Politik und Ethik — ein Grundproblem seit den Geburtswehen der Neuzeit. Immer eifriger diskutiert ist es schließlich am „Ende der Neuzeit“ zu einer Aktualität emporgewachsen, allein schon im Zeichen der Atomwaffen, die jedermann in ihren Bann zieht. Unablässig wird versucht, das Verhältnis des ethisch guten Handelns zu dem politisch zweckmäßigen zu klären, und so mögen denn auch die folgenden kargen Bemerkungen zu diesem gewaltigen Thema hingenommen werden als Versuch durch Pointierung des Wesentlichen Ordnung zu schaffen in dem Durcheinander von Fakten, Gedanken und Gefühlen.
Politik? Sie hat es zu tun mit dem Staate. Aber was ist der Staat? Schon das ist so leicht nicht auszusagen. Nicht fortzudenkende Voraussetzung menschlichen Daseins trägt er doch selbst einen Januskopf mit zwei entgegengesetzt blickenden Gesichtern, ist er Zentaur von Geist-und Naturwesen, ganz verschieden deutbar, je nachdem die Deutung ausgeht von seiner äußeren Erscheinung oder seiner inneren.
Hier, im Innern, ist er Schöpfer und Bewahrer von friedlicher Ordnung, von Recht und Gesetz: von Gesittung durchaus. Dort aber, nach Außen zu, ist er Kämpfer mit Rivalen um Dasein und Mehrsein, ist er Raubtier, das friedlicher Gesittung immer wieder die Zähne seiner ultima ratio entgegenfletscht.
Und dennoch: was bindet diese Zweiheit zur Einheit? Es ist das Monopol der Gewalt letztlich, das unter allen menschlichen Gruppierungen einzig ihn auszeichnet, ob er es nun nach außen mit militärischen Mitteln wahrnimmt oder mit polizeilichen im Innern. So hat es uns Max Weber formuliert. So hat es eben noch die Hessische Synode wiederholt, als sie erklärte, der Staat habe die Aufgabe unter Ausübung von Gewalt für Recht (im Innern) und Frieden (nach Außen) zu sorgen. In der Tat, so verschieden Staaten ausgesehen haben und heute aussehen — keiner der dieses Monopol nicht besäße. Gewalt auszuüben aber heißt Leben einsetzen und einfordern: nur Menschen, die dazu bereit sind im Dienste irgendeiner gemeinsamen Existenz, bilden einen Staat. Mangelt es an ihnen, so geht jeder Staat zugrunde.
Aber ist dieser deswegen nur Gewalt und nur aus ihr hervorgehende Macht? Gefährliche Simplifizierung! Gehören doch zum Staate hinzu auch die wechselnden Motive, die seine Bürger dazu vermögen ihr Leben zu verpfänden — ob diese Motive nun materieller Art sind oder geistiger oder aus beiden gemischt. Genug wenn sie eine solche Intensität erreichen, daß sie jene Bereitschaft zum Letzten hervorbringen, so daß also wieder einmal Quantität in Qualität umschlägt. Ein Bild mag das veranschaulichen: es entstehen Eis-Kristalle, wenn die Temperatur unter einen bestimmten Grad hinabsinkend den flüssigen Aggregatzustand in den festen verwandelt. Beides wird dabei erfordert: eine Substanz, die sich verwandle, und eine bestimmte Temperatur, die diese Verwandlung vornehme. Das gleiche gilt für die Entstehung des Staates: ein bestimmtes Interesse einer Menschengruppe wird erfordert wie eine bestimmte Intensität ihres Willens, dieses Interesse wahrzunehmen. Form und Inhalt der staatlichen Energien sind also gar nicht zu sondern.
Aber welche Rolle fällt dabei der Ethik zu? Wir sagten es bereits: eine prinzipiell verschiedene in der äußeren und in der inneren Politik. Führen wir diesen Satz nun noch ein wenig des weiteren aus.
In der äußeren Politik, so will es uns nach Destillierung historischer Erfahrungen erscheinen, bildet Ethik keineswegs einen notwendigen Bestandteil des zwischenstaatlichen Mit-und Gegeneinanders. Hier herrscht vielmehr im Grunde amoralische Zweckmäßigkeit. Mögen noch so sublime sittliche Ideale jene Bereitschaft zur ultima ratio hervorbringen — einmal hervorgebracht folgt die Gewalt ihrem eigenen Gesetze, nämlich ganz einfach zu siegen mit allen Mitteln! Ja man mag in der Wahl dieser Mittel nur umso unbedenklicher sein, je mehr diese durch einen idealen Zweck geheiligt werden. Alle Zusammenstöße von „Kulturvölkern“ und „Barbaren“, alle Religions-und Revolutionskriege wissen davon zu berichten. Nadi dem Siege sollen Ideale zum Zuge kommen, im Bereiche des Besiegten, nicht während des Kampfes mit Rivalen! Es geht zu wie bei einer Wassermühle. Von den verschiedensten Seiten können die Wasser kommen, die sie antreiben. Aber einmal in Bewegung gesetzt bietet ihr Mechanismus immer das gleiche Bild.
