Verlaufs der Geschichte als erbittertster Gegner der Werktätigen Litauens erwiesen, daher müsse ihr volksfeindlicher Charakter noch krasser bloßgestellt werden, als es bisher geschehen sei. Wieder ergeht die Mahnung: „Die ganze gesdiichtlidte Erfahrung des litauischen Volkes bezeugt aufs eindringlichste die Bedeutung seiner Freundsdiaft mit dem russischen Volk . . . Das mächtige, vom russischen Volke geschaffene zentralistische russische Staatswesen beeinflußte das historische Schicksal des litauisdten Volkes in fortschrittlichem Sinne. Idngeaditet dessen, daß damals in Rußland der Zar und die Gutsbesitzer herrsd'iten, war die Vereinigung Litauens mit Rußland von ungeahnter progressiver Bedeutung." Diese Tatsache muß nach Ansicht der Kritiker noch schärfer herausgearbeitet werden, ebenso — ein litauischer Sonderfall — den litauisch-polnischen Beziehungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dies sei besonders wichtig, weil die bürgerlichen Nationalisten jahrelang bemüht gewesen seien, den Werktätigen Litauens antipolnische Gefühle einzuimpfen. Es gehe aber nicht an, die räuberischen Magnaten mit dem polnischen Volke gleichzusetzen. Bedeutung und Einfluß der Vorkämpfer des polnischen Volkes, so zum Beispiel eines Adam Mickiewicz, müßten kräftiger hervorgehoben werden. 50)
Am eindeutigsten haben sich die bekannten sowjetestnischen Historiker Maamägi und Vassar zu dieser Geschichtsauffassung bekannt. Nach ihnen sind alle Errungenschaften des estnischen Volkes, wie in der Vergangenheit so in der Zukunft, ausschließlich ein Ergebnis der ihm vom russischen Volk zuteil gewordenen Hilfe.
Wie die Zeit der politischen Selbständigkeit der baltischen Staaten, so findet auch deren Geschichtschreibung heute mit wenigen Ausnahmen keine Gnade vor den Augen der Kritiker aus dem Lager des geschichtlichen Materialismus. Die Historiker der baltischen Völker werden als „bürgerliche Nationalisten“ abgetan und damit zu „Erzfeinden des werktätigen Volkes“ gestempelt. Nur diejenigen werden bis zu einem gewissen Grade anerkannt, die sich bereit gefunden haben, „ihre früheren Anschauungen zu revidieren und in den Dienst des Volkes zu treten".
Das baltische Deutschtum erscheint in seiner Gesamtheit, wie nicht anders zu erwarten, als Horde von Eindringlingen und Bedrückern. Diese Beurteilung schließt jedoch nicht aus, daß einzelnen Männern, die sich in russischen Staatsdiensten besonders bewährt haben, gelegentlich auch Anerkennung gezollt werden kann. Die Namen des berühmten Biologen und Akademikers Karl Ernst von Baer, der Admirale Johann Adam von Krusenstiern und Fabian von Bellinghausen, von denen der eine als erster auf einem russischen Schiff die Welt umfuhr, während die Forschungsergebnisse des anderen der Sowjetunion den Vorwand gegeben haben, Ansprüche auf die Antarktis zu erheben, des Feldmarschals Barclay de Tolly und vieler anderer stehen heute in der Sowjetunion hoch in Ehren. 7. Sprache Von dem Vorgang der Sowjetisierung werden auch die Sprachen der baltischen Völker betroffen. Hier von einer Russifizierung zu reden, wäre ungenau, denn es handelt sich bei den die einheimischen Sprachen in wachsendem Maße überfremdenden Wortbildungen weniger um russische Ausdrücke, als um solche, welche die gleichfalls „sowjetisierte“ russische Sprache den Westsprachen entlehnt hat und mit zum Teil neuen Begriffsinhalten an die Sprachen des sowjetischen Einflußgebietes weitergibt. Einen ähnlichen Sprachwandel können wir heute in der Sowjetzone Deutschlands beobachten; mit geringen Unterschieden charakterisiert er die Sprachentwicklung in allen Satellitenstaaten. Es handelt sich weniger um einen unwillkürlichen, aus der allgemeinen Entwicklung sich von selbst ergebenden Vorgang, als um eine bewußte durch Presse und Publizistik geförderte Entwicklung, die, wie andere ähnliche Maßnahmen, die geistige Uniformierung innerhalb des sowjetischen Einflußbereiches zum Ziel hat. So heißt es in einem Aufsatz des Historikers Maamägi von der estnischen Sprache: „Unter den Voraussetzungen des Sowjetsystems, den Voraussetzungen einer ununterbrodtenen Vorwärtsentwiddung von Industrie, Landwirtsdtaft, Handel, Verkehr und Technik, hat sich der Wortschatz der estnisdten Sprache durdt eine große Zahl von neuen Wörtern und Ausdrücken bereichert. Viele neue Wörter wurden dem Wortschatz der russisdten Spradre entnommen. Die estnische Spradte befreite sich vom bürgerlidi-ständisdien Jargon, der ihr durdi die bürgerlich-nationalistisdten , Spradterneuerer‘ (J. Aavik u. a.) aufgezwungen worden war. Sie wurde dadurch reidier und kraftvoller, ihr grammatikalischer Aufbau — besser."
