Der hier wiedergegebene Vortrag wurde im Rahmen der Sendereihe . Rußland — gestern und heute"
am 15. Oktober 1958 im Nachtprogramm des Senders Freies Berlin gesendet.
Um das Phänomen Sowjetrußlands richtig zu begreifen, darf man seine Analyse nicht mit der Geburt der bolschewistischen Partei im Jahre 1902 und erst recht nicht mit der Machtergreifung Lenins beginnen. Sicher ist der Bolschewismus kein direktes und unbedingt notwendiges Resultat der russischen Geschichte, wie man das öfters von westeuropäischen Publizisten hört. Sicher ist er aber auch nicht an Rußland von außen Herangetragenes, wie es die reaktionäre Emigration meint. Niemand, der mit der russischen Geschichte vertraut ist, wird zweifeln können, daß er tiefe historische Wurzeln hat.
Eine vertiefte Besinnung auf das Verhältnis Rußlands zu Europa und im Zusammenhang damit auf die Eigenart der russischen Kultur begann in Rußland in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Es war die Rettung des nationalen Seins vor den Machtansprüchen Napoleons, die im Bewußtsein des gebildeten Russentums die Frage nach dem eigentlichen Sinn dieses Seins erweckte.
Die Beantwortung dieser Frage teilte die russische gebildete Schicht in zwei sich gegenseitig bekämpfende Lager: In das Lager der Slawo-philen, die man nicht mit den Panslawisten verwechseln sollte, denn sie waren keinesfalls rassengläubige Imperialisten, sondern christliche Romantiker, und in das Lager der Westler, welche in der Aufklärung und in der großen französischen Revolution die Zukunft Europas sahen.
Obwohl die Slawophilen das westliche Christentum wegen seiner römisch rationalistischen Komponente scharf kritisierten, waren sie mit ihm in der Ablehnung des aufklärerischen Rationalismus und der französischen Revolution durchaus einverstanden. Die Formel ihrer Kritik lautet: Das moderne Europa kranke am Atomismus des Lebens und Rationalismus des Denkens. Ihr positives Ideal war eine religiös zentrierte Persönlichkeit und eine wertautonomisch nicht aufgeteilte, sondern eine theonomisch in sich geeinigte Kultur.
Im Gegensatz zu den Slawophilen waren die Westler enthusiastische Verehrer des Aufklärungsgeistes und der Revolution. Die religiös unterbaute russische Monarchie erschien ihnen als die größte Gefahr für Wahrheit und Größe der Kultur. Aus diesem Geist ergab sich die an Radikalismus immer zunehmende Entwicklung des Westlertums zur revolutionären Kampfgemeinschaft, welche sich vor der Aufgabe sah, die klerikale Monarchie zu stürzen und Rußland so bald wie möglich in die Bahnen der sozialistischen Entwicklung zu zwingen. Dank dieser dem freiheitsgläubigen Liberalismus feindlichen Einstellung der revolutionären Kreise Rußlands ergab sich auch im Lager der Westler das Ideal eines ganzheitlichen totalitären Bewußtseins. Das Studium des russischen revolutionären Bewegung bringt einwandfrei den Beweis, daß die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts sich um nichts so leidenschaftlich bemüht hatte als um die Bildung „einer ganzheitlichen Weltanschauung". Schon der erste russische Emigrant, Alexander Herzen (1812— 1870), schrieb, den Marxismus in seiner Wirtschaftsgläubigkeit kritisierend: „Die Verdauungsfragen bedeuten nur eine wenn auch sehr wichtige Seite der ganzheitlidten Weltanschauung, die ihren Einfluß nicltt nur auf alle Einzelheiten des öffentlichen Lebens, sondern auch auf das Familienleben und auch alle privaten Beziehungen zwischen den Menschen erstredten sollte“. Ganz dieselbe Forderung finden wir bei dem einflußreichsten Revolutionär Tschernischewskij (1821— 1889). Die ganzheitliche Weltanschauung muß auch seiner Meinung nach das gesamte öffentliche wie auch private Leben umgreifen, „selbst vor dem intimen Familienleben kein Halt machen“. Daß jede ganzheitliche Weltanschauung wenn auch nicht ihrem Inhalt, so doch ihrer Struktur nach einen religiösen Zug in sich schließt, war vielen Revolutionären klar, daher auch die ironische Forderung, die materialistische Glaubenslosig-keit zu einer Art Religion zu erheben. Lenin steht ganz ausgesprochen auf dieser Linie. Ein in den Dingen der sozialistischen Parteien äußerst bewanderter Revolutionshistoriker Valentinow berichtet in seinem Buch „Begegnungen mit Lenin“, daß dieser schon in seiner Jugend sich im Besitz der absoluten Wahrheit fühlte und die Schaffung einer wissenschaftlich fundierten, marxistischen, ganzheitlichen Weltanschauung für seine wesentlichste Aufgabe hielt.
