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Religion und Sowjetkommunismus | APuZ 24/1959 | bpb.de

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APuZ 24/1959 Religion und Sowjetkommunismus „Wissenschaftlich-atheistische Propaganda" in der Sowjetunion

Religion und Sowjetkommunismus

WALTER KOLARZ

I. Kapitel

Religion in Rußland ist eine Alternative zur herrschenden Ideologie. Sie ist natürlich nicht die einzig denkbare Alternative, andere sind denkbar; ein sekulärer Liberalismus und ein demokratischer Sozialismus z. B., oder ein von der Religion losgelöster Nationalismus. Religion in Ruß-land ist dadurch verschieden von den anderen ideologischen Alternativen, daß sie sichtbare, institutionelle Formen bewahrt hat. Dies ist eine Tatsache, der man sich nicht verschließen kann, wie man auch selbst über die Fragen der Religion und des Glaubens denken mag. Es ist eine bedeutungsvolle Tatsache, die selbst der sowjetische Kommunist anerkennt. Keine Analyse der sowjetischen Wirklichkeit ist vollständig, die nicht das Fortbestehen des religiösen Faktors in Betracht zieht.

Statistische Maßstäbe lassen sich an geistige und ideologische Probleme wohl kaum anlegen. Es wäre daher nicht angebracht, das Fortbestehen der Religion im Sowjetstaate zahlenmäßig ausdrücken zu wollen. Gewiß, einige Religionsgemeinschaften in Rußland veröffentlichen mehr oder weniger genaue Angaben über ihre Mitgliedschaft, und für die große russische orthodoxe Kirche stehen ungefähre Schätzungen über den zahlenmäßigen Stand der Gläubigen zur Verfügung Orthodoxe Kirchenkreise leiten von der Zahl der in den Gotteshäusern verkauften Kerzen ab, daß es in der Sowjetunion zwischen 20 und 30 Millionen praktizierende orthodoxe Christen geben muß Das Überleben der Religion ist jedoch nicht eine Frage der formalen Kirchenmitgliedschaft allein und auch nicht eine Frage der äußeren Observanz religiöser Gebräuche. Religion in Rußland lebt weiter in den Herzen der Menschen, ihren Gedanken und ihren Gebeten. Man müßte daher in die Tiefe jeder russischen Seele blicken, wenn man genau feststellen wollte, wie viel religiöses Denken nach den langen Jahren kommunistischer Herrschaft bestehen geblieben ist. Aber auch eine solche praktisch ganz undurchführbare Untersuchung würde die Bevölkerung Rußlands statistisch gar nicht in Gläubige und Ungläubige zerlegen, denn es gibt in Rußland wie überall viele Zwischenstadien zwischen Glauben und Unglauben. Es gibt in Rußland wie überall eine große Masse Menschen, die in religiösen Fragen indifferent sind, aber doch zögern würden, sich als „Ungläubige oder gar als militante Atheisten zu bezeichnen.

In der politischen Auseinandersetzung mit dem Kommunismus sieht man begreiflicherweise primär nur, was den kommunistischen Staat vom demokratischen unterscheidet. Daraus ergibt sich die Versuchung, die Verdrängung der Religion in Rußland und die Abkehr von religiösen Bindungen nur als das Resultat kommunistischer Erziehung, Propaganda und selbst Terrors zu betrachten. Dies sind gewiß bedeutungsvolle und selbst bestimmende Faktoren gewesen. Man mag jedoch geneigt sein, sie zu überschätzen, und das würde einer Überschätzung des ideologischen Erfolges des sowjetischen Kommunismus gleichkommen. Statistisch gesehen hat die Religion in Rußland im Vergleich mit der vorkommunistischen Periode einen bedeutenden Rückschlag erfahren, aber dieser Prozeß kann nicht allein auf das Konto der kommunistischen Politik geschrieben werden, er muß im Zusammenhang mit der allgemeinen Entchristlichung der großen europäischen Städte im industriellen Zeitalter gesehen werden. Sowjetische Großstädte wie Leningrad, Stalingrad und Sverdlowsk würden wohl heute eine Minderheit praktizierender religiöser Menschen aufweisen, auch wenn sie noch immer St. Peters-burg, Tsarytsyn und Jekaterinburg hießen. Die Zahl der Gläubigen in Rußland wäre beträchtlich geschwunden, auch wenn die Geschicke des Landes nicht von Kommunisten sondern von irgendeiner anderen Partei oder Koalition von Parteien gelenkt würden. Ein Blick auf die Zustände eines jeden europäischen Landes kann diese Hypothese leicht bestätigen.

In allen Ländern wird viel darüber geschrieben und gestritten, warum sich Menschen von der Religion abgewendet haben und warum die Kirchen in ihrem Apostolate oft versagten. Die Erklärungen, die dafür gegeben werden, sind zum guten Teile mutatis mutandis auch auf Ruß-land anwendbar, nur daß in Rußland die aktive Persekution der Religion noch als ein wichtiger erklärender Faktor hinzutritt.

Aber unsere Aufgabe ist eine ganz andere, nämlich zu erforschen, warum bei llem Abfall von Kirche und Religion noch immer soviel religiöses Leben in der Sowjetunion erhalten geblieben ist. Die sowjetischen Kommunisten selbst haben viel Zeit und Energie auf die Beantwortung der für sie so peinlichen Frage verwendet. Sie haben auch eine ganze Rpihe von Antworten gefunden, die aber selbst in ihrer Gesamtheit noch immer keine zufriedenstellende Erklärung des Problems geben. Es wäre ja auch nicht billig, von den Wortführern des Regimes zu verlangen, daß sie ein offenes und volles Eingeständnis ihrer ideologischen Niederlage im Kampfe gegen die Religion ablegen.

Das Versagen der atheistischen Bewegung

Wenn wir die Frage der Religion in Rußland allein in den Grenzen eines irdischen Horizontes betrachten und von allen metaphysischen Elementen absehen, dann können wir das Fehlschlagen der kommunistischen antireligiösen Offensive -denn um ein solches handelt es sich ja — im wesentlichen auf zwei Hauptfaktoren zurückführen. Diese sind erstens die Unwirksamkeit der antireligiösen Propaganda und zweitens das kommunistische Unvermögen, eine neue Zivilisation und eine neue Moral zu schaffen, die festgefügt und erfolgreich genug wären, die religiöse Ära der Menschheitsgeschichte zu beenden. Die Unwirksamkeit der atheistischen Propaganda ist im Versagen der atheistischen Bewegung verwurzelt. Im weiteren Sinne besteht diese atheistische Bewegung Rußlands aus der kommunistischen Partei und ihren Hilfsorganisationen, besonders der kommunistischen Jugendliga, dem Komsomol

Die Kommunistische Partei der Sowjetunion und die kommunistische Jugendliga sind programmatisch zu einer atheistischen Grundhaltung verpflichtet, wenn auch die Führung atheistischer Propaganda nicht zum Hauptzweck der Partei und der ihr unterstehenden Verbände gehört. Aber dann gibt es in der Sowjetunion noch eine atheistische Bewegung im engeren Sinne einer speziellen atheistischen Organisation. Sie hat in den vier Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft ihre Formen vielfach gewechselt. Zuerst bestand sie nur aus Lesergruppen, die sich um die antireligiöse Zeitung „Bezboschnik" gruppierten. Sie wuchs dann zu einer Massenbewegung heran, die sich „Bund der Gottlosen“ und später, seit 1929 „Bund der kämpferischen Gottlosen“ nannte. Dieser Bund fand beim Ausbrudi des deutsch/russischen Krieges im Jahre 1941 ein Ende. Während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren gab es keine offizielle antireligiöse Propagandaagentur. Die Lücke wurde erst im Juni 1947 mit der Schaffung der „Gesellschaft zur Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse“ geschlossen

In einem gewissen formalen Sinne wäre es richtig zu sagen, daß die atheistische Bewegung in Rußland die Summe aller Regimeorganisationen darstellt, aber wenn man etwas tiefer blickt, dann muß man diese Verallgemeinerung als unbefriedigend und oberflächlich ablehnen. Selbst vom atheistischen Charakter der kommunistischen Partei kann nur mit gewissen Einschränkungen gesprochen werden. Gewiß, ideologisch sind Kommunismus und Religion unvereinbar. Die Führer der Partei sind Atheisten, aber es kann nicht gesagt werden, daß jedes einfache kommunistische Parteimitglied automatisch Atheist ist. Selten ist jemand der russischen kommunistischen Partei wegen ihrer antireligiösen Einstellung beigetreten, und manche wurden Parteimitglieder, ohne sich die atheistische Ideologie des Kommunismus überhaupt zu eigen zu machen. Ursprünglich war die Partei selbst solchen Leuten gegenüber tolerant. Das Kriterium für die Zulassung zur bolschewistischen Partei vor der Oktoberrevolution war revolutionäres Klassenbewußtsein und nicht die Ablehnung der Kirche und des Glaubens. Lenin selbst schrieb im Jahre 1909, daß die Partei Arbeiter rekrutieren soll, die ihre religiöse Über-zeugung bewahrt haben, und daß sie selbst einen Priester aufnehmen könnte, wenn er Parteiarbeit leistet und sich dem Parteiprogramm nicht widersetzt Der Kampf um die Macht war für Lenin das eine bedeutende Ziel, dem alles andere, daher auch der Kampf gegen die Religion, untergeordnet wurde. Darum wurden religiöse Menschen in die Partei ausgenommen, und eine Anzahl von gläubigen Christen befanden sich tatsächlich in den Reihen der alten bolschewistischen Garde. Jemeljan Jaroslawskij, der Vorsitzende des Bundes der kämpferischen Gottlosen, erzählte einmal von einem bolschewistischen Parteiveteranen, einem einfachen Arbeiter, der bereits nach der Revolution zu Beginn eines Fragebogens die Worte schrieb: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, und es scheint, daß dies kein einmaliger Fall war

Auch zur Zeit des ersten Fünfjahrplanes war das Problem der religiösen Parteimitglieder noch nicht gelöst. Die Instruktionen, die für die große Parteisäuberung des Jahres‘ 1929 ausgegeben wurden, zeigten dies in sehr überzeugender Weise. Die Säuberungskommissionen wurden angewiesen, aus den städtischen Parteiorganisationen alle Mitglieder aus-zuschließen, die noch immer an religiösen Gepflogenheiten festhielten, die Kirche besuchten und ihre Kinder taufen ließen. In den ländlichen Parteiorganisationen wurde den Kommissionen aufgetragen, jene Mitglieder aus der Partei zu entfernen, die freundschaftliche Beziehungen zu Priestern unterhielten. Dies führte zur Ausschließung tausender Parteimitglieder, die auf die eine oder andere Weise eine versöhnliche Haltung zur Religion gezeigt hatten Selbst zur Zeit der nächsten Partei-säuberung, die im Jahre 193 3 stattfand, war das religiöse Problem innerhalb der Partei noch immer aktuell. In der kleinen Moldaurepublik wurde damals z. B. entdeckt, daß kommunistische Parteimitglieder nicht nur in die Kirche gingen sondern auch finanziell zu ihrem LInterhalt beitrugen. Es wurde in der Sowjetpresse sogar behauptet, daß diese merkwürdigen Parteimitglieder religiöse Hymnen auf dem Wege zur Säuberungskommission anstimmten

Man darf nicht vergessen, daß in den ersten Jahren der kommunistischen Herrschaft die Parteimitglieder nur eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Menschen ausmachten, die in einem religiös geformten und noch immer vorwiegend religiös gesinnten Lande lebten Selbst viele Kommunisten konnten die religiösen Traditionen und Gebräuche ihrer Umgebung und besonders ihrer eigenen Familie nicht einfach ignorieren. Die Partei war daher dazu verurteilt, einen permanenten Krieg gegen alle jene Mitglieder zu führen, die nach außen hin den Atheismus zu akzeptieren schienen, aber denen es im Privatleben schwerfiel, eine kompromißlos negative Haltung der Religion gegenüber einzunehmen. Es läßt sich leicht vorstellen, zu welchem Mißtrauen und welchen Verdächtigungen dies den religiösen Parteimitgliedern gegenüber Anlaß geben mußte.

Nach dem 2. Weltkrieg fuhr die sowjetische Presse fort, über Krypto-christen zu berichten, die sich in die kommunistische Partei oder den Komsomol eingeschlichen hatten. Noch immer sind sogenannte „religiöse Vorurteile“ ein häufiger Grund zum Ausschluß aus der Partei oder dem kommunistischen Jugendverband besonders in den westlichen Grenzrepubliken. Selbst Parteifunktionäre sind noch immer nicht immun gegen die religiöse Gefahr und geben ein schlechtes Beispiel den einfachen Mitgliedern, besonders wenn sie beim Taufen ihrer Kinder ertappt werden Es soll gar nicht gesagt sein, daß diese Fälle häufig sind, aber daß sie überhaupt vorkommen, beweist die Existenz erheblicher Lücken in der kommunistischen Parteidisziplin.

Das Problem der religiösen Unterwanderung der kommunistischen Partei und des Jugendverbandes existiert nicht nur im gelegentlichen Beitritt eines christlich gesinnten Menschen in die einzige legale, politische Organisation des Landes oder in den einzigen existierenden Jugendverband. Sie besteht auch noch in einer anderen feineren Form, nämlich im Fortleben und im unbewußten Eindringen religiöser Einflüsse in das kommunistische Bewußtsein. Die Moralbegriffe vieler sowjetischer Kommunisten sind noch immer nicht ganz von ihrem christlichen, mohammedanischen oder jüdischen Ursprung losgelöst. Ihr Vokabular ist noch immer nicht von allen kirchlichen und religiösen Begriffen gereinigt. Kommunistische Autoren versuchen noch immer, Interesse an ihren Werken dadurch zu fördern, daß sie ihre Titel der Bibel entlehnen: Wirta's Tendenzstück „Linser tägliches Brot“ und Dudintzev s Roman „Nicht von Brot allein" mögen hier als Beispiele dienen.

Vielleicht war es die Unzuverlässigkeit vieler kommunistischer Parteimitglieder — Unzuverlässigkeit im antireligiösen Sinne — welche den Anstoß zur Gründung einer speziellen atheistischen Kampforganisation gab. Aber in welchem Grade war der Verband der kämpferisdien Gottlosen wirklich atheistisch? Dies mag auf den ersten Blick als eine überflüssige und absurde Frage erscheinen, und dennoch ist sie nicht ganz unangebracht. Der Atheismus des Gottlosenverbandes war nichts Absolutes. Es war ein Atheismus gemildert durch Opportunismus. Die Führer des Verbandes betonten, daß atheistische Propaganda niemals von den Interessen des Klassenkampfes und vom politischen und ökonomischen Programm der kommunistischen Partei getrennt werden darf. Der Verband wollte dabei nicht nur dem Endprogramm der Partei dienen sondern auch ihrem Sofortprogramm. In Verfolgung kurzfristiger tages-politischer Ziele wurde darum sein dialektischer Materialismus oft in einen kleinlichen ökonomischen Materialismus umgemünzt, z. B. die Kampagne für die Konfiskation der Kirchenglocken wurde mit den Metallbedürfnissen der sowjetischen Schwerindustrie begründet und bei der Aktion gegen die Weihnachtsbäume wurde der Schutz der Wald-bestände als entscheidendes Argument vorgeschoben. Da der Atheismus des Gottlosenverbandes kein Selbstzweck war, konnte leicht eine Situation entstehen, in der die ganze. atheistische Organisation einem taktischen Manöver der Sowjetregierung geopfert werden konnte, und dies ist dann schließlich auch geschehen.

