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Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas 1945-1957 | APuZ 38/1959 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 38/1959 Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas 1945-1957 Die baltischen Staaten

Die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas 1945-1957

ERNST BIRK E /RUDOLF NEUMANN

Das unter gleichem Titel im Alfred Metzner-Verlag, Frankfurt am Main — Berlin, erschienene Buch ist im Auftrag des Johann Gottfried Herder-Forschungsrates von Ernst Birke und Rudolf Neumann unter Mitwirkung von Eugen Lemberg herausgegeben worden. Der nachstehende Abdruck, der Einleitung und erstes Kapitel dieses Buches umfaßt, erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Forschungsrat und Verlag.

Voraussetzungen und Grundzüge

1. 2.

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9. 10. 11. 12. 1. Voraussetzungen und Grundzüge II. Die baltischen Staaten Von den Moskauer Verträgen bis zur Eingliederung der baltischen Staaten in die Sowjetunion (1939— 1940)

Staat und Verwaltung Bevölkerung Rechtswesen Kirchliche Verhältnisse Wandlung des Geschichtsbildes Sprache Hochschulen Schulwesen Landwirtschaft Industrie Schlußbemerkungen Inhalt

Die gewaltigen Veränderungen, denen das östliche Mitteleuropa und Südosteuropa seit 1944 unterworfen sind, können bei längerem ungestörten Ablauf für diesen Länder-und Völkergürtel ein Wende im doppelten Sinne des Wortes herbeiführen. Eine Zäsur zunächst im jahrhundertelangen geschichtlichen Fluß, der diesen Raum seit dem frühen Mittelalter mit immer neuen Wellen vielfältiger westlicher Einwirkungen durchdrungen hat. Und — in engem Zusammenhang damit — die Umkehr der bisher ganz überwiegend zum Westen weisenden Beziehungen nach dem Osten, zur Sowjetunion und dem kommunistischen China. Mit dieser Abwendung Ost-Mitteleuropas ist nicht nur eine Drosselung längs der Grenzen verbunden, die unwillkürlich an die Isolierung zurückdenken läßt, welche dem Großteil Rußlands einst von den mongolischen Herren auferlegt wurde, sondern innerhalb dieses weiten Bereiches sehen sich neben den Bewohnern der Sowjetunion auch die im östlichen Mitteleuropa lebenden Völker dem von Moskau ausstrahlenden weltrevolutionären Anspruch ausgeliefert.

• Unser Buch nimmt sich vor, die mit dieser Einbeziehung Ost-Mittel-europas in den östlichen Block und seinen umstürzenden Tendenzen zusammenhängenden Vorgänge zu untersuchen. Nicht selten stellt sich dabei die Frage, ob in dieser Sowjetisierung der zwischen der Ostsee und dem Balkan ausgebreiteten Völkerzone ein weiterer wesentlicher Schritt im jahrhundertelangen Vordringen Rußlands nach dem Westen zu erkennen ist. Die Gefahr, daß Osteuropa damit nicht mehr an Peipus und Dnjepr, sondern an Elbe. Werra und Böhmerwald beginnt, ist von weitschauenden Europäern schon vor hundert Jahren in Betracht gezogen worden. So warnte der französische Historiker Henri Martin in seinem 1866 erschienenen Buch „La Russie et l Europe" vor zukünftigen Katastrophen: „ . . . von einem Abschnitt der Geschichte zum anderen ist die nioskowitische Herrschaft eine immer schlagendere Verletzung der Grundsätze unserer Civilisation, eine stets tiefer wühlende Störung Europas, eine stetig näher heranschreitende Bedrohung der ganzen europäischen Gesellschaft geworden. Anfangend bei der Zerstörung des Rechtes der Nationalität, langt sie endlich bei der Zerstörung des Eigenthumsrechts an Unter dem frischen Eindruck des Polenaufstandes von 1863 und der ethnographischen Lehren Duchinskis prophezeite Martin den nach seiner Meinung unausweichlichen Krieg: „ ... es wird ein Krieg der Rassen und der Bildung, es wird auch ein socialer Krieg sein. Es wird sein, wozu die Moskowiter ihn im Voraus gemacht haben. Sie arbeiten daran, auf diesem von ihnen eroberten Theil der europäischen Erde die europäische Rasse und Gesellsdtaft auszurotten Gewiß war das eine zeitbedingte Äußerung. Aber sehen wir uns nicht jetzt der Erfüllung eines guten Teils ihres Inhalts nahe, wenn wir die Umwandlung verfolgen, der Ost-Mitteleuropa unter der sowjetischen Herrschaft unterworfen ist?

Dieses östliche Mitteleuropa ist ein Übergangsgebiet ohne feste geographische Scheidelinien nach dem Westen und Osten. Heute wird dieser zwischen der Ostsee und den Küsten der Balkanhaibinsel sich erstreckende Gürtel nach Westen begrenzt durch die Oder-Neisse-Linie und den Böhmerwald, oder gar Elbe, Harz und Thüringerwald, und nach Osten durch den alten litauisch-russischen Grenzsaum, vom Finnischen Meerbusen zum Schwarzen Meer, der jetzt nur historische Erinnerung ist.

Im engeren Sinne umfaßt Ost-Mitteleuropa die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, den sowjetisch besetzten Teil Ostpreußens, Polen mit den von ihm verwalteten Teilen Ostdeutschlands und die Tschechoslowakei. Die sich südlich des Karpatensaumes anschließenden Gebiete weichen als „Südosteuropa“ erheblich vom Nord-teil ab. Infolge der türkischen Eroberungen seit dem 14. und 16. Jahrhundert sind hier die abendländischen Einflüsse in mehreren Phasen nachdrücklich zurückgeworfen und zur Rückgewinnung des Verlorenen vom 17. Jahrhundert ab genötigt worden. Das gelang nur teilweise, und die allgemeinen Verhältnisse dieser Donau-und noch mehr die der Balkanstaaten standen infolgedessen auch im 20. Jahrhundert noch den west-und mitteleuropäischen fremder gegenüber als die des nördlichen Ost-Mitteleuropa. Wie diese sind sie dem Druck der Sowjetunion ausgesetzt, deren Bemühungen hier auch über die gelegentlich gern benutzten slawischen Gemeinsamkeiten hinaus Anknüpfungsmöglichkeiten finden. Denn in Bulgarien und Rumänien gehörten zwei Drittel und in Jugoslawien die Hälfte der Bevölkerung der orthodoxen Kirche an, die von ihrem Moskauer Zentrum aus damit auch nichtslawische Gläubige beeinflussen konnte Der Südosten bietet für Bestrebungen, die auf eine Abkehr vom Westen und eine Hinwendung zum Osten abzielen, daher vielleicht günstigere Voraussetzungen als der Nordteil Ost-Mitteleuropas. Jedenfalls sind dieser Donau-und Balkanraum wie die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands in unserer Übersicht mitzubehandeln.

Erscheinen damit nicht ganz verschiedene und teilweise weit zurückliegende Schichten der Vergangenheit im Blickfeld aktueller Probleme und ist mit der heutigen Ausdehnung des östlichen Herrschaftsbereiches bis zur Elbe nicht sogar die Slawengrenze des frühen Mittelalters zu neuem Leben erweckt worden?

