Die nachfolgende Arbeit wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages dem Februar-Heft 1959 der Zeitschrift „Zeitwende — Die Neue Furche" entnommen.
Die herrschende Ideologie in der Sowjetunion, der Marxismus-Leninismus, und Religion, sei es welcher Art auch immer, sind grundsätzlich unvereinbar. Jeder Kommunist wird diesen Satz bestätigen und jeder Nichtkommunist sollte ihn kennen. Grundsätzlich dürfte es also dort, wo der Marxismus-Leninismus herrscht, überhaupt keine Religion geben. Daß es sie doch gibt, liegt nicht an einer Inkonsequenz der kommunistischen Lehre und auch nicht am fehlenden Willen der Kommunisten, dort, wo sie die Macht haben, ihre Lehre zu verwirklichen, sondern das liegt allein am Widerstand der Menschen, die noch Religion haben, der Christen vor allem, aber nicht nur der Christen.
Wo es aus Gründen, die sehr verschiedener Art sein können, aber bisher niemals etwas mit einem Gesinnungswandel, mit einer Änderung der Lehre zu tun hatten, nicht ratsam erscheint, die zum totalen Sieg führende Strategie unmittelbar und offen anzuwenden, da beschränkt sich die kommunistische Parteiführung in der Sowjetunion wie in den anderen kommunistisch regierten Ländern auf einen taktisch wechselnden Kampf mit beschränkten, zuweilen sogar sehr beschränkten Zielen. Die Religionsverfolgung und Gottlosenbewegung in der Sowjetunion hat ihre Taktik mehrfach gewechselt, ihr strategisches Ziel ist aber stets unverändert gleich geblieben.
Strategie und Taktik von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod
Mit der Machtergreifung der Bolschewiken im November des Jahres 1917 wurden sämtliche antikirchlichen und antireligiösen Ressentiments freigesetzt, die von den ideologischen Ahnen der Revolution im Westen wie in Rußland selbst aufgespeichert worden waren. Ressentiment ist freilich kein zureichender Ausdruck für leidenschaftlichen Haß. Die Theorie stammte von Marx: Religion als Teil des ideologischen Über-baus, als Instrument im Dienst der herrschenden Klasse, als falsche Lehre — weil sie mit dem naturwissenschaftlich-materialistischen Weltbild nicht vereinbar ist, als schädliche Lehre — weil sie Widerstands-willen und Kampfgeist der unterdrückten Klasse lähmt. Der Affekt stammte von den russischen Revolutionären des 19. Jahrhunderts und hatte Wurzeln, die tief in die russische Geschichte zurückreichen; er kann als Reaktion auf die historische Staatshörigkeit der russischen orthodoxen Kirche verstanden werden. Lenin hat beides vereint, die westliche Theorie und den heimischen Affekt; dadurch wurde seine Religionsfeindschaft um vieles radikaler und aggressiver als die von Marx. Lind er hatte nun die Macht zur praktisch-politisdien Konsequenz.
Dreierlei ist für die nachrevolutionäre Entwicklung charakteristisch:
Daß es dem systematischen Zusammenwirken von staatlicher Ausschaltung, Unterdrückung und Verfolgung, von weltanschaulicher Verdrängung und propagandistischer Bekämpfung nicht gelungen ist, die Religion in der Sowjetunion auszurotten, ist ein ganz erstaunliches Faktum. Mit dem Jahre 1931 etwa war ein Höhepunkt erreicht, danach ließ der Schwung des kämpferischen Gottlosentums merklich nach und die sowjetische Staatsführung unter Stalin hatte in den folgenden Jahren offenbar Grund, die Dinge nicht auf die Spitze zu treiben; mit der Stalin-Verfassung von 1936 kamen die Geistlichen sogar wieder in den Genuß der formalen staatsbürgerlichen Rechte.