Freilich bedarf dieser einfache Satz einer komplizierenden Einschränkung, aber vielleicht doch nur einer scheinbaren. Findet nämlich der außenpolitische Kampf auf dem gemeinsamen Boden derselben Grundüberzeugungen statt, sozusagen als Familienzwist zwischen Angehörigen desselben Glaubens, derselben Kultur, derselben Nation usw., dann wird sich sittliche Bändigung des Kampfes sehr wohl ereignen: dann wird das Völkerrecht zum Zuge kommen, dem sich beide Parteien beugen. Aber ist deswegen unsere These in Frage gestellt? Diese Bändigung der amoralischen Gewalt kann ja auch im Rahmen bloßer amoralischer Zweckmäßigkeit interpretiert werden. Müßte sich doch eine Verletzung gemeinsamer sittlicher Vorstellungen zum Nachteile desjenigen auswirken, der sie sich herausnimmt, müßte sie doch etwa die Gewissen in den eigenen Reihen verwirren, dem Gegner aber das Argument der höheren Sittlichkeit zuspielen. So gebietet es bereits die bloße Zweckmäßigkeit, der eigenen Sache ethische Dignität zu sichern und lieber auf anrüchige Mittel zu verzichten. Immer jedoch einen beiden Parteien gemeinsamen mmeinender Bürger mit absolut sittlichen Argumenten dem eigenen Staate in den kämpfenden Arm zu fallen zum Vorteile des Gegners ausschlagen, dem entsprechende Rücksichten fernliegen, damit schließlich etwa zum Vorteil der absolut unsittlichen Sache, während man der höchsten Sittlichkeit zu dienen vermeint. So kann einseitiger Pazifismus die andere Seite gerade zum Kriege ermutigen, zum Gebrauch eben der Waf-fen, auf die man selbst verzichtet hat. Ein solches Verhalten ist im Rahmen der Politik nicht mehr zu verantworten; es dient nicht mehr der Versittlichung des Staates, sondern seiner Zerstörung! Ob es zu verantworten ist im Rahmen einer rigorosen persönlichen Ethik, das ist eine Fiage an das persönliche Gewissen, dem hier die Wahl zwischen zwei Übeln zufällt wie oft genug.
Herrschaft der Staatsraison innen und außen
Während also in der Außenpolitik die Ethik nicht in den eigentlichen Kern der Dinge eindringt sieht es zunächst auf dem Gebiete der InnenPolitik geradezu umgekehrt aus. Ist doch gerade ihr Kern undenkbar ohne Ethik! Wenn freilich auch hier das staatliche Monopol der Gewaltanwendung sich auswirkt, so eben nicht im Dienst der amoralischen Kampfgesinnung, sondern im Dienste von Recht und Gesetz. Unauflöslicher Widerspruch? Keineswegs! Denn die für die Innenpolitik wesentliche Ethik bezieht sich ja nur auf den eigenen Staat! Sie regelt das Handeln der Staatsbürger in der Weise, daß der eigene Staat dabei hinreichend innere Kraft gewinnt, um seine kämpferische Rolle nach außen gegen andere Staaten durchzuspielen. Sie regelt den Frieden im Innern gerade, damit nach außen Krieg möglich wird. Hier Bewahrung von Recht und Gesetz, dort ein sich Durchsetzen in der Sphäre der Rechtlosigkeit. Aber hier wie dort herrscht dieselbe rationale Zweckmäßigkeit im Sinne des Staates, herrscht dieselbe „Staatsraison“, zu der die Staatsethik ihrem Wesen nach nie in Konflikt geraten kann. Wohl sind also hier und dort die Funktionen des Staates verschieden, aber gemeinsam ist das Ziel, auf das sie genauestens abgestimmt sind. Die Staatsethik erfüllt die Bürger mit dem Gefühl sittlichen Zusammenhaltes, der Treue, der Kameradschaft, des Gehorsams, der Vaterlandsliebe — aber eben als unentbehrlicher Voraussetzungen kraftvoller Außenpolitik. Sie erzieht zu jenem Pflichtgefühl, das alle staatsnotwendigen Leistungen aller Bürger zu durchwalten hat, vor allem aber jene oberste, die des Wehrdienstes. Vermag sie das nicht mehr, so schmilzt das Kristall dahin, die Auflösung setzt ein. Die bürgerliche Staatsethik besagt also noch nichts über das ethische Verhalten des Staates im Großen und unter seinesgleichen. Nietzsche nennt einmal (im „Willen zur Macht“) den Staat „organisierte Unmoral" ; aber um überhaupt zu funktionieren bedürfe er allemal der „Zwischenlegung" jener staatsethischen Tugenden, die wir aufgezählt haben. Selbst eine Räuberbande bedarf ja ihrer — und wie verstand sie Hitler zu pflegen!