Wenn so die Frage nach den Voraussetzungen berührt wird, die in Mitteleuropa möglicherweise für das weite russische Vordringen und die darauf folgende Sowjetisierung vorhanden waren, dann wird damit im deutschen Teil der europäischen Mitte sicherlich zu weit gegriffen. Vertreibung und Flucht -und die wechselnden Formen und Zeugnisse des Widerstandes der in ihrer Heimat Gebliebenen zeigen, wie die neuen Machthaber die Zustimmung der ost-und mitteldeutschen Bevölkerung entweder gar nicht erwarteten oder in den vergangenen dreizehn Jahren nur in bescheidenem Umfange zu erringen vermochten. Die politischen, sozialen, wirtschaftlichen und sprachlichen Verhältnisse des ostelbischen Deutschland boten keinen Anlaß für seine Trennung vom Westen und für die Veränderungen, die ihm seit 194 5 aufgezwungen wurden und die sich in den unter polnischer Verwaltung stehenden alten preußischen Ostprovinzen wie in der sowjetisch besetzten (mitteldeutschen) Zone vollzogen und vollziehen.

Wie aber stand es damit in der anschließenden Vielvölkerzone des eigentlichen Ost-Mitteleuropa: war diese nicht seit langem westlichen wie östlichen Einflüssen ausgesetzt, die sich in ihr mit wechselndem Druck begegneten — mit allen Auswirkungen solcher Unentschiedenheit auch auf die inneren Probleme der hier lebenden Völker und Volks-teile? Während des 19. Jahrhunderts lag dieser von der Ostsee bis zur Adria reichende Gürtel im Rahmen der drei Ostmonarchien (Österreich, Preußen, Rußland), die, lange Zeit sogar miteinander verbündet, eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufwiesen. Darunter verbargen sich aber auch Ungleichheiten, vor allem in ihrem Verhältnis zu den ost-mitteleuropäischen Landerwerbungen. Das Zarenreich hatte sich während des 18. Jahrhunderts die baltischen Provinzen, Litauen, einen großen Teil Polens, 1812 Bessarabien und 1815 Kongreßpolen, angegliedert, Österreich seinen böhmischen und ungarischen Erwerbungen 1772 Galizien angefügt und Preußen seine älteren ostpreußischen und pommerschen Gebiete 1740 um Schlesien und 1772 um Westpreußen und das Posener Land vermehrt. Diese Erwerbungen wurden Preußen und Österreich 1815 bestätigt. Was sie zeitweise darüber hinaus an polnischem Gebiet besessen hatten, fiel durch die Wiener Beschlüsse an das Zaren-reich. Damit trat Rußland breit und nachdrücklich in das ost-mitteleuropäische Übergangsgebiet ein. Es ist aber die Frage, ob seine hundertjährige Herrschaft von 1815 bis 1915 der nach 1945 einsetzenden Entwicklung vorgearbeitet oder ob sie nicht eher das Gegenteil bewirkt hat.

Obwohl auch in den preußischen und österreichischen Teilen der ehemaligen Adelsrepublik Schwierigkeiten nicht ausblieben, lassen sie sich mit der leidenschaftlichen Ablehnung der Polen gegen die russischen Herren nicht vergleichen.

Auch die Wirkung auf die öffentliche Meinung Westeuropas war eine andere. Die eifrige Propaganda der polnischen Emigranten ist nicht müde geworden, ihre russischen Gegner in einer Weise anzuprangern, die sie nicht selten geradezu aus dem zivilisierten Europa ausschloß, während an der Zugehörigkeit der beiden deutschen Großmächte zum Abendland trotz aller gegen sie erhobenen Anklagen kein Zweifel laut wurde. Henri Martins Ausführungen über Rußland und Europa zeigen, wie vorbehaltlos westliche Liberale in diese Front einschwenkten; die Zahl solcher Stimmen ließe sich leicht vermehren. Die dumpfen Ahnungen dieser Warner schienen in der Niederwerfung der ungarischen Revolution von 1948/49 durch russische Truppen eine neue Bestätigung zu erhalten. Wenn diese auch sogleich wieder aus der Habsburger Monarchie abzogen, blieben der Schatten einer dauernden Interventionsdrohung, und ebenso die bittere Erinnerung im madjarischen Volk, das in seiner antirussischen Einstellung den befreundeten Polen nichts mehr nachgab.

Wurden die Tschechen und Slowaken durch ihren lange schwelenden Gegensatz zu den LIngarn auf die russische Seite gedrängt? Der literarische Panslawismus des slowakischen Dichters Kollar könnte diesen Anschein erwecken, und selbst die politischen Vorstellungen der Tschechen Palacky und Rieger sind nicht frei von russischen Rückversicherungsstimmungen. Lim die Jahrhundertwende ist ihr jungtschechischer Nachfolger Kramär ausgesprochen russophil, allerdings in einem konservativen Sinn, der sich voller Abscheu von den 1917 zur Macht gelangenden Bolschewiken abwendet. Seit Rieger haben zahlreiche tschechische Politiker eine französisdi-russische Verständigung nach Kräften zu fördern gesucht, und die Führung des Sokol, des tschechischen Turnverbandes, hielt sich im Herbst 1914 für einen russischen Einmarsch in Böhmen bereit.

Ob diese Aussicht Masaryk damals zu um so energischer betriebener Anlehnung an den europäischen Westen auf den Plan gerufen hat, ist noch eine offene Frage. Aber schon dieses Schwanken unterschied die Tschechen merkbar von der antirussischen Einstellung ihrer beider Nachbarn, der Polen und der Madjaren. Ein Zusammenhang zwischen den seit 1848 ungelöst gebliebenen nationalen Spannungen im Sudetenraum und solchen mehr oder weniger konsequenten russischen Neigungen wird hier deutlich. Die letzteren erloschen trotz der schroffen Abwendung Kramär und anderer vom Bolschewismus auch nicht mit dem Ende des Zarenreichs. Schon während des russisch-polnischen Krieges 1920 hielt die Prager Regierung sich von einer Unterstützung ihrer bedrängten westslawischen Schwesternation zurück, und mit der deutschen Wiedererstarkung in den dreißiger Jahren erhöht sich das tschechische Bedürfnis nach einer Anlehnung an die UdSSR.

Gegen eine solche Orientierung haben sich Polen und Rumänien bis zum Äußersten gewehrt. Bestimmend dafür waren die unmittelbare Grenzberührung mit der Sowjetunion und die russischen Gebietsansprüche, vor denen die übrigen Schwierigkeiten dieser Staaten, auch ihre Nationalitätenfragen, zurücktraten. Wenn es sich in den baltischen Ländern ähnlich verhielt, so war es in Jugoslawien umgekehrt. Denn die lange dauernde amtliche Zurückhaltung der jugoslawischen Monarchie gegenüber der Sowjetunion entsprach nicht immer der Stimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung.

Allgemein aber äußert sich im verschiedenen Verhältnis der ost-mitteleuropäischen Völker zu ihren großen Nachbarn weithin bestimmend doch ihre geographische Lage. Grenzen sie wie die Esten und die Rumänen an Rußland, aber nicht an Deutschland, dann sind ihre Beziehungen zu diesem unbefangener als die zum Osten. Bei den Tschechen steht es umgekehrt, und die Polen haben infolge ihrer langen Grenzberührung mit beiden Staaten keine Wahl.