Selbst zur Zeit seiner größten organisatorischen Ausdehnung, zu Beginn der dreißiger Jahre, war der Gottlosenverband nur ein Koloß auf tönernen Füßen. Der Verband hatte zwar vorübergehend die stattliche Mitgliederzahl von über 5 Millionen, aber dies gab ein ganz falsches Bild seiner wirklichen Bedeutung. Die Mehrheit dieser 5 Millionen waren niemals mehr als Papiermitglieder, und sehr bald schmolz ihre Zahl beträchtlich zusammen. Sogar unter den Anhängern des Sowjet-regimes gab es verhältnismäßig wenige, die es für eine lohnende Autgabe hielten, sich auf atheistische Propaganda zu spezialisieren. Auch die praktische Tätigkeit des Gottlosenverbandes war im großen und ganzen erfolglos. Zwar brachte er eine ganze Flut von atheistischen Broschüren, Plakaten und Flugblättern in vielen Sprachen hervor, zwar erreichte er die Schließung vieler Kirchen, Moscheen und Synagogen, aber der entscheidende Schlag gegen Religion und Kirche wurde dennoch nicht von dem Gottlosenverband geführt, sondern vom sowjetischen Polizeiapparat. Dies geschah im Jahre 1937, als das Sowjetregime zur Massenverhaftung und Deportierung von Priestern und Kirchenführern schritt. Die Gottlosenbewegung war damals nicht nur ein ohnmächtiger Zuschauer der Polizeiaktion sondern paradoxerweise selbst eines der Opfer der großen Reinigung.

Die gleichzeitige Verfolgung der kirchlichen Würdenträger und der Führer des Gottlosenverbandes war nicht so unlogisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Die Diener der Kirche wurden verfolgt, weil der rein propagandistische Kampf gegen die Religion fehlgeschlagen war, und die Führer des Gottlosenverbandes wurden verhaftet, weil ihre Propaganda so erfolglos gewesen ist. Das Regime sah sich vor die Notwendigkeit gestellt zu beweisen, daß die Kirche und die Religion den Gottlosenverband nur schlagen konnten, weil gewisse Volksfeinde die antireligiöse Arbeit absichtlich und systematisch unterminiert hatten. Es wurde kein offizieller Prozeß gegen diese angeblichen Volksfeinde geführt; alles was wir über das Blutgericht im Gottlosenverband wissen, kann nur einem Artikel seiner Zeitschrift entnommen werden Er stammt vom damaligen Verbandssekretär Oleschtschuk, der noch heute eine große Rolle in der atheistischen Propagandaarbeit spielt. Dieser Artikel ist eine Bankrotterklärung des „Bundes der kämpferischen Gottlosen“, obwohl wir annehmen müssen, daß er viele Übertreibungen enthält, um der Säuberungsaktion eine größere Rechtfertigung zu geben. Wir lernen aus den Ausführungen Oleschtschuks, daß sich viele Organisationen des Verbandes besonders in der Ukraine, Weißrußland. Georgien, Leningrad und Stalingrad in den Händen von Trotzkisten und Bucharinleuten befanden. Diese waren verantwortlich entweder für die Liquidierung der atheistischen Propagandaarbeit oder ließen sich ganz im Gegenteil antireligiösen Radikalismus zu schulden kommen. Dadurch entfachten sie den Fanatismus der Gläubigen und provozierten Unzufriedenheit gegen die Sowjetmacht und die kommunistische Partei. Audi stellte Oleschtschuk fest, daß viele organisatorische Erfolgsberichte des Gottlosenbundes einfach auf Bluff beruhten, besonders die statistischen Angaben über die angebliche Zahl der sogenannten gottlosen Fabriken, Dörfer und Kollektivwirtschaften, nämlich Fabriken, Dörfer und Kollektivwirtschaften in denen es keinen einzigen Gläubigen mehr geben sollte.

Der sowjetische Gottiösenverband hat sich von der Säuberungsaktion des Jahres 1937 nie recht erholt, aber er lebte dennoch schlecht und recht bis zum Jahre 1941 weiter. Die Annektierung Ostpolens und der baltischen Staaten gab ihm sogar die zusätzliche Aufgabe, die antireligiöse Propaganda in den neuen sowjetischen Gebieten zu führen, was angesichts der religiösen Bindungen der dortigen Bevölkerung ebenso schwierig wie vom sowjetischen Standpunkt aus notwendig war. Die Tätigkeit, welche die Gottlosenorganisation nach der großen Säuberung noch ausführte, war jedoch nicht erfolgreich genug, um ihr Wiedererstehen nach dem 2. Weltkrieg als wünschenswert erscheinen zu lassen. Die Führer des sowjetischen Staates hatten sich zur Überzeugung durchgerungen, daß die Existenz einer atheistischen Massenorganisation den Kampf gegen die Kirche nicht fördert sondern eher hemmt. Der offene Frontalangriff gegen die Kirchen sollte daher durch einen geschickt maskierten Guerillakampf ersetzt werden. Diesem Kampfe dient jetzt die neue „Gesellschaft für die Verbreitung Politischer und Wissenschaftlicher Kenntnisse“.

Die Gesellschaft ist keine Massenorganisation mehr. Sie besteht aus der kommunistischen Elite, Professoren, Dozenten, Lehrern, Doktoren, Agronomen usw. Sie nimmt nur Mitglieder auf, die imstande sind, zum Ziel der Gesellschaft — der Verbreitung von politischen und wissenschaftlichen Kenntnissen — direkt beizutragen. Die Kenntnisse, die zu verbreiten sich die Gesellschaft zur Aufgabe macht, sind sehr umfassend. Sie schließen fast alle Wissensgebiete ein. Aber zur gleichen Zeit dient die Gesellschaft in einem beträchtlichen Ausmaße der Verherrlichung der kommunistischen Partei und der Sowjetregierung und der Propagierung ihrer Ideologie. Hierzu gehört auch die atheistisch-materialistische Doktrin. Innerhalb des Apparates der Gesellschaft besteht eine spezielle atheistisch-wissenschaftliche Propagandasektion unter der Leitung des uns bereits bekannten Oleschtschuk. Auch andere überlebende Funktionäre des Gottlosenverbandes hatten sich in den Dienst der Gesellschaft gestellt, und es ist ganz interessant, daß die antireligiöse Propaganda in der Sowjetunion heute noch immer von Menschen geführt wird, die dies bereits in den zwanziger Jahren taten, zu einer Zeit da Kirche und Religion den größten Verunglimpfungen ausgesetzt waren.

In den Jahren 1954 bis 1956 hat die Gesellschaft durchschnittlich 100 000 atheistische Vorträge organisiert. Dies scheint eine gewaltige Zahl zu sein, doch macht die antireligiöse Propaganda nur einen kleinen Teil der Gesamtarbeit der Gesellschaft aus. Im Jahre 1956 z. B. waren weniger als 5 Prozent aller Vorträge dem direkten oder indirekten Kampf gegen die Religion gewidmet

Die Gesellschaft veröffentlicht laufend eine beträchtliche Anzahl von anti-religiösen Broschüren. Sie erscheinen in Auflagen von 80— 200 000 Exemplaren, und die Gesamtauflage der antireligiösen Broschürenliteratur geht in die Millionen. Aber wie so oft in Sowjetrußland geht Qualität mit Quantität nicht Hand in Hand. Es gehört zu den ständigen Klagen der Sowjetpresse, daß die anti-religiösen Vorträge häufig faktische Irrtümer enthalten, die von den Gläubigen leicht entdeckt werden können und so die ganze atheistische Propaganda diskreditieren, oder daß sie nicht mit der Zeit gehen und der Modernisierung des religiösen Denkens nicht Rechnung tragen oder daß sie von Kraftausdrücken und unsachlichen Beleidigungen der Gläubigen strotzen und daher unwirksam sind. Der Haupteinwand, der von kommunistischer Seite gegen antireligiöse Vorträge erhoben wird, ist jedoch, daß sie nicht imstande sind. Gläubige im größeren Maße anzuziehen. Professor Mitin, der Vorsitzende der Gesellschaft für die Verbreitung politischer und wissenschaftlicher Kenntnisse, gab auf einem Seminar für anti-religiöse Propagan-disten im Jahre 1957 zu, daß schon die Titel der Vorträge z. B. „Die Religion, der Feind der Werktätigen“ oder „Das reaktionäre Wesen des Christentums" gläubige Menschen abschrecken müßten Mit den atheistischen Broschüren verhält es sich ähnlich. Der Verfasser einer Broschüre über das Sektenwesen, welche in einer Massenauflage erschien, sagte ganz offen, er erwarte nicht, daß die Sektenmitglieder selbst sein Elaborat lesen würden, aber wenigstens würde er den Atheisten Material für die Auseinandersetzung mit den Sekten liefern Es gibt allerdings auch Fälle, in denen anti-religiöse Broschüren von den Gläubigen in Massen gekauft werden, aber nicht um sie zu lesen, sondern nur um zu verhindern, daß sie von anderen gelesen werden. Dies war das Schicksal einer Broschüre über den Ursprung und das Wesen der jüdischen Religion, die im Jahre 1957 in der Ukraine herauskam

Ebenso wie die anti-religiösen Vorträge und Broschüren, so haben auch andere Propagandamittel im Kampf gegen die Religion versagt. Sie haben sogar oft das Gegenteil davon bewirkt, was die anti-religiösen Propagandisten beabsichtigten. Dies gilt besonders von den anti-religiösen Museen, von denen es zu ihrer Blütezeit in den dreißiger Jahren einige Dutzende gab. Wie wohl zu erwarten, waren diese Museen voll mit Heiligenbildern, lithurgischen Büchern und Gefäßen. Viele Besucher betrachteten diese Gegenstände mit Ehrfurcht, manche bekreuzigten sich bei ihrem Anblick und einige fielen sogar auf die Knie. Die meisten dieser anti-religiösen Museen sind inzwischen verschwunden.

Auch auf das Moskauer Planetarium wurden große Hoffnungen als ein Erziehungsmittel im Kampf gegen die Religion gesetzt. Keine geringere als Lenins Witwe, Frau Krupskaja, wies auf die Hinfälligkeit dieser Illusion hin. In einem Artikel, den sie im Jahre 1937 in der Zeitung „Izwestija" veröffentlichte, zitierte sie einen alten Arbeiter, der beim Verlassen des Planetariums sagte: „Nun, wer hätte geglaubt, dafl der Herrgott so klug die Welt geordnet hat".

Die technologische und soziologische Ausflankierung der Religion

Die Kommunisten verlassen sich im Kampf gegen die Religion nicht nur auf die direkte anti-religiöse Propaganda, sie messen der indirekten Propaganda gegen die Religion weit größere Bedeutung bei. Diese indirekte Propaganda besteht in dem, was man als die technologische und soziologische Ausflankierung der Religion bezeichnen könnte. Technischer Fortschritt und der Aufbau der neuen kommunistischen Gesellschaft — dies ist heute die kommunistische Kalkulation — werden die Religion zwar noch nicht automatisch besiegen, aber sie werden sie wenigstens zurückdrängen und den Kampf gegen sie wesentlich vereinfachen. Früher, in den zwanziger und dreißiger Jahren, waren die Kommunisten wesentlich optimistischer. Damals glaubte man noch, daß technische Errungenschaften, der Sieg der Kollektivisierung der Landwirtschaft und der Erfolg ihrer Mechanisierung automatisch der Religion den Todesstoß versetzen würden. Dieser Gedankengang geht nicht so sehr auf Karl Marx als auf Prometheus zurück, der auf das kommunistische Weltbild sehr beträchtlichen Einfluß ausgeübt hat. Wenn wir den kommunistischen Glauben, daß materielle Errungenschaften die Religion ersetzen können, als die prometheische Idee bezeichnen, machen wir uns dabei keiner künstlichen intellektuellen Konstruktion schuldig. Die anti-religiöse kommunistische Literatur hat wiederholt an den mythologischen Prometheus angeknüpft und „Der gefesselte Prometheus" von Aeschylus wurde im Jahre 1956 als populäre Broschüre in einer Massen-auflage von 150 000 Exemplaren, mit einer zeitgemäßen Einleitung versehen, herausgegeben. Diese Einleitung wies auf die Wertschätzung hin, die Karl Marx Prometheus, dem „edlen Kämpfer gegen die Götter“, zollte Marxismus und Prometheismus wurden somit zu einer ideologischen Einheit zusammengeschmiedet, wobei die Kommunisten natürlich übersehen, daß die Sagenfigur Prometheus gegen einen tyrannischen und launischen Zeus kämpfte und nicht gegen den biblischen Gott der Liebe und Gerechtigkeit oder gegen „Allah, den Barmherzigen“ des Koran.

Das sowjetische Denken hat hartnäckig und naiv an der promethe-ischen Idee festgehalten ohne Rücksicht auf die Rückschläge, die sie erlitt. Der erste Rückschlag bestand darin, daß ganz entgegen allen kommunistischen Erwartungen der russische Bauer der prometheischen Idee gegenüber immun blieb. Die sowjetischen Kommunisten hatten erwartet, daß das Auftauchen der Traktoren im russischen Dorfe dem religiösen Glauben einen schweren Schlag versetzen würde. Sie konstruierten ein künstliches anti-thetisches Verhältnis zwischen Traktor und Religion. Eine anti-religiöse Broschüre, die in der ersten Fünfjahrplanperiode erschien, trug den Titel „Gebet oder Traktor“ und ein weitverbreitetes Plakat aus derselben Zeit kontrastierte das christliche Kreuz mit dem „kommunistischen" Traktor in der grobschlächtigen Art, die für die Bildpropaganda der Gottlosenbewegung damals so charakteristisch war Die Bevölkerung des russischen Dorfes hat Gebet und Traktor oder Kreuz und Traktor niemals als einander ausschließende Alternativen angesehen, daher brach die Illusion vom atheistischen Traktor sehr bald zusammen, besonders als die Bauern Kreuze auf die Traktoren malten und als Priester Dankgottesdienste bei der Ankunft der ersten Traktoren in den Dörfern zelebrierten.