Diese pointierten Aufstellungen konnten nur ein einfachstes Gerüst 'errichten, sozusagen ein politisches Skelett aufzeigen, das jedoch in der historischen Wirklichkeit stets umkleidet ist durch vielfach wucherndes ‘Leben der Gesellschaft und des Geistes, auch gänzlich unpolitischen Lehens. Dahinter und darunter aber bleibt dem Tastsinne des Forschers doch immer jenes Skelett wahrnehmbar und am deutlichsten in krisenhaften Spätzeiten, in denen der Staat auf Tod und Leben kämpfend alle Gebiete menschlichen Daseins sich zu unterwerfen strebt, um aus jedem Einzelnen Kraft für sich zu saugen. Die späte Antike hat das ebenso erlebt, wie wir selbst.
Aber dennoch hieße es die Geschichte vergewaltigen, wollte man sie ausschließlich vom Staate und seinem Gewaltmonopole her einer monistischen Betrachtung unterwerfen. Und am wenigsten könnte solches Verfahren der Geschichte des Abendlandes gerecht werden. Es ist ja nicht so, daß im Rahmen unseres Themas der Akzent einseitig auf den ersten Begriff gesetzt werden darf, den der Politik. Es ist auch nicht so, als ob Ethik nur als Staatsethik aufträte. Gerade im Abendlande besitzt sie ein Quellgebiet, das fern ab vom Staate liegt, wenn auch die von dort -entspringenden Gewässer in den Staat eindringen und sich mit der Staatsethik vermengen. Höchst komplizierte Vorgänge! Sie sind nicht im Bilde konzentrischer Kreise um einen einzigen Mittelpunkt aufzufassen, sondern im Bilde einer zweipoligen Elipse variabler Gestalt.
Nicht Monismus kennzeichnet abendländisches Leben sondern Dualismus.
Jene Ethik aber, von der nun zu reden ist und deren Kräfte unserem Thema überhaupt erst eine problematische Spannung verleihen, ist Persönlichkeitsethik, die den Einzelnen unabhängig von seiner Zugehörigkeit zu einem politischen Verbände in Beziehung setzt zu religiösen, metaphysischen, zu transzendenten Vorstellungen und Forderungen. Es ist eine absolute Ethik, während jede Staatsethik, ausgerichtet auf diesen oder jenen besonderen Staat, eine relative bleibt. Gut ist, was dem deutschen Volke, was der kommunistischen Partei nutzt -als den Trägern der deutschen oder russischen Staatsgewalt usw. Es ist eine Ethik persönlicher Freiheit gegenüber allen bloß menschlichen Bedingungen jedoch im Aufblicke zu transzendenten Bindungen einer Freiheit also, die das polare Gegenteil zuchtloser Beliebigkeit bedeutet!