Ein deutlich sichtbarer Wandel der Taktik trat jedoch erst im zweiten Weltkrieg ein. Die Existensbedrohung der Sowjetunion durch den deutschen Angriff zwang Stalin zum Aufgebot und zur Zusammenfassung aller verfügbaren materiellen und moralischen Abwehrkräfte, auch der religiösen; zumindest hatte man nun andere Sorgen, als offenbar immer noch erhebliche Teile der Bevölkerung durch ideologisch bedingte Schikanen den patriotischen Aufgaben zu entfremden; auch zwang die Rücksicht auf die westlichen Verbündeten zur Mäßigung. Der „Verband der kämpfenden Gottlosen“ wurde aufgelöst, die der Gottlosen-Propaganda dienende, in Massenauflagen erscheinende Presse und Publizistik eingestellt. Die russische orthodoxe Kirche, bis dahin in einem scharf kontrollierten, mühseligen und ständig bergab führenden modus vivendi mit dem Staate, entzog sich den Appell an ihre patriotische Gesinnung nicht und erhielt dafür im Rahmen der bestehenden Gesetze erträglichere äußere Lebensbedingungen. Weit entfernt von der ehemaligen Stellung einer privilegierten Staatskirche wurde sie nun — seit 1943 wieder unter der Leitung eines Patriarchen — zu einer Art tolerierter Staatskirche, die sich auch nach dem Kriege für allerhand politische, nicht zuletzt außenpolitische Zwecke gebrauchen ließ. So kriegsbedingt die taktische Kursänderung gewesen war, der neue, gemäßigtere Kurs wurde auch nach dem Kriege bis zu Stalins Tod beibehalten. Die mit dem Namen Shdanovs verknüpfte radikale stalinistische Kulturpolitik gab sich zwar wünchenswert kämpferisch, aber der Kampf ging gegen andere Gegner.
Der Beschluß der KPdSU vom 10. November 1954
Erst nach dem Tode Stalins gewannen die Dinge wiederum ein etwas anderes Gesicht. Maßgebend ist der Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU vom 10. November 1954. Nun ist der Sinn sowjetischer Standortbestimmungen nicht immer ohne weiteres aus dem Wortlaut der Deklarationen abzulesen, von der Motivierung ganz zu schweigen. So hat z. B.der XX. Parteitag der KPdSU in der Sowjetunion selbst die sogenannte Entstalinisierung nicht etwa ausgelöst, sondern unter Kontrolle gebracht, ganz abgesehen davon, welche Rolle der berühmten Geheimrede Chruschtschows im internen Machtkampf zukam. Nicht unähnlich verhält es sich bei dem genannten November-Beschluß. Formal enthält er kaum anderes als eine Sanktionierung der von Stalin seit 1941 betriebenen Kirchen-und Religionspolitik. Als ob der „Verband der kämpfenden Gottlosen“ erst gestern und nicht schon vor dreizehn Jahren aufgelöst worden sei, stellt das Zentralkomitee fest, daß es die Partei bei ihrem Kampf um wissenschaftliche Aufklärung und gegen religiöse Vorurteile stets für erforderlich gehalten habe, „jede Verlet-
zung der Gefühle der Gläubigen zu vermeiden“, daß aber untergeordnete Organe „in der letzten Zeit“ häufig gegen dieses Prinzip verstoßen hätten. Die erste Feststellung entspricht faktisch nicht der Wahrheit, die zweite könnte man viel eher auf die Zeit vor dem zweiten Weltkrieg als — von Einzelfällen vielleicht abgesehen — auf „die letzte Zeit“
beziehen. Sei dem wie immer, da die Kirche ihrer loyalen Haltung wegen nicht mehr als politisch gefährlich betrachtet werden könne, müsse „der Kampf gegen die religiösen Vorurteile jetzt (also war es früher doch anders!) als ideologischer Kampf der wissenschaftlichen, materialistischen Weltanschauung gegen die unwissenschaftliche, religiöse Weltanschauung angesehen werden". „Administrative Maßnahmen und beleidigende Ausfälle aller Art“ seien zwecklos und brächten nur die gegenteilige Wirkung hervor, dagegen sei „eine tiefgreifende wissenschaftlich-atheistische Propaganda durchzuführen“.
