Von den vielen Momenten und Faktoren, die zum Verständnis der sowjetischen Außenpolitik und der gegenwärtig im Vordergrund stehenden sowjetischen Deutschlandpolitik erforderlich sind, wird eins oft wenig beachtet — die kommunistische Ideologie. Kann uns die kommunistische Ideologie — offiziell bezeichnet als Marxismus-Leninismus -helfen, die sowjetische Außenpolitik richtig zu beurteilen? Wurde diese Ideologie nicht oft und willkürlich geändert und korrigiert, enthält sie nicht so viele Fehldiagnosen, daß sie für eine ernsthafte Beurteilung der sowjetischen Außenpolitik kaum wesentliche Aufschlüsse geben kann 7 Sind die sowjetischen Machthaber nicht viel zu sehr Realpolitiker, um sich in den konkreten Fragen der Außenpolitik von einer gesellschaftspolitischen Theorie leiten zu lassen? Dient die kommunistische Ideologie den sowjetischen Führern nicht vorwiegend dazu, den Funktionären und Anhängern des Regimes den Geist zu umnebeln und die Entscheidungen der Machthaber nachträglich zu rechtfertigen? Diese und andere nicht unberechtigten Fragen mögen viele davon abhalten, die kommunistische Ideologie ernsthaft zu berücksichtigen, wenn es gilt, die sowjetische Außenpolitik auf ihre Hintergründe und Ziele zu untersuchen.
Gerade weil die kommunistische Ideologie bei der Beurteilung der sowjetischen Außenpolitik ungenügend beachtet wird, entstehen in der Öffentlichkeit oft Wunschgedanken über die möglichen Wege, auf denen der sowjetischen Politik begegnet werden könnte und über die Aussichten und die Wirksamkeit von Zugeständnissen an die Adresse des Kreml.
Gewiß ist die kommunistische Ideologie nicht das einzige, nicht das allein bestimmende Moment der sowjetischen Politik. Aber worin liegen die Ursachen für die oft unverständlichen, den tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten widersprechenden, außenpolitischen Entscheidungen führender Politiker des Sowjetblöcks? Diese Ursachen sind zu einem nicht unbedeutenden Teil in der kommunistischen Ideologie zu suchen. Ließen sich die kommunistischen Machthaber nur von realpolitischen oder machtpolitischen Gesichtspunkten leiten, so würden sie sich manche Entscheidung, die ihnen selbst mehr schadet als nutzt, besser überlegen.
Die heutigen kommunistischen Machthaber fühlen sich — zumTeil subjektiv ehrlich — als legitime Nachfolger von Marx. Einige Widersprüche und Fehlschlüsse in der Marxschen Lehre und die spätere Entwicklung, die anders als nach dieser Lehre verlief, haben sie in ihrer Auffassung nicht beirrt.
Durch die Thesen, mit denen die Kommunisten die Lehre von Marx ergänzten oder zurechtstutzten, wurden wesentliche Ideen und Grundgedanken von Marx diffamiert, entstellt, ja sogar in ihr Gegenteil gekehrt. Es wäre jedoch Selbstbetrug, diesen Prozeß nur auf subjektive Faktoren, auf den bösen Willen einzelner Personen zurückführen zu wollen.
Seit Marx hat sich in der Welt viel verändert. Das wird auch von den Kommunisten nicht schlechthin geleugnet. Diese Veränderungen machen es notwendig, die Marxsche Lehre für die heutigen Bedingungen zu übersetzen, wenn ihre Gültigkeit für die heutige Zeit als gegeben vorausgesetzt wird. Bereits dadurch wird objektiv ermöglicht und erleichtert, daß verschiedene Richtungen entstehen, von denen jede für sich beansprucht, die beste Auslegung der Marxschen Lehre für die heutigen Bedingungen gefunden zu haben. Marx wäre der erste gewesen, der die heutigen Verhältnisse analysiert und die notwendigen Korrekturen an seiner Lehre vorgenommen hätte — so. argumentieren mitunter nichtkommunistische Marxisten. Dieses Argument ist berechtigt; es widerlegt aber nicht die Auffassung der Kommunisten, daß Marx dann zu den gleichen Ergebnissen gekommen wäre wie Lenin; daß Lenin das getan habe, was Marx nicht mehr tun konnte, nämlich die Marxsche Lehre entsprechend den Bedingungen dieses Jahrhunderts weiterzuentwickeln. Es ist nicht die Schuld von Marx, wenn sich heute die Vertreter eines seinen Ideen der Freiheit und Gerechtigkeit widersprechenden diktatorischen Regimes als seine Nachfolger fühlen. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß die Marxsche Lehre den Buchstaben nach sowie durch einige innere Widersprüche und Fehldiagnosen den kommunistischen Machthabern viele Argumente und Rechtfertigungen liefert.
Soviele Veränderungen die Lehre in ihrer Entwicklung von Marx über Lenin und Stalin bis zu Chruschtschow auch durchlaufen und erfahren hat, so gibt es doch auch manches Gemeinsame und viele Zusammenhänge zwischen den einzelnen Etappen, Varianten und Auslegungen. Selbst im Bereich des Weltkommunismus gibt es heute manche ideologische Unterschiede, jedoch in einer Reihe grundsätzlicher Thesen stimmen alle Schattierungen überein.
Der Leninismus entstand nicht aus dem bewußten Vorhaben, die Lehre von Marx für das Machtstreben einer kleinen Gruppe nutzbar zu machen und umzudeuten. Das Schaffen Lenins war wesentlich von der Lehre Marx'und Engels'inspiriert und beeinflußt. Lenin versuchte, ernsthaft den Marxismus den gegebenen Bedingungen und der besonderen Situation Rußlands anzupassen und Wege zu finden, um den Marxismus unter diesen Bedingungen zum Siege zu führen. Dabei entwickelte Lenin Ideen und Prinzipien, die zum Teil den Marxismus verfälschten, zum Teil aber auch durchaus der Marxschen Lehre entsprachen. Nach dem Sieg der Oktoberrevolution in Rußland wurde versucht eine gesellschaftliche Ordnung zu schaffen, die den Ideen und Prinzipien Lenins entsprechen sollte. Bei dem Versuch, die Ideen Lenins in die gesellschaftliche Praxis umzusetzen, entstand ein Regime, das die Methoden und Entartungen Stalins nicht nur ermöglichte, sondern geradezu zeugte und förderte. Das, was allgemein als Stalinismus bezeichnet wird, stellt also nicht nur einen Bruch mit dem Leninismus dar, sondern wurde auch vom Leninismus gezeugt.