Wie bekannt, hat Hegel alle philosophischen Systeme als Spiegelungen bestimmter nationaler und epochaler Situationen verstanden. Die eben geschilderten, geschichtsphilosophischen Anschauungen der russischen DenkerundPolitiker geben Hegel durchaus recht: Sie sind in der Tat getreue Spiegelungen der Grundtendenzen und Grundleistungen der russischen Kultur des 19. Jahrhunderts, deren charakteristisches Merkmal die Verwurzelung im ganzheitlichen Bewußtsein und damit auch schon die Ablehnung der eigenständigen und eigengesetzlichen, d. h. wert-autonomen Kulturgebildc ist.
Auf die Kunst angewandt bedeutet dieses die Bekämpfung der für Europa so bedeutend gewordenen Lehre Victor Cosins von der 1 art pour 1 art. In der Tat hat die russische Kunst niemals im Sinne der Schillerschen Theorie gespielt, wie sie auch nie mit Kant einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck gedient hat. Sie hat immer im Schweiße ihres Angesichtes gearbeitet und ihre Hauptaufgabe in der besseren Gestaltung des Lebens gesucht. Die großen russischen Schriftsteller Dostojewskij, Gogol und Tolstoi sind die beredsten Zeugen dafür.
In seiner Erzählung „Die Wirtin“ läßt Dostojewskij seinen geistigen Zwillingsbruder bekennen, daß sein eigentliches Interesse der Religion gehört. Tolstoi sagt sich von seiner großen Kunst los, weil er es für ungerecht hält, sich vom Volke ernähren und bekleiden, beheizen und beleuchten zu lassen, ihm aber als Gegengabe nur Romane anzubieten, mit denen es nichts anfangen kann. Unfähig, die von ihm verfratzte Welt durch die Vision eines positiven Antlitzes zu überstrahlen, verbrennt Gogol den zweiten Band seiner „Toten Seelen“ und sieht die Erfüllung seines Schaffens in seinen christlich-erbaulichen Briefen.
Neben der christlichen Thematik klingt in dem russischen Schrifttum seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht minder stark das Thema der politischen Freiheit. Es wird erstmalig von dem zum Tode verurteilten Radisschew in seiner „Reise von Petersburg nach Moskau“ angeschlagen. Es beherrscht die „Aufzeichnungen des Jägers“ von Turgeniew, wie auch seine großen Romane „Väter und Söhne“, „Am Vorabend“ und „Neuland“. Eine ätzende Schärfe erhält es in den Schöpfungen des Satyrikers Saltykow.
Wesentliches Kampfmittel gegen die Reaktion Weil die Kunst sich so früh und eifrig für die Verteidigung der politischen Freiheit eingesetzt hat, wurde sie von den Politikern als wesentliches Kampfmittel gegen die Reaktion benutzt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gaben die links eingestellten Parteien sorgfältig ausgearbeitete Lese-Programme heraus, welche bestimmte Bücher empfahlen und vor den anderen, deren Lektüre nur Zeitvergeudung sei, warnten. Typischerweise gehörten zu den Letzteren die Schriften von Pisemski, Leskow und vor allen Dingen Dostojewskij. Wir sehen, daß eine bestimmte Kulturplanung der russischen Revolution auch vor dem Bolschewismus eigen war. So sieht das literarische Erbe aus, welches das 20. Jahrhundert angetreten hat.
Als zentrale Gestalt der Jahrhundertwende ist Maxim Gorki zu nennen. Sein in Rußland emporgeschnellter Ruhm griff bald nach Europa über. Als Maßstab dieses Ruhmes kann die Tatsache hervorgehoben werden, daß in Berlin im Verlauf von zwei Jahren jeden vierten Tag „Das Nachtasyl“ aufgeführt wurde. Als Mitglied der bolschewistischen Partei und der kommunistischen Akademie auf Capri galt Gorki seinen Zeitgenossen als Prophet und Sänger der proletarischen Revolution. Lim ihn herum gruppierte sich eine Anzahl von ideologisch gleichgesinnten Schriftstellern. Die wesentlichsten Autoren des Gorki-Kreises waren: Kuprin, der in seinen drei Romanen „Das Duell", „Der Moloch“ und „Die Gruft“ die zaristische Armee, den kapitalistischen Betrieb und die öffentliche Unmoral der bürgerlichen Welt kritisierte, Schmeljow, der sich mit dem sozialen Roman „Der Kellner" rasch einen Namen gemacht hatte, und Leonid Andrejew, welcher in der Erzählung „Das rote Lachen“ den Krieg und im „Vater Fiweskij“ Gott und Kirche angriff.