Der Terminus „wissenschaftlich-atheistische Propaganda“ war neu, die Sache keineswegs. Worauf es dem Zentralkomitee offenbar ankam, war etwas ganz anderes, nämlich den Kampf gegen die Religion in der Form der „wissenschaftlich-atheistischen Propaganda" zu aktivieren, die Lässigkeit der letzten stalinistischen Periode in diesem Punkt zu überwinden. Die Verlagerung der Auseinandersetzung auf rein geistiges Gebiet — man könnte auch von einer Ablösung des „politischen Atheismus“ durch einen weltanschaulichen Atheismus sprechen — dürfte nicht zu einer Schwächung des Kampfes, sondern müsse im Gegenteil zu seiner Belebung führen. Denn weltanschauliche Neutralität sei für die kommunistische Partei, „die sich auf die einzig ridttige wissenschaftliche Weltansd-tauung stützt — den Marxismus-Leninismus und seine theoretische Grundlage, den dialektischen Materialismus , völlig ausgeschlossen. Am Ende gibt der November-Beschluß konkrete Richtlinien für die Durchführung, und zwar 1. thematischer,
Die gegenwärtige Praxis
Inhalt der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda müsse die wissenschaftliche, „allgemeinverständliche Erklärung der wichtigsten Erscheinungen im Leben der Natur und der Gesellschaft“ sein, „z. B.des Aufbaus des Weltalls, der Entstehung des Lebens und der Menschen auf der Erde...“. 2. Als Träger der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda dürften „ausschließlich wissensdtaftlidi qualifizierte“ Kräfte herangezogen werden — wir würden sagen „akademisch Gebildete". 3. In den Dienst der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda seien mehr und besser als bisher alle Einrichtungen des Bildungswesens zu stellen, „Kul turpaläste, Klubs, Bibliotheken, Lesesäle, Vortragssäle, Parks für Kultus und Erholung und andere Kultur-und Bildungsanstalten“ 2).
Beschlüsse des Zentralkomitees der KPdSU sind keine platonischen Ermahnungen zu staatsbürgerlichem Wohlverhalten, sondern Initial-zündungen, die den Motor eines komplizierten und weitverzweigten Apparates in Gang setzen. Die wissenschaftlich-atheistische Propaganda von den Beobachtern der freien Welt. Inzwischen sind vier Jahre vergangen und das in dieser Zeit angefallene Material an Publikationen und Erfahrungsberichten hat beträchtlichen Umfang. Unseren Überblick darüber gliedern wir nach den Richtlinien des November-Beschlusses, jedoch in der umgekehrten Reihenfolge. 1. Der Einsatz aller Bildungsmittel zur Aktivierung der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda. Obwohl im November-Beschluß nicht ausdrücklich erwähnt, gehört dazu natürlich auch die Schule. Geeignete Ansatzpunkte bieten dafür sowohl naturwissenschaftliche wie historische Gegenstände. Der Lehrer erhält in seinen Fachzeitschriften entsprechende Anleitung, der Historiker z. B. in der Zweimonatsschrift „Der Geschichtsunterricht in der Schule“. Aus diesem Organ zwei Beispiele: Eine Moskauer Lehrerin berichtet über ihre Erfahrungen in der Durchführung der wissenschaftlich-atheistischen Erziehung im Unterricht über die Geschichte der alten Welt. In dieses Gebiet gehört das Thema „Entstehung des Christentums“. Es ist so zu behandeln, daß nicht der leiseste Zweifel an dem natürlichen, wirtschaftlich und sozial bedingten Ursprung übrig bleibt
Die Bemühungen der Schule allein genügen aber offenbar nicht, sie müssen durch außerschulische Bildungsmittel ergänzt und in der Erwachsenenbildung fortgesetzt werden
Allerdings zeigen die Erfahrungsberichte und Kritiken der jüngsten Zeit, daß man an der Wirkung dieser traditionellen Propagandamethoden zu zweifeln beginnt. Dieser Zweifel führt zu einer ganzen Reihe von Forderungen, die sich zum Teil an die maßgebenden Stellen in Staat und Partei richten, zum Teil eine nicht uninteressante Selbstkritik darstellen: Man müsse die Massenbeeinflussungsmittel — Presse, Rundfunk, Fernsehen, Theater und Kino — weit mehr als bisher in den Dienst der antireligiösen Propaganda stellen, man müsse das Niveau der Propaganda heben und sie den örtlichen Gegebenheiten sowie den veränderten Methoden des religiösen Gegners anpassen. Man dürfe nicht im Theoretisch-Ideologischen hängenbleiben, sondern müsse erkennen, daß es auch objektive Gründe dafür gebe, daß „religiöse Stimmungen“ auf-kämen und daß unaufgeklärte Menschen bei der Religion Hilfe suchten: Trockenheit und Mißernten in Agrargebieten, überhaupt „Schwierige keiten und Widersprüche, die iwi Verlauf des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft auftreten“, politisch-militärische Elementarkatastrophen wie der zweite Weltkrieg, Perioden internationaler Spannungen, aber auch persönliches Leid und ähnliches mehr. Solche Selbstkritik, die mitunter auch gewisse Rückschlüsse auf die Lebendigkeit des zu bekämpfenden religiösen Denkens erlaubt, mündet zwangsläufig in der Forderung nach besser qualifizierten Propagandisten.