Solche Persönlichkeitsethik tritt mit geschichtsbildender Kraft hervor eben in großen Persönlichkeiten, sagen wir abkürzend: in Sokrates, in Jesus. Lind ihr Durchbruch erfolgt gerade in solchen Spät-Konstellationen, in denen die jeweilige Staatsethik der Zersetzung anheimfällt, in denen die bloß politisch gebundenen religiösen Vorstellungen verschlissen sind, die bislang mit heiligem Herkommen der Staatsethik mystische Ehrwürdigkeit verliehen. Eine solche Konstellation trat in Athen ein nach dem ergebnislosen Hegemonialringen des Peloponessehen Krieges, eine solche trat ein in Rom im Untergange der Republik und sodann im Niedergänge des Kaisertums, eine solche auch in Israel nach der Auflösung der politischen Form des heiligen Jawe-Volkes. Allemal fand sich nunmehr der Einzelne preisgegeben auf Erden und aufgefordert nach oben zu blicken und zugleich in sein Inneres. Allemal suchte er für sich selbst und für alle Einzelnen umher nach einem inneren Gesetz des Handelns. Er wünschte dabei wohl, sei es als Philosoph, sei es als Gläubiger, loyal zu bleiben gegenüber den äußeren Gesetzen. Aber da er sie nicht mehr als das Höchste anerkennen konnte, geriet er dennoch mit ihnen immer wieder in Konflikte, sobald sie von ihm die Anerkennung der politischen Religion des Stadtstaates Athen mit ihren Götterkulten verlangten oder die Anerkennung der politischen Religion des römischen Imperiums mit ihrem Kaiser-Kulte, der bei aller Toleranz der Römer den verschiedensten Religionen gegenüber die religiöse Einheit garantieren sollte. Erst an dieser religiösen Frage also entzündete sich der Konflikt, nicht an der des Wehrdienstes! Sokrates war ein vorbildlicher Soldat und Jesus lehrte: gebt dem Kaiser was des Kaisers ist. Beiden lag es fern den bestehenden Staat zu zerstören und den Sieg seiner Feinde vorzubereiten. Dies sei gesagt nicht um den heutigen Pazifismus abzulehnen, aber um ihm in seiner Besonderheit gerecht zu werden. Wendet er sich doch nicht gegen den kommunistischen Staat und seine Staatsreligion — sondern gegen den demokratischen Staat mit seiner religiösen Toleranz. Fordert er die Masse seiner Anhänger doch nicht zum Martyrium auf, sondern viel eher zur Schonung ihres Lebens. Lind wo er sich auf das Naturrecht beruft, so unter Verleugnung der natürlichen Pflicht es zu verteidigen!
Aber zurück von dieser Abschweifung! Dieses Nebeneinander, Gegeneinander, aber auch Miteinander von zwei prinzipiell gesonderten Ethiken macht zutiefst die spannungsreiche Geschichte des abendländischen Menschen bis zum heutigen Tage aus (wenn wir schon diesen schwankenden Terminus „abendländischen“ soweit fassen dürfen); diese Spannung ist geradezu das Spezifikum unseres Daseins, das sich im Ansatz gewiß auch in anderen historischen Bereichen findet, aber nie in so scharfer Ausprägung!
Sehr verschiedene Stadien nun hat dieser abendländische Dualismus seit seiner Genesis durchlaufen. Aber so lange der Dualismus selbst am Leben bleibt, solange behalten alle jene Stadien für uns lebendige Aktualität, keines, das seines fortwirkenden Wertes beraubt wäre durch nachfolgende: sie sind alle zu Gott, lassen alle Ewiges ahnen, sind nicht eigentlich zu überholen so wenig wie echte Kunstwerke. Indem wir es nun unternehmen die Haupstadien ins Bewußtsein zu rufen, sehen wir uns überhaupt erst der historischen Lebensfülle gegenüber und nicht mehr der chemisch-reinen Politik mit ihrem dürren Machtmonopol.
Das erste Stadium ist das der Märtyrer. Sie erringen ganz persönlich sinen blutigen Sieg über das waffenmächtigste Imperium. Ihr Lebens-einsatz triumphiert über Polizei wie Armee, er zieht eine unerwartete Grenze dem staatlichen Gewaltmonopole, aber ohne jede noch so indirekte Kooperation mit den äußeren Feinden!