Erst nach dem Japanischen Krieg und der Revolution von 1905 lehnte sich die russische Literatur wie auch die bildende Kunst gegen die reichlich provinzielle Gesinnungsbelletristik des Gorki-Kreises auf. Auf einmal weiteten sich die Horizonte. Nietzsche, Ibsen, Strindberg und die französischen Symbolisten wurden beinah über Nacht zur täglichen Lektüre der geistig interessierten russischen Gesellschaft. Es begann eine vom Mäzenatenkapital finanzierte fieberhafte Übersetzungstätig-keit. Das wesentlichste Resultat dieser russischen Renaissance, wie man die Bewegung später getauft hat, war das Entstehen einer Reihe von Dichterschulen, von denen die Schule der Symbolisten als die bedeutendste hervorzuheben ist. Diese Bewegung blieb nicht im Raum der Kunst befangen, sondern verbreitete sich auch über die Weiten des philosophischen Denkens und sogar des täglichen Lebens. Die bedeutendsten Namen der Symbolisten sind Wjatscheslaw Iwanow, Alexander Blok, Andrej Belij, Valery Brüssow.
Die futuristische Bewegung Scharf und aggressiv erhob sich gegen diese beiden Bewegungen eine dritte: Der russische Futurismus (dieses Wort hier nur als Sammelbegriff einer Reihe von verwandten, aber keinesfalls identischen geistigen Strömungen gebraucht). Aus den Reihen der Futuristen sind später einige unbedingt bedeutende Dichter hervorgegangen. So z. B.der militant-proletarische wortmächtige Majakowskij und der Bauernlyriker Sergej Jessin, ein seiner Natur nach vehementes, liedhaftes Talent. Beide Dichter, wie auch die hochbegabte Zwetajewa, die freiwillig nach der Sowjetunion zurückgekehrt ist, haben sich das Leben genommen. Wahre Lyrik, ganz gleich welcher Richtung, und das Sowjetregime scheinen unvereinbar zu sein.
Vor der bolschewistischen Revolution war die futuristische Bewegung noch im Werden und darum in ihren Äußerungen und in ihrem Benehmen besonders radikal. Den Himmel degradierten die Futuristen zum Kuheuter, die Sterne zum Ausschlag. Sie verneinten alle kanonisierte Schönheit, einige von ihnen sogar jedes sinnerfüllte Wort, weil sinnerfüllte Worte die Variabilität der Lautklänge beschränkten. Eine Zeitlang deklamierte man von allen Estraden ein knappes, sinnloses, aber wohlklingendes Gedicht: Belamatokioij. Vieles von diesem Gebahren war als revolutionäre Gestik gedacht, ebenso wie die rot-gelben, knielangen Jacken und schwarzen Zylinder, in denen die Futuristen die verschiedenen literarischen Versammlungen besuchten. In allen Diskussionen bewiesen sie eine bemerkenswerte Fähigkeit, leidenschaftlichen Protest zu erzeugen und sich ihm stur zu widersetzen.
Es versteht sich von selbst, daß die futuristische Bewegung von den links eingestellten, besonders von marxistischen Kritikern als eine Fäulniserscheinung der versinkenden bürgerlichen Gesellschaft verstanden wurde. Und nun kam Lenin an die Macht.
Selbstverständlich erwarteten alle, daß Maxim Gorki und seine Freunde als politische Führer im Reich der Kunst eingesetzt werden würden. Es kam ganz anders. Die Gestaltung der revolutionären Kultur fiel nicht Gorki zu, sondern dem zielbewußten und gewalttätigen Majakowskij, der als Dichter und Maler die beiden Kunstfronten zu revolutionieren hatte. Mutig und konsequent verlangte er von der Sowjetregierung nicht nur die Bourgeoisie, sondern auch ihre Kunstwerke, die Bilder der Raffaels, Michelangelos, Rembrandts und Konsorten an die Wand zu stellen, d. h. aus den Museen herauszuwerfen: Das Proletariat braucht keine realistischen Widerkäuer. Um die Kunst ins Volk zu tragen, bemächtigten sich die Futuristen der Straße. Auf den Märkten und Boulevards spannten sie rote Plakate, auf denen buntbemalte, weit-zerstreute Buchstaben chaotisch tanzten und dadurch die Passanten aufforderten, sie zu tönenden sozialistischen Losungen zu gruppieren. Selbst die Personen-und Güterzüge liefen, bunt ornamentiert und mit schreienden politischen Losungen versehen, weit in die Provinz hinaus, damit jede kleine Stadt, ja, nach Möglichkeit jedes Dorf, durch den vorbei-dampfenden Zug etwas von dem Geist der Revolution erführen.