Vom 19. bis 23. Februar 1952 fand in Riga in Anwesenheit der Moskauer Philologen Serebrennikov, Gornung u. a. eine Konferenz baltischer Sprachforscher statt. Der Direktor des Historischen Instituts der Lettischen Kommunistischen Partei, K Kraulins, berichtete, daß die Sammlungen seines Instituts 15 OOO russische Fachausdrücke und Wörter enthielten, die schwer zu übersetzen seien. Die Konferenz äußerte zu dieser Frage folgende Ansichten: 1. Die Theoretiker des Marxismus müßten mit größter Genauigkeit übersetzt werden. 2. Durch Übernahme von Wörtern aus der reichsten Sprache der Welt — der russischen — könnten die baltischen Sprachen ihren Wortschatz vergrößern und bereichern. 3. Die baltischen Sprachen würden dadurch reiner werden und könnten sich gleichzeitig „vom Jargon der Ausbeuterklassen aus der Zeit der kapitalistisdien Gesellsdiaft und den Ardüsmen des religiösen Wortschatzes befreien". 4. Schließlich hätten die Übersetzer leichtere Arbeit und würden'die Völker der UdSSR einander besser verstehen
Durch eine sehr rege Übersetzertätigkeit aus dem Russischen in die baltischen Sprachen wird die Sprachentwicklung dauernd im Sinne dieser Richtlinien beeinflußt. 8. Hochschulen Auch auf dem Gebiet des Hochschulwesens gleichen sich die Zustände in den baltischen Ländern immer mehr der Lage in der Sowjetunion an. Die Zahl der Hochschulen hat sich seit 1945 erheblich vergrößert, doch geht diese Vermehrung auf Kosten der wissenschaftlichen Vertiefung des Studiums, das in wachsendem Maße der Förderung eines engen Spezialistentums dient
Der Krieg und seine Folgeerscheinungen, insbesondere die Emigration, hatten in den Bestand der Dozentenschaften schwere Breschen geschlagen. So waren von den 115 Professoren, 80 Dozenten und 28 Lektoren und wissenschaftlichen Hilfskräften, die 1939 an der Universität Dorpart (Tartu) tätig waren, Ende 1944 dort nur noch 29 Professoren sowie 19 Dozenten und Lektoren verblieben
Nicht nur die Struktur der Hochschulen, auch die der Studentenschaften hat sich in den letzten zehn Jahren weitgehend gewandelt. Die Maßnahmen, welche den Kindern ehemals wohlhabender oder der bürgerlichen Führungsschicht angehörender Eltern den Zutritt zu den Hochschulen erschweren oder ganz verwehren, haben die Zusammensetzung der Studentenschaften grundlegend verändert. Wie weit sich auch deren nationale Struktur geändert hat, ist noch nicht genau zu übersehen;
die Einrichtung besonderer Abteilungen bei einzelnen Fakultäten, in denen die Vorlesungen in russischer Sprache gehalten werden, deutet auf eine Zunahme des russischen Elementes hin
Die Überfüllung einzelner Fakultäten hat zur Folge, daß viele Studenten gegen ihren Willen ein anderes Fach studieren müssen und dorthin geschoben werden, wo noch Freiplätze vorhanden sind. So kann ein Jugendlicher, der seinen Zulassungsantrag zum Beispiel bei der naturwissenschaftlichen Fakultät eingereicht hat, es erleben, daß er sich am Tage der Immatrikulation — zwecks Planerfüllung — in der juristischen Fakultät wiederfindet.