Die Entwicklung von Marx bis zu Stalin und Chruschtschow verlief nicht gradlinig, nicht als unvermeidbare Gesetzmäßigkeit. Sie ist gekennzeichnet durch tiefe Brüche und Gegensätze. Die einzelnen Abschnitte dieser Entwicklung sind aber nicht nur durch Gegensätze und Unterschiede voneinander getrennt, zwischen ihnen gibt es auch wesentliche Verbindungen und Zusammenhänge. Von diesem Hintergrund absehen und die Politik der jeweiligen kommunistischen Machthaber nur auf subjektive Faktoren, nur auf bösen Willen und persönliches Machtstreben zurückführen zu wollen, bedeutet, die Probleme zu verniedlichen und die möglichen Gefahren dieser Politik zu unterschätzen.
Da der Marxismus-Leninismus nicht nur in seiner heutigen Moskauer Version, sondern in seiner Grundstruktur auf fehlerhaften und einseitigen Analysen und Voraussagen beruht, die Entwicklung anders als nach den Grundsätzen dieser Lehre verläuft, die in dieser Lehre zusammengetragenen Dogmen verschiedene, ja sogar einander widersprechende Auslegungen zulassen, aber in ihrer Gesamtheit trotzdem ein Gebäude bilden, wo ein Stein in den anderen gefügt ist, wird jener Zusammenhang zwischen machtpolitischen Winkelzügen und ideologischen Bindungen ermöglicht und gefördert, der für die Politik der kommunistischen Machthaber so charakteristisch ist.
Die Lehre des Marxismus-Leninismus kann unterschiedlich ausgelegt und interpretiert werden; sie ermöglicht somit, die verschiedensten Varianten und die oft widersprechensten Maßnahmen mit ihr zu begründen.
Sie widerspricht in ihren Grundprinzipien der gesellschaftlichen Entwicklung und menschlichen Grundinteressen und erleichtert und fördert dadurch persönliches oder gruppenmäßiges Machtstreben. Da der heutige Marxismus-Leninismus aber trotz allem an Ideen anknüpfen kann, die zu ihrer Zeit eine belebende und fördernde Rolle spielten, erhält er eine gewisse Wirksamkeit, ein gewisses moralisches Gewicht.
Man darf nicht vergessen, daß die kommunistischen Machthaber von Chruschtschow bis Ulbricht, die heute die Ideologie und die kommunistische Politik bestimmen, selbst fast ein ganzes Leben lang in dieser Ideologie geschult und durch diese Ideologie geprägt wurden So ergibt sich, daß persönliches Machtstreben, unterschiedliche politische Fähigkeiten, Charaktereigenschaften usw. wesentlich auf die Gestaltung der Politik 'der jeweiligen Machthaber im Sowjetblock einwirken, aber doch auch alle gemeinsamen ideologischen Bindungen unterworfen sind.
Mögen die Unterschiede zwischen Stalin und Chruschtschow noch so groß sein, beide verbindet nicht nur persönlicher Ehrgeiz und persönliches Machtstreben, beide verbinden auch gemeinsame ideologische Grundsätze. Chruschtschow mag noch so nach Reformen streben und sich bemühen die tatsächliche Situation zu studieren, um realpolitische Entscheidungen treffen zu können, eine Reihe ideologischer Grundsätze ziehen ihm dabei relativ enge Grenzen. Diese durch die Ideologie gezogenen Grenzen sind nicht immer dort, wo das Regime oder die Macht Chruschtschows gefährdet werden könnten, sondern oft bedeutend enger.
Chruschtschow ist an mancher Entscheidung, die der Sowjetunion und seiner Person von Nutzen sein könnte, durch die von der Ideologie gezogenen Grenzen gehindert.
Wird hier die Rolle der Ideologie und ihr Einfluß auf die führenden Politiker des Sowjetblocks nicht überschätzt? Diese Frage werden nicht wenige Leser stellen. Der aufmerksame Beobachter wird natürlich viele Widersprüche zwischen der Theorie und der Praxis im kommunistischen Machtbereich feststellen können. Mehr und mehr werden einzelne Seiten und Thesen der Theorie vorwiegend dazu genutzt, die Maßnahmen der Machthaber zu rechtfertigen. Je nach den jeweiligen Interessen der führenden Kaste wird diese oder jene Seite der Ideologie stärker betont oder einzelne Thesen korrigiert und verändert. Im schematischen Sinne darf der Einfluß der Ideologie auf die kommunistische Politik also nicht verstanden werden. Der Einfluß der Ideologie besteht — soweit es das hier behandelte Thema betrifft — vor allem darin, daß die Machthaber des Sowjetblocks die Entwicklungsprozesse in der Welt nach einer festen vorgefaßten Meinung beurteilen, daß sie Möglichkeiten sehen, die ihren Zielen dienlich sein würden, die in der Tat aber nicht vorhanden sind, daß sie ihre Politik nicht nach den echten Interessen der Sowjetunion, sondern vor allem nach den von ihnen gesehenen Möglichkeiten ausrichten. Es wirken gleichzeitig zwei Tendenzen. Die Ideologie wird genutzt, um die Maßnahmen der jeweiligen Machthaber zu rechtfertigen; sie begrenzt und beeinflußt aber auch die Einschätzungen und Entscheidüngen der kommunistischen Führer. Nehmen wir ein Beispiel.