Irgendwelche Sympathien für moderne Kunst oder gar irgend ein Verständnis für ihr eigentliches Anliegen hatten die Politiker der Partei nicht. Ihre zukünftige kulturelle Planwirtschaft wie auch ihre eigenen Äußerungen von früher beweisen das mit aller Deutlichkeit. Lenins konservativer Geschmack ist durch das Tagebuch seiner Frau vollauf bestätigt. Die Futuristen erhielten die Macht keinesfalls darum, weil die Partei gegen die alte Kunst war, sondern nur darum, weil sie auf allen Gebieten des Lebens die Vernichtung des Alten wollten, selbst des geliebten Alten. Dieser Vernichtungsrausch der russischen Revolution hängt weniger mit der rationalistischen Soziologie Karl Marx'« zusammen als mit der Revolutionsmystik Michel Bakunins. Sein berühmter Satz: „Audi die Lust an der Zerstörung ist eine wahrhaft sdiöpferisdte Lust“ war vielen Parteikommunisten eine emotionale Selbstverständlichkeit. Nachdem die Futuristen die ihnen zugefallene Aufgabe mit Schwung und Erfolg gelöst hatten, wurden sie von der Regierung zurückgerufen. Die Naturalisten wurden ihnen gleichgestellt. Nun bekamen auch sie, was in der Zeit, als der Hunger herrschte, sehr wichtig war, Deputate, d. h. geringe Zuwendungen von Nahrungsmitteln und Tabak, worauf sie bis dahin verzichten mußten.
Die Kunst der Bourgeoisie war zerstört, die Künstler desorientiert, nun mußte die originäre proletarische Kunst aufgebaut werden. Zu diesem Zweck rief man Institute für proletarische Kultur, die sogenannten Proletkulte, ins Leben. Die bedeutendsten Dichter aller Richtungen wurden zu Lehrern berufen. Der Auftrag für sie lautete: Die proletarische Jugend in alle Feinheiten der Dichttechnik einzuführen. Dieser Auftrag, der gegen das oberste Gesetz jeder Kunst, die Einheit von Form und Inhalt verstieß, erwies sich alsbald als völlig undurchführbar. Die Partei merkte sofort, daß die von ihr angestellten Lehrer, unter denen namhafte’Dichter des Symbolismus sich befanden, die proletarische Jugend nicht nur rein formal beeinflußten, sondern auch als Menschen und Dichter. Das konnte natürlich nicht geduldet werden. Die Lehrer wurden entlassen und die Schüler in den Bürgerkrieg geschickt, um ihre proletarischen Empfindungen und Ideen zu vertiefen. Die Zurückgekehrten gruppierten sich um eine klassenbewußte Zeitschrift „Die Schmiede“, konnten aber keine „reine“ Linie finden. Daraus ergab sich für die Partei die Notwendigkeit einer strafferen Überwachung der Kunst. So entstand das ideologisch-
radikale Blatt „Auf dem Posten“. Nun wurde von den Dichtern nicht nur verlangt, das der Partei Schädliche zu verschweigen, sondern überzeugende Worte für das zu finden, was der Partei gerade in diesem Augenblick zugute kommt. Den eigentlichen Sinn dieser Forderung hat später Stalin mit seiner Definition der Künstler als der Ingenieure der Seele erläutert. Die Künstler hätten nicht nur das bereits gebaute Leben zu schildern, sondern es selber zu bauen. Genau gesehen war das eigent-
lich eine völlige Umkehrung der marxistischen These von der Wirtschaft als der Kulturbasis und der geistigen Kultur als einem Überbau. 1922-1932 — die freiesten Jahre Nun mußten die Schöpfer der geistigen Kultur die Basis für den wirtschaftlich-politischen Aufbau errichten. Diese neue Aufgabe hätte sich verheerend ausgewirkt, wenn nicht zwei Jahre zuvor in der Wirtschaft die sogenannte „Neue ökonomische Politik“ eingeführt worden wäre. Der Geist der Liberalisierung, dem diese Politik entgegenkam, brachte es mit sich, daß auch in dem Verlagswesen eine bestimmte Lockerung eintrat. Das Monopol der Staatsverlage wurde aufgehoben. Es wurden einige Privatverlage zugelassen, die das Recht erhielten, ohne Vorzensur Bücher zu drucken, freilich mit dem Risiko, daß sie sofort eingezogen würden, falls sie Staatsfeindliches brächten. Diesem Umstand verdankt Sowjetrußland das Entstehen der Literatur der sogenannten „Weggenossen “, die in bezug auf die eigentlichen Kunstleistungen wie auch im Hinblick auf die ästhetischen Theorien keinesfalls einheitlich und gleichwertig war. Ihre bedeutendsten Vertreter waren die Serapions-Brüder (diese Bezeichnung kommt vom Einsiedler Serapion aus den Erzählungen von E. T. A. Hoffmann). Diese Serapions-Brüder verteidigten die völlige Selbständigkeit der Kunst und die Freiheit des Schriftstellers. Sie verneinten offen und mutig jede Beziehung der Kunst zur Ideologie. Sie waren ausgesprochene Anhänger des Formalismus. Sie verlangten von der Kunst nichts, als daß der Ton nicht falsch klänge und daß jedes Wort glaubwürdig sei, unabhängig davon, was es aussagt. Sie waren vielleicht die ersten bewußten und prinzipiellen Vertreter des 1‘part pour Tart. Auch liebten sie in Abwehr der russischen Gesinnungskunst die ausländischen Schriftsteller. Ihrer Meinung nach war ihr Patron E. T. A.