Auch die Kollektivwirtschaften wurden von den Kommunisten ursprünglich als eine treibende Kraft des Atheismus angesehen. Der Einzel-bauer war religiös, so dachten die Kommunisten, aber der Kollektiv-bauer wird atheistisch sein. Diese Erwartung war ebenso trügerisch wie die Hoffnung auf den Traktor. Die Religion lebte in den neuen Kollektivwirtschaften weiter, selbst die Vorsitzenden dieser Wirtschaften nahmen gelegentlich an Bittgottesdiensten und Kreuzgängen für gute Ernte und Regen teil. Die mißlichen wirtschaftlichen Zustände, die sich in der kollektivisierten sowjetischen Landwirtschaft entwickelten, wurden, sogar nach kommunistischer Darstellung, eine bedeutende Ursache für das Fortleben der Religion im sozialistischen Staate. Doktor Gubanow, einer der Referenten des großen anti-religiösen Seminars, das im Mai 19 57 in Moskau stattfand, wies ausdrücklich auf diesen Zusammenhang zwischen landwirtschaftlichen Krisen und dem Überleben religiösen Denkens unter der Landbevölkerung hin. Religion blieb seiner Auffassung nach erhalten, weil es nicht nur rückständige Kollektivwirtschaften und rückständige Staatsgüter sondern auch ganze Agrarbezirke mit niedrigen Ernteerträgen gebe In anderen Worten, das deutsche Sprichwort „Not lernt Beten“ läßt sich auch auf die Not anwenden, welche die kommunistische Gesellschaftsordnung schafft. Allerdings wollte Dr. Gubanow das Einwirken der Mißstände der Landwirtschaft auf das Fortbestehen der Religion zeitlich mit dem Jahre 19 53 begrenzen, dem Jahre, in dem Chruschtschow die Situation an der Agrarfront in die Hand zu nehmen begann. Man kann dieser Einschränkung nicht zustimmen, denn zumindest eine der Agrarreformen Chruschtschows, die Entwicklung der Neulandgebiete, hat fördernd nicht nur auf die Erhaltung sondern auch auf die Verbreitung religiöser Auffassungen gewirkt. Die Neulandgebiete in Kasachstan und im Altai mit ihrer entwurzelten, mit ihrem Los vielfach unzufriedenen und vom Heimweh geplagten Bevölkerung sind ein Nährboden der Religion geworden, und es fehlt nicht an kommunistischen Beschwerden darüber, daß dort die Prediger der verschiedensten Sekten eine rege Tätigkeit entfalten

Aber kehren wir wieder zum prometheischen Konzept des Kommunismus zurück, soweit es mit dem Kampf gegen die Religion in Zusammenhang steht. Es ist von größter aktueller Bedeutung, denn es erhält immer wieder neue Belebung durch die in steigendem Maße eindrucks-vollen und sensationellen Errungenschaften der sowjetischen Technik. Man braucht hier nur an die künstlichen Erdsatelliten zu erinnern, die von kommunistischer Seite sowohl innerhalb als auch außerhalb der Sowjetunion prompt zu anti-religiösen Zwecken ausgenutzt wurden. Dies ist nicht überraschend, da die sowjetischen Kommunisten den „Sturm auf den Himmel“ stets wörtlich genommen haben. Dieser Ausdruck „Sturm auf den Himmel“ stammt übrigens von Karl Marx, der ihn auf die Pariser Kommunarden von 1871 bezog, die Luftballons benutzten, um den Gürtel der Belagerer zu sprengen. Der Ausdruck „Sturm auf den Himmel“ wurde von den sowjetischen Kommunisten ausgegraben, als ihr Flugwesen Fortschritte zu machen begann Der „Sturm auf den Himmel“, wie ihn die sowjetischen Kommunisten verstanden, war nicht nur die technische Eroberung der Luft sondern auch die Eroberung des Raumes, in dem nach der primitiven Vorstellung Gott wohnen sollte, und es scheint, daß die Kommunisten selbst dieser Meinung in einem negativen Sinne beipflichteten. Wenn sie imstande wären zu zeigen, daß es keinen Gott im Himmel gibt, so dachten sie, dann wäre eine wichtige Runde im Kampf gegen die Religion gewonnen.

Dem Flugzeug wurde daher eine noch größere magische Kraft im antireligiösen Kampf zugeschrieben als dem Traktor. Biedere Bauern aus den sibirischen Hinterwäldern wurden in Flugzeuge gesteckt, um ihnen zu zeigen, daß der Himmel weder mit Gott noch mit Engeln bevölkert ist. Der sowjetische Schriftsteller Viktor Fink beschrieb eine solche Propagandaluftfahrt in einem Buch, das im Jahre 1929 erstmalig erschien In größerem LImfang dienten der prometheischen Propaganda die ersten sowjetischen Stratosphärenflüge im Oktober 1953 und Januar 1934 — sie waren die bescheidenen Vorfahren der Sputniks — und dann wiederum Tschkalows Flug über den Nordpol im Jahre 1937. Wie dieses Ereignis im antireligiösen Sinne interpretiert wurde, zeigt das Gedicht „Der einfache Sowjetmensch“, das das sowjetische prometheisch-mate-rialistische Kredo der dreißiger Jahre beinhaltet. Die beiden für die Tendenz des Gedichtes besonders bezeichnenden Strophen lauten wie folgt:

Den Pol durchkreuzt er mit stolzer Miene den Flußlauf änderte er nach Plan, Berge verrückt er selbst, der kühne, der einfache Sowjetmann.

Sie machen zunichte die Wundermären, Sie rauben den Göttern die himmlischen Auen, sie selbst vollbringen Wunder, die Sowjetleute, die einfachen, wohin wir auch schauen

Dieses Gedicht, das von der Veränderung der Flußläufe und vom Verrücken der Berge spricht, ist charakteristisch für den kommunistischen Versuch, der prometheischen Idee größere Überzeugungskraft zu verleihen, indem wirkliche Errungenschaften übertrieben und Pläne als Taten dargestellt werden.

Da weder der Traktor noch das Flugzeug die Hoffnung der antireligiösen Propagandisten erfüllten, nahmen sie Zuflucht zum Stalin-Plan für die Umwandlung der Natur — der Plan für die Anlegung von Wald-gürteln und den sogenannten „Großbauten des Kommunismus“, wie man die von Stalin geplanten Riesenkraftwerke und Kanäle ursprünglich bezeichnete. Die antireligiösen Propagandisten waren tatsächlich der Meinung, daß diese Bauten — wie sie sagten — „die wachsende Macht der Menschen über die Naturkräfte“ beweisen und somit „ungeheueres Material“ für die atheistische Argumentation liefern würden Als Stalin starb, haben seine mehr praktisch eingestellten Nachfolger den Gebrauch der anspruchsvollen Bezeichnung „Großbauten des Kommunismus“ aufgegeben. Dies heißt aber nicht, daß auf ihre Ausführung in jedem Einzelfall verzichtet wurde, sie verloren bloß die ideologische Bedeutung, die man ihnen ursprünglich beimaß, und damit auch ihren Wert für die antireligiöse Agitation.

Es ist natürlich vom Standpunkt unseres Themas primär nicht so wichtig, ob das sowjetische Regime seine Pläne und Projekte in die Tat umsetzt. Es ist viel bedeutungsvoller, daß die Durchführung des gigantischsten Projektes und des großzügigsten Wirtschaftsplanes kein Argument gegen die Religion ist und auch von dem einfachsten Gläubigen nicht als solches aufgefaßt wird. Ganz im Gegenteil, die Erfüllung vieler sowjetischer Pläne und die Verwirklichung vieler Bauprojekte sind auch vom Standpunkt der Gläubigen aus an sich wünschenswert. Weit davon entfernt sich dem sowjetischen Aufbauwerk zu widersetzen oder ihm gegenüber die Rolle teilnahmsloser Zuschauer zu spielen, sind die Gläubigen — mit Ausnahme der Anhänger einiger kleiner, extremer Sekten — seine aktiven Mitarbeiter. Die materiellen Werte, die in Rußland entstehen, werden somit von Nichtgläubigen und Gläubigen gemeinsam vollbracht und schon deshalb eignen sie sich nicht zu einer Auswertung durch die prometheische Propaganda.

Überwundene antireligiöse Argumente

Das kommunistische Regime hat in den Jahren, in denen es sich in Rußland an der Macht befindet, zwar viele äußere religiöse Einrichtungen zerstört und viele gläubige Menschen verfolgt und zum Schweigen verurteilt, aber in der geistigen Auseinandersetzung mit der Religion ist die Position des Kommunismus heute viel ungünstiger als sie es im Jahre 1917 war. Damals war der Kommunismus noch ein unbeschriebenes Blatt, man konnte der kommunistischen Theorie die kommunistische Praxis noch nicht entgegenhalten. Die Bedeutung der Alternative Kommunismus oder Religion war vielfach verdunkelt, denn Religion in Rußland war zum großen Teil gleichbedeutend mit der offiziellen orthodoxen Kirche, die durch den Rasputinskandal und durch ihre Abhängigkeit von der zaristischen Regierung schwer belastet war. Aber als die Kirche des Zaren und Rasputins zur christlichen Märtyrer-kirche wurde, verloren die antireligiösen Argumente der kommunistischen Partei mehr und mehr ihre Schlagkraft, besonders da der Kommunismus selbst manchen seiner ursprünglichen Idealen und Bestrebungen untreu wurde. Im Jahre 1917 oder selbst im Jahre 1927 war es noch nicht so leicht wie heute, den trügerischen Charakter der Losung zu sehen, die da heißt: „Die Religion spaltet die Menschheit, Kommu-nismus hingegen eint sie“.

Die Idee des Internationalismus und der Gleichheit der Völker schien zunächst untrennbar mit dem Kommunismus verbunden zu sein, und es muß gesagt werden, daß gerade die Gottlosenbewegung in besonders starkem Maße dem internationalen Gedanken zu huldigen schien. Nichts lag den Kommunisten in den ersten Jahren nach der Oktoberrevolution ferner als den Ruhm Rußlands, des russischen Volkes und der russischen Kultur der Welt zu verkünden. Aber dies änderte sich je älter und je fester das Regime wurde. Internationalismus, wie ihn der Kreml schließlich verstand, war nicht mehr ein absoluter Wert, er war nicht mehr die Idee eines Bruderbundes — wenn auch nur der proletarischen Segmente der Nationen des Erdballs — er war zu einer utilitaristischen Konzeption herabgesunken. Der proletarische Internationalismus wurde ausgehöhlt durch die Annahme eines neuen patriotischen, russischen Geschichtsbewußtseins. durch die Privilegien des russischen Volkes als der „ältere Bruder“ aller anderen Völker der Sowjetunion, durch den Angriff auf den sogenannten Kosmopolitismus, durch die offizielle Annahme pan-slawischer Gedankengänge und das inoffizielle Liebäugeln mit dem Antisemitismus. Heute kann kein Zweifel mehr daran bestehen, daß der kommunistische Internationalismus, selbst wenn man von seinen späteren Entartungen absieht, an den Internationalismus und Universa-lismus des Christentums nicht heranreicht. Nicht nur die katholische Kirche und der Weltrat der Kirchen wären imstande, dem Kommunismus eine Lektion im Internationalismus zu erteilen, sondern auch die kleineren international organisierten Sekten wie die Zeugen Jehovas oder die Adventisten des Siebenten Tages. Was die katholische Kirche im besonderen anbelangt, so haben die sowjetischen Kommunisten ihr ursprüngliches Argument, Religion spaltet die Menschheit und dient der Sache des Nationalismus vollständig umgekehrt. Der Vorwurf, den die Kommunisten der katholischen Kirche machen, ist ganz im Gegenteil, daß sie kosmopolitisch und unpatriotisch sei, während die orthodoxe Kirche in kommunistischen Augen wenigstens den Vorteil -auf weist, daß sie stets patriotische und nationalistische Ziele vertreten hat und noch immer vertritt

Ein anderer Vorwurf, der den Religionsgemeinschaften Rußlands viel blutige Verfolgung eingebracht hat, nämlich daß die Religion im Dienste des Klassenfeindes stehe und im antisowjetischen Sinne wirke, ist sogar offiziell aufgegeben worden. Die Kommunisten behaupten, daß sie bereits eine sozialistische Gesellschaft ohne Klassengegensätze aufgebaut haben, obzwar in dieser Gesellschaft religiöse Organisationen noch immer existieren. Damit führen sie ihre frühere Behauptung vom Klassencharakter der Religion ad absurdum. Vom gegenwärtigen kommunistischen Standpunkt aus gesehen, sind die Kirchen in Rußland nicht mehr das Instrument irgendwelcher Überreste der früheren herrschenden Klassen, sie sind die Kirchen der Arbeiter, Kollektivbauern und der arbeitenden Intelligenz — der drei Gruppen, aus denen sich, der offiziellen Terminologie gemäß, das Sowjetvolk zusammensetzt. Der arbeitenden Intelligenz werden wahrscheinlich sogar die 22 000 orthodoxen Priester und die 70 orthodoxen Bischöfe'zugerechnet, denen bis 1936 als angeblichen parasitären Elementen das Wahlrecht entzogen war. Die Behörden schreiben patriotische Gesinnung wenigstens dem überwiegenden Teile der Geistlichkeit zu, und patriotische Gesinnung, wie sie die sowjetischen Kommunisten verstehen, bedeutet Loyalität gegenüber dem Regime. Die kommunistische These über die monolithische Einheit des Sowjetvolkes — die Einheit der Gläubigen und Ungläubigen -bindet die Hände der antireligiösen Propagandisten. Sie müssen den laut propagierten Patriotismus des Klerus und seine Teilnahme an der sowjetischen Friedenskampagne mit der Behauptung in Einklang bringen, daß Religion schädlich ist und bekämpft werden muß.

Das Fehlschlagen der Kulturrevolution

Ein weiterer Fehlschlag im Kampf gegen die Religion ist das mißliche Schicksal der kommunistischen Kulturrevolution. Sie ist sicherlich nicht in dem Sinne und Umfang eingetreten, wie sie die Kommunisten ur-

sprünglich erwartet und angekündigt haben. Das Wesen der Kulturrevolution mußte nach Irrungen und Wirrungen neu definiert werden. Die Kommunisten hatten sich zunächst die Aufgabe gestellt, eine vollständig neue proletarische Klassenkultur sozusagen auf jungfräulichem Boden aufzubauen. Am Anfang der dreißiger Jahre wurde diese „proletarische Kultur" zugunsten einer „sozialistischen Kultur“ aufgegeben, die nicht mehr ein jäher Bruch mit der Vergangenheit sein wollte, sondern im Gegenteil beanspruchte, die großen kulturellen Errungenschaften vergangener Epochen fortzusetzen. Aber trotz der Änderung der Etikette blieb die Qualität der sowjetischen Kultur-und Kunstleistungen enttäuschend vom Standpunkt der Kommunisten selbst. Die rhetorische Frage, wo sind unsere Gogols und Schtschedrins, wo sind unsere großen Meister des Wortes, eine Frage, die immer wieder in den kommunistischen Literaturzeitschriften gestellt wird, ist fast zu einem Verzweiflungsruf der kommunistischen Intellektuellen geworden.