Die kommunistische Philosophie besagt: In der Natur und. in der Gesellschaft ensteht ständig Neues, während Altes vergeht. Das Neue entwickelt sich zunächst nur in Keimen und erscheint schwach. Zwischen dem Neuen und dem Alten besteht ein ständiger Kampf; das Neue setzt sich nicht von selbst durch und das Alte tritt nicht von selbst ab, sondern nur durch den Kampf der Gegensätze, durch den Kampf des Neuen gegen das Alte. Dem Neuen, zunächst schwach erscheinenden, gehört die Zukunft; es setzt sich im Kampf gegen das Alte durch. Der Sieg des Neuen über das Alte ist eine objektive Gesetzmäßigkeit. Die Politik der Partei müsse sich darum stets auf das Neuentstehende orientieren, dieses pflegen und ihm zum Durchbruch verhelfen. Jedoch nicht alles, was neu erscheint, ist wirklich neu.
In der kommunistischen Praxis bestimmen die jeweiligen Parteiführer, was das wirklich Neue zu sein hat und was gefördert und durchgesetzt werden muß. Sie nutzen insoweit diese These zur Rechtfertigung ihrer Politik. Aber es gibt noch eine andere Seite. Die Machthaber, denen diese These selbst ein Leben lang eingeimpft wurde, werden leicht zu ihrer Gefangenen. Sie neigen oft dazu durch die Brille dieser Theorie noch so handfeste Beweise über die tatsächliche Entwicklung in der Welt nach ihren Wunschträumen zu sehen und zu beurteilen. Die wirtschaftliche Situation in den Ländern der freien Welt kann noch so stabil sein, die kommunistischen Machthaber sehen in jedem Konjunkturrückgang, in jedem Krisenzeichen das Symptom des Neuen, aus dem sich über kurz oder lang eine gewaltige allumfassende Krise entwickeln werde. Die sowjetische Politik mag in der freien Welt noch so ablehnend beurteilt werden, die kommunistischen Machthaber sehen — nicht nur zu Propagandazwecken — in jeder Kritik der Bevölkerung westlicher Länder, die sich gegen die Politik des Westens richtet, die Anbahnung des Neuen, aus dem sich früher oder später eine Zuwendung zum Kommunismus ergeben werde.
Sind diese Beispiele auch vereinfacht, so zeigen sie doch — wenn man die Einwirkung aller anderen Zweige der sowjetischen Ideologie berücksichtigt — eine der Ursachen für die oft so wirklichkeitsfremden Entschlüsse der kommunistischen Politiker.
Selbst wenn man berücksichtigt, daß eine wesentliche Funktion der Ideologie darin besteht, die politischen Maßnahmen gegenüber den Funktionären und Anhängern des Regimes zu rechtfertigen, gibt sie uns wichtige Aufschlüsse über die Ziele und Hintergründe außen-politischer Maßnahmen des Sowjetblocks. Die Zusammenhänge zwiselten den außenpolitischen Vorschlägen und der ideologischen Grund-konzeption zu erklären, ist für die kommunistischen Machthaber ein zweischneidiges Schwert. Dabei müssen die wirklichen Ziele aufgedeckt werden, was gegenüber der nichtkommunistischen Öffentlichkeit gern vermieden wird. Es ist ein Beweis für den bedeutenden Platz, den die Ideologie im kommunistischen System einnimmt, wenn die Machthaber trotzdem nicht darauf verzichten können, diese Zusammenhänge darzulegen. Sie können es nicht, weil sie befürchten, daß ihre Anhänger die Siegeszuversicht verlieren würden.
Sicherheitsbedürfnis, Koexistenz und Weltrevolution
In der öffentlichen Diskussion . über die Wege zur Wiedervereinigung Deutschlands wird oft von dem Gedanken ausgegangen: man gebe der Sowjetunion vernünftige Sicherheitsgarantien und sie wird zu Zugeständnissen in der Deutschlandfrage bereit sein. Ist das sowjetische Sicherheitsbedürfnis wirklich das Kernproblem der gegenwärtigen sowjetischen Außen-und Deutschlandpolitik? Darüber kann uns die heutige kommunistische Ideologie einige Hinweise geben. Vorweg sei auf die Rede verwiesen, die Chruschtschow auf dem V. Parteitag der SED (Juli 1958) hielt. In dieser Rede zerschlug der sowjetische Parteichef einige diesbezügliche Illusionen und deutete — wie auch bei einigen späteren Gelegenheiten — ziemlich offen an, daß sich in bezug auf das sowjetische Sicherheitsbedürfnis einiges geändert hat. Diese Änderung spiegelt sich auch in der Ideologie wider.
Wie sah Stalin dieses Problem? Er meinte, es sei zwar möglich gewesen in einem Lande, in der Sowjetunion, „die vollendete sozialistische Gesellschaft" zu errichten; das bedeute aber noch nicht den „endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande“. Die Unmöglichkeit des endgültigen Sieges „des Sozialismus in einem Lande“ bedeute, daß es „keine volle Garantie gegen die Intervention und folglich aud't gegen die Restauration der bürgerlichen Ordnung“ gebe, „wenn die Revolution nid'it wenigstens in einer Reihe von Ländern gesiegt“ habe
Die These vom noch nicht endgültig gesicherten Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion wurde auch nach dem zweiten Weltkrieg in der kommunistischen Schulung noch gelehrt. Zu dieser Zeit bestanden bereits die sogenannten volksdemokratischen Staaten; sie durchliefen aber nach der kommunistischen Lehre erst die erste Phase ihrer Entwicklung. In dieser ersten Entwicklungsphase sei in den sogenannten Volksdemokratien die Frage „wer-wem", d. h. die Frage, gewinnen die „sozialistischen“ oder die „bürgerlichen“ Kräfte das Übergewicht, noch nicht entschieden gewesen. Heute sei diese Frage zugunsten des Sozialismus entschieden.