Hoffmann ein ebenso bedeutender Schriftsteller wie Tolstoi. Stevenson mit seinen Meeresromanen war ihnen ebenfalls nicht weniger lieb und bedeutend als Dostojewskij. Die ersten Namen dieser Richtung sind:
Fedin, Swjeswolod, Iwanow, Tichonow, Schklowskij.
Eine andere Art von Weggenossen vertraten Leonid Leonow und einige ihm gleichgesinnte Geister. Sie bejahten die Revolution aber nur in demselben Sinne, wie dies die großen Symbolisten Bjelij und Blok getan haben, nicht als ein politisches oder wirtschaftliches, sondern als ein religiöses Ereignis, das sie vor allen Dingen in den Seelen der einzelnen Menschen zu begreifen und zu schildern suchten. — Diese Haltung genügte den liberal eingestellten Parteikritikem natürlich nicht. Man tadelte an Leonows Werken, daß er immer nur das Leiden und Werden des neuen russischen Menschen schildert, nicht aber das Glück, welches die Revolution den kommenden Generationen verspricht. Ganz unannehmbar erschien selbst den nachsichtigsten Kritikern das Erscheinen von Teufeln in den Erzählungen Leonows, und zwar nicht in Form einer Metapher, sondern als ein wirkliches Hirngespinst, was einen sehr schlechten, reaktionären Eindruck macht. In der Tat spielt der leibhaftige Teufel bei dem jungen Leonow keine unwesentliche Rolle, was uns wiederum an Bakunin erinnert, der ja den biblischen Satan zu einem Modell des wahren Revolutionärs erklärt hat, weil er als erster den Kampf gegen Gott erklärt, der den Menschen zu seinem Sklaven erniedrigen wollte.
Die zehn Jahre von der Erlaubnis der Privatverlage an bis zum ersten Schriftstellerkongreß im April 1932 waren die freiesten und darum auch die produktivsten im Schaffen der russischen Prosaiker und Dichter. Selbsverständlich hat die Partei auch in dieser Zeit ihre Grundüberzeugung: die Literatur sei im Dienste der Politik von Staats wegen einzusetzen, keinen Augenblick außer Acht zu lassen. Aber sie lebte noch der Hoffnung, dieses auch ohne Anwendung direkter Gewaltmaßnahmen zu erreichen. Die offizielle Losung lautete damals: „Keinen Augenblick das Prinzip des Kommunismus aufgeben, aber die Schriftsteller — vor allem die Weggenossen — so zu behandeln, daß ihnen der Übergang zum Kommunismus als möglich erscheine“. Diese abwartende Taktik machte den Schriftstellern den Versuch möglich, ihrem Schaffen eine staatsfeme und in Einzelfällen sogar staatsfeindliche Note zu geben.
Um die Frage nach der Funktion der Kunst in der Sowjetunion, die ich zu klären habe, richtig zu beantworten, muß man immer an die Zweigleisigkeit dieser Funktion denken: Für Staat und Politik bestand das Wesen dieser Funktion in der Verwandlung der schöpferischen Persönlichkeit entweder in einen kommunistischen Baumeister oder einem politischen Baustein des Zukunftsstaates. In Fällen, wo dies gelang, entstand selbstverständlich niemals Kunst, wohl aber eine zielbewußt aus-
gerichtete und manchmal sogar klug und geschickt gearbeitete Agitationsmakulatur.