Je weniger die Gegenwart zu bieten imstande war, um so größere Anziehungskraft übte die Vergangenheit aus — die Literatur und Kunstwerke der vorkommunistischen Periode. Die Kommunisten beanspruchten, die Treuhänder dieses Kulturerbes zu sein, eines Erbes, auf dem religiöse Einflüsse unauslöschliche Merkmale hinterlassen haben. Natürlich versuchten die Kommunisten, diese religiösen Elemente hinwegzuinterpretieren, sie als etwas rein zeitlich bedingtes darzustellen, aber dies ändert nichts an der Tatsache, daß sie tagtäglich mit einer in religiösen Traditionen verankerten nationalen Kultur operieren müssen, besonders bei der Erziehung der jungen Generation. Dieser Umstand schwächt den Kommunismus mehr als alles andere im Kampf gegen die Religion und verwickelt ihn immer wieder in unlösbare Widersprüche mit sich selbst.

Der Begriff „Kulturrevolution", der sich der Kommunismus verschrieben hat, wird in Rußland in einem sehr weiten Sinne verstanden. Er schließt nicht nur die Schaffung grundsätzlich neu gearteter Literatur-und Kunstwerke ein sondern auch einen neuen „byt“, um das russische Wort zu gebrauchen — neue Lebensformen. Die radikalsten Verfechter der Kulturrevolution erhofften sich von ihr, daß sie alles umstoßen würde, was auch nur äußerlich an das Christentum anknüpft. Diese Liquidierung der christlichen Formen erwies sich als viel schwieriger, als die Enthusiasten der kommunistischen Neuordnung angenommen hatten. Oft gingen sie über Papierpläne nicht hinaus. Dies war der Fall mit der Kalenderreform. In den zwanziger Jahren fühlten nicht wenige Kommunisten und besonders die Mitglieder des Bundes der kämpferischen Gottlosen, daß es vom atheistischen Standpunkt aus weiterhin untragbar war, die christliche Zeitrechnung beizubehalten. Der sowjetischen Öffentlichkeit wurden darum mehrere Vorschläge unterbreitet, die christliche Zeitrechnung entweder durch eine proletarische oder eine sowjetische Zeitrechnung abzulösen. Das proletarische Jahr sollte am 1. Mai beginnen und die proletarische Ära mit dem Jahre 1890, weil dies das erste Jahr war, in dem die europäische Arbeiterklasse den 1.

Mai feierte Die sowjetische Ära hätte natürlich mit dem Jahre 1917 ihren Anfang genommen, und der 7. November wäre zum Neujahrstag geworden. Ein dritter Alternativvorschlag setzte den Jahresbeginn mit dem 1. Oktober fest, an dem in der ersten Fünfjahrperiode das Wirtschaftsjahr begann. Gleichzeitig sollten auch die Wochentage um-genannt werden. Es gab auch da eine ganze Reihe von Vorschlägen, die die sowjetische Presse im Jahre 1929 veröffentlichte, denn dies war die Zeit, da die Kalenderreformpläne ihren Höhepunkt erreichten. Die Namen welche vorgeschlagen wurden, spiegelten die nüchterne, materialistische Denkweise des Kommunismus wider. Ein Reformer wollte die neuen Wochentage nur 1. Arbeitstag, 2. Arbeitstag usw. nennen, bis man dann schließlich am Ruhetag anlangte. Ein anderer Vorschlag empfahl die Einführung von Wochentagsnamen wie Kulturtag, Gewerkschaftstag, Tag der Partei und Sowjettag. Die Gemäßigteren wollten die alten Bezeichnungen beibehalten, aber mit Ausnahme der beiden Tage, deren russische Namen religiöse Bedeutung haben, nämlich Samstag — auf russisch Subbota, das vom biblischen Sabbath seine Herkunft ableitet, — und Sonntag — auf russisch Woskresenie oder Auferstehung

Aus diesen radikalen Plänen wurde nichts. Das Schicksal des französischen Revolutionskalenders hat die russische Bolschewiki wahrscheinlich davon abgeschreckt, ein ähnliches Experiment in Angriff zu nehmen. Man fürchtete, daß die Annahme des neuen Kalenders die Be-Ziehungen mit fremden Staaten komplizieren könnte, und man war wahrscheinlich auch davon überzeugt, daß die Masse des russischen Volkes die Kalenderreform ignorieren würde. Nur die Abschaffung des christlichen Sonntags wurde in Kraft gesetzt, aber auch dies nur während einer begrenzten Periode, nämlich zwischen 1929 und 1940. Während dieser elf Jahre existierte in Rußland die sogenannte „ununterbrochene Arbeitswoche“. Es war eine Sechstagewoche, und an jedem Tag der Woche sollten fünf Sechstel der Werktätigen arbeiten und ein Sechstel hatte seinen Erholungstag. Dies machte die religiöse Einhaltung des Sonntags natürlich unmöglich. Aber auch dieser kurzlebige Erfolg war nur auf die städtische Bevölkerung beschränkt, auf dem Lande scheint man sich um die Abschaffung des Sonntags wenig gekümmert zu haben.

Auch die Beseitigung der religiösen Feiertage spielte in der kommunistischen Kulturrevolution eine große Rolle. Sie sollten durch neue kommunistische Feiertage ersetzt werden „zu Ehren des Sieges über den Klassenfeind und der großen Klassenkämpfe der Vergangenheit In Wirklichkeit haben diese neuen sowjetischen Feiertage die religiösen Feste nicht ersetzen können, aber es ist zu einer Ko-existenz zwischen den beiden gekommen. Weihnachten und Ostern haben zwar viel von ihrer früheren Bedeutung eingebüßt, aber für Millionen Menschen in Rußland sind sie dennoch die größten Feste des Jahres geblieben. Die kommunistischen Feiertage haben in der geschichtlich gesehen kurzen Zeit der kommunistischen Herrschaft bereits viele Veränderungen durchmachen müssen; der Sterbetag Lenins, der 22. November, der zunächst ein offizieller Feiertag war, wurde im Jahre 1952 wieder zum gewöhnlichen Wochentag degradiert. Der Tag der Pariser Kommune, dem in den ersten Jahren der Sowjetmacht große Bedeutung beigemessen wurde, findet jetzt fast keine Beachtung mehr. Statt eines weltgeschichtlichen Wendepunktes erscheint die Kommune nur als eine interessante Episode, die jetzt ganz von den Errungenschaften des russischen und chinesischen Kommunismus überschattet wird. Der Tag der Stalinverfassung, der 5. Dezember, wurde zum Tag der Sowjetverfassung, wodurch er viel von seinem ursprünglichen Zwecke, nämlich der Glorifizierung Stalins, des angeblichen Verfassungsschöpfers, einbüßte. Der 21. Dezember. Stalins Geburtstag, in den letzten Jahren der Stalinherrschaft ein Feiertag de facto, wenn auch nicht de jure, wird jetzt beinahe vollständig ignoriert, mit der einzigen Ausnahme von Georgien, wo der verstorbene Diktator von einem Teil der Bevölkerung mehr als ein berühmter Landessohn denn als Führer des Weltkommunismus und Nachfolger Lenins gefeiert wird.

Andererseits haben sich der 1. Mai und der Jahrestag der Oktoberrevolution fest eingebürgert und sind echte Bestandteile der neuen säku-laristischen Zivilisation geworden. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, daß diese Tage zu Volksfesten umgewandelt werden, ähnlich wie der 14. Juli in Frankreich, was sie natürlich ihrer eigentlichen weltanschaulichen Bedeutung und Schärfe berauben wird. In dieser Hinsicht war es charakteristisch, daß Patriarch Alexius am Vorabend des Oktoberrevolutionsfestes des Jahres 1958 Chruschtschow zum „all-nationalen-Feiertag" gratulierte Was den ersten Mai anbelangt, so hat er einen gründlichen Bedeutungswandel durchgemacht und ist zur Travestie dessen geworden, was dje Schöpfer des Maitags-Gedanken, die Führer der westund mitteleuropäischen Arbeiterbewegung, ursprünglich vorgesehen hatten. Der Maitag hat in Rußland lange aufgehört, das Fest der Emanzipation der Arbeiter und der internationalen Brüderlichkeit zu sein. Er wurde zur Manifestation für die Erfüllung der Produktionsziele der Fünfjahrpläne und die Stärkung der Arbeitsdisziplin. Der Kampftag der Arbeiterklasse gegen ihre Unterdrücker und Ausbeuter wurde in Rußland zum Kampftag gegen jene Teile der Arbeiterschaft, die sich Moskaus Führung nicht unterstellen wollten. Grobe Angriffe auf die Sozialdemokratie und die nicht-kommunistischen Gewerkschaften waren ein charakteristisches Merkmal vieler sowjetischer Maifeier-tage Der Wesensinhalt sowohl der Maifeier als auch der Oktoberrevolutionsfeier änderte sich mit jedem Schwanken der sowjetischen Innen-und Außenpolitik. Diese Änderungen spiegeln sich gewöhnlich in den Losungen wider, die das Zentralkomitee der kommunistischen Partei am Vorabend der Feiern veröffentlicht. Wenn man diese Losungen über die Jahre hinaus verfolgt und miteinander vergleicht, kann man wohl nicht verfehlen, den opportunistischen, taktischen Charakter und die innere Armut der beiden sowjetischen Hauptfeste festzustellen.

Nicht nur der Staat und das Volk in ihrer Gesamtheit haben Feste, auch die Einzelpersönlichkeit hat ihre Festtage, der Hochzeitstag z. B.

oder, zumindestens für viele Bewohner christlicher Länder, der Tag der Taufe und der Konfirmationstag bei den Protestanten. Die kommunistische Kulturrevolution konnte auch an diesen Festen nicht achtlos vorbeigehen. Sie wollte sie umformen und die alteingebürgerten christlichen Zeremonien durch neuzeitliche Riten ersetzen. Der Erfolg dieser Versuche blieb jedoch in engen Grenzen, das Regime hat keinen befriedigenden Ersatz weder für die christliche Taufe noch für die christliche Hochzeit gefunden. In den ersten Jahren des Sowjetregimes hörte man -viel von sogenannten „Roten Hochzeiten“ und von kommunistischen Geburtsfeiern, den sogenannten Oktyabriny „Oktoberungen". Ein Kind sollte nicht getauft, sondern „oktobert" werden und dabei womöglich auch einen revolutionären statt eines christlichen Vornamens erhalten.

Gewisse enthusiastische Mitglieder der Partei und des kommunistischen Jugendverbandes nannten ihre Kinder tatsächlich „Oktyabrina", „Swoboda“, „Mai“, „Komintern“, „Revoljutsija", „Lenin“, „Ninel" (dies ist „Lenin“ umgekehrt) und „Kim“ (die russische Abkürzung für „Kommunistische Jugendinternationale“). Solche Exzesse der Namensgebung, die in den zwanziger Jahren nicht selten waren, haben ganz aufgehört.

Auch die Ausdrücke „Oktoberung“ und „Rote Hochzeit“ sind in Vergessenheit geraten. Weder die eine noch die andere konnten in dauernde Einrichtungen des sowjetischen Lebens umgewandelt werden. Dazu hätte die kommunistische Partei so etwas wie eine Gegenkirche mit einem Ritual werden müssen.

In den Nachkriegsjahren wurde jedoch der Versuch gemacht, die „Rote Hochzeit“ der zwanziger Jahre als sogenannte „Komsomolhoch-zeit" wieder aufleben zu lassen. Nachdem viele junge Leute, die unter der sowjetischen Herrschaft heranwuchsen und in der kommunistischen Schule erzogen wurden, dennoch immer wieder kirchlich getraut zu werden wünschten, hält es die Partei und der Komsomol eben für notwendig, die Kirche nicht nur rein negativ sondern auch positiv zu bekämpfen. Viel Mühe wird jetzt darauf verwendet, die zivile Hochzeit schöner und würdevoller zu gestalten und besonders das weiße Brautkleid kommt dabei wieder zu Ehren. Es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, daß die Partei den Konkurrenzkampf mit der Kirche gewinnen kann. Auch ein Standesamt mit Blumen, bequemen Klubsesseln und guten Teppichen kann noch nicht die gleiche emotionale Anziehungskraft ausüben wie ein Hochzeitsgottesdienst in einer russischen orthodoxen Kirche. Gewiß, es gibt in Rußland vielleicht mehr noch als anderswo Leute, die an der kirchlichen Heirat nicht aus religiösen Gründen festhalten sondern aus Liebe für Tradition und Pomp. Eine kirchliche Heirat im kommunistischen Staate ist daher nicht in jedem einzelnen Falle ein Sieg der Religion über den Kommunismus, aber es ist in jedem Fall eine Schlappe für die materialistische Weltanschauung. Die Frage der sozialistischen Konfirmation ist in der Sowjetunion natürlich nur in den protestantischen Gebieten, in Estland und Lettland aktuell geworden. In vielen Bezirken Lettlands wurde ein sogenanntes „Fest der Großjährigkeit“ eingeführt, das ungefähr der „Jugendweihe" in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands entspricht.

Die kommunistische Moral

Die Kommunisten waren nicht nur bestrebt, einer neuen Kultur zum Sieg zu verhelfen, sie haben sich auch zum Ziel gesetzt, eine neue Moral zu schaffen, von der sie behaupten, daß sie der religiösen Moral überlegen ist und diese ersetzen kann und wird. Vom Standpunkt des dialektischen Materialismus gesehen, gibt es keine Moral an sich, jede Moral ist der Ausdruck ganz bestimmter politischer und soziologicher Verhältnisse und ist daher häufigen Änderungen unterworfen. Im kommunistischen Staate ist der Inhalt des Moralbegriffes zunächst von den Notwendigkeiten des Kampfes für die Zerschlagung der alten Gesellschaftsordnung bestimmt, und später dient die Moral dem Kampfe um die Konsolidierung und den Ausbau der Macht der Arbeiterklasse.

Man kann die ständige Neuformulierung der Moralbegriffe im kommunistischen Staate sehr leicht an Hand der sowjetischen Familiengesetzgebung studieren. Jede Etappe der sowjetischen Familiengesetzgebung entspricht, von einem orthodoxen kommunistischen Standpunkt aus gesehen einer neuen Etappe in der sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklung des Landes. Jedes Gesetz, das vom sowjetischen Regime erlassen wurde, war dialektisch gesehen „richtig", zumindest zur Zeit, da es in Kraft trat. Das erste sowjetische Familiengesetz vorn Dezember 1917, von Lenin selbst unterzeichnet, erlaubte einseitige Ehescheidungen, aber erkannte nur registrierte Ehen an. Das Gesetz ging darauf aus die kirchliche Heirat zu bekämpfen und das konnte nur dyrch ein geordnetes staatliches Registrierungssystem geschehen Was jedoch richtig für 1917 war, hatte im Jahre 1926 seine Richtigkeit verloren. Der Einfluß der Kirche in der Stadt war damals bereits etwas zurückgedrängt. Der kommunistische Staat konnte es sich daher leisten im Familienkodex von 1926 neben der registrierten auch die de facto-Ehe anzuerkennen Das Prinzip der einseitigen Ehescheidung blieb weiter bestehen. Zehn Jahre später, im Jahre 1936, als der Aufbau des Sozialismus in Rußland fast vollendet war, ergab sich zum ersten Male die Notwendigkeit die „sozialistische Familie“ zu stärken. Die sowjetische Regierung verfügte daher eine Erschwerung der Scheidung durch Einführung einer neuen, mehr komplizierten Prozedur und durch die Erhöhung der Scheidungsgebühren.