Chruschtschow erklärte auf dem XXL Parteitag:
„Vor gar nicht so langer Zeit wurde in der kommunistischen Bewegung die Frage der Möglichkeit des Aufbaus des Sozialismus, in einem einzelnen Lande, die Frage eines vollen und endgültigen Sieges gestellt und erörtert. . . Unter dem endgültigen Sieg des Sozialismus verstehen die Marxisten seinen Sieg im internationalen Maßstab. Unser Land, das den Sozialismus aufgebaut hat, war lange Zeit das einzige sozialistische Land der Welt und befand sich in der feindlichen kapitalistischen Einkreisung. Es konnte sich vor der militärischen Intervention und vor der Gefahr einer gewaltsamen Wiederherstellung des Kapitalismus . . . nicht für völlig gesichert halten. Die kapitalistischen Staaten, die damals das Land des Sozialismus einkreisten, waren diesem sowohl ökonomisch als auch militärisch weit überlegen. Jetzt hat sich die Lage in der Welt von Grund auf gewandelt. Es gibt keine kapitalistische Einkreisung unseres Landes mehr. Es gibt zwei gesellschaftliche Weltsysteme: den Kapitalismus, der seinem Ende entgegen geht, und den . . . Sozialismus............. Es gibt heute in der Welt keine Kräfte, die den Kapitalismus in unserem Lande wiederherstellen, die das sozialistische Lager zerscldagen könnten. Die Gefahr einer Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion ist ausgeschlossen. Das heißt, daß der Sozialismus nicht nur vollständig, sondern auch endgültig gesiegt hat
Die These vom jetzt gesicherten endgültigen Sieg des Sozialismus in der Sowjetunion ist nichts als eine rein theoretische Spitzfindigkeit zu werten. Sie ist der theoretisch formulierte Ausdruck des Gefühls der Überlegenheit, Stärke und Siegeszuversicht der heutigen Sowjet-führer. Es ist nicht schwer zu verstehen, daß die Politik des Partei-und Regierungschefs, der vom endgültig gesicherten Bestand des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion ausgeht, heute in manchem anders aussieht, als die Politik des Diktators, der trotz aller großspurigen Reden, trotz aller Aggressivität den Bestand seiner Diktatur noch nicht endgültig gesichert sah. Für Chruschtschow sind, auf der Grundlage dieser Konzeption, Sicherheitsgarantien für die Sowjetunion eine selbstverständliche Forderung, aber kein Preis für etwaige Zugeständnisse oder Kompromisse. Die Bedingungen, die er stellt, die Ziele, die er mit seiner Außenpolitk verfolgt, sind nicht allein oder in erster Linie aus der Sorge um die Sicherheit seines Landes geboren. Objektiv besteht das sowjetisch Sicherheitsbedürfnis nach wie vor; die kommunistische Einschätzung der gegenwärtigen Weltsituation verleitet Chruschtschow jedoch zu anderen Schlußfolgerungen.
Worin bestehen die gegenwärtigen Ziele der sowjetischen Außen-und Deutschlandpolitik? Hermann Matern, Mitglied des Politbüros der SED, kleidete diese Ziele in folgende Worte; er sagte auf einer der sogenannten gesamtdeutschen Arbeiterkonferenzen im Jahre 1958:
„Stellt euch einmal vor, wenn wir eines Tages — das ist kein leichter Weg, der dauert noch ein bißchen — in ganz Deutschland beginnen, den Sozialismus aufzubauen. Stellt euch einmal vor, was sich dann in den anderen kapitalistisdten Ländern in Westeuropa tut. Im stürmisdien Tempo wird dann die Arbeiterbewegung in Italien und Frankreich — ich rede gar nicht von den anderen, die noch dazu gehören — in stürmischem Tempo werden dort die Arbeiter die Macht erobern und ebenfalls zum Sozialismus übergehen . . . Die Amerikaner werden sich dann auf ihre Insel zurückziehen, und dann werden sie beweisen müssen, ob ein einzelnes kapitalistisches Land existieren kann. Ich glaube es nicht
(Matern spricht natürlich von einem Sozialismus nach sowjetischem Vorbild. Im Interesse einer genauen Wiedergabe werden jedoch auch im folgenden die Begriffe und Definitionen der Kommunisten und ihrer Ideologie verwandt, ohne sie immer zu kommentieren).
Offenbaren die Worte Matern’s auch nur einen Wunschtraum kommunistischer Machthaber, so ändert es doch nichts daran, daß die Außenpolitik der Sowjetunion und ihre Konzeption in der Deutschlandfrage von diesem Ziel ausgeht und diktiert wird.
In diesem Zusammenhang ist es nicht uninteressant, die kommunistische Auffassung über die Koexistenz zwischen Staaten mit verschiedener gesellschaftlicher Struktur zu betrachten. Das Prinzip der Koexistenz wurde bekanntlich auf dem XX. Parteikongreß der KPdSLI im Jahre 1956 besonders stark betont. Dem XX. Parteitag folgte die Periode der sowjetischen Außenpolitik, die als „Offensive des Lächelns"
in die Geschichte eingegangen ist. Diese Periode gehört offensichtlich bereits zur Vergangenheit. Kann man sagen, die sowjetischen Machthaber seien, indem sie in ihrer Außenpolitik einen härteren Kurs eingeschlagen haben, von ihrem Prinzip der Koexistenz abgegangen? Das kann man nicht sagen, wenn man berücksichtigt, was die Kommunisten unter diesem Prinzip verstehen.
Die ideologischen Erklärungen der sowjetischen Koexistenz-These, die sofort nach dem XX. Parteitag begannen, ließen von vornherein keine großen Hoffnungen über die künftige sowjetische Außenpolitik zu. Chruschtschow hatte auf dem XX. Parteitag erklärt: „Das Leninsdte Prinzip der friedlichen Koexistenz von Staaten mit versdtiedener sozialer Ordnung war und bleibt die Generallinie der Außenpolitik unseres Landes 4).“ In der kommunistischen Schulungs-Literatur wurde nach dem XX. Parteitag sehr stark betont, daß Lenin der Vater der Koexistenz-politik sei. Das hat sehr reale Ursachen. Die Funktionäre sollen den „Klasseninhalt“ der Koexistenztheorie und -politik nicht vergessen; sie sollen nicht den Eindruck gewinnen, Koexistenz bedeute, auf den Kampf gegen den Kapitalismus zu verzichten, sich mit dem Status quo in der Welt abzufinden.