Die Lebensbedingungen sind für die meisten Studenten außerordentlich schwer, da sie auf unzureichende Stipendien angewiesen sind. Zur besseren Überwachung werden die Studenten nach Möglichkeit in Wohnheimen untergebracht, wo sie in der Regel zu mehreren in einem Zimmer hausen müssen. Während des Studiengangs befinden sie sich unter der ständigen Aufsicht der für die Hochschulen zuständigen Parteiinstanzen. Auch nach beendetem Studium können viele noch nicht frei über sich verfügen, sondern werden zur Berufsausübung oder weiteren Fortbildung ins Innere der Sowjetunion geschickt
Entsprechend der Zahl der Hochschulen ist auch die der Studenten beträchtlich gewachsen. Sie beträgt heute in Estland etwa 12 000, in Lettland 16 000 und in Litauen 24 000
Dieses seinen Erziehungsprinzipien nach individualistisch ausgerichtete, geistig aus dem Bildungs-und Gedankengut des Westens schöpfende Schulwesen — die bevorzugten Fremdsprachen waren zuerst Deutsch, dann Englisch — war zugleich Ausdrude und Träger des Selbstbehauptungswillens der baltischen Völker. So machten sich denn auch nach dem kommunistischen Umsturz zuerst in den Schulen nationale Widerstände bemerkbar. Schüler widersetzten sich noch vor den Erwachsenen der Verunglimpfung ihrer Ideale und der Beseitigung nationaler Symbole. Ihre Proteste verhallten freilich ungehört in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der weiten Sowjetunion.
Die erste sowjetische Besetzung ließ es wegen ihrer kurzen Dauer noch zu keinem entscheidenden Einbruch in das bisherige Schulsystem kommen. Erst nach 1945 setzte auch hier, und zwar schlagartig, die Sowjetisierung ein
Neben den allgemeinbildenden Schulen (für einige von ihnen wurde die Zahl der Schuljahre von zehn auf elf erhöht
Auf den von den Organen der Partei und des Staates wiederholt veranstalteten Beratungen über Schul-und Erziehungsfragen wollen die Klagen und Mißstände verschiedenster Art nicht verstummen. Sie gelten zum geringeren Teil dem Mangel an Schulräumen, der schlechten Versorgung mit Heizmaterial und ähnlichem mehr, zum weitaus größeren den ungenügenden weltanschaulichen Erfolgen des Unterrichts. So heißt es in der bereits zitierten Rede des litauischen Bildungsministers Pupeikis: „Im Kampf für die Verbesserung der Unterrichts-und Erziehungsarbeit sind die Lehrer gehalten, den Schülern gründlicher als bisher die Vorzüge des sozialistischen Systems gegenüber dem kapitalistischen vor Augen zu stellen und auf die Folgeriditigkeit eines Sieges des Sozialismus in der ganzen Welt hinzuweisen ...
Die Parole „Kampf gegen die religiösen Vorurteile" wird immer aufs neue ausgegeben, doch anscheinend ohne den erwünschten Widerhall. Im August 1954 war eine Beratung in Riga ganz dieser Frage gewidmet
Mehr als die Bildungsministerien, denen die Schulen nach außen hin unterstellt sind, nehmen die verschiedensten Parteiinstanzen Einfluß auf das Leben der Schulen und übertragen auf sie die bei ihnen ausgebildeten Methoden der Überwachung aller durch alle. Von dem Geiste des Vertrauens und der freiwilligen Einordnung in das Ganze, der früher die baltischen Schulen kennzeichnete, ist nichts übriggeblieben;
er ist einer Atmosphäre des Mißtrauens und der gegenseitigen Bespitzelung gewichen. Jede freie Meinungsäußerung ist unterbunden, die Lüge zum System erhoben, jede echte Autorität untergraben. So erscheint es fast zwangsläufig, daß die Schüler, aus den einstigen Bindungen gelöst, den neuen, ihnen mit allen Mitteln angepriesenen vielfach noch ablehnend gegenüberstehend, oft jeden Halt verlieren und dem „Hooliganismus“
verfallen.