Nach acht Jahren wurde die Familiengesetzgebung abermals revidiert. Der kolossale Verlust an Menschenleben, den der Krieg mit sich ge-bracht hatte, sollte durch eine staatliche Geburtenförderung wettgemacht werden. Dies verlangte u. a. ein stabiles Familienleben. Eine Verordnung des Präsidiums des Obersten Rates der Sowjetunion vom 8. Juli 1944 machte es sich daher zur Aufgabe, die Auflösung der Ehe so schwer wie möglich zu machen. Mit der einseitigen Scheidung und der Anerkennung von de facto-Ehen war es vorbei. Auch die Gleichberechtigung zwischen ehelichen und unehelichen Kindern, die bis dahin bestand, wurde über Bord geworfen. Die uneheliche Mutter verlor das Recht, die Vaterschaft ihres Kindes zu erforschen und sie verlor auch den Anspruch auf Alimente. Sie erhielt nur ein Anrecht auf staatliche Unterstützung oder auf Unterbringung ihres Kindes in einem staatlichen Heim. LInter der neuen Gesetzgebung erhielten uneheliche Kinder sogenannte unvollständige Geburtsscheine, auf denen der Name des Vaters fehlte. Die totale Umformung der Familiengesetzgebung, die der Ukas vom 8. Juli 1944 mit sich brachte, wurde in der Sowjetunion wiederum als ein großer Fortschritt und als ein neuer Triumph der sozialistischen Moral gewertet.

Aber auch dieser neue Ausdruck der sozialistischen Moral war in zehn bis zwölf Jahren wiederum veraltet. Der sowjetische Staat, der sich jetzt bereits in der Übergangsperiode zum Kommunismus befindet, und der den Wiederaufbau nach dem Kriege erfolgreich gemeistert hat, bedarf nicht mehr einer so strengen Moral und einer so strikten Gesetzgebung, wie sie in einer anderen Situation Stalin dekretieren zu müssen glaubte. Es wird daher in den Kreisen der sowjetischen Juristen eine neue Revision der Familiengesetzgebung erwogen, die die Scheidung wieder erleichtert, die Erforschung der Vaterschaft unehelicher Kinder unter gewissen Umständen ermöglicht und der de facto-Ehe wiederum einen gewissen Status einräumt.

Es ist bei der Erörterung dieser Dinge leicht, in eine pharisäische Haltung zu verfallen. Die Familiengesetzgebung ist auch in nicht-kommunistischen Ländern der Gegenstand häufiger Experimente, und es wäre unrichtig, dies beschönigen zu wollen, aber die Gesetzgeber der demokratischen Staaten betrachten sich nicht als die Schöpfer einer neuen Moral, und was immer diese Gesetzgebung auch verfügen mag, so bleibt es den Vertretern der religiösen Moral unbenommen ihren eigenen Standpunkt zu verteidigen. In Sowjetrußland hingegen ist jede offene polemische Auseinandersetzung mit der offiziellen Moral unmöglich, und selbst für indirekte Auseinandersetzungen stehen die Mittel der modernen Massenbeeinflussung wie Presse, Rundfunk und Film nicht zur Verfügung. Lind dennoch hat die kommunistische Moral die Massen des Volkes nicht erobert. Sie scheinen besonders in den Jahren da Zügellosigkeit im Privatleben gesetzlich sanktioniert war, im sicheren Hafen der traditionellen religiösen Moral Zuflucht gesucht zu haben. Es läßt sich denken, daß die Experimente mit der Familiengesetzgebung besonders auf die Ablehnung der Frauen stieß und sie in ihren religiösen Überzeugungen bestärkten. Nach den Schätzungen der kommunistischen antireligiösen Experten stellen die Frauen mindestens 70 Prozent der Gläubigen der Sowjetunion dar In manchen religiösen Sekten sind sogar 80 bis 90 Prozent der Mitglieder weiblichen Geschlechts

Diese Zahlen zeigen wie sehr die an die Frauen gerichtete antireligiöse Propaganda fehlgeschlagen hat. Es gibt kaum eine sowjetische, antireligiöse Broschüre und kaum einen antireligiösen Vortrag, der nicht darauf hinweisen würde, daß die Religion die Frau zur Ungleichheit verurteilt und ihre Ausbeutung durch den Mann gutheißt. Daß diese Argumente versagten, liegt nicht nur im konservativen Beharrungsvermögen der Frauen, über die die kommunistischen Propagandisten oft Klage führen, sondern auch darin, daß die Gleichstellung der Frau im Sowjetstaate in vielen Fällen ein zweifelhafter Segen ist. Sie hat gewiß ihre positiven Seiten, aber sie bedeutet auch die Heranziehung der Frau zur schwersten Männerarbeit. Das Frauenideal der Sowjets wurde die rücksichtslose Rekordbrecherin, die es mit jedem Mann aufnehmen kann, und sowjetische Schriftsteller ergingen sich viele Jahre hindurch in kritikloser Bewunderung weiblicher Schwerarbeiter. Nur allmählich scheint diese Einstellung überwunden zu werden, und im vierzigsten Jahre der Sowjet-macht wurde den Frauen tatsächlich versprochen, daß sie als Bergarbeiterinnen nur noch im Tagebau beschäftigt werden sollen. So konnten sich Millionen Frauen schwer davon überzeugen lassen, daß der Kommunismus ihr treuester Freund ist, die Religion sie jedoch erniedrigt.

Das Problem der Moral ist jedoch nicht mit der Familien-und Geschlechtsmoral erschöpft. Es muß noch in einem weiteren Rahmen betrachtet werden, im Rahmen der so einfachen und doch so herausfordernden Frage „Was ist ein guter Mensch?" Diese Frage wird in Ruß-land wie überall von vielen gestellt und wenigstens in einem Falle wurde sie öffentlich erörtert, nämlich als im Herbst des Jahres 1952 ein junger russischer Bergarbeiter namens Astrachantsew die „Komsomolskaja Prawda", das Organ des kommunistischen Jugendverbandes ersuchte, ihm doch erklären zu wollen, was den die Merkmale eines guten Menschen wären. „Komsomolskaja Prawda“ öffnete seine Spalten nicht einer Diskussion über Astrachantsews eigentliche Frage, wie man ein guter Mensch sein kann, sondern über die Merkmale eines guten Sowjetmenschen, „der der Heimat, der Partei und dem üenossen Stalin ergeben ist Die elementare Sehnsucht eines jungen Russen nach dem Guten wurde sofort in die Zwangsjacke kommunistischer Formulierungen gepreßt, denn der von der Politik losgelöste gute Mensch kann und darf im sowjetischen Staate nicht existieren. Diese von der Komsomols-kaja Prawda gebrauchten Formulierungen nahmen die Antwort auf Astrachantsews Frage bereits vorweg. Der gute Mann ist der Mann, der der Partei und der Stalin ergeben ist. Diese Bezugnahme auf Stalin in einer Diskussion über die Merkmale des guten Mannes ist charakteristisch für die kommunistische Moral, wie sie offiziell durch viele Jahre hindurch interpretiert wurde. Bis 195 3 war Loyalität zu Stalin eine conditio sine qua non für menschliche Anständigkeit, und die Persönlichkeit Stalins war das Beispiel, dem jeder gute Sowjetbürger zu folgen verpflichtet war. Die Entstalinisierung führte daher zu einer Krise des ganzen kommunistischen Erziehungssystems, und sie beraubte die kommunistische Moral um einen guten Teil des Inhaltes, den sie eine lange Zeit hindurch besessen hatte.

Entstalinisierung und Religion

Dies ist nicht der einzige Grund, warum die Entstalinisierung tief in das Problem „Religion in Sowjetrußland" hineinragt. Der sowjetische Kommunismus war niemals so nahe daran, ein Religionsersatz zu werden wie in den Jahren, da der Stalinkult die nüchterne materialistische Ideologie des Marxismus um ein stark ausgeprägtes irrational-emotionales Element bereicherte. Im Lichte der offiziellen Propaganda erschien die Personalität Stalins nicht mehr als etwas Zeitgebundenes, sondern von permanenter, immerwährender Bedeutung. Auch einige Tage nach Stalins Tod wurde dieser Mythos der Stalinischen Unvergänglichkeit noch immer aufrecht erhalten. Die offizielle sowjetische Nachrichtenagentur TASS erwähnte damals einen Vorschlag, wonach Stalin zum ewigen Mitglied des Moskauer Sowjets gemacht werden sollte. Daraus wurde aber nichts, die Stalinverehrung wurde offiziell abgestoppt, zunächst stillschweigend und später ausdrücklich.

Die Entstalinisierung schwächte den Kommunismus in seiner Auseinandersetzung mit der Religion und schaffte besonders in den Herzen und Hirnen der sowjetischen Jugend ein Vakuum. Stalin war stets als der Mann gefeiert worden, der die Nöte und Wünsche der Jugend wie kein anderer kennt und der ihr das geistige Rüstzeug zum Aufbau der kommunistischen Gesellschaftsordnung gibt. Zwar hieß der Komsomol offiziell noch Leninistisch-Kommunistischer Jugendverband, der Akzent wurde aber immer mehr auf Stalin verlegt. In den Zeitungen und auf Plakaten wurde mehr und mehr vom leninistisch-stalinistischen Komsomol gesprochen. In Tscheljabinsk nannte sich die lokale Jugendzeitung „Die Stalingeneration“, in Minsk „Die Stalinjugend" und in Saratow und in Georgien „Der Jungstalinist“ Mit der Entstalinisierung brach die Welt der jungen Menschen zusammen, die im stalinistischen Geiste, in der Bewunderung Stalins — ja fast möchte man sagen — in der Anbetung Stalins ausgewachsen waren. Die Enttäuschung, die sich der jungen Menschen daraufhin bemächtigte, kam auf verschiedene Weise zum Aus-drude. Die Komsomolführer selbst beklagten sich über das Wachsen nihilistischer Strömungen in einem Teil der Jugend Heute, wie vor fast hundert Jahren, bedeutet Nihilismus in Rußland die Ablehnung der existierenden Ordnung. Der Nihilismus macht aus manchen Alkoholiker und Hooligans, aus anderen Bewunderer des Auslands und aus den wertvolleren Elementen der Jugend ernste Gegner des herrschenden Systems.

Dieser sogenannte Nihilismus hat auch manche zur Religion geführt. Daß diese Fälle nicht so vereinzelt sind, läßt sich daraus schließen, daß das Regime spezielle Maßnahmen gegen das Eindringen religiöser Gedankengänge in die Reihen der Sowjetjugend ergreift. Im November 19 5 8 wurde in Moskau ein „Klub junger Atheisten“ gegründet, der es sich zur Aufgabe macht, unter der gläubigen Jugend der sowjetischen Hauptstadt — sowohl an den Universitäten als auch in den Gemeinschaftswohnungen jugendlicher Arbeiter — im antireligiösen Sinne zu wirken Auch soweit der Nihilismus der Jugend nicht religiöse Ausdrucksformen findet, beraubt er die kommunistische Partei des früher mit solchem Stolz vorgebrachten Argumentes, wonach Kommunismus und Jugend identische Begriffe wären. Die Identifizierung des Kommunismus mit dem Heute und dem Morgen und der Religion mit dem Gestern hat sich inzwischen als trügerisch erwiesen. Ein sowjetischer Dichter sprach im Kriege von den frommen alten Leuten, die für ihre gottlosen Enkel beteten. Das hat es bestimmt gegeben und gibt es auch heute noch. Aber es gibt im heutigen Rußland auch Kinder, die für ihre gottlosen Eltern beten und die das Überleben der Religion in der nächsten Generation sichern werden.

II. Kapitel

Da wir in einigen großen Zügen, wenn auch nur sehr unvollständig, die Gründe erwähnt haben, die für das Fortleben der Religion in Ruß-land maßgebend sind, mag es nun angezeigt sein, auf die institutionellen Träger dieses religiösen Fortlebens etwas näher einzugehen. Man kann sie in drei Gruppen einteilen, und diese Einteilung deckt sich immer mit jener, die von den sowjetischen Stellen selbst angewendet wird. Die erste Gruppe besteht aus der russischen orthodoxen Kirche, die von einer speziellen Staatsbehörde, dem „Rate für die Angelegenheiten der orthodoxen Kirche“ beaufsichtigt wird. Man könnte vielleicht dieser Gruppe noch die Armenische Kirche zurechnen, die in der Armenischen Sowjetrupublik dieselbe Rolle einer semi-offiziellen Kirche des atheistischen Staates spielt wie die orthodoxe Kirche im eigentlichen Rußland. Zur zweiten Gruppe gehören jene Religionen und Kirchen, die unter der Aufsicht der zweiten „religiösen“ Staatsbehörde stehen, nämlich des „Rates für die Angelegenheiten religiöser Gemeinschaften“. Als dieser Rat organisiert wurde, nämlich im Juni 1944, wurde keine volle Liste der religiösen Körperschaften gegeben, die in seine Kompetenz fallen. Nur einige wurden aufgezählt, darunter die Katholiken, Luthe-raner, Mohammedaner, Juden und Buddhisten Die kleineren christlichen Gruppen wurden in der Verlautbarung über die Konstituierung des Rates einfach als „Sektenorganisationen“ zusammengefaßt. Erst einige Jahre später, aus Anlaß der religiösen Friedenskonferenz in Zagorsk, im Jahre 1952, veröffentlichte die sowjetische Presse eine vollständigere Liste der Gruppen und Kirchen, welche offizielle Anerkennung genießen Mit Erstaunen konnte man bei dieser Gelegenheit die außerordentliche Vielfalt des religiösen Lebens der Sowjetunion feststellen. Die Teilnehmerliste der Konferenz von Zagorsk erweiterte zwar sehr beträchtlich unsere Kenntnis über den Fortbestand der Religion in Rußland, aber sie gab uns doch auch nur ein unvollständiges Bild, denn neben der orthodoxen Kirche und den anerkannten Religionsgemeinschaften gibt es noch andere, die sich keiner offiziellen Anerkennung erfreuen und zum Teil noch immer recht scharfer Verfolgung ausgesetzt sind. Zu dieser dritten Gruppe gehören vor allem die Zeugen Jehovas, die Pfingstbewegung und noch andere kleinere Gruppen, die nur lokale Bedeutung besitzen.