In Lenins Schriften findet man allerdings nur wenige Anhaltspunkte, aus denen die heutige Formulierung, die Koexistenz sei ein Grundprinzip der Außenpolitik kommunistischer Staaten, abgeleitet werden kann. Das wird jedoch ziemlich bedeutungslos angesichts dessen, wie die kommunistischen Ideologen heute ihre Auffassung von der Koexistenz erklären. Diese Erklärungen besagen:
Das Prinzip der Koexistenz zwischen sozialistischen und kapitalistischen Staaten beruht auf der Erkenntnis Lenins, daß im Zeitalter des Imperialismus der gleichzeitige Sieg der proletarischen Revolution in allen oder zumindest in den wichtigsten Industrieländern unmöglich und der Sieg der proletarischen Revolution zunächst in einem oder einzelnen Ländern möglich und notwendig ist. Stalin sagte darüber in seiner Schrift „Über die Grundlagen des Leninismus“, die im kommunistischen Lager auch heute noch de facto und offiziell als richtig und gültig erklärt wird:
(Auch bei allen folgenden Zitaten Stalins werden nur solche Schriften und Formulierungen verwandt, die heute de facto und offiziell noch als richtig und maßgebend bezeichnet werden. Die häufigen Zitate aus Stalins Schriften sollen deutlich machen, wie weit zwischen Stalin und Chruschtschow Übereinstimmung in Grundfragen besteht).
„Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem Lande für unmöglich. . . . Jetzt entspricht dieser Standpunkt nicht mehr der Wirklichkeit. Jetzt muß man von der Möglichkeit eines solchen Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der Entwicklung der verschiedenen kapitalistisd-ten Länder unter den Verhältnissen des Imperialismus, die Entwicklung der katastrophalen Widersprüdte innerhalb des Imperialismus, . . . das Anwachsen der revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt — alles das macht den Sieg des Proletariats in einzelnen Ländern nicht nur möglich, sondern audt notwendig. Die Geschidtte der Revolution in Rußland ist ein direkter Beweis dafür
Gewiß, diese Auslegung Lenins durch Stalin war sehr zweckbedingt. Es gab auch andere Auslegungen Lenins. Lim die kommunistische Auffassung von der Koexistenz zu behandeln, ist es jedoch allein wichtig, daß diese Thesen im kommunistischen Lager heute offiziell gültig sind.
Die kommunistischen Ideologen erklären: Wenn der gleichzeitige Sieg der proletarischen Revolution in den wichtigsten Ländern der Welt unmöglich ist, so heißt das nichts anderes, als daß sozialistische und kapitalistische Länder für eine gewisse historische Periode nebeneinander bestehen müssen. Auf dieser Erkenntnis beruhe die Auffassung der Kommunisten von der Koexistenz. Da aber die Entwicklung aller Länder in Richtung auf den Kommunismus eine objektive Gesetzmäßigkeit sei, sei die Koexistenz kein Gegenpol zur Weltrevolution.
Wir können hier davon absehen, welche Wandlungen die Theorie von der Weltrevolution im Verlauf derZeit erfahren hat. Nach der internen kommunistischen Propaganda nach dem XX. Parteitag zu schließen, ist die heute gültige Grundkonzeption von der Weltrevolution im wesentlichen die, wie sie Stalin in seinem Werk „Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten“ formuliert hat. (Der Begriff „Weltrevolution“ wird allerdings in der heutigen Propaganda wenig verwandt; der Inhalt dieses Begriffs wird oft mit anderen Worten umschrieben, die jedoch das gleiche ausdrücken). „Es iss ^zweifelhaft, daß die Universaltheorie des gleichzeitigen Sieges der Revolution in den ausschlaggebenden Ländern Europas . . . sich als künstliche, lebensunfähige Theorie erwiesen hat. . . Diese Theorie ist nicht nur als Entwicklungsschenra der Weltrevolution unannehmbar, denn sie steht im Widerspruch zu offenkundigen Tatsachen. Sie ist noch unannehmbarer als Losung, denn sie fördert nicht, sondern hemmt die Initiative der einzelnen Länder, die infolge gewisser historischer Bedingungen die Möglichkeit erhalten, die Front des Kapitals selbständig zu durchbrechen, denn sie spornt nicht zum aktiven Angriff auf das Kapital in den einzelnen Ländern an, sondern zum passiven Abwarten des Augenblicks der allgemeinen Entscheidung. . . . Es ist unzweifelhaft, daß die Entwicklungswege der Weltrevolution nicht so einfach sind wie es früher scheinen mochte. . . . Denn es ist ein neuer Faktor in Erscheinung getreten, wie das unter den Bedingungen des entwiclzelten Imperialismus wirkende Gesetz der ungleichmäßigen Entwidmung der kapitalistisdien Länder............. wie das gewaltige Sowjetland, das zwischen West und Ost liegt, zwischen dem Zentrum der finanziellen Ausbeutung der Welt und dem Schauplatz der kolonialen Unterdrückung, ein Land, das allein durch seine Existenz die ganze Welt revolutioniert. . . . Aber es ist ebenfalls unzweifelhaft, daß die Entwicklung der Weltrevolution, der Prozeß des Aussdieidens einer Reihe neuer Länder aus dem Imperialismus, sidt um so sdmeller und gründlidter vollziehen wird, je gründlicher sich der Sozialismus im ersten siegreidten Land festigen wird, je sdmeller dieses Land in eine Basis für weitere Entfaltung der Weltrevolution, in einen Hebel zur weiteren Zersetzung des Imperialismus verwandelt wird. ... Die Weltrevolution — wird sidt um so schneller und gründlidrer entfalten, je wirksamer die von dem ersten sozialistisd^en Lande den Arbeitern und werktätigen Massen der übrigen Länder geleistete Hilfe sein wird
Diese Hilfe — so erklären die kommunistischen Ideologen — stehe nicht im Widerspruch zur Koexistenzpolitik und werde von dieser nicht vereint. Das eine sei eine Frage der staatlichen Beziehungen, das andere eine Frage der proletarischen Solidarität, des proletarischen Internationalismus. Da jedoch die Arbeiterklasse in den sozialistischen Ländern im Besitz der Staatsmacht und der sozialistische Staat ein Instrument der Arbeiterklasse, der Arbeiterpolitik sei, könne dieser Staat keine andere Politik betreiben, als es die Interessen des proletarischen Internationalismus verlange. Es stehe also nicht im Gegensatz zum Prinzip der Koexistenz, wenn „der Staat der Arbeiter“ den Drang der „Arbeiterklasse“ der kapitalistischen Länder zum „Sozialismus“ unterstütze. Das bedeute aber nicht, den Sozialismus auf den Spitzen der Bajonette in andere Länder zu tragen. (Hier muß allerdings auf die Theorie von den gerechten und ungerechten Kriegen hingewiesen werden).