10. Landwirtschaft Als die Kommunisten im Sommer 1940 zur Macht gelangt waren, schreckten sie mit Rücksicht auf die Stimmung der Bevölkerung noch davor zurück, offen mit Kollektivierungsplänen hervorzutreten. Die Propaganda vor den manipulierten Parlamentswahlen war offensichtlich darauf abgestellt, alle dahingehenden Befürchtungen zu zerstreuen
Diese abwartende Haltung in der Kollektivierungsfrage war jedoch keineswegs gleichbedeutend mit einem Verzicht auf sofortige agrarpolitische Maßnahmen. Man wählte nur für den Anfang den Weg der „Agrarreform“, wie ihn Sowjetrußland in den Jahren nach der Oktoberrevolution (1917) gegangen war
Seit den baltischen Agrarreformen der zwanziger Jahre hatten sich die sozialen Gegensätze auf dem Lande weithin entschärft. Die nach Überwindung anfänglicher Schwierigkeiten wirtschaftlich erstarkenden Neusiedler hatten sich in ihrer Lebens-und Wirtschaftsweise immer mehr den Altbauern angeglichen und mit dem Einzelhofsystem auch deren individualistische konservativ-bäuerliche Einstellung übernommen. Sie verschmolzen insbesondere in Estland und Lettland mit jenen zur politisch tragenden Schicht, von der nach dem Umsturz der stärkste Widerstand gegen alle Sowjetisierungsbestrebungen zu erwarten war. Sie galt es daher in erster Linie zu treffen und nach Verlust des politischen auch durch Entziehung des wirtschaftlichen Rückhalts für die Pläne der kommunistischen Partei gefügig zu machen
Die Besetzung der baltischen Staaten durch deutsche Truppen im Sommer 1941 und die Einrichtung einer deutschen Zivilverwaltung unterbrachen diese Entwicklung und führten für drei Jahre zu einer teilweisen Wiederherstellung der früheren Zustände. Als die Sowjets jedoch 1944/4 5 das Land wieder in Besitz nahmen, setzten sie ihre Maßnahmen genau an der Stelle fort, wo sie sie 1941 hatten unterbrechen müssen. Der Kampf gegen die Großbauern wurde sogleich und in verschärfter Form wieder ausgenommen. Tausende von ihnen wurden der Kollaboration mit den Deutschen beschuldigt, ihre Höfe — in Estland allein 2450 — beschlagnahmt. Die Maximalgröße der einzelnen Betriebe wurde weiter auf 2 5 ha vermindert, die Landwirtschaftsteuer durch Angleichung an die in der übrigen Sowjetunion geltenden Sätze noch drückender gestaltet. Den sowjetischen Verhältnissen angepaßt wurden auch die Ablieferungsnormen für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu festen Preisen, wodurch den Bauern die Möglichkeit genommen wurde, sich hinreichend mit Industrieerzeugnissen zu versorgen, die, wenn überhaupt, nur noch illegal und zu Überpreisen erhältlich waren. Daneben erfolgte eine weitere Atomisierung des Landbesitzes durch die Verteilung beschlagnahmter Ländereien und Bildung kleinster, oft nicht lebensfähiger Höfe.
Die offene Propaganda für die Kollektivierung — und zwar zunächst für eine „freiwillige" — setzte erst 1947 ein; sie war von geringerer Wirkung, weil die an freie genossenschaftliche Zusammenarbeit gewöhnten baltischen Bauern den Produktionsgenossenschaften sowjetischer Prägung mit tiefstem Mißtrauen begegneten. Trotz dem Einsatz von Aktivistengruppen und der Verbreitung von Hunderttausenden von Flugblättern gelang es nur wenige Bauern — zumeist enttäuschte Neu-siedler — zur Gründung von Kolchosen zu bewegen. Der Versuch, mit propagandistischen Mitteln die psychologischen Voraussetzungen für eine freiwillige Kollektivierung auf breiter Basis zu schaffen, schlug fehl. Um den Widerstand der zu „Kulaken“ gestempelten Großbauern zu brechen, griff die Sowjetregierung nunmehr zu den bereits 1930 bei der Durchführung der Kollektivierung in der Ukraine erprobten Gewalt-methoden. Im März 1949 fanden in allen baltischen Ländern Massenverschleppungen statt, denen in erster Linie die Bauern zum Opfer fielen, die sich geweigert hatten, freiwillig in die Kolchose einzutreten. Diese Maßnahme führte unmittelbar zum erwünschten Erfolge: bis zum Ende des Jahres waren in Estland 82 v. H., in Lettland 90 v. H.der bäuerlichen Betriebe kollektiviert. Nur in Litauen bedurfte es noch einer zweiten Deportationswelle, um ein ähnliches Ergebnis zu erzielen. Den Verlauf der Kollektivierung gibt folgende Tabelle wieder
Der entscheidende Schritt zur Massenkollektivierung erfolgte in offenbarem Zusammenhang mit den Deportationen in der Zeit vom März bis Mai 1949. Während dieser kurzen Zeitspanne stieg die Zahl der Kolchose in Estland von 530 auf 2905, in Lettland von 1248 auf 3700
Eine der Hauptvoraussetzungen für eine reibungslose Arbeit der Kollektivbetriebe und damit für die Durchführung der staatlichen Erzeugungspläne ist die Mechanisierung der Landwirtschaft. Die nachstehende Tabelle zeigt den Ausbau des Netzes der Maschinen-und Traktoren-stationen (MTS) in zehn Jahren