Die orthodoxe Kirche

Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß von allen religiösen Institutionen Rußlands die orthodoxe Kirche die weitaus bedeutendste ist. Sie ist bedeutend genug, um den kommunistischen Staat zu zwingen, ihr besondere Konzessionen zu machen und ihren Würdenträgern eine gewisse Vorzugsstellung einzuräumen. Diese Politik der Anerkennung und Bevorzugung der orthodoxen Kirche geht auf das Jahr 194 3 zurück, als Stalin die Beziehungen zwischen Staat und Kirche normalisierte und die Erlaubnis zur Wahl eines russischen orthodoxen Patriarchen gab. Diese neue religiöse Politik des Kreml wurde nie wieder rückgängig gemacht, auch nicht in der Zeit des starken Auflebens der antireligiösen Kampagne nach dem Tode Stalins. Die Konzessionen an die Kirche hatten jedoch bereits in den ersten Nachkriegsjahren ihren Höhepunkt erreicht. Seither gab es keine wesentlichen neuen Zugeständnisse an die Kirche selbst. Z. B. die acht Priesterseminare und die zwei theologischen Akademien blieben das Maximum dessen, was der Kirche an Lehranstalten zugebilligt wurde. Andererseits aber zögerte der kommunistische Staat nicht, gewisse kirchliche Persönlichkeiten mit Ehren zu überhäufen, was nicht der Religion sondern letzten Endes dem Regime zugute kommt. Hierher gehört die Verleihung von Orden an den Patriarchen und den Metropoliten Nikolaj, die Betreuung von prominenten Vertretern der orthodoxen Kirche mit Ehrenämtern in verschiedenen Sowjetorganisationen, wie dem Allslawischen Komitee, der Friedensbewegung und dem Veteranenverband, oder die seit 195 5 praktizierte Hinzuziehung von kirchlichen Würdenträgern zu diplomatischen Empfängen.

Der Waffenstillstand, der zwischen Staat und Kirche geschlossen wurde, ist eines der kompliziertesten Phänomene in der Geschichte der Sowjetunion, und bei seiner Erklärung muß man sich vor oberflächlichen Vereinfachungen hüten.

Es wäre unrichtig, wenn man den Umschwung in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche nur mit Hilfe der materialistischen Dialektik erklären wollte. Damit ließe sich bestenfalls die Haltung des kommunistischen Staates rechtfertigen, nicht aber die Haltung der Kirche. Aber auch auf Seiten des Staates gab es eine ganze Reihe von Beweggründen, die zum Konkordat mit der orthodoxen Kirche führten. Zum Teil sind sie rein opportunistischer Natur gewesen. Der Vorteil eines Burgfriedens mit der Kirche in einem Krieg, in dem es um Leben und Tod des Regimes ging, war evident. Ein Burgfriede war auch von Vorteil, als sich die Kriegsgeschicke gewendet hatten und die Rote Armee sich im Vormarsch auf verschiedene Länder befand, in deren religiösem Leben die orthodoxe Kirche eine ausschlaggebende Rolle spielt — Rumänien, Bulgarien, Serbien.

Andererseits scheint sich der russische Kommunismus zu einer echten Umwertung der historischen Rolle der russischen orthodoxen Kirche durchgerungen zu haben. Dies steht im engen Zusammenhang mit der Umformung des russischen Geschichtsbildes, die in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre begann und während des Krieges seinen Höhepunkt erreichte. Die neue patriotische Geschichtsauffassung der Sowjets, die allem Ehre zollt, was groß und erfolgreich in der russischen Geschichte war, konnte auch an der historischen Bedeutung der orthodoxen Kirche nicht achtlos vorbeigehen. Die orthodoxe Kirche erschien jetzt als eine Institution, die ungeachtet ihrer Entartung unter den späten Romanows einen nicht unbeträchtlichen Anteil an der Bildung des moskowitischrussischen Staates, an der Entwicklung seiner Kultur und an dem Siege über seine Feinde hatte. So hebt der sowjetische Professor Rozental in einer im Jahre 1957 erschienenen Broschüre über die Geschichte des orthodoxen, katholischen und protestantischen Christentums hervor, daß „die orthodoxe Geistlichkeit nicht selten der weltlichen Macht Unterstützung im Kampf für politische 'Vorwärtsentwiddung und nationale Unabhängigkeit gewährte /Rozental nennt dann eine ganze Reihe orthodoxer kirchlicher Persönlichkeiten, die der gegenwärtigen sowjetischen Geschichtsauffassung gemäß, eine positive Rolle spielten, z. B.den von der Kirche als Heiligen verehrten Sergius von Radonesch, den Ratgeber des Nationalhelden Dmitry Donskoj, und den Patriarchen Her-mögen, der sich zu Beginn des 17. Jahrhunderts beim Abwehrkampf gegen die polnische Invasion hervortat. Man ist versucht, dieser Liste der orthodoxen kirchlichen Patrioten drei Namen aus der Sowjetzeit hinzuzufügen, nämlich die der Patriarchen Sergius und Alexius und des Metropoliten Nikolaj.

Diese drei kirchlichen Würdenträger, die an der Annäherung zwischen Staat und Kirche führend beteiligt waren, mögen keine andere Wahl gehabt haben als die von Stalin angebotene Hand zu ergreifen. Aber dennoch wäre es falsch anzunehmen, daß ihre Kollaboration mit dem Sowjetregime nur von der Furcht vor neuen Verfolgungen bestimmt war. Über Zwang und Furcht hinaus gab es eine echte Annäherung zwischen Staat und Kirche. Die Kirche und ihre Wortführer sehen sich angezogen von den patriotischen und nationalistischen Elementen, die Stalin in die offizielle kommunistische Ideologie hineingeschmuggelt hatte. Aber genauso wie für den Staat gab es auch für die Kirche opportunistische Beweggründe für das Konkordat. Die Moskauer Patriarchats-kirche erkaufte sich die Tolerierung nicht nur im Innern des Landes, sie erhielt durch ihre Verständigung mit dem Staate auch offizielle Unterstützung bei allen Versuchen, ihre Jurisdiktion auf strittige Gebiete auszudehnen, wie auch bei ihren Bemühungen, schismatische Gruppen zu bekämpfen und nicht zuletzt bei der Verfechtung ihres Anspruches auf eine führende Rolle in der orthodoxen Welt.

Wenn gesagt wird, daß sich die orthodoxe Kirche seit dem Konkordat im Jahre 1943 in einer privilegierten Stellung befindet, so ist das natürlich ein sehr relativer Begriff. Die privilegierte Stellung der Orthodoxie gegenüber den anderen Religionen des Sowjetreiches besteht darin, daß sie bessere Möglichkeiten zur Ausbildung des Priesternachwuchses genießt als andere, daß sie es verhältnismäßig leicht findet, mit ihren Gläubigen in Verbindung zu bleiben und daß sie auch in der schlimmsten Zeit des stalinistischen Terrors nach dem zweiten Weltkriege nie ganz von ihren Glaubensbrüdern in anderen Ländern abgeschnitten wurde. Aber auf der anderen Seite ist auch die russische orthodoxe Kirche noch immer großen Bedrängnissen ausgesetzt. Auch sie ist an das Gesetz gebunden, das religiöse Betätigung außerhalb des Gottesdienstes und besonders die Unterweisung der Jugend im Glauben unmöglich macht.

In einigen Gebieten der Sowjetunion haben die Behörden die russische orthodoxe Kirche begünstigt. Das geschah dort, wo sie anderen weniger loyalen Religionsgemeinschaften gegenüberstand, vor allem in den neu annektierten Grenzländern, besonders in der Westukraine und in den Baltischen Staaten. Aber es gibt andere Gebiete, wo das religiöse Wiedererwachen systematisch unterbunden wurde. Nach wie vor ist der russischen orthodoxen Kirche Zutritt zu ihren früheren Missionsgebieten in Nord-und Ostsibirien untersagt, und in den neuen sozialistischen Städten wie Magnitogorsk und Komsomolsk konnten keine Kirchen geöffnet werden.

Im allgemeinen läßt sich sagen, daß sich der Einfluß der orthodoxen Kirche von Westen nach Osten vermindert. Er ist am stärksten in den während des Krieges zeitweise besetzten Gebieten, wo die Bevölkerung spontan das religiöse Leben wiederherstellte. Er ist verhältnismäßig schwach im großen sibirischen Raum, wo nur ein Teil der früheren Diözesen wiedererrichtet werden konnte, und wo es kein einziges orthodoxes Priesterseminar gibt, und im sowjetischen Fernen Osten sind die orthodoxen Gotteshäuser besonders dünn gesät.

Welchen Bedrängnissen und Freiheitsbeschränkungen die orthodoxe Kirche in Rußland im einzelnen ausgesetzt ist, kann wie so viele andere Dinge in der Sowjetunion nur geahnt werden. Man kann es wohl als sicher ansehen, daß der Staat die Kirchen und selbst die Priesterseminare und die theologischen Akademien mit Leuten durchsetzt, die sein besonderes Vertrauen genießen und die den Behörden in ihren geist-lichen Ämtern in verschiedener Weise zu Dienste stehen. Dieser Einbruch von Regimeagenten in die Kirche ist sicher die schwerste Gefahr, der sich die russische Orthodoxie gegenüber sieht. Selbst der bloße Verdacht der Gläubigen, daß gewisse kirchliche Funktionäre dem Regime mehr dienen als der Kirche, vermindert ihre Autorität und führt gelegentlich zu ihrer Boykottierung von Seiten der Gläubigen. Es ist durchaus möglich, daß diese Verdächtigungen nicht immer angebracht sind. Sie sind jedoch durchaus verständlich, wenn man in Betracht zieht, daß die sowjetischen Sicherheitsbehörden auf einer sehr breiten Front operieren und die Kirche notwendigerweise als ein wichtiges Operationsfeld betrachten müssen. Das Mißtrauen der Gläubigen erhält auch dadurch Nahrung, daß frühere Zöglinge der theologischen Schulen in einigen Fällen von der Kirche abgefallen sind und sich dann sofort als atheistische Propagandisten betätigt haben. Es ergibt sich dann die Frage, ob es sich hier um wirkliche Renegaten handelt oder um Agenten, die einfach von der Partei oder den Sicherheitsbehörden in eine theologische Lehranstalt abkommandiert wurden.

Schließlich dürfte sich die orthodoxe Kirche dessen bewußt sein, daß sie nur Duldung genießt, aber kein wirkliches Recht auf Existenz im kommunistischen Staat hat. Es ist eine Duldung auf Widerruf und die kirchlichen Würdenträger müssen daher jede politische Änderung in der Sowjetunion mit Beunruhigung betrachten und befürchten, daß sie sich zum Schaden der Kirche auswirken könnte. Zu den Ereignissen, die Unsicherheit in kirchlichen Kreisen hervorriefen, gehört vor allem der Tod Stalins, auf den ja wirklich eine bedeutende Belebung der antireligiösen Propaganda folgte. Auch die Entlassung Schukows mußte das Unbehagen der Patriarchatskirche erregen. Dem Marschall wurde nachgesagt, daß er, ohne selbst Gläubiger zu sein, die Kirche als nationale russische Institution mit einem gewissen Wohlwollen betrachtete. Tatsächlich ist nach Schukows Ausbootung die atheistische Agitation in der Armee wieder viel regsamer geworden.

Sollte die gegenwärtige antireligiöse Propaganda wieder in antikirchliche Propaganda umschlagen, dann würde die orthodoxe Kirche eine besonders empfindliche Angriffsfläche bieten. Das Regime könnte gegen sie die verhältnismäßige Wohlhabenheit ihrer Geistlichen ausspielen. Diese spiegelt zwar eine sehr positive Seite des gegenwärtigen russischen kirchlichen Lebens wider, die Freigiebigkeit der Gläubigen, aber sie ist voll von Gefahren für die Zukunft, auch wenn keine neue Verfolgung einsetzt. Der Priesterberuf mag in Sowjetrußland leicht zu lukrativ werden und darum einen unerwünschten Typ materialistisch gesinnter Menschen anziehen.

Baptisten, Katholiken, Lutheraner

Abgesehen von der russischen orthodoxen Kirche gibt es nur noch eine andere religiöse Organisation, die nicht nur lokale Bedeutung besitzt sondern über ganz Rußland verbreitet ist. Dies ist der „All-Unions-rat der Evangelischen Christen und Baptisten“. Die Sowjetbehörden haben die Bildung dieser Körperschaften in der Hoffnung begünstigt, daß sie die sowjetische Politik in ähnlicher Weise unterstützen wird wie die orthodoxe Kirche. Außerdem erwartet die Regierung, daß der Evangelisch-Baptistische Rat die Zusammenfassung der verschiedenen christlichen Sekten bewerkstelligen und so die Übersicht über die „religiöse Front“ vereinfachen würde. Die evangelischen Christen und Baptisten sind eine noch immer wachsende Religionsgemeinschaft, wenn sie auch häufig nur Menschen anwerben, die bereits vorher anderen Kirchen angehörten. Die beiden nun vereinten Gruppen der evangelischen Christen und Baptisten haben heute über 5 50 000 getaufte Mitglieder, aber die Zahl der Sympathisierenden wird auf drei Millionen geschätzt. Es gibt über 5 000 evangelische und baptistische Gemeinden und mindestens ebenso viele, aber wahrscheinlich mehr Laienprediger, die von ungefähr 70 hauptamtlich tätigen Ältesten beaufsichtigt und beraten werden. Die Hauptzentren des Baptismus sind die westlichen Randgebiete der Sowjetunion, das Donezbecken, das nördliche Kaukasusgebiet und das westsibirische Kohlenbecken, der Kuzbas. Auch in den zentralasiatischen Republiken sind die Baptisten unter den ukrainischen und russischen Siedlern stark vertreten, besonders wiederum im Kohlenbergbauzentrum von Karaganda. In ihrer ethnischen Zusammensetzung sind die Baptisten recht international, ihnen gehören neben Russen und Ukrainer auch Letten, Esten, Osseten, Armenier und andere Nationalitäten an. Auch eine ganze Anzahl der verschleppten Deutschen hat den Weg zum Baptismus gefunden und in einigen Baptistengemeinden, wie in Nowosibirsk und Slawoord wurden kürzlich Predigten in deutscher Sprache eingeführt

In vielen Orten betrachtet die kommunistische Partei die Baptisten als eine unvergleichlich größere weltanschauliche Gefahr als die orthodoxe Kirche. Es gibt daher häufige, direkte Presseangriffe auf die Baptistenprediger, während die orthodoxe Kirche und ihre Geistlichkeit in den letzten Jahren nur selten die Zielscheibe offener Angriffe gewesen sind. Die Baptisten erregen den Unwillen der Behörden, weil sie auf vielen Gebieten das Regime und seine Ideologie ständig, wenn auch unabsichtlich, herausfordern. Zunächst sind sie eine proletarische Kirche. Nicht nur viele ihrer Mitglieder sondern selbst eine Anzahl ihrer Prediger sind Schwerarbeiter, die sich auf den Schächten und in den Fabriken eines beträchtlichen Ansehens erfreuen. Die Baptisten sind in den Dörfern und Arbeitersiedlungen, in denen sie wohnen, gewöhnlich Fanatiker der Ordnung und Sauberkeit, und die Kommunisten müssen daher widerwillig anerkennen, daß sie der Bevölkerung ein gutes Beispiel geben. Die Baptisten reden sich als Brüder und Schwestern an und zeigen einen vorbildlichen Gemeinschaftsgeist, der oft den Neid des kommunistischen Jugendverbandes erregt. Von kommunistischer Seite wird den Baptisten ja auch vorgeworfen, daß sie durch verschiedene Mittel versuchen, junge Leute dem Komsomol abspenstig zu machen. Das mag stimmen, aber die Baptisten verwenden dabei keine moralisch verwerflichen Mittel. Es handelt sich oft nur darum, daß die baptistischen Gruppen besser funktionieren als die Komsomol-und Gewerkschaftsklubs. Auch der Kampf der Baptisten gegen das Tabakrauchen und den Alkoholgenuß wirkt auf gewisse Teile der Jugend anziehend, besonders da das Regime selbst eine recht erfolglose Offensive gegen den Alkoholismus geführt hat.