Und nun ein zweites Stadium. Im System Konstantins rücken die beiden Pole der Elipse ganz nahe zusammen in Cäsaropapismus der den politischen Behauptungswillen heiligt und also stärkt, und der sich im Ostreich bis zum Falle der Stadt Konstantins in wechselnden Formen erhält — so zwar, daß zumeist der Akzent auf dem staatlichen Pole liegr. Von hier aus zweigt sich der russische Cäsaropapismus ab, um endlich in den Bolschewismus einzumünden. Anders im Westen, dem Abend-lande im engeren Sinne. Hier zerfällt das Imperium in den Stürmen der Völkerwanderung, um nie wieder in alter Würde und Ausdehnung sich zu erheben. Hier wird der Obergriff dem Sacerdotium zuteil und die Kirche, Gesamterbin jeder spätantiken Persönlichkeitsethik, Erzieherin zu ihr hin auch mit den Zuchtmitteln jeden Erziehers, sie überwölbt die verschiedenen Staatsethiken in dem Friedensbereiche des Corpus Christianum. Sie beschneidet die Klauen des sacro egoismo der einzelnen Staaten. Ein gewaltiger Kirchenstaat, ein großes Tibet in statu nacendi? Doch nicht! Besitzt doch die Kirche kein eigenes Monopol der Gewalt. Aber geistig-geistlich führt sie die Kreuzzüge gegen die Ungläubigen an, d. h.den einzigen guten Krieg, den sie anerkennt. Audi dieses Stadium des Dualismus bis zum heutigen Tage von höchster Aktualität. Denn die „freie Welt“ versteht sich ja oft als „Großabendland“, überwölbt durch den gemeinsamen Glauben an den Vorrang der persönlichen Ethik vor der Staatsethik, durch den Glauben, daß der Mensch seine letzte Bestimmung im Dienste Gottes habe und nicht in der Funktion im Räderwerke einer Staatsmaschine. Eden und Eisenhower erklärten einmal feierlich: „Wir sind uns dessen bewußt, daß in diesem Jahre 1956 immer noch der uralte Streit tobt zwischen denen, die da glauben, daß der Mensch Ursprung und Bestimmung in Gott habe, und jenen, die den Menschen behandeln, als sei er nur dazu geschaffen einer Staatsmaschino zu dienen“. Hier lebt Kreuzzugsgeist in Abwehr des globalen Angriffs der Ungläubigen — Heiligung des Machtkampfes durch die höchsten geistigen Prinzipien, also durch den Appell an das persönliche Gewissen, dem der Pazifismus seinen entgegengesetzten Appell gegenüber stellt.
Vom diesseitigen Pessimismus zum diesseitigen Optimismus
Aber eine entgegengerichtete Entwicklung setzt nun im späteren Mittelalter ein und triumphiert in der sogenannten Neuzeit: der so lange beschattete Pol der Staatsethik wird immer heller belichtet! Eine innere Verlagerung der menschlichen Energien liegt zugrunde — vom diesseitigen Pessimismus zum diesseitigen Optimismus, von Introvertierung zur Extravertierung, vom vertikalen zum horizontalen Menschen, von der Methaphysik, zur Physik von der seelischen Vervollkommnung des Einzelnen sub specie aeterni zu der Beherrschung der materiellen Außenwelt durch kollektiv organisierte rationelle Wissenschaft, Technik, Wirtschaft, Politik. Gerade auch durch Politik: ist sie doch mit ihrem Gewaltmonopol das letzte Sammelbecken allen diesseitgen Strebens überhaupt. Ist doch die Politik in der abendländischen Spätzeit das „Schicksal“, wie Napoleon I. feststellte.
Skizzieren wir einige der Stationen, die der abendländische Dualismus im Zeichen dieser neuzeitlichen Pendelschwingung durchlaufen hat und notieren wir vorweg, daß zu Beginn dieser Pendelschwingung zwei sehr verschiedene Bewegungen gleichermaßen eingewirkt haben, Renaissance und Reformation.
Für die Renaissance stehe Machiavelli. Er lebte inmitten des Verfalles jeder mittelalterlichen Ordnung von imperium und sacerdotium, inmitten sich tödlich bekämpfender illegitimer Gewalten. So schrieb er das Exerzierreglement für die amoralische Erringung der Gewalt und formulierte in ihm eine wasserklare monistische Staatsethik, in die er die verbliebenen Reste absoluter Persönlichkeitsethik mit nihilistischem Zynismus einfügte. So hat er im Prinzip den Weg zum totalen Staate freigelegt, wenn auch im Rahmen der damaligen Gesellschaftsordnung, dessen technische Realisierung auch nicht entfernt geahnt werden konnte. Freilich erstarrte die grausige Labilität der italienischen Verhältnisse nach dem Siege Karls V. Aber um so nachhaltiger wirkte Machiavelli allmählich auf das übrige Abendland ein, je mehr sich nämlich auch hier ein kämpferisches Staatssystem mit seinen chaotischen Gegensätzlichkeiten ausformte, so daß schließlich Parallelen großen Maßstabes zu dem kleinen Staatensystem der italienischen Renaissance sich ergaben. Lind gerade unsere deutsche Nation, die Schrittmacherin der fatalen letzten Krisen Europas, gewann seit Friedrich d. Gr.seit Hegel ihr intensives und zweideutiges Verhältnis zu Machiavelli. Um noch zum Zuge zu gelangen wurde die späteste Nation die bedenkenloseste!