Die Schaffung der personellen Voraussetzungen für eine wirksame Propaganda
Immer wieder wird hervorgehoben (nach vierzig Jahren der Trennung von Schule und Kirche!), daß die Grundlegung eines materialistischen Weltbildes gewissermaßen automatisch durch den naturwissenschaftlichen und historischen Schulunterricht nicht genüge, solange sich nicht nur bei den Schülern, sondern auch bei manchen Lehrern religiöse Vorurteile fänden. Für die Ausbildung der Propagandisten-„Kader" käme es, über eine stärkere Betonung der wissenschaftlich-atheistischen Thematik in allen Lehrplänen hinaus, vor allem auf die Einrichtung einschlägiger Vorlesungen an den Hochschulen an; diese Forderung wird mit Nachdruck erhoben. Umgekehrt wird tadelnd festgestellt, daß sich gerade die höchstqualifizierten wissenschaftlichen Kräfte nur in geringem Maße an propagandistischen Aufgaben dieser Art beteiligen. Das wird in der Praxis sicher zutreffen und kann im einzelnen sehr verschiedene Gründe haben, formal erscheint der Vorwurf jedoch nicht ganz berechtigt, denn im Jahre 1955 hat das Präsidium der Akademie der Wissenschaften der UdSSR offensichtlich in Durchführung des ZK-No-vember-Beschlusses vom vorhergehenden Jahr eine eigene „Kommission zur Koordinierung der Tätigkeit der Institutionen der Akademie der Wissenschaften der UdSSR für Fragen der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda“ gebildet. Den Vorsitz dieser Kommission hatte bis zu seinem noch im selben Jahr erfolgten Tode der greise bolschewistische Religionsexperte V. D. Bontsch-Brujewitsch, und die von ihr koordinierte Tätigkeit ist natürlich eine Tätigkeit (nach sowjetischen Maßstäben) höchstqualifizierter wissenschaftlicher Kräfte. Sie sind in mehreren Institutionen konzentriert, von denen zwei, das seit 1932 bestehende Museum für Geschichte der Religion und des Atheismus in Leningrad
und der Sektor für Geschichte der Religion und des Atheismus tm Geschichtsinstitut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, ebenfalls von Bontsch-Brujewitsch geleitet wurden. Besondere Bedeutung kommt im Hinblick auf die nichtchristlichen Religionen innerhalb und außerhalb der Sowjetunion dem Orientalischen Institut der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zu. Die Koordination findet ihren Ausdruck in Publikationen, die äußerlich den propagandistischen Charakter durchaus nicht hervorkehren, sondern mit dem ganzen Gewicht wissenschaftlicher Apparatur seriöses Ansehen beanspruchen, sehr ins einzelne gehen u. a. im quellenmäßigen Detail ein bisher in der Sowjetunion unbekanntes Interesse an der Geschichte der russischen orthodoxen Kirche an den Tag legen. Neben der bereits genannten „Wissenschaftlich-atheistischen Bibliothek“ und einzelnen Monographien sind als mehr oder minder periodische Veröffentlichungen zu nennen die „Fragen der Geschichte der Religion und des Atheismus“ (1953 bis 1958 fünf Bände) und das „Jahrbuch des Museums für Geschichte der Religion und des Atheismus“ (Band 1 — 1957). Zwar sind die Auflagenziffern hier dem Umfang und dem wissenschaftlich anspruchsvollen Charakter gemäß relativ klein, aber man kann doch keineswegs behaupten, daß der Propagandist von den wissenschaftlichen Spitzeninstitutionen im Stich gelassen würde.