Stalin sagte über die Unterstützung, die „das erste siegreiche Land des Sozialismus“ für den Kampf um den „Sozialismus“ in anderen Ländern geben müsse: “ Worin muß diese Hilfe zum Ausdrudt kommen? Sie muß erstens darin zum Ausdruck kommen, daß das siegreiche Land das Höchstmaß dessen durchführt, was in einem Lande für die Entwicklung, Unterstützung und Entfachung der Revolution in allen Ländern durchführbar ist. Sie muß zweitens darin zum Ausdruck kommen, daß das siegreiche Proletariat des einen Landes . . . sich der übrigen kapitalistischen Welt entgegenstellen würde und die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in ihnen den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und im Notfall sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen würde
In welchen Hauptlinien versucht Chruschschow diese Thesen mit Leben zu erfüllen?
Chruschtschow hatte am deutlichsten erkannt, daß mit den Methoden Stalins und oft sogar trotz der Methoden Stalins zwar der Über-gang der Sowjetunion von einem rückständigen Agrarland zu einer Industriemacht möglich war, diese Methoden sich aber unter den Bedingungen eines industrialisierten Landes als untragbarer Hemmschuh erwiesen und die wirtschaftliche Lage der Sowjetunion — wie an vielen Beispielen offensichtlich geworden war — trotz Industrialisierung an den Rand einer Katastrophe geführt hatten. Chruschtschow meint; wenn es der Sowjetunion nicht gelingt, mit den Problemen, die sich aus den Bedingungen eines industrialisierten Landes ergeben, fertig zu werden, werde die Zukunft des Kommunismus sowohl im eigenen Land als auch im Weltmaßstab ernsthaft gefährdet sein.
Auch der in den letzten Jahrzehnten immer geringer werdende Einfluß kommunistischer Ideen in der freien Welt scheint Chruschtschow und anderen Funktionären der KPdSU Sorge bereitet zu haben. Stalins Methoden in der Innenpolitik seien schuld, daß das Ansehen der sowjetischen Gesellschaftsordnung diffamiert und in manchen westlichen Ländern eine ganze Generation, die zu Lenins Zeiten begonnen hatte sich dem Kommunismus zuzuwenden, wieder abgestoßen wurde — erklärten führende Kommunisten nach dem XX. Parteitag.
Aus all dem ergibt sich: die Reform und Korrekturen, die Chruschtschow andere Funktionäre der KPdSU nach Stalins Tod in der Sowjetunion einleiteten, hatten zwar unmittelbar innere Ursachen. Chruschtschow sieht in deren Verwirklichung jedoch gleichzeitig wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung des Kommunismus im Weltmaßstab. Er scheint tief von dem Gedanken durchdrungen, daß die Entwicklung des Weltkommunismus davon abhängt, ob die Sowjetunion der übrigen Welt in bezug auf die wirtschaftliche, wissenschaftliche und technische Entwickung und die wirtschaftliche Existenzsicherung der schwächsten Bevölkerungsschichten etwas besseres entgegenstellen kann. In dieser Hinsicht ist er zweifellos Realist. Dieser Realismus ist aber auf einigen Illusionen aufgebaut. Chruschtschow unterschätzt die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Westens; er hofft auf die große Krise des Kapitalismus. Er sieht die politische Grundeinstellung der Bevölkerung zu sehr von wirtschaftlichen Faktoren bestimmt. Er kann wegen seiner ideologischen Dogmen nicht erkennen, daß auch seine Reformen nicht ausreichen, um den Erfordernissen der Entwicklung einer modernen Industriegesellschaft in der Sowjetunion gerecht zu werden.
Chruschtschow konzentrierte sich in den vergangenen Jahren darauf, seine Konzeption auszuarbeiten und die Voraussetzungen für eine wirtschaftliche und ideologische Offensive der Sowjetunion zu schaffen. Während in der westlichen Welt nur die Aktivität Chruschtschows in wirtschaftlichen Fragen und seine Reformen registriert wurden, entwickelte sich im Sowjetblock auch eine beachtliche ideologische Kampagne.
Noch nie wurden in der Sowjetunion und im gesamten Sowjetblock solch eine gewaltige ideologische Aktivität entfaltet wie gegenwärtig. Noch nie nahmen innerhalb der ideologischen Arbeit der KPdSU und auch der SED die Probleme der internationalen kommunistischen Bewegung einen so breiten Raum ein wie in der jüngsten Zeit. In der ganzen Stalin-Ära versuchte die KPdSU trotz stärkerer Kontrolle nie so intensiv die ideologische Arbeit der europäischen (einschließlich der westeuropäischen) kommunistischen Parteien zu beeinflussen und zu beleben, wie sich dies jetzt bei den verschiedensten internationalen ideologischen Konferenzen und anderen Gelegenheiten zeigte.
Jetzt hält Chruschtschow die Gelegenheit für gekommen, auch eine außenpolitische Offensive einzuleiten. Dabei versucht er bei gleicher Zielsetzung anders als Stalin den neuen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Stalin hoffte offensichtlich auf eine Wiederholung der Welt-situation von 1914— 23. Wie seine Politik kurz vor dem zweiten Weltkrieg, aber auch seine ideologischen Schriften noch kurz vor seinem Tode beweisen, hoffte Stalin, es werde zwischen den „imperialistischen“ Staaten zu kriegerischen Zusammenstößen kommen, die günstige Voraussetzungen für die Ausbreitung des Kommunismus schaffen würden. Auch Chruschtschows Konzeption beruht auf der Zeugung und der Ausnutzung „imperialistischer Gegensätze“. Er erkennt jedoch, daß es kaum zu Kriegen zwischen den großen Staaten der freien Welt kommen wird. Um so mehr hofft er, daß sich wirtschaftliche Schwierig-• keiten und politische Differenzen in der freien Welt entwickeln werden, die es ihm ermöglichen sollen, die gleichen Effekte zu erzielen.