Mit solchen Hinweisen wird teilweise schon über den 1918/19 erfolgten Umsturz Ost-Mitteleuropas hinausgegriffen. Die junge Sowjetunion war an ihm direkt nicht beteiligt und doch allgegenwärtig bei den Beratungen und Beschlüssen, welche das neue Europabild formten. Die Versuche westlicher Staatsmänner, aus den neugeborenen Randstaaten einen cordon sanitaire gegen die Sowjetunion zu bilden, gründeten sich allzu kurzsichtig auf die vorübergehende Schwäche Rußlands. Man übersah, daß diese Staatenkette ohne einen soliden Rückhalt ihre Aufgaben nicht würde erfüllen können. So folgte auf den verfehlten deutschen Versuch zur Organisation dieses Raumes der 1944 beginnende Zugriff von Osten — beide in den Mantel von Argumenten gehüllt, die der ungelösten nationalen und sozialen Problematik dieses Länder-gürtels entsprangen.

Wem wird man die Schuld daran zumessen wollen? Einem Versagen des mit seiner eigenen Einigung beschäftigten deutschen Volkes im 19. oder Altösterreichs an der Schwelle des 20. Jahrhunderts? Zahlreiche Zeugnisse bekunden den Verständigungswillen, der an vielen Stellen der Donaumonarchie wie darüber hinaus noch unmittelbar vor 1914 um eine allseitige und dauerhafte Konsolidierung bemüht war.

Audi die Führer der siegreichen Westmächte waren auf die ihnen ab 1915 von den westslawischen Emigranten entgegengebrachten Pläne zur Zertrümmerung der bisherigen staatlichen Ordnung Mitteleuropas keineswegs vorbereitet. Neben Lloyd George hat das Clemenceau in der Rückschau von 1930 mit drastischen Sätzen bekannt: „Ach, man vnu^ den Mut haben, es zu sagen, dafi wir in den Krieg nidit mit einem Programm von Befreiern eingetreten sind, die Kapitulation Rußlands verwandelte das Problem . . . Wir waren als Verbündete der russischen Unterdrücker Polens gestartet .. . jetzt befand sich Polen plötzlid'i befreit . .. und in ganz Europa erhoben die Nationalitäten das Haupt und unser nationaler Verteidigungskrieg sah sich durch den Zwang der Entwiddung in einen Befreiungskrieg umgewandelt Gegen die gänzliche Auflösung der Donaumonarchie haben sich viele der alliierten Staatsmänner bis in die letzte Phase des Ersten Weltkrieges hinein mit guten Gründen gestemmt. Dann sind sie vermeintlichen Notwendigkeiten der Kriegsführung erlegen, die von den im Westen tätigen west-und südslawischen Politikern geschickt zur Durchsetzung der meist eng begrenzten eigenen Zwecke ausgenutzt wurden. Clemenceaus Eingeständnisse zeigen, wie der Schatten des roten Rußland schon in diese Entschlüsse hineinwirkte. Er hat auch Wilsons Selbstbestimmungsprogramm beeinflußt, das bei gerechterer Anwendung den Krisenzonen Ost-Mitteleuropas 1919 vielleicht eine Beruhigung hätte bringen können.

So traten ohne die stärkende Weihe alter Traditionen neue Vielvölkerstaaten an die Stelle Österreich-Ungams. Wie sollten sie das Gleichgewicht der europäischen Kräfte gewährleisten, dem Preußen-Deutschland und Österreich-Ungarn bisher als nicht immer bequeme, aber gewohnte Stützen gedient hatten — mit den sichernden Funktionen dieses Mächtesystems gegen den weiteren Osten und Südosten?

Polen erhielt zu seinen ohnehin zahlreichen Deutschen und Juden beträchtliche weitere deutsche, ukrainische und weißruthenische Minderheiten. Durch den Wilnaer und Teschener Streitfall vergiftete sich auch sein Verhältnis zu den Litauern und Tschechen. Nur der kleine Grenzabschnitt gegenüber Rumänien war nicht mit einer solchen Hypothek belastet. Die gleichzeitig entstehende Tschechoslowakei war ebenfalls, von ihrer kurzen rumänischen Grenzstrecke abgesehen, an allen ihren langen Grenzen von ähnlichen Spannungen überschattet. Für beide Staaten bildeten solche problembelasteten Grenzen ein schweres Hindernis bei der Herstellung unbefangener freundschaftlicher Beziehungen zu ihren Nachbarn.

Mit dem ungarischen Reststaat wieder stand es gerade umgekehrt. Während den übrigen sogenannten Nachfolgestaaten zu viel für ihr künftiges Gedeihen zuerkannt worden war, entzündete sich der madjarische Revisionswillen leidenschaftlich an dem Zuwenig, das man ihm gelassen hatte. Gegen diese unverhohlenen Budapester Ansprüche bildete sich zwangsläufig eine tschechische, rumänische und jugoslawische Abwehrfront, während mit den eingekreisten Madjaren die Polen sympathisierten. Auch die europäischen Westmächte wurden schwankend, als sie die ohnehin beschränkten Abwehrkräfte ihres cordon sanitaire in diesen inneren Strudel gerissen sahen. Britisch-ungarische Freundschaftsbeziehungen, wie sie seit langem bestanden, wurden von dem Londoner Zeitungsverleger Lord Rothermere und anderen erneuert. Aber selbst einflußreiche französische Kreise, wie sie anfänglich von Paleologue am Quai d'Orsay vertreten wurden, dachten nach der Niederwerfung der Räteherrschaft Bela Kuns zunächst daran, die Madjaren als Stützpunkt ihrer Ost-Mitteleuropa-Interessen zu benutzen. Gegen diese kurzlebigen Ansätze einer französisch-ungarischen Zusammenarbeit entstand 1921 aus der Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien die sogenannte Kleine Entente mit einem deutlich gegen alle madjarischen Restaurations-und Revisionswünsche gerichteten Programm.

Die größeren politischen Gesichtspunkte, die bei der Schaffung dieser Randstaatenzone zwischen Deutschland und Rußland Pate gestanden hatten, wurden dadurch entwertet. Die Interessen der Kleinen Entente ließen sich gegen die beiden großen Flügelmächte Ost-Mitteleuropas nicht in Übereinstimmung bringen, und deren Wiedererstarken setzte sie daher weitgehend außer Gefecht. Da auch die französische Kontinentalpolitik weder ihre verschiedenen Bündnisbeziehungen mit Warschau, Prag, Bukarest und Belgrad auf eine dauerhafte Linie gemeinsamen Handelns zu bringen, noch sich die britische und italienische Unterstützung dafür zu sichern vermochte, blieb trotz allen inneren Wider-willens schließlich nur noch eine russische Rückendeckung übrig, wenn man dem deutschen Machtanstieg begegnen wollte.

Als sich nach der Tschechoslowakei auch Frankreich und England dieser östlichen Hilfe gegen das nationalsozialistische Deutsche Reich zu bedienen suchten, wandte sich jedoch der einst zum Schutz vor der jungen UdSSR aufgerichtete cordon sanitaire gegen seine Schöpfer, da Polen und Rumänien der Roten Armee 1939 das von ihr geforderte Durchmarschrecht unter keinen LImständen zugestehen wollten. So ist die Sowjetunion nicht als Verbündeter der europäischen Westmächte in Ost-Mitteleuropa einmaschiert, sondern als Partner des nationalsozialistischen Reiches, das den Russen die baltischen Länder, Teile Rumäniens und die Osthälfte Polens preisgab. Der Rückzug der deutschen Armeen und der Zusammenbruch des Hitlerreichs machten dann das übrige Ost-Mitteleuropa reif für die sowjetische LInterwerfung, die am Ende des zweiten Weltkrieges nun wieder unter entscheidender Duldung der angelsächsischen Welt erfolgte.