In Gegensatz dazu sahen verantwortungsvolle Menschen unter den Sowjetschriftstellern die Funktion der Kunst in der Verteidigung des Menschen gegen Partei-und Staatsideologie. Im Kampf der von Staats wegen unterdrückten aber nach Freiheit dürstenden Literatur gegen die staatsbefohlenen Agitationsmakulatur besteht die Tragödie des russischen Schrifttums, deren blutige Spuren sich durch die bedeutendsten Werke russischer Schriftsteller sichtbar ziehen. Denn die Dinge liegen nicht so, daß einerseits Makulatur und andererseits Kunst produziert wird, sondern so, daß jeder nicht absolut linientreue Künstler gegen sein Gewissen eine kommunistische Tarnung in sein Werk aufnehmen muß, um sein persönliches künstlerisches Anliegen seinen Lesern zu vermitteln.
Das Lesen der Sowjetliteratur bedarf darum besonders aufmerksamer Augen, wenn es zu einer gerechten Bewertung kommen soll.
Jähes Ende der Vielgestaltigkeit Der erste Schriftstellerkongreß im Jahre 1932 setzte der Vielgestaltigkeit des sowjetischen Schaffens ein jähes Ende. Die natürlich nur sehr bescheidene Freiheit der Meinungsäußerungen wurde brüsk verboten und durch die von Staats wegen richtig nur empfohlene, sondern streng befohlene Theorie des sozialistischen Realismus ersetzt. Organisatorisch bedeutete dies die Auflösung alller Schriftstellerorganisationen und die Gründung eines allumfassenden Verbandes sowjetischer Schriftsteller im Rahmen der kommunistischen Partei. Begründet wurde diese Maßnahme durch eine inzwischen entstandene neue sozialpolitische und wirtschaftliche Situation, durch die fortgeschrittene Angleichung der Menschen in der Sowjetunion, durch das Hinschwinden der Klassengegensätze und schließlich durch die notwendig gewordene Konzentration aller Kräfte auf den Fünf-Jahres-Plan, der nunmehr anzulaufen hätte.
Die Konzeption des sozialistischen Realismus vertrat auf dem Kongreß als Sprecher der Regierung der zukünftige Gauleiter von Leningrad Chdanow. Er begann seine Rede mit einem Angriff gegen die Literatur des Westens als einer ideenlosen Belletristik für Diebe, Detektive, Dirnen und Gauner und stellte ihr die bewußt tendenziöse, weil von Ideen erfüllte Literatur Sowjetrußlands gegenüber, die, von Ingenieuren der Seele planmäßig geleitet, das erhoffte Gebilde der klassenlosen Gesellschaft opfermutig aufbaut.
Der wesentlichste, oft selbst von russischen Theoretikern und Kritikern übersehene Zug des sozialistischen Realismus besteht darin, daß er im Unterschied zum Naturalismus alter Schule die Schilderung des Menschen, so wie er leibt und lebt, als bürgerlich verwirft und an den Sowjetschriftsteller die Forderung stellt, seine Darstellung von Menschen und Ereignissen bewußt auf die Zukunft zu beziehen, das heißt, die Menschen und ihre Arbeit in jener Vollendung zu zeichnen, die sie erst im Stadium des verwirklichten Sozialismus erreichen werden. In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant zu sehen, daß Chdanow wohl die utopische Romantik, nicht aber auch die revolutionäre verneint.
Schürung des nationalen Bewußtseins Jede Gestaltung der Zukunft kann immer nur von der Position der Gegenwart unternommen werden. Ihre neuen politischen Aufgaben er-wuchsen der russischen Literatur aus der Angst der Sowjets, daß Hitler die kommunistische Welt angreifen würde. Nun galt es, das russische nationale Bewußtsein zu schüren und den Haß gegen jeden Angreifer zu entflammen. Einiges war für diese Politik schon vorbereitet. Man darf nicht übersehen, daß ein gewisses Abrücken vom Leninschen Internatio. alismus bereits in der Stalinschen These lag, man könnte die neue Welt auch ohne lie Mitarbeit der proletarischen Massen anderer Länder aufbauen. Dieses läßt sich auch im Rahmen eines einzigen Landes verwirklichen. Wenn ihr, so könnte man Stalins imaginäre Ansprache an die sozialistischen Parteien des Westens formulieren, nicht den Mut aufbringt, im Geiste der internationalen Solidarität der bürgerlichen Welt den Kommunismus aufzuzwingen, so wird Sowjetrußland diese große Tat aus eigener Kraft und aus eigenem Glauben vollbringen. Was die internationale Arbeitergemeinschaft tun sollte, wird nun von der roten Armee getan werden.