Die MTS haben jedoch vom Beginn an ihre Aufgaben nur unbefriedigend erfüllen können; die Presse bringt nicht endenwollende Klagen über die Minderwertigkeit von Maschinen und Geräten sowie deren unzulängliche Handhabung, über den Mangel an ausgebildetem Personal und schließlich über den jede planvolle Arbeit unmöglich machenden Bürokratismus. So kommt es, daß viele MTS jahraus, jahrein ihr Soll nicht erfüllen. Erschwerend tritt hinzu, daß das höhere technische Personal der MTS, einschließlich der Direktoren, zum großen Teil aus Russen besteht, die mit den örtlichen Gegebenheiten nicht vertraut sind. Endlich sind auch viele der gelieferten Maschinen und Geräte den Boden-und Klimaverhältnissen der baltischen Länder nicht angepaßt und daher nur bedingt verwendungsfähig. Im Zusammenhang damit ist gerade in letzter Zeit von maßgebenden Funktionären wiederholt gefordert worden, landwirtschaftliche Maschinen zu entwickeln, die den besonderen Bedürfnissen der Nordwestgebiete entsprechen
Die unzureichende LInterstützung der Kolchose durch die MTS, die für die Durchführung der Produktionspläne verantwortlich sind, der Mangel an erfahrenen Arbeitskräften als Folge der Kriegsverluste und der Beseitigung des selbständigen Bauerntums, nicht zuletzt das Versagen der Planwirtschaft sowie der ständige Wechsel landfremder und unfähiger Kolchosleiter haben auf allen Gebieten der Landwirtschaft zu schweren Rückschlägen geführt. Die Anbauflächen schrumpften zusammen, es verminderten sich die Hektarerträge und der Viehbestand. Dabei können die gegenüber der Vorkriegszeit stark verringerten Ernten auch nur mit Hilfe „freiwilliger“ Kräfte aus den Städten einigermaßen rechtzeitig eingebracht werden. Oft treten durch Verzögerung der Arbeiten empfindliche Ernteverluste ein. Wiesen und Weiden bedecken sich mit Buschwerk und werden durch fortschreitende Versumpfung der landwirtschaftlichen Nutzung entzogen
Als im Winter 1952/53 der Futtermangel ein bedrohliches Ausmaß annahm und ein großes Viehsterben begann, wurde den Kolchosen empfohlen, gehäckselte Zweige von Laub-und Nadelbäumen zu verfüttern, ja man riet ihnen sogar, Löcher in das Eis der Flüsse und Seen zu hacken, um Wasserpflanzen zu ernten
Alle Bemühungen, die Leistungen der Kolchose zu steigern, sind vergeblich, solange die menschliche Seite des Problems ungelöst bleibt. In einer Rede vor landwirtschaftlichen Funktionären der baltischen Republiken führte Chruev die Schwierigkeiten in der Agrarfrage unter anderem darauf zurück, daß die Menschen hier früher unter völlig anderen Bedingungen gelebt hätten. Es sei daher keine leichte Aufgabe, den baltischen Einzelhofbauern, der nicht einmal richtige Nachbarn gekannt hätte, zu einem sich in die Gesamtheit des Kollektivs willig einfügenden Kolchosmitglied zu machen
Die Folge dieser Zustände ist eine dauernde Landflucht, gegen die das Verbot, den Kolchos ohne Genehmigung zu verlassen, wirkungslos bleibt. Sie führt zu einem weiteren Rückgang der durch Kriegsverluste und Verschleppungen ohnehin schon dezimierten Landbevölkerung. An erster Stelle verlassen die arbeitsfähigen Männer den Kolchos, um in der Industrie eine leichtere und lohnendere Tätigkeit zu suchen. Aus dem Militärdienst entlassene Jugendliche setzen alles daran, nicht in den heimischen Kolchos zurück zu müssen. So verlagert sich die Last der Landarbeit immer mehr auf die Alten und die Frauen, deren Gleichberechtigung in der Hauptsache sich dahin auswirkt, daß sie heute auch hei den früher nur Männern zugemuteten schwersten Arbeiten mit anpacken müssen. 1953 bestanden die Pflügerbrigaden in Lettland zu 70 v. H. aus Frauen, in Estland stellen sie mehr als 50 v. H.der Mitglieder sämtlicher Kolchose
Die Beschlüsse des 20. Kongresses der Kommunistischen Partei der UdSSR sehen auch für die baltischen Republiken eine sehr beträchtliche Steigerung ihrer Agrarproduktion vor. Um hierfür die Voraussetzungen zu schaffen, suchen Regierungen und Parteiführung mit Mitteln der Überredung und des Zwanges die Produktivität der einzelnen Kolchose und Sowchose zu erhöhen. Durch stärkere Beteiligung an den Erträgen sollen die Kolchosbauern zu größeren Leistungen angespornt werden. Erhielten sie früher ihren Lohn nur einmal im Jahr aus den Überschüssen der Kolchose (wobei sie häufig leer ausgingen), so sollen ihnen künftig monatliche Vorschüsse gezahlt werden. Auch wird ihnen erlaubt, mehr eigenes Vieh als bisher zu halten und das Futter vom Kolchos zu beziehen. Dafür soll aber das Minimum an jährlich zu leistenden Normtagen von 120 auf 200— 250 heraufgesetzt und evtl, noch weiter erhöht werden. Kolchosbauern, die ihre Pflichten nicht erfüllen, wird mit der Ein-ziehung des privaten Gartenlandes gedroht.