Die Thematik
Aus über hundert uns vorliegenden Büchern und Broschüren, aus dem Inhalt der genannten Sammelbände und Jahrbücher, sowie aus bibliographischen Übersichten läßt sich ohne Mühe erkennen, welche Themen im Sinne wissenschaftlich-atheistischer Propaganda für besonders fruchtbar gehalten werden. Sehen wir von allgemeinen Erörterungen und Erläuterungen des ideologischen Standpunktes in der Religionsfrage ab, die unter Titeln wie „Materialismus und Religion“, „Der dialektische Materialismus — die philosophische Grundlage des proletarischen Atheismus“, „Wie verhält sich die kommunistische Partei zur Religion?“, „Was ist Religion?“, „Über den Glauben an Gott“, „Über den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele", „Das reaktionäre Wesen der religiösen Ideologie“ usw. erscheinen und gewöhnlich aus der Feder von „Philosophen“ stammen, die sich für dieses Gebiet spezialisiert haben, so sind es im einzelnen jene Punkte der Natur-und Menschheitsentwicklung, an denen die Kontinuität des gesetzmäßigen Fortschreitens gefährdet erscheint und im religiösen Weltbild das Wirken des Schöpfergottes sichtbar wird. Solche Einbruchstellen des Metaphysischen sind in der naturgeschichtlichen Phase die Entstehung der Welt, die Entstehung des Lebens und die Entstehung des Menschen, in der geschichtlichen Phase der Ursprung der Religion überhaupt und der der großen Weltreligionen im besonderen. An der Lösung dieser Probleme im materialistischen, die Existenz Gottes ausschließenden Sinn sind eine ganze Reihe von Wissenschaften beteiligt: Astronomie, Geologie, Biologie, Anthropologie, Prähistorie und Ethnographie, sowie schließlich die historischen Disziplinen im engeren Sinne. Es fällt jedoch auf, daß der Anteil der Naturwissenschaften an der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda aller Stufen weniger durch die naturwissenschaftlichen Experten selbst als durch die philisophisch-ideologischen Betreuer der Naturwissenschaft wahrgenommen wird. So sind die Beiträge eines Sammelbandes „Naturwissenschaft und Religion" nicht von Astronomen, Biologen usw., sondern von den Mitarbeitern des Philosophie-Institutes der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, und zwar eines eigenen Sektors für philosophische Fragen der Naturwissenschaft, verfaßt
Der negativen Behandlung der Geschichte der Religion steht die positive Behandlung der Geschichte des Atheismus gegenüber, weniger eine Problemreihe als eine Ahnengalerie des Freidenkertums, aufschlußreich genug für die geistige Herkunft der sowjetischen Ideologie. Die Reihe der Vorläufer beginnt — ganz europäisch — mit den alten Griechen und Römern, um in großen Sprüngen über Kopernikus, Giordano Bruno und Galilei als die Begründer des modernen naturwissenschaftlichen Weltbildes und über die französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts in die russische Tradition des Vulgärmaterialismus bei revolutionären Nihilisten (Tschernyschevskij, Dobroljubov, Pisarev) und Naturwissenschaftlern (Pavlov, Setschenov, Timirjasev, Mitschurin) der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu münden. Am Ende stehen neben den „Klassikern des Marxismus-Leninismus“ Marx, Engels und Lenin (Stalin hat diesen bei Lebzeiten erworbenen Rang ja inzwischen verloren) G. V. Plechanov und E. M. Jaroslavskij