Ist es müßig, heute gegenüber dieser Entwicklung an die 1888 getroffene Feststellung Anatole Leroy-Beaulieus — eines der besten französischen Rußlandkenner seiner Zeit — zu erinnern: „Österreidt ist der Sdilußstein im Gewölbe des europäischen Gleichgewichts? Gewiß sind die nationalen Gegensätze auch schon im Schoße der Habsburger Monarchie scharf aufeinandergeprallt. Aber man wird die in Ost-Mitteleuropa seit dem ersten Weltkrieg eingetretenen Veränderungen vielleicht richtiger einschätzen, wenn man neben der einheitlichen Außenpolitik der Donaumonarchie auch die bis zu ihrem Ende bewiesene Ausdauer der österreichisch-ungarischen Armee in Betracht zieht. So sind für ein deutsches und russisches Ausgreifen auf den Karpaten-und Donau-raum durch dessen politische „Balkanisierung“ nach 1918 sehr wesentliche Erleichterungen geschaffen worden, unabhängig von der Entwicklung, die sich in Deutschland und Sowjetrußland selbst vollzog. Freilich darf man die beiden Mächte, die sich nach 193 8 in der Herrschaft über Ost-Mitteleuropa abgelöst haben, nicht einfach nebeneinander stellen. Denn die Verflechtung mit den meisten Völkern dieser Zone, ihrem kirchlichen und geistigen, politischen und wirtschaftlichen Leben war seit alters her in der Herrschaft über Ost-Mitteleuropa abgelöst haben, nicht einfach nebeneinander stellen. Denn die Verflechtung mit den meisten Völkern dieser Zone, ihrem kirchlichen und geistigen, politischen und wirtschaftlichen Leben war seit alters her ungleich dichter und vielfältiger als die Verbindung mit Rußland.

Ein Beispiel dieser engen Verflechtung bot die Wirtschaft. Daß die Zerlegung der größeren Wirtschaftsräume in ein „Schottensystem" vieler kleiner, 6) sich eifersüchtig gegeneinander stellender Staaten keine Besserung, sondern nur einen deutlichen Rückschritt erbringen konnte, wurde nicht nur weitblickenden Fachleuten, sondern sehr rasch auch den Betroffenen innerhalb der breiten Bevölkerungsschichten schmerzlich bewußt. Wenzel Jaksch erzählt in seinem lehrreichen Erinnerungsbuch, wie die südböhmischen Bauarbeiter plötzlich durch die neue tschechoslowakische Staatsgrenze von ihren Wiener Arbeitsplätzen abgeschnitten wurden. 7) Bildeten solche und ähnliche Erfahrungen den Grund für das Anwachsen der Kommunisten, die für mehrere Jahre zur stärksten Arbeiterpartei des wirtschaftlich immer noch am besten ausgewogenen Masaryk-Staates wurden? Die nationale Verdrossenheit vor allem der Slowaken und Madjaren scheint auch hier den wirkungsvolleren Anlaß geboten zu haben, so wie sie sich von vornherein mit den Folgen der Marktverengung und mancher ungünstiger Maßnahmen des neuen Staates verband, um im hochindustrialisierten Nord-und Westböhmen die späteren Erfolge Henleins vorzubereiten. Die Dauer-arbeitslosigkeit traf aus ähnlichen politischen Motiven auch die Industriearbeiter des geteilten Oberschlesien mit entsprechenden Folgen.

Die in allen diesen Nachfolgestaaten außer Ungarn unternommene Bodenreform konnte dieses Bild nicht aufhellen: Den Landhunger der vor allem in Mittel-und Südpolen vorhandenen agrarischen Überbevölkerung vermochte sie nicht zu stillen, da sie unzulänglich durchgeführt wurde. Auf eine Besitzschmälerung der Minderheiten beschränkt, bewirkte sie aber neuen Vertrauensschwund und weitere Verbitterung bei beträchtlichen Bevölkerungsgruppen, und zwar vielfach solchen, die bisher ein loyales Verhältnis zu ihren Staatsbehörden gewöhnt waren.

„Es ist völlig müßig zu glauben, daß mit dem gegenwärtigen rückständigen Bauerntum und den Massen von buchstäblich darbenden landwirtschaftlidren Arbeitern ein neues politisches und internationales Gleidigewicht im östlichen Mitteleuropa hergestellt werden könnte", meint ein madjarischer Beurteiler wie O. Jäszi 8). Die ungelöst gebliebene Agrarkrise Ost-Mitteleuropas hatte seit mehreren Menschenaltern Millionen von Auswanderern nach Westeuropa oder Übersee getrieben.

1945 wurde sie, von den Vertrauensleuten des Kreml geschickt ausgenutzt, einer der günstigsten Ansatzpunkte für die von außen hereingetragene Sowjetisierung.

Man müßte solche Zusammenhänge sehr viel stärker differenzieren, als es der Rahmen dieser Einführung zuläßt. Aber einige Feststellungen lassen sich ohne Gefahr der Verallgemeinerung treffen.

Wenn die großen nichttschechischen und -polnischen Bevölkerungsgruppen von vornherein oder später zunehmend von der demokratischen Mitbestimmung ihrer neuen Staaten ausgeschlossen wurden, so verstärkte sich diese Distanzierung noch durch deren wirtschaftspolitische Maßnahmen, welche die allgemeinen Lasten oft stärker auf die Schultern der sogenannten Minderheiten luden. Die dadurch hervorgerufene Entfremdung wurde dabei kaum durch eine bessere Stimmung der breiten Schichten innerhalb der Staatsvölker ausgeglichen. Denn einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Stagnation fand man nicht. Zu einer großzügigen Industrialisierung fehlten diesen Kleinstaaten die Mittel, und alle auf eine Niederlegung der hohen Zollgrenzen zielenden Versuche scheiterten am nationalen Egoismus der Staatsvölker, bis während der dreißiger Jahre die deutschen Handelsabkommen die alten Pläne Lists und Brucks von einem einheitlichen mitteleuropäischen Wirtschaftsraum zu erfüllen schienen. Auch diese nationalsozialistische Handelsoffensive war nicht frei von politischen Konsequenzen. Eben das hatten die französischen Mentoren Ost-Mitteleuropas gefürchtet, wenn sie sich während der Zeit der Weimarer Republik dagegen wehrten, die Sanierung dieser Gebiete mit Hilfe Deutschlands zu vollziehen. Frankreichs Veto gegen den deutsch-österreichischen Zoll-Unionsplan von 1931 und das offensichtliche Unvermögen, etwas Besseres an seine Stelle zu setzen, waren Zeichen dieser kurzsichtigen Politik.