Doch lebt in ihr auch die Reformation weiter. Auch diese hat gerade bei uns in paradoxer Weise auf Umwegen die Staatsethik vorangetrie ben, obgleich es zunächst doch gerade um die Rettung der absoluten Ethik aus den Händen einer verweltlichten Geistlichkeit ging. Aber darüber zerbrach ja das einheitliche Gewölbe der katholischen Kirche, das solange die staatlichen Souveränitäten überkuppelt hatte, und Fragmente dieses Gewölbes kamen als Landeskirchen in die Hand unserer Territorialfürsten. Unser protestantisches Fürstentum gewann damit einen neuartigen Cäsaropapismus im Duodezformat, seine Träger wurden gleichsam Kaiser und Papst in einer Person. Es wurden die religiöse und die Staatsethik so eng ineinandergeflochten, daß bisweilen die Erinnerung an Machiavelli wach werden mag. Nur daß von seinem zyni sehen Staatsmonismus bei uns im 16. Jahrhundert noch keine Rede ist. Vielmehr leiteten unsere Fürsten gerade aus ihrer konfessionellen Gläubigkeit die ungeheure Steigerung ihres Willens zur Macht diesseits wie jenseits ihrer Grenzen ab. Als eine heilige Aufgabe empfanden sie es die reine Lehre auszubreiten, freilich ohne eine Zusammenfassung ihrer Landeskirchen in einer protestantischen Gesamtkirche zu dulden, weil sie ihre Souveränität beschattet hätte. Immer aber blieb auch in diesem Cäsaropapismus das Gefühl für den ursprünglichen Dualismus kräftig. Immer noch rechtfertigte das Territorium seine Machtanstrengungen durch die ihm obliegende Sicherung christlicher Humanität. Immer noch hielten sich die Ansprüche des Einzelnen neben denen des Staates. Entsprechendes gilt für die protestantischen Reiche des Nordens, aber auch für die katholische Staatenwelt im Zeichen der Glaubenskämpfe. Wohl behält hier die verstümmelte alte Kirche einen übergeordneten Rang und katholische Landeskirchen im vollen Wortsinne kommen nicht zustande. Aber fortan muß dennoch die ecclesia militans einen hohen Preis für die Hilfe der katholischen Reiche entrichten, die sie einst als ecclesia triumphans kommandiert hatte. Jedoch auch hier keine Auslöschung des alten abendländischen Dualismus!
Lind das blieb auch nach dem Abklingen der Glaubenskämpfe so. Auch im Zeitalter des weltlichen Absolutismus hielt sich der in Jahrhunderten den Menschen anerzogene Dualismus gesinnungsgemäß einigermaßen aufrecht. Lind auch die Aufklärung, die die religiöse Ethik unterminierte, behielt diesen Dualismus in säkularisierter Form bei.
Freilich bedarf diese generelle Charakteristik durchaus einer Differenzierung. Die Entwicklung bietet nämlich ein gründlich verschiedenes Bild, je nachdem sie sich abspielt in den kontinentalen Machtstaaten oder aber in den insularen und halbinsularen „freien“ Staaten. Bei den Machtstaaten freilich weist das Gefälle der Dinge in Richtung immer weiterer Steigerung der Staatsmacht und also auch der Staatsethik. Man denke etwa an Preußen! Auf den angelsächsischen Inseln der alten und der neuen Welt jedoch, im halbinsularen Holland oder Norwegen, auf der Berginsel der Schweiz hat schon die Natur für den Schutz gegen feindliche Nachbarn gesorgt und von der Ausbildung zentralisierter herrschaftlicher Ordnung dispensiert. So bleibt denn hier die Staatsethik eingeengt und das Fortleben der freien Persönlichkeitsethik in freier Gesellschaft gesichert — mochte auch mit dem Fortschreiten der Aufklärung und ihrer optimistischen Weltlichkeit das irdische Glück des Einzelnen wichtiger werden als seine himmlische Seligkeit. Zwar sind diese freien Völker gerade durch die Reformation geprägt worden. Aber diese hat bei ihnen eine ganz andere Wirkung ausgeübt als auf dem Kontinente. Sie hat nicht die Staatsmacht gesteigert, sondern das Verantwortungsgefühl des Einzelnen. Sie kam der inneren Selbständigkeit des Einzelnen zugute und begründete damit auch sein Verlangen nach äußerer politischer Selbständigkeit. Sie unterbaute die genossenschaftliche Staatsauffassung im Gegensatz zur herrschaftlichen des Festlandes, sie stellte dem dortigen Absolutismus von oben her die Selbstverwaltung von unten her gegenüber, schließlich in den Krisen der Autorität der Krone die Revolution der Gesellschaft. Denn ohne religiöse Impulse ist weder der revolutionäre Freiheitskampf der