In der Thematik, in der Verschiedenheit der Intensität, mit der die einzelnen Themen erörtert werden, spiegelt sich jedoch nicht nur das ideologische Erbe wider, sondern auch etwas ganz anderes, nämlich die aktuell-politische Zweckmäßigkeit. Religionsfeind Nr. 1 ist ganz eindeutig die römisch-katholische Kirche. Das kann nicht überraschen: Ideologische Feindschaft fließt hier mit einem historischen Ressentiment von ungewöhnlicher Tiefe und mit der Erfahrung des härtesten Widerstandes zusammen. Wenn ausdrücklich hervorgehoben werden muß, daß auch dort die Aktualität wissenschaftlich-atheistischer Propaganda nicht vergessen werden darf, „wo religiöse Vorurteile nicht so verbreitet sind wie in der Moldau, int Baltikum oder in den westlidten Gebieten der Ukraine und Weiflrufllands", so ist das deutlich genug. An zweiter Stelle der Feindschaftsskala — und das wird man vielleicht schon weniger erwarten — steht die jüdische Religion als Kampfmittel „im Arsenal der imperialistisdten Reaktion". Den Grund braucht man nicht zu suchen, er ist nicht ideologischer, sondern rein politischer Natur: Die sowjetische Außenpolitik hat auf die Karte des arabischen Nationalismus gesetzt. Daher erfordert es auch von Propagandisten „große politische Reife, tiefes Verständnis der gegenwärtigen gesellsdtaftlidien Prozesse, um den Kampf gegen den Islam richtig zu führen", denn „unter seinem Zeidten geht eine Reihe von Bewegungen vor sich, die große fortsdiritt- liehe Bedeutung haben, besonders der Kampf der arabischen Völker um ihre Unabhängigkeit unter der Führung Ägyptens“. Protestantismus und Sekten aller Art ziehen weniger feindschaftliche Aufmerksamkeit auf sich, wiewohl sie im Repertoire der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda keineswegs ganz fehlen. Die eigene orthodoxe Kirche da-gegen genießt als Institution offenbar noch immer einen Waffenstillstand; sie teilt das Schicksal, Objekt antireligiöser Propaganda zu sein, sofern sich diese gegen Religion und Christentum im allgemeinen richtet, aber sie kann ja schwerlich des politischen Mißbrauchs durch andere bezichtigt werden.
Motive und Wirkungen
Existenz und merkliche Zunahme wissenschaftlich-atheistischer, d. h. antireligiöser Propaganda in der Sowjetunion kann nicht bezweifelt werden. Ihren Grund wird man in nichts anderem zu sehen haben als eben in dem Vorhandensein „religiöser Vorurteile", in dem zähen Widerstand, den das religiöse Denken und Empfinden der aggressiven Ideologie nach wie vor leistet. Ja es scheint — doch müssen wir in solchen Schlüssen sehr vorsichtig sein —, als hätte dieser Widerstand eher zu-als abgenommen. Der Hinweis auf die „objektiven Widersprüche", auf die religionsfördernde Wirkung des zweiten Weltkrieges, gibt zu denken. Vor allem scheinen es die kirchlichen Feiertage und Familienfeste zu sein, die durch ideologisch einwandfreie Vergnügungen und Festlichkeiten, zumal auf dem Lande, schwer ersetzbar sind und den Kirchen, der Religion, Anhänger erhalten oder sogar gewinnen. Berichte über „religiöse Überreste“, stets verbunden mit einer Kritik an der Lässigkeit örtlicher Parteiorgane, sind in der sowjetischen Presse gar nicht selten. So hat man im Jahre 1957 in der moldauischen Sowjetrepublik an die hundert kirchliche Trauungen von Komsomolzenpaaren gezählt. Und mag die Moldau immerhin als rückständiges Nest von „Kirchen, Klöstern, Synagogen, altgläubigen, baptistischen, molokanischen, pfingstlerischen und anderen Gemeinden“ gelten, dem Westen nahe und dem „Einfluß bourgeoiser Ideologie und Politik“ ausgesetzt, von der Erdölstadt Groznyj nördlich des