Nach den bisherigen Erfahrungen scheint es sehr zweifelhaft, ob diese Maßnahmen in Verbindung mit geplanten großen Meliorationsvorhaben die beschlossene Produktionssteigerung sicherstellen werden.
Nach Beendigung des Krieges wurden von der Sowjetregierung große Anstrengungen gemacht, um die Kriegsfolgen zu beseitigen und die Industrialisierung der baltischen Republiken, insbesondere Estlands und Lettlands, vorwärtszutreiben. Hierzu waren erhebliche Investitionen erforderlich, die während des vierten Fünfjahrplanes (1946— 1950) in Estland 3, 5, in Lettland 2, 05 und in Litauen 1, 5 Milliarden Rubel betragen haben sollen. Die Tatsache, daß die Kapitalinvestierungen in Estland ebenso groß waren wie in Lettland und Litauen zusammen, erklärt sich durch die Bedeutung, welche von vornherein dem Ausbau der estländisehen Ölschieferindustrie beigemessen wurde.
Zugleich mit ihrem Wiederaufbau vollzog sich die Einbeziehung der baltischen Industrie in das komplizierte System der Sowjetwirtschaft, das in der obersten staatlichen Planungskommission der LIdSSR gipfelt.
Die Energiequellen und die Schwerindustrie wurden als „unionswichtig unmittelbar den Moskauer Ministerien unterstellt. Den Teilrepubliken und ihren Verwaltungen verblieb im wesentlichen die örtliche Gebrauchsgüter-und Lebensmittelindustrie mit eingeschränkter Produktion. Erst in jüngster Zeit ist durch die Einführung der Volkswirtschaftsräte (Sownarchose) ein Systemwandel erfolgt, der sich zugunsten der Teilrepubliken auswirkt
Beim Wiederaufbau und Ausbau der Industrie in den baltischen Ländern knüpft das Sowjetregime an die wirtschaftspolitische Lage vor dem ersten Weltkriege an. Damals setzten die rasch emporstrebenden Industrieunternehmen der einstigen Ostseeprovinzen, insbesondere der Stadt Riga, ihre Ei Zeugnisse hauptsächlich auf dem innerrussischen Markt ab. Die Trennung von Rußland bewirkte nach 1918 einen Schrumpfungsprozeß, von dem besonders die Textil-und Maschinenindustrie betroffen wurde. Zahlreiche Großbetriebe in Riga, Reval, Libau und Narva fielen auf Bruchteile ihrer einstigen Produktion zurück; Riga verlor mehr als ein Drittel seiner Einwohner.
Es ist bereits gezeigt worden, wie sich die kommunistische Propaganda mit Vorliebe dieser Tatsachen bedient, um ihre Thesen zu stützen, daß die Eigenstaatlichkeit die baltischen Länder in eine schädliche Isolierung geführt habe und ihre Wirtschaftsblüte nur durch enge Verbindung mit Rußland gewährleistet sei. In der Zeit ihrer Selbständigkeit seien sie zu kolonialen Rohstoffbasen der Westmächte herabgesunken! Diese einseitige Kennzeichnung der damaligen Sachlage soll die Aufmerksamkeit davon ablenken, daß der Vorwurf der Ausbeutung weit eher gegenüber der heutigen Wirtschaftspolitik erhoben werden könnte, die darauf ausgerichtet ist, aus der Industrialisierung der baltischen Republiken möglichst große Vorteile für die Gesamtunion zu ziehen. Die im baltischen Raum wiedererstandenen oder neu aufgebauten Industriewerke sollen dazu beitragen, den ungeheuren Bedarf der Sowjetunion an Gütern aller Art zu befriedigen — bei möglichst geringen Gegenleistungen —, sie sollen aber zugleich auch die Integrierung der früher vorwiegend nach Westen ausgerichteten baltischen Nationalwirtschaften in das sowjetische Wirtschaftssystem beschleunigen.
In diesem Zusammenhang gewinnen die Ölschieferindustrie und die an der Grenze Estlands und der russischen Sowjetrepublik (RSFSR) entstehenden Elektrokraftwerke besondere Bedeutung. Die Gasleitung, welche das estländische Ölschiefergebiet und die Stadt Kohtla-Järve mit Leningrad verbindet und die angeblich bereits zwei Millionen Einwohner mit Haushaltsgas versorgt, sowie die Hochspannungslinien, die der Leningrader Industrie den Strom des neuen Narvaer Wasserkraftwerks zuführen, dienen zugleich dazu, die bis 1940 durch Staatsgrenzen streng geschiedenen benachbarten Wirtschaftsräume heute möglichst eng miteinander zu verbinden.