Dazu kommt noch die sehr beträchtliche propagandistische Bedeutung der von den Baptisten praktizierten Erwachsenentaufe. Antireligiöse Propagandisten billigen zwar die bei der orthodoxen Bevölkerung noch immer weit verbreitete Kindertaufe nicht, aber sie sehen sie vielfach als eine mehr oder weniger harmlose Formalität an, und eine Konzession an die älteren Familienmitglieder. Die Erwachsenentaufe der Baptisten hingegen, die in feierlicher Weise in weißen Gewändern meistens in den frühen Morgenstunden vorgenommen wird, erscheint den Kommunisten nicht zu Unrecht als eine bewußte und persönliche Manifestation des religiösen Glaubens.

Der Rat der Evangelischen Christen und Baptisten in Moskau unterstützt zwar loyal die Außenpolitik der Sowjetregierung und er macht die Loyalität zum Regime jedem einzelnen Mitglied zur Pflicht, aber im großen und ganzen muß die Tätigkeit der Baptisten vom sowjetischen Standpunkt aus negativ beurteilt werden; dies umsomehr als die baptistischen Führer es nicht verstanden haben, eine strenge Disziplin in ihren Reihen einzuführen. Immer wieder treten widerspenstige Gruppen auf, denen die gemäßigte Haltung des Moskauer Rates mißfällt, die organisatorisch und theologisch ihre eigene Wege gehen wollen, und da dies gewöhnlich antisowjetische Wege sind, kommen sie mit den Behörden in scharfen Konflikt.

Die Kirche Rußlands, die am wenigsten von Stalins neuer religiöser Politik berührt wurde, ist die katholische. Sie kann nicht einmal ohne Einschränkung als eine anerkannte Religionsgemeinschaft betrachtet werden. Nur die katholische Kirche des lateinischen Ritus wird vom „Rate für die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften“ beaufsichtigt. Die katholische Kirche des slawisch-byzantinischen Ritus oder die griechisch-katholische Kirche wurde im Jahre 1946 aufgelöst und seither existiert sie nur in der Illegalität und in den Herzen ihrer einstigen Anhänger und Priester weiter. Nichtsdestoweniger wird sie von der Regierung noch immer als eine Gefahr betrachtet. Sie wird noch immer in der Presse angegriffen, besonders seit 195 5, als die große Sowjetamnestie einer Anzahl früherer griechisch-katholischer Priester die Rückkehr in ihre galizische Heimat ermöglichte.

Auch die katholische Kirche des lateinischen Ritus hat Schlimmes erlitten, aber wenigstens ist ihre organisatorische Kontinuität nie abgerissen. Sie ist ein bedeutender spiritueller Faktor in drei Sowjetrepubliken geblieben. In Litauen repräsentiert sie die große Mehrheit der Bevölkerung, in Lettland ungefähr ein Viertel und in Weißrußland ist sie die stärkste religiöse Gruppe in einigen westlichen Provinzen, die vor dem zweiten Weltkrieg zum polnischen Staate gehörten. Über die weißrussischen Katholiken ist wenig bekannt, aber sowohl in Lettland als auch in Litauen ist der Katholizismus eine sehr lebendige Kraft. Kirchliche Feiern in Litauen wie die Einweihung einer neuen Kirche oder das Begräbnis eines Bischofs ziehen noch immer riesige Menschenmengen an, und dasselbe kann von den Wallfahrten gesagt werden, deren Mittelpunkt die lettischen Orte Aglona und Kraslawa sind

Drei Gründe sind wohl vor allem für die Schärfe der Angriffe maßgebend, die von sowjetischer Seite gegen die katholische Kirche gerichtet werden. Zunächst ist der Katholizismus in Sowjetrußland von Anfang an die Religion gewisser Minderheitsvölker gewesen, die wegen ihrer westlichen Orientierung vom kommunistischen Standpunkt schon an sich unzuverlässig waren. Während der Katholizismus innerhalb der Sowjetunion eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle spielt, betrachtete das Sowjetregime ihn als die größte auf der internationalen Ebene wirkende religiöse Kraft, und hierin liegt der zweite und wichtigste Grund für die sowjetische Feindseligkeit gegenüber der katholischen Kirche. Drittens und letztens wohnt dem sowjetischen Antikatholizismus wie jeder anderen Anti-Emotion auch ein starkes irrationales Element inne.

Er blickt auf eine Jahrhunderte alte Tradition zurück, und fremde Reisende in Rußland haben schon zur Zeit Iwans des Schrecklichen in recht drastischer Weise über die negative russische Einstellung zur katholischen Kirche berichtet. Die Kommunisten mögen diesen historischen Ressentiments zwar mehr unbewußt als bewußt unterliegen, aber es besteht kein Zweifel darüber, daß sie sie auszubeuten versuchen. Dies geschah besonders in der stalinischen Periode, da jeder Versuch gemacht wurde, den alten Konflikt zwischen westlichem und östlichem Christentum soweit als möglich zu schüren.

Für die evangelisch-lutherische Kirche in der Sowjetunion gilt vielfach das gleiche wie für die römisch-katholische. Sie ist eine Kirche der nationalen Minderheiten und als solche bis in die jüngste Vergangenheit hinein dem Regime verdächtig gewesen. Die lutherische Kirche, die es in den Gebieten gab, die bereits vor 1939 zur Sowjetunion gehörten, wurde vollständig vernichtet. In ihrer nationalen Zusammensetzung war diese Kirche zum größten Teil deutsch und zum kleineren Teil finnisch, estnisch und lettisch. Heute existiert die lutherische Kirche im wesentlichen nur in den neu annektierten Gebieten der Sowjetunion, besonders in Estland und Lettland. In diesen beiden baltischen Ländern zählt sie nach offiziellen kirchlichenAngaben über 1 300000Anhänger. Die evangelisch-lutherische Kirche wurde in den ersten Nachkriegsjahren zunächst mit dem gleichen Mißtrauen betrachtet wie das estnische und lettische Volk in seiner Gesamtheit. Doch hat sich in den letzten Jahren ihre Stellung merklich gebessert, besonders nachdem die Stadt Riga, der Sitz des lettischen lutherischen Erzbischofs, in die Reiserouten ausländischer Besucher und besonders ausländischer Kirchendelegationen einbezogen wurde. Die sowjetische Regierung ist jetzt anscheinend der Meinung, daß die Gewährung größerer Religionsfreiheit an die Lutheraner der baltischen Staaten einen gewissen Propagandawert besitzt und daß sie eine günstigere Stimmung für die Sowjetunion in gewissen westlichen Ländern schaffen könnte. Darum wurden auch Reisen der lutherischen Erzbischöfe von Lettland und Estland ins westliche Ausland begünstigt. Auch einige Überreste der evangelischen Vorkriegskirche sind aus den Katakomben auferstanden und haben sich in den deutschen Siedlungen Sibiriens und Kasachstans neu formiert.

Die nichtchristlichen Gruppen

Im allgemeinen läßt sich sagen, daß die christlichen Religionen in Rußland dem kommunistisch-atheistischen Ansturm besser standhielten als die nicht-christlichen Gruppen, das religiöse Judentum, der Islam vnd die verhältnismäßig kleine buddhistische Religionsgemeinschaft. Das hängt zum Teil damit zusammen, daß die rituelle Einhaltung des jüdischen und mohammedanischen Glaubens durch die von der Sowjet-macht geschaffenen Verhältnisse äußerst schwierig und oft sogar unmöglich ist. Dies trifft zum Beispiel auf die Wahrung der alttestamen-talischen Speisegesetze durch das orthodoxe Judentum zu oder auf die Observanz des Sabbath. Die antijüdische Politik, welche Stalin in seinen letzten Lebensjahren verfolgte, hat auch auf das religiöse Leben der Juden lähmend gewirkt, aber in der etwas entspannten Situation, die es in der Ara der kollektiven Führung gab, hat auch das religiöse Judentum eine gewisse Konsolidierung erfahren, die sich in einem stärkeren Besuch der Gottesdienste an hohen Feiertagen ausdrückt. Unter den Nachfolgern Stalins ist die jüdische Religionsgemeinschaft noch immer in einer schlimmeren Lage geblieben als die anderen anerkannten religiösen Gruppen der Sowjetunion. Sie war die letzte, die die Erlaubnis für die Herausgabe eines Gebetbuches erhielt. Auch was die Ausbildung eines Priesternachwuchses anbelangt, wurden die Juden benachteiligt. Die Eröffnung einer kleinen Rabbinerlehranstalt in Moskau erfolgte 12 Jahre nach der Wiedereröffnung des ersten orthodoxen Priestersem-nars. Synagogen gibt es heute wieder in allen größeren Städten der Sowjetunion, aber im Schatten der offiziellen Synagogen existiert wohl noch immer, wie zur Zeit der Religionsverfolgungen in den dreißiger Jahren, die chassidische Bewegung weiter, die sich seit dem 18. Jahrhundert um die Vertiefung der jüdischen Volksfrömmigkeit bemüht.

Was den Islam in Rußland anbelangt, so ist von seiner einstigen Bedeutung in Rußland nur recht wenig übrig geblieben. Zur Zarenzeit* waren die Mohammedaner die bedeutendste religiöse Gruppe nach der orthodoxen Kirche. Bei einer Analyse der gegenwärtigen Lage der Religion in Rußland kann der Islam jedoch nur eine ganz untergeordnete Rolle spielen. Das kommunistische Regime hat dem religiösen Mohammedanertum zum guten Teil das Rückgrat gebrochen. Dies ist das übereinstimmende LIrteil aller ausländischen Reisenden, die in den letzten Jahren die mohammedanischen Gebiete der Sowjetunion besucht haben, obzwar sich diese Beobachtung nur auf die Städte beschränken mag. Die Zahl der Moscheen ist auf einen'kleinen Bruchteil ihres früheren Bestandes zusammengeschmolzen. In der ganzen Sowjetunion gibt es nur zwei mohammedanische Lehranstalten, und die staatlich anerkannten geistlichen Behörden der Mohammedaner, die in den verschiedenen islamischen Gebieten der Sowjetunion amtieren, üben nur eine geringe Autorität aus. Sie wurden in viel größerem Maße als die orthodoxen Kirchenbehörden der kommunistischen Propaganda dienstbar gemacht, besonders im Zusammenhang mit der neuen aktiven Politik, welche die Sowjetunion gegenüber den Völkern und Staaten des Mittleren Ostens und ganz Asiens führt. Die religiösen muselmanischen Würdenträger in der Sowjetunion, man bezeichnet sie manchmals nicht zu Unrecht als „Rote Muftis", sind ein Teil der Kulissen geworden, die beim Besuch ausländischer mohammedanischer Staatsmänner von den Potemkins unserer Tage auf die kommunistische Bühne gerückt werden. Die christlichen Minderheiten in Sowjetzentralasien stellen vom Standpunkt der kommunistischen Partei aus einen seriöseren religiösen Faktor dar als die Reste des organisierten Islam. Das Wort „organisiert bedarf jedoch stärkerer Betonung. Die Schwäche des kirchlichen Apparates der mohammedanischen Religionsgemeinschaft in der Sowjetunion bedeutet noch nicht, daß Religion unter der mohammedanischen Bevölkerung Zentral-asiens ausgestorben ist. Religiöses Fühlen und religiöse Gebräuche leben in einer elementaren und spontanen Form weiter, wobei islamische religiöse Elemente vielfach mit vorislamischen vermischt sind. Die Schließung der Moscheen und das Verschwinden offizieller Mullahs ließen viele religiöse Manifestationen unberührt, die in der Tiefe des Familienlebens verwurzelt sind und besonders von den Frauen von Generation zu Generation fortgepflanzt werden. Die Gesamtsumme aller islamischen und vorislamischen Gebräuche und Glaubensformen, die sich in Zentral-asien auch unter dem kommunistischen Regime erhalten haben, wird daher von sowjetischen Ethnographen bisweilen als die „Frauenreligion Zentralasiens" bezeichnet. Zu dieser „Frauenreligion“ gehören z. B. die religiös gefärbten Familienfeste, die die sowjetischen Behörden als eine geldverschwenderische und produktionsstörende Angelegenheit betrachten. Zu ihr gehören auch der Kult der Heiligen Gräber, der sich in vielen Gegenden Zentralasiens erhalten hat, sowie alle möglichen Riten, die der Beschwörung böser Geister gelten Die sowjetische Presse verrät gelegentlich, daß in gewissen Orten inoffizielle Mullahs wirken, die unabhängig von den zentralen, dem Staate eng verbundenen religiösen Organisationen ihre Tätigkeit entfalten. Dies tut dem Ansehen, das sie in den mohammedanischen Dörfern genießen, keinen Abbruch, und es ist häufig vorgekommen, daß sich auch die Vorsitzenden von Kollektivwirtschaften die Autorität dieser Mullahs zunutze machen wollten, besonders um die Arbeitsdisziplin unter den Kollektivbauern zu stärken

Was über den Islam gesagt wurde, gilt auch von der viel kleineren buddhistischen Religionsgemeinschaft der Sowjetunion. Der Buddhismus in Sowjetrußland war in der unmittelbaren Vorkriegszeit besonders schweren Verfolgungen ausgesetzt, da die kommunistischen Behörden ihn als ein Instrument des japanischen Imperialismus betrachteten. Organisatorisch gesehen sind vom Buddhismus in Rußland nur noch klägliche Reste erhalten geblieben. In den zwanziger Jahren gab es 37 buddhistische Klöster in Rußland und heute besteht nur noch ein einziges. Das Haupt der buddhistischen Kirche, der Bandido Hambo Lama, wird genauso für die Zwecke der sowjetischen Außenpolitik eingespannt wie die „Roten Muftis". Als der frühere birmanische Ministerpräsident II Nu, der ein frommer Buddhist ist, die Sowjetunion besuchte, wurde der sowjetische Hauptlama von der fernen burjatischen Republik, wo er seinen Sitz hat, nach der sowjetischen Hauptstadt beordert, um dem hohen Gast einige Propagandaformeln über die Religionsfreiheit in der Sowjetunion vorzutragen. Aber genauso wie der Islam scheint der Buddhismus noch äls Familienreligion weiterzubestehen. Wie in der zentralasiatischen Familie sind es bei den burjatischen Buddhisten noch immer die Frauen, die auf die Einhaltung gewisser religiöser Riten dringen.