Eugen Lemberg hat in seiner bei aller Knappheit auf die ost-mitteleuropäischen Besonderheiten verständnisvoll eingehenden Gegenüberstellung von Osteuropa und der Sowjetunion herausgearbeitet, wie diese Unterlassungen und ihre materiellen und psychologischen Folgen erst die nationalsozialistische und dann die sowjetische Ausbreitung vorbereitet haben. Wenn man auch hier, wie für die Zeit von 1914, fragt, wieweit Kräfte zu einer Überwindung des übersteigerten Nationalismus oder einer Lösung der brennend gewordenen Probleme in friedlicher Evolution vorhanden waren, dann fällt der Blick vor allem auf die sozialistischen und bäuerlichen Parteien und die ihnen nahestehenden Organisationen. In der Zeit zwischen den Kriegen haben sie sich mit ihren Absichten nicht durchzusetzen vermocht; in Polen wurden sie sogar mit Gewalt daran gehindert. Nachdem während des Krieges dafür überhaupt keine Möglichkeiten bestanden, kamen sie auch nachher nicht mehr zum Zuge. Bezeichnend ist dafür zum Beispiel, daß sich Benesch schon während der Exiljahre entschloß, die Tätigkeit einiger Reformparteien für die neue Tschechoslowakei überhaupt nicht zuzulassen. In Polen und LIngarn wurden nach 1944 sowohl die Sozialisten wie die Bauernparteien von vornherein ins Schlepptau der ebenso planmäßig wie rücksichtslos vorgehenden Kommunisten genommen. Dit in Ost-Mitteleuropa selbst entwickelten Programme friedlicher Reformen sind daher ungenützte Möglichkeiten geblieben und ihre Vertreter verfolgt worden, soweit sie sich nicht dem unbedingten kommunistischen Führungsanspruch beugten. Eine systematische Untersuchung dieser Fragen würde gegenüber der Entwicklung Ost-Mitteleuropas nach 1945 wahrscheinlich das Gegenbild fruchtbarer Ansätze zum Ausgleich seiner vielschichtigen Problematik zeigen. Wieweit solche Vermutungen zu Recht bestehen, kann freilich nur eine Prüfung dessen ergeben, was seit dem Einbruch der Roten Armee hier geschehen ist. Eine solche Prüfung offenbart zunächst, daß die Sowjetisierung keinem Schema folgt, das ganz einheitlich und gradlinig abläuft, sondern ein Vorgang ist, der bei allem ihm innewohnenden Willen zur Folgerichtigkeit im östlichen Mitteleuropa von Verzögerungen, Hemmnissen, Abweichungen und Rückschlägen nicht frei ist. Die Frage, ob sich darin die durchaus europäische bunte Vielfältigkeit der ost-mitteleuropäischen Zustände auswirkt, liegt nahe. Wäre sie richtig, dann mußte die Sowjetisierung zunächst deren Vereinfachung anstreben, eine Tendenz, für welche die Bevölkerungsverschiebungen sicherlich das augenfälligste Zeugnis ablegen. Da es im Südosten zu Ausweisungen in dem sonst gewohnten Ausmaß nicht kam, sind dort auch die während des Krieges entstandenen Lücken durch die natürliche Bevölkerungsvermehrung weitgehend wieder ausgeglichen. Dagegen hat sich der Nordtei] Ost-Mitteleuropas durch seinen Bevölkerungsrückgang dem Osten angenähert und die Mittlerstellung verloren, die er vor 1939 mit seiner Bevölkerungsdichte als Übergangszone zwischen dem dichtbesiedelten Westen und dem dünner besiedelten Osten besaß Für das Gebiet der früheren baltischen Staaten war zum Beispiel für 1949 gegenüber 1939 ein Bevölkerungsrückgang von rund 10°/o errechnet worden, nachdem weit höhere Verluste der alten Bevölkerung durch Krieg und Deportationen mit sowjetischen Zuwanderern zum Teil schon ausgeglichen waren. Ähnlich steht es um Polen, das heute (einschließlich der deutschen Ostgebiete) auf 323 OOO qkm Fläche rund 27 Millionen Einwohner zählt. Wagt man trotz der umstürzenden VerSchiebung seiner Staatsgrenzen den Vergleich mit der Vorkriegszeit, so zeigt sich auch hier ein Absinken der Bevölkerungsdichte. Das ist die Folge der hohen Kriegsverluste der polnischen Bevölkerung sowie der Judenvernichtung, vor allem aber der Austreibung der Deutschen aus dem Machtbereich des polnischen Staates.

Wie entscheidend die Aussiedlung der Deutschen gewesen ist, zeigt ein Vergleich der einzelnen Landesteile. Während Polens Zentrallandschaften nur geringe Bevölkerungsverluste aufweisen, bleiben die unter polnischer Verwaltung stehenden Teile Ostdeutschlands mit rund 50 Einwohnern je qkm (1948) hinter dem Staatsdurchschnitt wie den früheren Verhältnissen erheblich zurück. So sinkt bis 1948 die Bevölkerungsdichte in Pommern von 62 auf 3 5, im polnisch verwalteten Niederschlesien von 124 auf 73 Einwohner je qkm. Für Polen ergibt sich gegenüber dem früheren, der historischen Entwicklung entsprechenden West-Ost-Gefälle seiner Bevölkerungsdichte dadurch eine nicht unbedenkliche Umkehrung der Lage.

Ganz ähnlich sind die Veränderungen in der Tschechoslowakei, deren Bevölkerungsdichte in einem Jahrzehnt (1938— 1948) von 114 auf 96 Einwohner je qkm gesunken-ist, und zwar im Westen des Staates ebenfalls stärker als im Osten (z. B. sank die Bevölkerungsdichte in der Slowakei nur von 73 auf 70, in Böhmen-Mähren dagegen von 148 auf 108 Einwohner je qkm). Noch eindeutiger als in Polen bilden hier die Deutschen-Vertreibungen den Grund für einen Bevölkerungsschwund, der — weder durch tschechische Kriegsverluste oder solche der Juden in vergleichbarem Ausmaß herbeigeführt — streckenweise zu einer regelrechten Verödung der vorher dicht besiedelten Grenzgebiete geführt hat.

Auch die Sowjetzone Deutschlands, deren Bevölkerung nach 1945 durch Flüchtlinge und Vertriebene von jenseits der Oder-Neiße und des Erzgebirges zunächst noch erheblich vermehrt worden war (die Bevölkerungsdichte stieg in Mecklenburg zeitweilig von 5 8 auf 94 Einwohner je qkm), erfährt seit Jahren einen starken Bevölkerungsrückgang durch die ständige Flucht erheblicher Bevölkerungsteile nach dem Westen, in die Bundesrepublik. Ihre Zahl erreichte Ende 1958 nahezu 3, 5 Millionen.

Wesentlicher noch als diese zahlenmäßigen Rückgänge sind die damit verknüpften Veränderungen der Bevölkerungsstruktur. Ihre Grundlage bilden die sehr umfassenden Bevölkerungsverschiebungen, die teilweise schon zur nationalsozialistischen Zeit einsetzten, alteingesessene Bevölkerungsgruppen vernichteten oder zur Auswanderung zwangen und landfremde — meist in geringer Zahl — an ihre Stelle brachten.

In den baltischen Ländern wurden davon fast anderthalb Millionen betroffen, wobei die Hauptverluste durch Massendeportationen nach der Sowjetunion entstanden. Sie umfaßten schätzungsweise 200 000 Esten, 200 000 bis 2 50 000 Letten und 300 000 bis 400 000 Litauer meist jüngeren Alters, was für diese kleinen und geburtsarmen Völker einen bedenklichen Substanzverlust bedeutete. An ihre Stelle sind vor allem in der Verwaltung und Wirtschaft, in den Städten und Industriegebieten wie zum Beispiel dem ostestnischen Ölschieferrevier Russen getreten, die mit ihrer Zahl und ihrem Einfluß das Baltikum mit einer dauernden Überfremdung bedrohen.