Eine der wichtigsten Voraussetzungen für den geplanten Ausbau der baltischen Industrie bildet die Erschließung neuer Energiequellen. Schon der vierte Fünfjahrplan (1946— 1950) sah daher eine beträchtliche Steigerung der Stromerzeugung vor. In Lettland wurde das während des Krieges zerstörte Dünakraftwerk bei Keggum 1947 wiederaufgebaut, in Estland der Ölschiefer als Energiequelle stärker als bisher erschlossen. Für Litauen, das schon vor dem Kriege hinsichtlich der Stromerzeugung hinter den anderen baltischen Staaten zurückstand, wurde im Rahmen des Elektrifizierungsprogramms für die Landwirtschaft ein Netz kleinerer Kraftwerke in Aussicht genommen
Der fünfte Fünfjahrplan sah dann die Errichtung eines neuen großen Wasserkraftwerkes bei Narva mit einer geplanten Kapazität von 120 000 kW sowie des Rigaer Wärmekraftwerks auf Torfbasis vor. Beide haben inzwischen den Betrieb ausgenommen, dagegen befindet sich das im gleichen Plan vorgesehene Wasserkraftwerk von Kaunas noch im Bau
Den stärksten Ausbau hat in den letzten Jahren die estländische Ölschieferindustrie erfahren. Im Jahre 1939 wurden 1, 7 Mill. Tonnen Ölschiefer gewonnen und zum Teil als Brennstoff verwandt, zum Teil zur Ölgewinnung verwertet. Die Rohölerzeugung betrug im gleichen Jahr 179 000 t. Der Krieg hatte schwere Zerstörungen an den Anlagen zur Folge, deren Beseitigung sofort nach Beendigung der Kampfhandlungen unter Einsatz von über 10 000 deutschen Kriegsgefangenen in Angriff genommen wurde. Der vierte Fünfjahrplan sah für 1950 eine Förderung von 8, 4 Mill, t Ölschiefer vor, die jedoch nicht annähernd erreicht werden konnte. Vermutlich beträgt die Produktion heute etwa 7— 8 Mill, t jährlich. Neben die Verwertung als Brennstoff sowie als Ausgangsprodukt für die Ölgewinnung ist in den letzten Jahren die Vergasung des Ölschiefers getreten. Ein Gaswerk in Kohtla-Järve mit einer Jahreserzeugung von etwa 400 Mill, cbm wurde 1948 in Betrieb genommen; die Errichtung eines zweiten Gaswerks in Ahtme soll im Rahmen des sechsten Fünfjahrplanes erfolgen. Unterirdische Gasleitungen verbinden das Ölschiefergebiet mit Leningrad und Reval; geplant ist eine weitere Leitung zur Versorgung von Dorpat und Riga
Einen besonderen Aufschwung zeigt nächst der Ölschieferindustrie der Maschinenbau, der in der Zeit der Selbständigkeit wegen Absatz-mangel zum Teil fast zum Erliegen gekommen war. Die stillgelegten Waggonfabriken in Riga und Reval beliefern heute wieder wie vor 1918 die russischen Bahnen mit rollendem Material. Fabriken für den Bau von Werkzeugmaschinen, Motoren und Turbinen werden erweitert oder neu errichtet. Die Erzeugung elektrischer Geräte hat sich gegenüber der Vorkriegszeit vervielfacht; die Produktion der Rigaer Elektroindustrie geht in alle Teile der Sowjetunion. Die zum Teil verschrotteten Werften sind wiedererstanden und arbeiten für die sowjetische Flotte
Lim die Landwirtschaft mit hochwertigen Düngemitteln zu versorgen, wird die Phosphaterzeugung vergrößert: im Rahmen des Chemiekombinats Maardu (Maart) bei Reval wurde 1956 eine neue Superphosphatfabrik in Betrieb genommen, welcher der Bau einer Schwefelsäurefabrik vorausgegangen war. Die Richtlinien des 20. Parteikongresses sahen für Estland eine Vermehrung der Mineraldüngererzeugung um 500 v. H. vor.