Die religiöse Untergrundbewegung

Fast jede der offiziell anerkannten Religionsgruppen in Rußland hat ein legales und ein illegales Gesicht. Jede Religionsgruppe hat einen institutionellen Charakter oder, um ein sehr häßliches sowjetisches Wort zu benutzen, einen „Apparat". Aber gleichzeitig hat jede Religionsgemeinschaft der Sowjetunion auch Ausdrucksformen, die nicht in den Jurisdiktionsbereich der offiziellen Kirchenbehörden fallen. Man hat diese mysteriöse Seite des sowjetischen religiösen Lebens als die Katakombenkirche bezeichnet. Dieser Begriff kann Verwirrung stiften, wenn wir ihn im wörtlichen Sinne auffassen, nämlich als eine Art Geheimkörperschaft oder als eine ganze Anzahl geheimer Körperschaften. Aber er spiegelt einen Teil der sowjetischen Wirklichkeit wider, wenn wir ihn rein bildlich verstehen als eine Bezeichnung, die alle jene Strömungen umfaßt, die sich in keinen existierenden religiösen Rahmen einordnen lassen. Zum Beispiel orthodoxe Christen, die sich aus politischen Gründen von den Gottesdiensten der offiziellen Patriarchatskirche fernhalten, können der Katakombenkirche oder der Katakombenreligion zugezählt werden.

Dies schließt natürlich nicht aus, daß es zu verschiedenen Zeiten in der Sowjetunion auch ganze illegale religiöse Gruppen gegeben hat, insbesondere gewisse Sekten, die schon wegen ihrer unversöhnlichen Feindschaft gegenüber dem Sowjetregime nie auf irgendeine offizielle Anerkennung hoffen konnten. Im sowjetischen Sprachgebrauch gibt es sogar eine Kollektivbezeichnung für diese religiöse Untergrundbewe-gung. Sie werden „Rote-Drachensekte“ genannt, weil sie die Sowjet-macht mit dem roten Drachen der Offenbarung des Heiligen Johannes identifizieren. Aber diese Bezeichnung wird gelegentlich auch auf Sekten ausgedehnt, die dem Staate negativ gegenüberstehen, ohne sich einem solchen theologischen Extremismus hinzugeben. Diese Antiregime-Sekten sind verschiedenen Ursprungs. Sie sind zum Teil jüngere Abspaltungen von der orthodoxen Kirche, zum Teil wurzeln sie in dem Jahrhunderte alten Sektenwesen, das im großen russischen Schisma des 17. Jahrhunderts seinen Hauptausgangspunkt fand, zum Teil lassen sie sich auf westliche Einflüsse zurückführen. In der nachstalinischen Periode haben besonders zwei Sekten westlicher Provenienz weitere Verbreitung gefunden, nämlich die Pfingstbewegung und die Zeugen Jehovas. Die sowjetische, antireligiöse Propaganda hat in den letzten Jahren auf die Bekämpfung dieser beiden Sekten viel Energie und Druckerschwärze verwendet. Die Angriffe, die gegen sie erhoben werden, sind immer die gleichen, nämlich daß sie alle sowjetischen Staats-und Gesellschaftseinrichtungen kompromißlos ablehnen, ihre Kinder nicht in die Schule schicken wollen, den Armeedienst verweigern und auch sowjetische Wahlen boykottieren. Ganz zu Unrecht wird ihnen auch der Vorwurf gemacht, daß sie dem amerikanischen Imperialismus dienen. Angesichts dieser Anschuldigungen ist es nicht verwunderlich, daß die Mitglieder der beiden Sekten in den letzten Jahren verschiedenen Polizeiaktionen, Massenverhaftungen und Prozessen unterworfen wurden. Gegen die Pfingstbewegung wurden solche Prozesse in Litauen, Weißrußland und dem sogenannten Kaliningradgebiet geführt, gegen die Zeugen Jehovas in der Moldaurepublik, der Westukraine und in Kasachstan.

Es scheint ganz unfaßbar, wie die beiden Sekten in der Sowjetunion überhaupt Fuß fassen und sich ausbreiten konnten. Dies wäre wahrscheinlich auch nicht möglich gewesen, hätten die sowjetischen Behörden nicht ganz unbeabsichtigt ihre Werbearbeit erleichtert. Ursprünglich existierten diese Sekten nur in den westlichen Provinzen der Sowjetunion, aber durch Deportierungen gelangten besonders die Zeugen Jehovas in die entlegensten Teile des Sowjetreiches. Ihre Lehre verbreitete sich zunächst in den Zwangsarbeitslagern, und nach der Amnestie des Jahres 195 5 war es diesen neu geworbenen Zeugen Jehovas möglich, auch an die eigentliche sowjetische Bevölkerung mit ihrer Propaganda heranzutreten.

Nur am Rande soll bemerkt werden, daß die Zwangsarbeitslager ganz allgemein eine beträchtliche Bedeutung für das religiöse Leben in der Sowjetunion hatten, worüber einige deutsche Workuta-Veteranen schon ausführlich berichtet haben. Vor allen Dingen haben die Lager in der Sowjetunion einen ähnlichen ökumenischen Effekt gehabt wie die Konzentrationslager des Dritten Reiches, die so beträchtlich zur Annäherung zwischen den beiden großen christlichen Konfessionen Deutschlands beigetragen haben. Dieser Ökumenismus der Zwangsarbeitslager dürfte auch für die Zukunft der Religion in Rußland und das Verhältnis der Religionsgemeinschaften zueinander von Bedeutung sein.

Die Zukunft der Religion in Rußland

Was läßt sich über die Zukunft der Religion in Rußland sagen? Diese Frage appelliert nicht an unseren Verstand allein, sondern auch an unsere Überzeugung und unser Hoffen, daß wie ein Dichter sagt, ewig in der Menschenbrust lebt. Dennoch sollte man sich bei der Beantwortung der letzten entscheidenden Frage über das Problem der Religion in Ruß-land vor einer Betrachtungsweise hüten, die einem gefühlsmäßigen Optimismus huldigt und den nüchternen Rahmen des Tatsächlichen verläßt. Für die unmittelbare Zukunft ist sicher eine weitere Verschärfung des ideologischen Kampfes gegen die Religion zu erwarten. Das liegt zunächst in der Logik der von Chruschtschow angebahnten ideologischen Entwicklung. Chruschtschow legt viel Gewicht auf eine Wiedergeburt des ursprünglich revolutionären Elans und der leninistischen Gedankenwelt. Hierzu gehört auch eine starke Dosis antireligiöser Propaganda, auf die Stalin. in seinen letzten Lebensjahren verzichten zu können glaubte. Aber auch rein praktische Gründe bewegen Chruschtschow dazu, die antireligiöse Propaganda nicht versanden zu lassen. Selbst die leichte Auflockerung, die in der Sowjetunion in den letzten Jahren stattgefunden hat, besonders die teilweise Entmachtung des Polizeiapparates, hat eine gewisse Belebung der Religion ermöglicht. Dieser Belebungsprozeß muß durch stärkere ideologische Propagandaarbeit des Regimes, aber auch durch eine gelegentliche Einschüchterung der Gläubigen und der Religionsgemeinschaften wettgemacht werden. Die Opfer dieser Einschüchterungsversuche sind vor allem jene kommunistischen Parteimitglieder und deren Familien, die Gefahr laufen, der religiösen „Drohung" zu erliegen. Ein weiterer Grund für eine Verschärfung des Kampfes gegen die Religion liegt in den verstärkten Kontakten zwischen der Sowjetunion und der Außenwelt. Diese Kontakte sind noch immer gering, aber sie sind heute unvergleichlich umfassender als in den letzten Jahren des stalinischen Regimes. Sie ermöglichen Tausenden von Sowjetbürgern,. sich eine Idee von der Bedeutung des religiösen Faktors in der nicht-kommunistischen Welt zu machen, der ihnen durchaus nicht immer als ein negativer und rückschrittlicher Faktor erscheinen mag. Es gibt Anzeichen dafür, daß gewisse sowjetische Reisende nach dem Westen als Resultat ihrer Eindrücke eine mehr objektive und respektvolle Haltung gegenüber der Religion einnehmen, und solche ideologische Einbrüche müssen gleichfalls durch verstärkte antireligiöse Propaganda wettgemacht werden.

Auf längere Sicht gesehen ist die Frage nach der Zukunft der Religion in Rußland nur ein Teilaspekt der Frage nach der Zukunft des Kommunismus und des Sowjetregimes überhaupt. Der Kommunismus wie jede andere politische Bewegung ist nicht etwas für alle Zeit Statisches, unfähig jeder inneren Wandlung. Ansätze zu solchen Wandlungen verschiedener Dimensionen hat es immer wieder im kommunistischen Lager gegeben. Sie sind zwar bisher stets unterdrückt worden, aber manchmal haben diese Häresien doch ganz erheblichen Einfluß gewonnen, und sie haben sich auch in der kommunistischen Haltung gegenüber der Religion widergespiegelt, z. B. bei den ungarischen und polnischen Revisionisten. Man muß fragen, ob es überhaupt möglich ist, daß sich der Kommunismus mit all seinem ideologischen Ballast auf die nächste sowjetische Generation fortpflanzen kann, auf eine Generation, die zum antireligiösen Radikalismus der zwanziger und dreißiger Jahre keine direkten Beziehungen mehr haben wird. Wenn diese Generation heranwächst und zur vollen Wirkung kommt, werden sich die antireligiösen Argumente der älteren Generation noch mehr als bisher ad absurdum geführt haben. Wird man dann Religion noch immer als ein Überbleibsel des Kapitalismus in den Gehirnen der Menschen abtun können oder als einen Abklatsch ausländischer Einflüsse? Oder wird sich diese neue Generation vielleicht ihre eigenen Gedanken über das Wesen und die Bedeutung der Religion bilden? Wir brauchen auf diese Fragen keine letzten, endgültigen Antworten zu erteilen. Daß sie gestellt werden können, und daß selbst Kommunisten, die sich ernstlich um die Zukunft ihrer Bewegung sorgen, sie stellen müssen, ist schon an sich bedeutungsvoll. Diese Fragen deuten darauf hin, daß sich die Chancen des Kommunismus für die Niederringung seines größten ideologischen Opponenten mit dem Ablauf der Zeit eher verringert als vergrößert haben.

Aber dies soll nicht zu dem fatalistisch-dogmatischen Trugschluß führen, daß ein Zusammenbruch des Kommunismus in Rußland unweigerlich einen Triumph der Religion bedeuten muß. In einer so allgemeinen Form läßt sich das Problem überhaupt nicht betrachten. Einige Religionsgemeinschaften werden den Kommunismus besser überdauern als andere, obwohl er für alle eine schwere Bewährungsprobe darstellt. Wie weit die Kirchen und religiösen Gruppen diese Bewährungsprobe bestehen werden und späterhin das vom Kommunismus hinterlassene Vakuum ausfüllen können, wird von ihrer weiteren Standhaftigkeit, ihrer Überzeugungskraft und der menschlichen Größe ihrer Priester und Anhänger abhängen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. The International Review of Missions, Oktober 1958 S. 442/3.

  2. Proletarij, Nr. 45 26. (13.) Mai 1909.

  3. Jaroslavskij, Protiw Religii i Tserkwi, Bd. 3, S. 201.

  4. Kommunistitscheskaja Partija Sowetskogo Soyuza W Rezolyutsijakh i reschenijach sezdow konferentsii i plenumow Tseka, Moskau 1943 B. 2, S. 488/9.

  5. Bezboschnik 10. Oktober 1934.

  6. Partijnaja Schiznj, Nr. 22, November 1958, S. 40.

  7. Antheilig,

  8. Nauka i Religija (Eine Sammlung stenographischer Protokolle von Vorlesungen, die auf einer All-Unions Konferenz über atheistische Probleme im Mai 1957 gehalten wurden) Moskau 1957, S. 10/11.

  9. Nauka i Religija, Moskau 1957, S. 15.

  10. I. N. Uzkow, Tschto takoe religioznoe sektantswo? Moskau 1956, S. 30.

  11. Partijnaja Schiznj, Nr. 21 1958, S. 74.

  12. Izwestija, 27. April 1937.

  13. Aeschylus, Prometej Prikowannij Moskau 1956, S. 12, zitiert Band HI der sowjetischen Marx-Engels Ausgabe des Jahres 1930, S. 655.

  14. .

  15. Das Plakat ist bei Edmund A. Walsh S. J., The Last Stand, Boston 1931, S. 190 reproduziert. ..

  16. Nauka i Religija, S. 58.

  17. Nauka i Religija, S. 13.

  18. David Zaslawskij, Na Shtunn neba, Prawda, 12. November 1933.

  19. Viktor Fink, Jewrei w taige, 2. Ausgabe, Moskau 1932, S. 190/194.

  20. Originaltitel . Sowetskij prostoj tschelowek". Der Verfasser des Gedichtes ist Lebedew-Kumatsch.

  21. P. Pawelkin, Religioznje suewerija i ikh wred, Moskau 1951, S. 162

  22. N. N. Rozental, 1z istorii prawoslawija, katolitsizma i protestantswa, Moskau 1957, S. 24.

  23. Bezboschnik, 10. März 1929.

  24. Bezboschnik, 24. November 1929.

  25. Bezboschnik, 7. Januar 1923.

  26. Schurnal Moskowskoj Patriarchii, Nr. 11, 1958, S. 3.

  27. Im Jahre 1932 z. B. gab es u. a. die folgende Maitaglosung: . Die Sozialfaschisten - die Anstifter eines neuen Interventionskrieges gegen die Sowjetunion und China. Nieder mit der zweiten Internationale und ihrer »linken Agentur'1! (Prawda, 27. April 1932).

  28. G. M. Swerdlow, Sowetskie zakony o brake i seme, Moskau 1955, S. 11.

  29. Swerdlow ibid, S. 12.

  30. Nauka i Religija, S. 61.

  31. Nauka i Religija, S. 411.

  32. Komsomolskaja Prawda, 25. September 1952

  33. Siehe Artikel übei Wsesojuznij Leninskij Kommunistitscheskij Sojuz Molodesdii in der Großen Sowjetenzyklopädie, Band 9, Moskau 1951, S. 339/347.

  34. Rede Schelepins auf dem 13. Komsomolkongreß, Komsomolskaja Prawda, 16. April 1958.

  35. Nauka i Schiznj, Nr. 1, 1959, S. 60.

  36. Soviet War News, 4. Juli 1944.

  37. Izwestija, 5. März 1952.

  38. Rozental a. a. O. S. 23/24.

  39. Bratskij Westnik, Nr. 4, 1958-S. 75, 59.

  40. Literaturnja Gazeta, 12. Februar 1959.

  41. Sowetskaja Etnografija, Nr. 2, 1957, S. 63/67.

  42. A. Kischbekow, O feodalno — baiskich pereschitkach i ich preodolenii, Alma Ata 1957, S. 55/56.

  43. Sowetskaja Litwa, 12. September 1958, Sowetskaja Moldawija, 1-Marz 1957, Kazachstanskaja Prawda, 1. September 1957.

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