Polen erfuhr zwar keine solche Massenzuwanderung von Russen, doch sind die Strukturwandlungen seiner Bevölkerung nicht minder bedeutsam. Polen ist heute kein Nationalitätenstaat mehr wie vor 1939, sondern infolge der seitdem eingetretenen Bevölkerungsverschiebungen ein nahezu reiner polnischer Nationalstaat. Seine „Minderheiten“, die vor dem Kriege mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung betrugen, sind heute ganz unbedeutend geworden. Das gilt auch für das von Polen verwaltete Ostdeutschland, in dem vor dem letzten Kriege neben rund neun Millionen Deutschen nur einige Hunderttausend Polen wohnten. Nach der Vertreibung der Deutschen sind von der alteingesessenen deutschen Bevölkerung hier nur etwa 800 000 „Autochthone“ verblieben, neben die (nach polnischen Angaben) rund fünf Millionen neuangesiedelter Polen traten, von denen etwa anderthalb Millionen aus den an die Sowjetunion abgetretenen Ostgebieten kamen. Der weitaus größte Teil der neuen Bewohner Ostdeutschlands entstammt Gebieten, die noch vor einer Generation zum Zarenreich gehörten, wobei zwischen denen aus Mitteleuropa und denjenigen von jenseits des Bug oft nur geringe Unterschiede bestehen. So erweckt Ostdeutschland selbst nach polnischem Urteil vielfach den Eindruck, als sei das Polen von 1939 gewissermaßen umgekehrt und seine östliche, zivilisatorisch so zurückgebliebene Hälfte nach Westen verlagert worden.

In der Tschechoslowakei sind die durch die Vertreibung eingetretenen Verluste noch weniger als in Polen durch Rückwanderer ausgeglichen worden. Auch aus diesem Vielvölkerstaat ist jetzt wirklich ein Staat der Tschechen und Slowaken geworden.

Unter den rund 1, 7 Millionen Neusiedlern, die an Stelle der mehr als drei Millionen Sudetendeutschen getreten sind, befinden sich Hunderttausende, die aus dem Osten des langgestreckten Staates kommen, so daß wir hier denselben UImkehrungserscheinungen von Ost und West wie im neuen Polen begegnen. Kompliziert werden Sie allerdings in Böhmen-Mähren noch durch die slowakische Volkszugehörigkeit dieser östlichen Einwanderer, die mancherorts bis zu einem Drittel der heutigen Bevölkerung stellen.

Wenn in den Donaustaaten Ungarn und Rumänien auch keine Bevölkerungsverschiebungen von solchem Ausmaß eintraten wie in der Tschechoslowakei, in Polen, in den deutschen Ostgebieten und den baltischen Staaten, so wurden hier durch die nachdrückliche Schwächung der deutschen und jüdischen Minderheiten ebenfalls Vorteile der stärkeren nationalen Geschlossenheit mit sozialen und wirtschaftlichen Nachteilen bezahlt.

So ist das überlieferte Bevölkerungsbild Ost-Mitteleuropas völlig geändert worden. Der fast überall spürbare Rückgang der Dichtezahlen hat diesen Raum dem Osten angenähert, und die zwangsweise Heraus-lösung von Millionen aus gewachsenen Lebensformen und LImwelten hat diese angewurzelten Massen auch für eine Sowjetisierung empfänglicher gemacht. Das diesen Ländergürtel bisher kennzeichnende Durcheinander der Nationalitäten ist also nicht nur einer weitgehenden nationalen Gleichförmigkeit gewichen, sondern dieser Vorgang war gleichbedeutend mit der Vernichtung und Schwächung ganzer sozialer Schichten, und zwar solcher, von denen am ehesten Widerstände gegen den nach 1945 von den neuen Führungsgruppen unternommenen Umformungsprozeß zu erwarten gewesen wären. Wirkt der Zwang zu diesem gewaltsamen Vorgehen nicht wie das Gegenteil eines Plebiszites für die neue Ordnung?

Dieser Umwandlungsprozeß, der kurz als „Sowjetisierung“ bezeichnet wird, ist grundsätzlich allumfassend. Offensichtlich verfolgt er das Ziel, diese Gebiete aus ihren alten west-und mitteleuropäischen Bindungen herauszulösen und sie materiell und geistig dem Sowjetbereich einzugliedern. Die darauf abzielenden Maßnahmen erfassen daher, nach den örtlichen Voraussetzungen der einzelnen Länder variiert, alle Lebensgebiete. Staat und Recht werden durch die Übertragung sowjetischer Verfassungs-und Rechtsformen verändert. Die Wirtschaft wird — im Sinne der marxistisch-leninistischen Theorie als „Basis“ zur Auslösung der automatischen Umbildung des „Überbaus“ — plan-und staatswirtschaftlich umgebaut, der Sowjetwirtschaft formal angeglichen und in die Klammern eines großen östlichen Wirtschaftsblocks einbezogen. Mit der beschleunigten Industrialisierung geht die in verschiedenem Tempo und mit ungleichem Erfolg betriebene Kollektivierung der Landwirtschaft parallel. In weitgehender Übereinstimmung mit der Entwicklung der Sowjetunion führt das zu dem Hauptproblem der Arbeitskraftsicherung für die großangelegten Wirtschaftspläne. Frauen, Jugendliche und Gefangene müssen in den gewerblichen Arbeitsprozeß eingespannt und Facharbeiter und eine technische Intelligenz beschleunigt herangebildet werden, wodurch zusammen mit den Funktionärsschichten für Staat und Partei eine neue Mittelklasse entsteht. Die Erziehung der neuen „sozialistischen“ Menschen dienen sämtliche Kultur-, Bildungs-und Propagandaeinrichtungen, Schulen und Hochschulen, die Wissenschaft und ihre Organisation. In Literatur und Kunst wird das gleiche Ziel angestrebt.

Vielfach bleibt die Kirche, und zwar infolge der Bevölkerungsverschiebungen stärker noch als vor dem Kriege die katholische, die einzige organisierte Macht, die sich dem Totalitätsanspruch von Partei und Staat wirkungsvoll entgegenstellt. Anders als in der Sowjetunion wird der offene Kampf gegen die religiösen Gemeinschaften freilich nach Möglichkeit vermieden und der Weg einer allmählichen Aushöhlung ihrer Positionen bevorzugt. Man sucht sie aus der Gesellschaft, insbesondere der Jugenderziehung, auszuschalten und auf den sakralen Raum zu beschränken.

Vertreibungen und Umerziehungen stehen in schlüssigem Zusammenhang mit der Tatsache, daß dieser Umsturz der ost-mitteleuropäischen Verhältnisse von außen hereingetragen wurde. Als die Sowjetarmeen 1944/45 das Gebiet überfluteten, brachen sie dieser neuen Entwicklung nicht nur die Bahn, sie führten in ihrem Troß auch schon die künftigen Regierungen und Regierungsprogramme für diese Länder mit.