Angesichts der nahenden Gefahr des Hitlerschen Kreuzzugs gegen das rote Moskau, der Stalin durch das Bündnis mit dem deutschen Führer vergebens zu entgehen versuchte, kam es in Sowjetrußland zu einer einschneidenden Wandlung in der gesamten Kulturpolitik. Im Januar 1934 begann eine leidenschaftliche Attacke auf den inzwischen verstorbenen Vertreter der marxistischen Geschichtsschreibung Pokrowskij. Ihm wurde vorgeworfen, seine Geschichte sei nichts anderes als eine in die Vergangenheit projizierte Tagespolitik. Die von ihm herausgegebenen Schulbücher der Geschichte wurden durch neue ersetzt, in welchen die historischen Leistungen der Armee und der Kirche für die Verteidigung des Vaterlandes hervorgehoben wurden. Auf dem Theater erschienen patriotische Werke. In der Oper von Glinka „Das Leben für den Zaren“ wurde wieder die nationale Hymne gesungen; in dem großen historischen, prunktvoll aufgezogenen Film „Alexander Newskij" spielten die im Jahre 1240 vom russischen Fürsten besiegten Schweden ganz deutlich die Rolle der Hitlerschergen, die man erwartete.
Nun kam Hitlers Angriff gegen Rußland und mit ihm der laute Ruf der Partei: Alle Schriftsteller sofort an die Front. An die Schriftsteller und Dichter erging die gut formulierte Forderung: „Keine wilitärisdie, sondern eine militante Literatur, kein Besdtreiben von Kriegsoperationen, sondern ein Kampf mit der Feder gegen den Feind“. Die Schriftsteller folgten dem Ruf. Der lange Jahre hindurch niedergehaltene Patriotismus war glücklich, aus der Tiefe der Brust aufatmen zu dürfen. Frei und leicht war es aber den meisten Schriftstellern doch nicht zumute. Denn für die meisten war das Glück, ihr Vaterland verteidigen zu dürfen, durch die Notwendigkeit getrübt, es unter Stalin tun zu müssen. Diese Gebrochenheit des Patriotismus merkt man vielen Romanen als ihre künstlerische Unvollkommenheit an.
Mit dem Patriotismus erfuhr auch die Kirche ihre Anerkennung und Rechtfertigung. Es ging nicht anders, weil für das Bewußtsein der russischen bäuerlichen Massen Mütterchen Rußland von der Mutterkirche nicht zu trennen war. So öffnete die Literatur ihre Seiten den auf ihre Söhne und Männer wartenden und betenden Müttern und Frauen, für Friedhofs-und Kirchenschilderungen.
Es kam kein Frühling Kaum war aber der Krieg siegreich beendet, als schlagartig die Kritik der Partei an der Literatur einsetzte. Sie erstreckte sich sogar auf die während des Krieges über alle Maßen gelobten Schriftsteller. Der Generaltenor dieser Kritik war: die Schriftsteller hätten die ausschlaggebende Rolle der Partei nicht genügend gesehen und nicht lebendig genug ge-
schildert. Dieser Fehler mußte sofort ausgemerzt werden, damit die Warheit allen sichtbar werde. In der Praxis bedeutet das den Befehl, die weiteren Auflagen der Kriegsromane umzuarbeiten, damit alle sähen: — nicht die Generale, sondern das Zentralkomitee der Partei hat die deutschen Eindringlinge zurückgeschlagen und Rußland gerettet. Nur als ein besonders krasser Fall soll hier die Forderung erwähnt werden, die an den besonders linientreuen Fadejew, den jahrelangen Vorsitzenden des Schriftsteller-Verbandes, gestellt wurde, seinen Roman, „Die jung Garde“, der während des Krieges von der Parteipresse jubelnd begrüßt war, zeitgemäß umzuarbeiten. Fadejew erklärte sich mit der Verstümmelung seines Werkes einverstanden. Er erhielt dafür den Leninorden und die Aufforderung, bei weiteren Auflagen weitere Änderungen in dem gleichen Sinne vorzunehmen. Dieses ist kein Einzelfall, sondern für die Zeit eine allgemeine Regel gewesen.