Niederländer zu verstehen noch die große Revolution der Engländer gegen die Stuarts und selbst in dem Freiheitskampfe Nordamerikas klingt das religiöse Moment nach, um sich zugleich mit dem der Aufklärung zu verbinden. Wie auch immer, stets ist es der Einzelne, dessen Heil und Glück als überragendes Ziel gilt, der Staat nur als Mittel zu seiner Erreichung. Zwar kann der Mensch auch durch die kapitalistische Wirtschaft zu einem Mittel herabgewürdigt werden und diese Gefahr drohte ihm am frühesten gerade im insularen Bereiche, wo utilitaristische Wissenschaft und Technik den modernen Großbetrieb vorbereiteten. Aber bedenken wir es wohl: diese Bedrohung im Raume der Wirtschaft verband sich ja nicht mit einer solchen im Raume der Politik. Erst das Zusammenströmen beider Bedrohungen im festländischen Totalitarismus wird die Freiheit des Einzelnen total in Frage stellen können. Bei den Insularen aber blieb die politische Gewalt relativ gefesselt selbst auf demjenigen Gebiete, auf dem sie bei den Kontinentalen sich am erfolgreichsten freisetzte: auf dem Gebiete der Außenpolitik. Auch hier bleibt die insulare Staatsraison durchwaltet von einem charakteristischen Moralismus, der in der öffentlichen Meinung lebendig ist und sich mit Hilfe demokratischer Verfassungen zur Geltung bringt. Mag es dabei auch nicht abgehen ohne Selbstbetrug oder Heuchelei — die spontanen populären Kräfte, auf die die insularen Staaten angewiesen sind, kommen erst dann zum vollen Einsatz, wenn sie von absolut sittlichen Überzeugungen aufgerufen werden. Vorgänge wie die Aufhebung des Ediktes von Nantes, die Guillotinierung Ludwigs XVI., der Liberfall auf „poor little Belgium", die Judenverfolgungen Hitlers haben sehr wesentlich auslösen helfen die spontanen politischen Anstrengungen der Insularen. Natürlich fehlte ihnen nicht das Gefühl für die Interessen ihres Staates. Aber zu diesen Interessen rechneten sie auch ein sittlich würdiges Dasein, und seine Sicherung und Ausbreitung galt als Mission. Ihre calvinistische Prägung will tatkräftig die Welt verchristlichen und demokratisieren und befreien von der bösen festländischen Machtpolitik. In ihr wurzelt insofern ein Kreuzzugsgeist so gut wie im Katholizismus, und diese beiden Geistesströme können sich heute in der Endphase der abendländischen Geschichte gegen den sie beide bedrohenden Antichrist vereinigen. Daß der deutsche Protestantismus an solchem Kreuzzugsgeiste keinen vollen Teil hat, erklärt sich aus unserer Geschichte. In ihr ist ja der religiöse Kampf um die Seele der Nation nie bis zu einem klaren Ergebnis durchgefochten sondern nur durch Waffenstillstände abgeschnitten worden: aus der aufreizenden Gemengelage der Konfessionen züngelt immer wieder ihre alte Rivalität empor, die die Bildung einer gemeinsamen Front erschwert.
Mit dem Rücken zur Wand
Aber kehren wir nun überhaupt wieder zurück zu den festländischen Verhältnissen. Hier hat sich seit dem Schicksalsjahr 1789 jenes alte Gefälle zur Steigerung der Staatsmacht und Staatsethik in ungeheuren Katarakten ausgewirkt, in Katarakten, die unter ihren brausenden Wassermassen den alten abendländischen Dualismus zu zertrümmern drohten: im totalen Staate. Was der Absolutismus des ancien regime noch nicht hatte zuwege bringen wollen oder können, eben das wagte die Tyrannis der festländischen Massendemokratie der französischen Jakobiner und der deutschen Nationalsozialisten. Sie schufen auf dem Boden der alten Absolutismen Machtkonzentrationen, die diese Absolutismen völlig in den Schatten stellten, zumal sie sich immer enger mit der gleichzeitigen industriellen Revolution verbündeten. Der totale Staat leugnete die eigenständige Freiheit des Einzelnen und ihre methaphysisch-religiöse Begründung. Nietzsche bezeichnet es überhaupt als das allgemeine Kennzeichen der modernen Welt, daß der einzelne Mensch in seinen eigenen Augen unglaublich an Würde eingebüßt habe. Es ist das ja nur das konsequente Ergebnis einer Entwicklung zum Wert-Nihilismus hin, in der die kollektive Herrschaft über die Außenwelt mit Hilfe der vermassenden Technik und letztlich des Massenstaates bezahlt wird mit der Aufgabe des alten Ideales, nämlich der Vervollkommnung des Einzelnen sub specie aeterni.