So sind auf dem Gebiet der Industrialisierung unleugbar bedeutende Fortschritte erzielt worden. In einer Rede vor dem Nationalitätensowjet der UdSSR stellte der zweite Sekretär des Zentralkomitees der Lettischen KP, Krumins, 19 54 fest, daß die Industrieproduktion Lettlands sich gegenüber der Vorkriegszeit um das elffache vermehrt habe
Hinter dieser scheinbar reibungslosen Aufwärtsentwicklung steht in vielen Fällen ein Versagen von Menschen und Material. In einem Aufsatz anläßlich des 20. Parteikongresses klagt der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Estnischen KP, Käbin, darüber, daß in der Industrie Erscheinungen wie das grundlose Fernbleiben von der Arbeit, der häufige Arbeitsplatzwechsel und die Nichterfüllung der Normen sowohl durch einzelne Arbeiter wie durch ganze Brigaden nicht aufhören wollen
Es sind dies in der Geschichte des baltischen Raumes keine neuen Erscheinungen; sie haben sich schon zu Beginn des Jahrhunderts im Zusammenhang mit dem stürmischen Wachstum der Stadt Riga und später, zur Zeit des Ersten Weltkrieges, auch in Reval gezeigt, als die Überschwemmung durch russische Soldaten und Werftarbeiter das nationale Gepräge der Stadt in kurzer Zeit völlig veränderte
Anscheinend ist der innere Widerstand bei den Esten am stärksten; ihnen folgen die Litauer, dann die Letten. Die in Jahrhunderten der Fremdherrschaft erprobte Fähigkeit der baltischen Völker, lange Zeiträume hindurch unbeirrt in passiver Resistenz zu verharren, hat sich in der letzten Epoche ihrer wechselvollen Geschichte aufs neue bewährt. Durch äußere Zugeständnisse gesichert, bewahren die Angehörigen dieser Völker innerlich ihre bewußt nationale Haltung, die durch das herausfordernde Auftreten der Russen nur noch verstärkt wird. Die Neuzuwanderer aus der Sowjetunion werden als Eindringlinge angesehen; die ihnen entgegengebrachte Ablehnung überträgt sich unwillkürlich auf die kommunistische Ideologie, als deren Vertreter sie erscheinen.
Dieses gilt nach vielen Zeugnissen gerade aus neuester Zeit auch für die Jugend, die sich, entgegen allen bisherigen Befürchtungen, der Beeinflussung durch die Schule und die kommunistischen Jugendorganisationen weitgehend hat entziehen können. Es zeigt sich immer deutlicher, daß der Kampf der. Kommunisten um die Jugend vergeblich war. Statt sich dem Leitbild der sowjetrussischen Jungkommunisten anzupassen, verharrt die Jugend in der Ablehnung alles Russischen. Nur widerwillig wird die russische Sprache erlernt; nach Möglichkeit wird ihr Gebrauch auch im Umgang mit Russen vermieden. In der Schule wie bei Sport und Tanz scheut die baltische Jugend die Berührung mit ihren russischen Altersgenossen. Die von Jahr zu Jahr steigende Ablehnung der kommunistischen Jugendorganisationen führt dazu, daß sich eine wachsende Zahl von Jugendlichen ihnen zu entziehen sucht. Mischheiraten sind überaus selten.
Aber auch bei den Erwachsenen ist es trotz aller Resignationen unverkennbar, daß sie noch nicht gewillt sind „echte“ Sowjetmenschen zu werden. Die Erinnerung an die Zeit der politischen Selbständigkeit ist noch lebendig, und nach wie vor schauen die Menschen dieser Länder westwärts, wenn auch nach den Erfahrungen des ungarischen Aufstandes die Hoffnung auf eine Befreiung mit westlicher Hilfe nahezu geschwunden ist. Die Verbindung mit der freien Welt wird in erster Linie durch das Abhören ausländischer Sender aufrechterhalten; in letzter Zeit finden die in beschränktem Llmfange eingeführten Bücher und Zeitschriften in westeuropäischen Sprachen (zumeist Erzeugnisse der Satellitenstaaten) dankbare Abnehmer
Das seit jeher den Russen gegenüber deutlich ausgeprägte Überlegenheitsgefühl der baltischen Völker — manchmal sogar eine Gefahr, weil es sie die eigenen Kräfte überschätzen ließ — ist auch heute noch wirksam.
Wiederholt war hier die Rede von den sogenannten Rußlandbalten, den in der kommunistischen Umwelt in nationaler Hinsicht indifferent gewordenen Nachkommen einstiger Rußlandauswanderer und politischer Emigranten, die in ihre baltische Heimat zurückverpflanzt worden sind, um dem Sowjetsystem als Handlanger zu dienen. Das enge Zusammenleben mit der ansässigen Bevölkerung scheint dazu zu führen, daß sich diese Rückwanderer wieder auf ihre nationale Herkunft besinnen und allmählich auf die Seite ihrer in Opposition verharrenden Landsleute hinüberwechseln. So ist die Assimilationskraft eines im Innern ungebrochenen Volkstums auch heute noch stärker als die des mit allen Mitteln der Propaganda und des staatlichen Machtapparats verbreiteten Leitbildes vom „Sowjetmenschen".