Chrustschow will die ursprünglichen Stalinschen Thesen der Weltrevolution durch eine aktive Politik mit Leben erfüllen und sich weniger auf einen geschichtlichen Selbstlauf verlassen.
Auf dem XXL Parteitag der KPdSU erklärte Mikojan: „In den Gespräclten in den USA sagte ich, als Kommunist bedauere ich, daß es in Amerika so wenig Kommunisten gibt, ich könne ihnen aber durch nichts helfen.“ Die Machthaber des Kreml wissen natürlich, daß sie keine Möglichkeit einer unmittelbaren Einflußnahme auf die inneren Verhältnisse Amerikas haben. In allen Spekulationen kommunistischer Ideologen über die künftige Entwicklung der Weltrevolution ist Amerika ausgeklammert. Die vorn wiedergegebenen Ausführungen Materns deuten an, daß den Kommunisten ein Schema der Weltrevolution vorschwebt, durch das Amerika isoliert und seiner lebensnotwendigen wirtschaftlichen Verbindungen Stück für Stück beraubt werden soll. Selbst die kommunistischen Wunschträumer rechnen dabei mit langen Zeiträumen. Darum ist Moskau bemüht, zu den Vereinigten Staaten ein „annehmbares“ Verhältnis zu finden, um in der Zwischenzeit mit Hilfe außenpolitischer Manipulationen in Europa und in den schwach entwickelten Ländern die Bedingungen fördern zu können, die für die weitere Ausbreitung des Kommunismus als erforderlich erachtet werden.
Die kommunistische Ideologie über die inneren und äußeren Voraussetzungen der proletarischen Revolution
Die Kommunisten sagen: da die Bedingungen für die Revolution in jedem Land selbst heranreifen müssen, worauf die Sowjetunion keinen Einfluß ausüben könne, sei ihre Koexistenzpolitik ehrlich. Die kommunistische Ideologie betont jedoch die große Bedeutung der äußeren Bedingungen für eine Revolution. Auch hier ist man von den Stalinschen Thesen keinesfalls abgegangen, sondern versucht diese auszubauen und zu entwickeln. Nach der kommunistischen Ideologie gibt es in der heutigen Welt drei charakteristische Hauptwidersprüche, die „den Imperialismus als Vorabend der proletarischen Revolution“ kennzeichnen: a) D e r Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Die Herrschaft des Finanzkapitals, das Joch der Monopole in den fortgeschrittenen Ländern des Kapitalismus werde immer fühlbarer, die Zusammenstöße zwischen der Kapitalisten-und der Arbeiterklasse immer heftiger; daraus ergebe sich ein Anwachsen der Empörung der Arbeiterklasse gegen die Grundlagen des Kapitalismus und eine Heran-führung der Massen an die proletarische Revolution als der einzigen Rettung. Es ergebe sich eine Verschärfung der revolutionären Krise innerhalb der kapitalistischen Länder, eine „Anhäufung von Zündstoff an der inneren, der proletarischen Front in den Mutterländern“. b) D e r Widerspruch zwischen „einer Handvoll so rt geschrittener kapitalistischer Länder und den abhängigen, kolonial-unterdrückten Län d e r n . " Aus dem Anwachsen des Kampfes der kolonial unterdrückten-Länder gegen ihre imperialistischen Unterdrücker ergebe sich eine Verschärfung der revolutionären Krise in den Kolonialländern, „an der äußeren Front“. Es entstehe das Bündnis zwischen der „revolutionären inneren Front und der revolutionären äußeren Front“ im Kampf gegen den Imperialismus c) Der Widerspruch zwischen den einzelnen „imperialistischen Mächten im Kampf um die Aufteilung der Welt“, um politische und wirtschaftliche Vormachtstellung usw. Dieser „Kampf der imperialistischen Mächte untereinander“ erzeuge schwache Stellen in der „Kette des Imperialismus“, die das Proletariat ausnutzen müsse und die den Sieg der proletarischen Revolution erleichtern.
Hinzu komme der Widerspruch zwischen „dem imperialistischen und dem sozialistischen Weltsystem." Nach dem Sieg der russischen Oktoberrevolution sowie der Herausbildung „des sozialistischen Weltsystems“ nach dem zweiten Weltkrieg sei der Imperialismus in eine überaus schwierige Lage geraten, wodurch sich seine „charakteristischen Widersprüche“ bis zum äußersten verschärft hätten.
Daraus folgerte Stalin und auch die heutige kommunistische Ideologie: „Früher betrachtete man die proletarische Revolution ausschließlich als Ergebnis der inneren Entwicklung des betreffenden Landes. . . . Jetzt muß man die proletarisdre Revolution vor allem als Ergebnis der Entwicklung der Widersprüche im Weltsystem des Imperialismus betrachten, als Ergebnis dessen, daß die Kette der imperialistischen Weltfront in diesem oder jenem Lande reißt. . . . Wo wird die Kette in nächster Zukunft reißen? Wiederum dort, wo sie am scltwädtsten ist
Es ist nicht verwunderlich, wenn die sowjetische Außenpoltik auf der Grundlage dieser Ideologie versucht, bei der Schwächung einzelner Kettenglieder tatkräftig mitzuhelfen.
Wo ist in Europa das schwache Glied in der Kette des Imperialismus, das als nächstes reißen wird? Auf diese Frage geben die kommunistischen Machthaber keine offizielle Antwort. Wenn Kommunisten untereinander diskutieren, wird diese Frage jedoch nicht selten gestellt. Bei solchen Diskussonen wurden bislang meist zwei Möglichkeiten angedeutet: die Deutsche Bundesrepublik oder Frankreich.