Kaukasus wird man das nicht sagen können, wo den Gläubigen für die Osterfeierlichkeiten Kraftfahrzeuge des öffentlichen Dienstes zur Verfügung gestellt wurden, darunter auch Dienstwagen des Partei-Exekutivkomitees. Allerdings war das im Jahre 19 56. unmittelbar nach dem XX. Parteitag, als über die Praxis der Entstalinisierung Mißverständnisse möglich waren. Mit der ideologischen Leninrenaissance (zurück zu Lenin!) ist die Verstärkung der antireligiösen Propaganda zwar gut vereinbar — Lenin hat sich in dieser Richtung weit mehr hervorgetan als Stalin —, aber sie ist kaum primär durch jene hervorgerufen. Über ihre Wirksamkeit ließe sich schwer etwas sagen, wenn diese Frage nicht die Propagandisten selbst bewegte. Man ist nicht übertrieben optimistisch und spricht von einer „langen, geduldigen Aufklärungsarbeit“, die noch notwendig sein werde. Die Hauptschwierigkeit liegt darin, die Propaganda überhaupt an ihr Ziel, an den Gläubigen heran-zubringen. Darüber macht man sich nach vierzigjähriger Erfahrung im Grunde keine Illusionen mehr, daß der Gläubige atheistische Broschüren nicht liest und antireligiöse Vorträge nicht besucht, wohl auch dann nicht, wenn sie sich mit harmlosen und anziehenden Titeln tarnen. In der Ukraine hat man mit Frage-und Antwortabenden angeblich bessere Erfahrungen gemacht, aber worauf es offenbar entscheidend ankäme und was ebenso offenbar schwer zu organisieren ist, das ist die „Methode individueller Gespräche", etwas, das sich der religiösen, seelsorgerlichen Betreuung von Mensch zu Mensch gegenüberstellen ließe.
Es ist nicht zu übersehen: In dem Augenblick, in dem man sich nicht mehr auf die mechanische Wiederholung von Schlagworten, auf die Propagandamethode des Holzhammers verläßt, sondern sich über die religiöse Wirklichkeit, die man bekämpfen will, ernsthaft Gedanken zu machen beginnt, verwandeln sich die ideologisch überbauten Produktivkräfte in Menschen von Fleisch und Blut, in Menschen, denen ihr Leid („Schwierigkeiten und Widersprüche in unserem Leben“) und ihre Freude (Feiertage und Familienfeste), und zwar ihr ganz persönliches Leid und ihre ganz persönliche Freude wichtiger und näher sind als alles andere. Angesichts dieser Verwandlung bleibt „der unbefriedigende Stand der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda“ Diskussionsgegenstand.
Sollte es ein Zufall sein, daß in letzter Zeit das Thema „Moral und Religion“ in den Vordergrund des Interesses rückt? Wir würden das nicht annehmen auch ohne den ausdrücklichen Hinweis, daß ein „theoretisches Gespräch“ im Philosophie-Institut der Akademie der Wissenschaften der LIdSSR „durch die besondere Aktualität dieses Themas für die antireligiöse Propaganda (hier taucht der alte Terminus ganz beiläufig wieder auf!) unter den gegenwärtigen Bedingungen“ veranlaßt wurde
Politik und Zeitgeschichte
AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Joseph M. Bochenski: „Die sowjetische Philosophie der Gegenwart"
Ludwig Dehio: „Politik und Ethik"
Ernst Deuerlein: „Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr"
Reinhold Niebuhr: „Die Ironie der amerikanischen Geschichte"
Walter Grottian: „Die Planwirtschaft als Instrument der sowjetischen Außenpolitik"
Fedor Stepun: „Funktion der Kunst in der Sowjetunion"
Hermann Weber: „Von Rosa Luxemburg zu Walter Ulbricht"
Horst E. Wittig: „Vorschulerziehung in der UdSSR"
Heinrich Uhlig: „Hitlers Einwirken auf Planung und Führung des Ostfeldzuges bis Frühjahr 1943"