Warum aber konnten diese neuen Absolutionen in Frankreich und Deutschland sich nicht behaupten? Das folgt klärlich aus dem Mechanismus des europäischen Gleichgewichtssystems, wie es die Insularen als Zünglein an der Waage bis 1945 zu regulieren vermochten. Die Siege der Angelsachsen und ihre großen Koalitionen erwiesen sich stets zugleich als Siege des christlichen und aufgeklärten Humanismus über Staatsvergötzung und totalitäre Ideologien. Der politische Ober-griff,der in allen Jahrhunderten des europäischen Staatensystems den Insularen zufiel, bewahrte den abendländischen Menschen vor dem Joche festländischer Staatsomnipotenz! Aber er konnte die geistige Untermauerung solcher Staatsomnipotenz deswegen doch nicht vergessen machen: sie wirkt sich heute nach dem Untergange des europäischen Staatensystemes in einer völlig neuen Konstellation weltweit aus.
Zu dieser geistigen Untermauerung haben Franzosen wie Deutsche wesentliches beigetragen im Zuge ihrer totalitären politischen Ambitionen. Die Franzosen mit Rousseau, mit dem Frühsozialismus, mit Sorel — die Deutschen mit Hegel, mit Karl Marx, mit Nietzsche. Das von ihnen entfachte Feuer glomm aber unter der Asche der politischen Katastrophen der beiden Nationen weiter und konnte seit 194 5 in der außer-abendländischen Welt den um sich fressenden Weltsteppenbrand entzünden helfen, der nun nicht mehr mit der alten methodischen Zielsicherheit von den Abendländern eingedämmt werden kann, die sich so lange im Rahmen des Staatensystems bewährt hatte. Seit 194 5 steht das Abendland in der Defensive mit dem Rücken zur Wand, — in Gefahr sich selbst zu verlieren und alle jene höchsten Ideen seit den Tagen von Jesus und Sokrates, die die Uhrfeder seines eigensten Lebens ausgemacht haben. Welch paradox erschreckendes Schauspiel! Vor unseren Augen werden die ehrwürdigsten außerabendländischen Kulturen wie einst die der Inkas jäh weggewischt von jener Zivilisation, die aus dem Schoße der abendländischen Kultur emporgewachsen ist als eine Art von fanatischer Ketzerei und nunmehr im Rückschläge auch die abendländische Kultur selbst vor die Existenzfrage stellt. Wir begreifen, daß diese Zivilisation als ein Fremdheitserlebnis Russen und Chinesen zu überwältigen und ihrer Identität zu berauben vermag: wird wenigstens der abendländische Mensch Widerstand zu leisten vermögen, eben weil er diese Zivilisation als eigenste Ketzerei und nicht als Fremdheitserlebnis empfindet und Gegenkräfte zu ihrer Bändigung verfügbar machen kann aus der Erbmasse seiner geistigen Überlieferungen? Wieviel von ihnen lebt in den westlichen Massen? Was bedeutet ihnen das persönliche Gewissen als eine methaphysische Instanz? A. Weber sagt einmal, der abendländische Mensch könne sich des totalitären nur erwehren, wenn unsere Massen leidenschaftlich festhielten an der transzendenten Zielsetzung- des Einzelnen. Und der Sozialist Hendrik de Mann beschließt sein aufrüttelndes Buch über „Vermassung und Kulturverfall" mit dem Satze: „Wenn das Schicksal aller auf dem Spiele steht, kommt es darauf an, daß jeder Einzelne das tut, was ihm sein persönliches Gewissen als Pflicht auferlegt, der Rest liegt nicht in unserer Hand.“
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Joseph M. Bochenski: vDie sowjetische Philosophie der Gegenwart"
Ernst Deuerlein: „Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr"
Reinhold Niebuhr: „Die Ironie der amerikanischen Geschichte"
Fedor Stepun: „Funktion der Kunst in der Sowjetunion"
Hermann Weber: „Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht"
Gustav A. Wetter: „Der sowjetische Begriff der Koexistenz"
Heinrich Uhlig: „Hitlers Einwirken auf Planung und Führung des Ostfeldzuges bis Frühjahr 1943"