In dieser ersten Phase wurde die völlige Unterwerfung noch vermieden. Wenn man von den baltischen Ländern, Nordostpreußen, den Ost-gebieten Polens, der Karpaten-Ukraine und Bessarabien absieht, die der Sowjetunion eingegliedert wurden, dann entstanden, diesem Streifen vorgelagert, neue Scheinliberale Staatsgebilde, die „Volksdemokratien“. An ihrem Aufbau hatten aus dem Westen zurückkehrende Emigranten wie der Pole Mikolajczyk oder die Tschechen Benesch und Jan Masaryk mitgewirkt, ohne die Entwicklung aufhalten zu können, welche der vollständigen Sowjetisierung zutrieb. Denn die entscheidenden Kommandostellen in Staat und Gesellschaft waren sogleich von Kommunisten besetzt worden, denen die Rote Armee und sowjetische Sicherheitsorgane, wo es nötig wurde, die erforderliche Deckung gaben. Aus innen-wie außenpolitischen und offenbar auch sehr wesentlichen wirtschaftlichen Rücksichten wählte man den leichteren Übergang, bis es nach einigen Jahren geraten oder möglich schien, die Zügel härter ahzuziehen.

Wachsende Unzufriedenheit mit dem Absinken des Lebensstandards auf das sowjetrussische Niveau weckten freilich den offen ausgesprochenen Wunsch dieser Länder, dem Niedergang mit einer Verstärkung westlicher Beziehungen zu begegnen. Solche Bestrebungen aber waren wiederum mit entscheidend dafür, daß um 1947/48 ein schärferer Kurs in Ost-Mitteleuropa einsetzte. Nicht nur bürgerliche Politiker, sondern auch national bestimmte Kommunisten wie Gomulka wurden nun entfernt, und doktrinäre Stalinisten traten an ihre Stelle. Innere Verwaltung, Polizei, Justiz und Armee kamen gänzlich in die Hände verläßlicher Anhänger; Säuberungsaktionen räumten mit echten oder vermeintlichen Widerständen auf, und die Sozialisierung von Wirtschaft und Gesellschaft wurde in rascherem Tempo vorangetrieben.

Bei dieser Übertragung des in der Sowjetunion nach dreißig opferreichen Jahren Erreichten auf die Satellitenländer wurde planmäßig, aber nach außen geschmeidiger vorgegangen. Zwar wurden die abhängigen Staaten durch die einheitliche Organisation der allein bestimmenden Kommunistischen Partei straff mit der Moskauer Zentrale verbunden, aber man vermied im Unterschied zur Sowjetunion nach dem Zusammenschluß der Arbeiterparteien vielfach die Bezeichnung „kommunistisch“ und wählte statt dessen Namen wie „Vereinigte Polnische Arbeiterpartei“ in Polen oder „Sozialistische Einheitspartei“ (SED) in der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands. Man ließ neben ihnen sogar noch bürgerliche Parteien zu, die wegen ihres geringen Einflusses freilich kaum etwas anderes als Atrappen eines in seinem Kern völlig umgewerteten parlamentarischen Lebens waren.

Von ähnlichen Widersprüchen blieb auch der wirtschaftliche Umbau wegen seiner doppelten Aufgabe nicht bewahrt: einmal der Neuordnung der jeweiligen Volkswirtschaft zu dienen, gleichzeitig aber auch dem Einbau dieser Einzelwirtschaften in das sowjetische Wirtschaftsimperium und — soweit das nützlich und zulässig erschien — ihrem Zusammenschluß untereinander. Ein Gradmesser dieser Integration waren auch hier die nach dem Muster der sowjetischen Planwirtschaft ab 1945 überall aufgestellten Wirtschaftspläne. Die anfänglichen Abweichungen in ihrer Laufzeit wurden zugunsten einer Angleichung an das russische Vorbild beseitigt. Wie stark in Polen und Ungarn die dadurch bewirkte Ausbeutung empfunden wurde, offenbarten die Revolten von 1956.

Die überall durchgeführte Bodenreform kam gewiß manchem echten Bedürfnis entgegen. Aber auch sie wurde mit so vielen politischen Nebenabsichten verbunden, daß die Frage berechtigt erscheint, wieweit sie den von ihr betroffenen ost-mitteleuropäischen Völkern wirklich dauernde Vorteile gebracht hat. Mit der Beschlagnahme des Bodens (in Ostdeutschland allein über fünf Millionen ha Ackerland) war die Vertreibung der Deutschen und die Entmachtung von Magnaten und Kirchen (wie in LIngarn) verbunden, aber sie führte zu keiner Neubegründung eines lebensfähigen, individuell schaffenden Bauernstandes. Dazu waren die Betriebsgrößen absichtlich viel zu klein und die Betriebsmittel zu karg bemessen, und alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit, wie sie bisher in den freien Genossenschaften bestanden, mündeten deutlich in den Zwang der Kollektivierung. Diese wiederum fand ihre Hauptstütze in den geräumten ostdeutschen und sudetendeutschen Gebieten. Es ist die Frage, ob von ihnen aus das widerstrebende altpolnische und -tschechische Bauerntum jetzt nicht Bedrohlicher in die Zange der sozialistischen Agrarrevolution genommen wird als das auf anderen elementaren Lebensgebieten jemals in früheren Zeiten geschah.

Zur Vernichtung der „Kulaken“ gibt es genügend Mittel: ruinös gestaffelte Steuer-und Ablieferungssätze, erzwungener Eintritt in die Produktionsgenossenschaften, eine entsprechende Praxis der Maschinen-Traktoren-Stationen usw. Die Nachteile, welche mit dem katastrophalen Verfall der Neusiedlungsgebiete und dem Rückgang der allgemeinen Produktion in Kauf genommen werden mußten, waren nicht gering. Wem aber fielen sie zur Last? Erhöhten sie nicht noch die Abhängigkeit von den Getreidelieferungen der Sowjetunion?

Nicht selten gewinnt man den Eindruck eines schwankenden, gelegentlich sogar improvisierten Handelns. Die „Werktätigen“ strömen vom Lande in die Fabriken und werden zu besonderen Einsätzen ebenso wie die studierende Jugend wieder auf das Land zurückgepumpt. Schließlich muß man im Tempo der Kollektivierung und Verstaatlichung der Bauern überhaupt vor den wachsenden Widerständen zurückweichen. So offenbart dieses Hin und Her den unerbittlichen Kampf, der sich hier — zwischen der Elbe und den baltischen Küsten, von Masuren bis zur unteren Donau und über sie hinaus — zwischen den Organen dieser kommunistisch regierten Staaten und ihren Bauern abspielt. Großenteils vollzieht er sich im stillen und seine Voraussetzungen wechseln zwischen den südosteuropäischen Gebieten, wo weniger Widerstände gegen die Kollektivierung auftreten, und Böhmen und Polen, wo sich die Opposition selbstbewußter Landwirte vielfach mit der kirchlichen verbindet.

Grundsätzlich verschonen die Sozialisierungsmaßnahmen keinen Wirtschaftszweig. Am deutlichsten zeigt sich das wieder in Südosteuropa und im Baltikum, während in Polen und in der Tschechoslowakei noch längere Zeit Oasen privater Initiative erhalten blieben. Aber der Außenhandel und alle großen Mittelbetriebe sind auch hier längst verstaatlicht; die kleinen, das Handwerk und der Einzelhandel, waren dem ständigen Druck in der Richtung zur Kollektivierung ausgesetzt. Die im besetzten Österreich zeitweilig bestehenden „USIA-Betriebe“, die Sowjet-Aktiengesellschaften Mitteldeutschlands, wie die Wismut-AG, und die „Gemischten Gesellschaften“ des Südostens wirkten dabei als Stützpunkte der sowjetischen Wirtschaft. Diese ist außerdem durch zahlreiche Berater in diesen Ländern vertreten und hat sich für alle Ostblockstaaten im „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ („COMECON“ *) ein eigenes Organ geschaffen.