Mit Stalins Tod schien zunächst eine neue Aera eintreten zu wollen. Die Diskussion auf dem zweiten Kongreß der Schriftsteller im Dezember 1954, in Moskau einberufen, verlief viel ungezwungener als es beim ersten der Fall war. Schdanows Theorie des sozialistischen Realismus wurde natürlich in Ehren gehalten. Niemand wagte sie abzulehnen, geschweige denn anzugreifen, doch stand sie nicht im Zentrum der Diskussionen. Sie wurde schweigend und achtungsvoll in die Ferne gerückt, wo sie als drohende Wolke lasten blieb. Die rege Auseinandersetzung des Kongresses drehte sich um zwei Probleme: Um die Aufrichtigkeit der Sowjetschriftsteller in ihrem Verhalten zu Staat und Kunst und dann im Zusammenhang mit Ehrenburgs Roman „Das Tauwetter“ um die Möglichkeit eines Frühlingseinbruches in das russische Leben und Schaffen. Die entscheidende, im Jahre 1954 alle Teilnehmer des Kongresses beunruhigende Frage war die, ob der Frühling, der eingetreten zu sein schien, sich lange halten und den Sommer nach sich ziehen, oder ob er sich als kurzes Lächeln des Winterfrostes erweisen wird. Die damals unlösbare Frage ist heute als gelöst zu betrachten: Der Fall Pasternak und der Verlauf des dritten Kongresses im Mai d. J. zwingen zu einer eindeutig negativen Beantwortung.
Die Tragödie, die sich im Zusammenhang mit der Verleihung des Nobelpreises abgespielt hat, ist so bekannt, daß ihre genauere Analyse sich erübrigt. Mit einer nicht zu überbietenden polemischen Härte und einer absoluten künstlerischen Blindheit haben die Sowjets ihre These, die Kunst sei eine Magd der Politik vor der ganzen Welt vertreten.
Der dritte Schriftstellerkongreß hat diese Haltung nicht nur stillschweigend hingenommen und gehorsam bejaht, sondern in einer Reihe glatt durchdachter, gut formulierter und in einzelnen Fällen sogar pathetisch vorgetragener Referate seine Mitglieder zum freibekannten Kredo des russischen Künstlertums erhoben.
Natürlich war das nicht von ungefähr geschehen. Einige Tage vor Beginn des Kongresses wurde der Sieg der Parteimeinung mit schwerem Beschuß vorbereitet. Einen großen Einfluß übte selbstverständlich auch die beim Kongreß gehaltene Rede von Chruschtschow aus. Sie war vor allen den wirtschaftlichen Problemen geweiht, hatte aber auch einen Passus über die Pflichten des Schriftstellers.
Am Vorabend des Kongresses formulierte das Sowjetradio in einer speziell dem Kongreß gewidmeten Ansprache den festen Standpunkt der Regierung. Dort hieß es: „Die Arbeit des Schriftstellers wird nur dann fruchtbar sein, wenn er in den ersten Reihen für den 7-Jahres-Plan kämpfen wird. Nur in dieser Haltung wird es ihm gelingen, ein wirklich inspiriertes Werk zu schaffen, das des heldischen russischen Nölkes würdig ist, des unermüdlichen Erbauers der neuen Welt, des flammenden Vorkämpfers für die lichte Zukunft der Menschheit“. Sehr ähnliche Gedanken brachte in seiner Ansprache Chruschtschow: „Die Arbeitet der Literatur, des Theaters, des Kinos, der Musik, der Bildhauerei und Malerei sind dazu berufen, der Partei und dem Staate in dem großen Werk der Erziehung der Arbeiterschaft und vor allem in der Propagierung der kommunistischen Partei im Rahmen des guten ästhetischen Geschmackes zu helfen“.
Der Kongreß schloß mit dem feierlichen Gelübde der versammelten Schriftsteller: „Wir Sowjetschriftsteller, die versdüedenen Nationen angehören, aber doch eine gemeinsame Heimat haben, geloben es der Partei, alle unsere Fähigkeiten und all unsere Erfahrung im Aufbau des Sozialismus einzusetzen“.
Mit der Resolution war das Tauwetter zu Ende. Selbst über die kleinsten Pfützen des lebendigen Wassers legte sich Glatteis, dessen Betreten große Gefahren in sich schloß. Dieses bedeutet aber keinesfalls, daß auch in den Seelen der Schriftsteller Frost und Winter einzogen, wie es die einstimmig angenommene Resolution vorzutäuschen sucht Im Gegenteil: Wir haben viele Anzeichen, daß die geistige Revolution in Sowjetrußland sich weitere Wege bahnt. Ein genaues Lesen der Sowjetlyrik und auch der Sowjetbelletristik scheinen dies zu beweisen.
Man weiß: Gottes Mühlen mahlen langsam, dafür aber auch ohne Unterlaß.