Der Rat entstand bei der Abwehr des Marshallplans und gegen die durch ihn neubelebten westlichen Neigungen einiger Satelliten. Er erhielt die Aufgabe, das wirtschaftliche Schwergewicht Ost-Mitteleuropas um so nachdrücklicher im Osten zu verankern und durch die sowjetrussischen Reserven zu unterstützen. Diese Absicht sollte durch ein vielfältiges Vertragsnetz gesichert werden: Handels-und Zahlungsabkommen für den Austausch der Überschüsse, ein Produktionsprogramm zur gegenseitigen Ergänzung, ein gemeinsamer Hilfsfonds für die Agrarüberschüsse. Im Unterschied zu gescheiterten ähnlichen Plänen zwischen den Kriegen und anderen Projekten der Kleinen Entente und Frankreichs aber steht nach 1945 hinter der wirtschaftlichen Leistung jetzt der einheitliche Wille einer Weltmacht mit festen Positionen in allen Ostblockstaaten und einer sich überall allmählich verbreiternden Basis gleicher wirtschaftlicher Formen und Normen. Besondere „Kommissionen für wirtschaftliche Zusammenarbeit“ erstreben zum Beispiel zwischen Polen und der Tschechoslowakei den gemeinsamen Ausbau und die gemeinschaftliche Nutzung der Wasserstraßen und des Stettiner Hafens sowie die sinnvolle Zusammenfassung des oberschlesischen und mährischen Industriereviers. Jedoch stehen der Verwirklichung solcher Programme auch nicht geringe Schwierigkeiten entgegen, und der Handel mit der freien Welt ist für die ost-mitteleuropäischen Staaten noch immer unentbehrlich.

Die aus ihnen hervorgehenden wiederholten Ansätze zur Erhaltung oder Neubelebung wirtschaftlicher Verbindungen mit dem Westen berührten sich offensichtlich mit den Bemühungen weiter Kreise der Bevölkerung, die jahrhundertealten kulturellen und geistigen Beziehungen zum übrigen Europa nicht abreißen zu lassen.

Diese Tendenzen werden um so verständlicher, je mehr man das Ausmaß der Sowjetisierungsmaßnahmen auch auf sozialem und kulturellem Gebiet bedenkt. Direkte Hemmungen, wie die Erschwerungen des Reise-und Nachrichtenverkehrs, gehen dabei mit den vielfältigen indirekten Wirkungen einer unablässigen Propaganda und den entsprechenden Umerziehungsbemühungen Hand in Hand. Bei ihnen herrschten anfänglich ebenfalls mildere Übergangsmethoden, gab es Verschiedenheiten, Widersprüche und gelegentlich auch ein Zurückweichen vor unbequemen Widerständen. Trotzdem sind die auf eine möglichst weitgehende Umformung der ost-mitteleuropäischen Menschen gestellten Ziele besonders in allen Sparten der Jugenderziehung deutlich auszumachen.

Bei einer Gesamtbilanz ist — schon rein bevölkerungsmäßig, sowohl hinsichtlich der Dichte als auch bezüglich der Zusammensetzung — die Ablösung dieses Gebiets von West-und Mitteleuropa und seine Angleichung an den Osten unverkennbar. Neben der wirtschaftlichen Eingliederung in das neue Sowjetimperium erfolgt auch eine kulturelle Enteuropäisierung, die vielfach durch die zwangsweise Entfernung der deutschen Bevölkerung als eine der wichtigsten Klammern zum Westen erleichtert wurde. Im Süden unseres Beobachtungsraumes ist dieser Prozeß anscheinend weiter fortgeschritten als in seinem nördlichen Teil. Grund dafür ist unter anderem die anfangs bereits gestreifte Tatsache, daß der untere Donau-und Balkanraum auf Grund seiner wechselvollen Geschichte und Traditionen doch nur schwächer mit dem Westen verbunden war, also auch die seelischen Widerstandskräfte seiner Völker gegen eine Entfremdung nur geringer sein konnten. Anders liegt es zum Beispiel in Polen oder Böhmen und selbst in Ungarn, die trotz aller Abweichungen in Kultur und Geschichte seit langem zu einem untrennbaren Teil Mitteleuropas geworden sind. In noch stärkerem Maße gilt das für die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands. Hier sind — wie die Aufstände im Juni 195 3 gezeigt haben — auch heute noch die Widerstände größer, die noch währenden Kämpfe schwerer.

Für die Selbstbehauptung dieser Gebiete kann das gewisse Aussichten eröffnen; ob aber in Ost-Mitteleuropa die Zeit gegen oder für Europa und seine geistigen Positionen arbeitet, ist gerade nach den Erfahrungen der letzten Jahre ein offenes Problem.

Entscheidend ist die politische Kräftelage. Stellt man die Frage nach der möglichen Fortdauer der bis heute schon sichtbaren Wandlungen, so hängt die Antwort davon ab, wieweit diese den Voraussetzungen Ost-Mitteleuropas entsprachen oder nicht. Handelt es sich zum Beispiel um die Änderung der Agrarverfassung und die Industrialisierung einschließlich der damit verbundenen Neubildung einer technischen Intelligenz, einer Mittelschicht, die es früher, von Mitteldeutschland, Böhmen, Mähren, Ostschlesien und einigen Teilen Polens abgesehen, nicht oder nur geringfügig gab, so kann man vermuten, daß sie unabhängig von der politischen Lage erhalten bleiben. Sind es aber Gedanken und Formen, die lediglich von außen hineingetragen worden sind, zum Beispiel „Sowjetisierungsmaßnahmen", die der Kultur-und Kirchenkampf mit sich brachte, so darf man annehmen, daß sie lediglich der augenblicklichen Kräftelage ihre Existenz verdanken. Eine Änderung oder Schwächung dieser Voraussetzung muß auch auf sie zurückwirken. So gesehen, erscheint ein erheblicher Teil der seit 1945 in Ost-Mitteleuropa zu beobachtenden Änderungen gegenwärtig noch nicht endgültig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Nadi der deutschen Übersetzung Gottfried Kinkels, Hannover 1869, S 335

  2. ebenda, S. 337; der litauisch-polnische Historiker und Ethnograph Duchinski veröffentlichte 1858— 1864 in polnischer und französischer Sprache einige, aamals beachtete, Bücher über die Völker Osteuropas. 1871 redigierte er die Revue historique, ethnographique et statistique.

  3. Oskar Jäszi, Central Europe and Russia. In: Journal of Central Affairs. April 1945. S. 4.

  4. Georges Clemenceau, Grandeurs et miseres d'une victoire. Paris 1930. S. 159/160. Vgl. auch David Lloyd George, The truth about the peace treaties, vol. II, London 1938, S. 752/753.

  5. Anatole Leroy-Beaulieu, La France, la Russie et l’Europe. Paris 1888. Seite 80.

  6. O. Jäszi, April 1945, S. 2.

  7. Hans Rothtels, The Baltic provinces: some historic aspects and perspectives. In: Journal of Central European Affairs. Juli 1944. S. 143: „Moreover with the evacuation of the Baltic Germans . . . a factor disappeared which had always been a nucleus of cultural conservatism and a link between the provinces and Western Europe. Its elimination was, as it Were, part of a de-Westernization; it weakened, paradoxically enough, the national structure, i. e. the middle dass basis of Latvia and Estonia."

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