Betrachten wir aber zunächst, was die kommunistische Ideologie über die inneren Voraussetzungen einer proletarischen Revolution zu sagen hat: „Das Grundgesetz der Revolution, das durdt alle Revolutionen und insbesondere durch alle drei russisdten Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: Zur Revolution genügt es nicht, daß sich die ausgebeuteten und geknechteten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewußt werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, daß die Ausbeuter nid-it mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die „unteren Schichten“ die alte Ordnung nicht mehr wollen und die „Oberschichten“ nicht mehr in der alten Weise leben können, erst dann kann die Revolution siegen. Diese Wahrheit läßt sich mit anderen Worten so ausdrücken: Die Revolution ist unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise. Folglich ist zur Revolution notwendig: erstens, daß die Mehrheit der Arbeiter (oder jedenfalls die Mehrheit der klassenbewußten, denkenden, polilitisch aktiven Arbeiter) die Notwendigkeit der Umwälzung völlig begreift und bereit ist, ihretwegen in den Tod zu gehen; zweitens, daß die herrscltenden Klassen eine Regierungskrise durchmachen, die sogar die rückständigen Massen in die Politik hineinzieht. . . die Regierung entkräftet und es den Revolutionären ermöglicht, diese Regierung schnell zu stürzen“
Diese von Lenin formulierten inneren Bedingungen wurden noch ergänzt um die Notwendigkeit einer revolutionären marxistisch-leninistischen Partei, einer „Partei neuen Typus“, die über die notwendige Erfahrung, Organisation und Disziplin verfügt, und mittels richtiger Losungen Masseneinfluß erwirbt.
Was nun Frankreich zur Zeit der 4. Republik betraf, so argumentierten theoretisch geschulte Kommunisten: Es gibt eine starke französische kommunistische Partei die Masseneinfluß besitzt und über Erfahrungen in der „Aktionseinheits-und Volksfrontpolitik“ verfügt. In bezug auf Frankreich sei das Zusammentreffen des „antiimperialistischen“ Kampfes an der „inneren und der äußeren Front“ sehr ausgeprägt und offen spürbar. Die wirtschaftliche Situation des Landes, das nicht Fertigwerden mit dem Algerienproblem usw., deute die Entwicklung einer nationalen Krise, die sowohl Ausgebeutete und Ausbeuter erfasse, an. Die dauernden Regierungskrisen könnten sehr leicht eine Situation herbeiführen, wo die Massen in der kommunistischen Partei den einzigen Ausweg sehen. Wenn aber — so wurde gefolgert — in Frankreich das „imperialistische" Regime ins Wanken komme, so könne sich, in der Klammer zwischen der „DDR“ und dem Frankreich der Volksfront, auch das kapitalistische Regime in der Bundesrepublik nicht lange halten. So könne sich Frankreich durchaus als das schwächste Glied in der Kette des Imperialismus erweisen, welches durch die revolutionäre Bewegung gesprengt werden könne, um von dort aus für Europa die Weltrevolution weiter zu entwickeln. Damit das französische Proletariat diese Aufgabe lösen könne sei jedoch eine Weltsituation erforderlich, die ihm den notwendigen Rückhalt gebe und andere Länder hindere, den französischen Imperialisten zu Hilfe zu kommen.
Die spätere Entwicklung in Frankreich hat vorläufig einen Strich durch diese Rechnung gemacht. Auch die Versuche der Kommunisten, aus dem für sie Unangenehmen noch einen Nutzen zu ziehen und de Gaulle auszunutzen um die „Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten“ zu verschärfen, blieben erfolglos.
Bleibt das andere mitunter in der Diskussion angedeutete „schwächste Glied in der Kette des Imperialismus“ soweit es Europa betrifft — die Deutsche Bundesrepublik. Sicher waren die Hoffnungen der kommunistischen Machthaber nie einseitig auf Frankreich oder auf Deutschland gerichtet. Auffallend ist jedoch ein gewisses zeitmäßiges Zusammenfallen der Aktivierung der sowjetischen Deutschlandpolitik mit dem politischen Umschwung in Frankreich, der bestimmte Hoffnungen der Kommunisten durchkreuzte.
Von der These, Deutschlandseidas gegenüber dem Kommunismus am wenigsten anfällige Land, dürften sich die Führer des Sowjetblocks wenig beeinflussen lassen. Einige Probleme, die sich aus der gegenwärtigen Situation und der Vergangenheit Deutschlands ergeben, können unter Berücksichtigung der kommunistischen Ideologie leicht dazu verleiten, die Deutschlandfrage auszunutzen, um zu versuchen, einige der Bedingungen zu forcieren, bzw. zu zeugen, die für die Ausdehnung des kommunistischen Systems als erforderlich erachtet werden.
Kommunistische Vorstellungen über die Wiedervereinigung Deutschlands im Spiegel der Ideologie
Die kommunistische Ideologie bejaht den Buchstaben nach das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung. Sie enthält jedoch auch andere Thesen. In der bereits mehrfach erwähnten, heute noch offiziell anerkannten Schrift Stalins wird betont, es komme nicht darauf an „jede nationale Bewegung, immer und überall, in allen einzelnen konkreten Fällen“ zu unterstützen. „Es handelt sid^ um die Unterstützung der nationalen Bewegungen, die auf die Schwächung, auf den Sturz des Imperialismus gerichtet sind“.
Die kommunistische Ideologie unterstreicht ausdrücklich die Unterordnung der nationalen Frage unter die „soziale Frage", d. h. unter die Erfordernisse der kommunistischen Revolution.
„Der Leninismus hat nadigewiesen, . . . dafl die nationale Frage nur im Zusammenhang mit der proletarischen Revolution . . . gelöst werden kann. . . . Die nationale Frage ist ein Teil der allgemeinen Frage der proletarischen Revolution, ein Teil der Frage der Diktatur des Proletariats.
Die einzelnen Forderungen der Demokratie, sagt Lenin, darunter das Selbstbestimmungsredit, sind nichts Absolutes, sondern ein kleiner Teil der allgemein-demokratischen — jetzt: allgemein-sozialistischen — Welt-Bewegung. Es ist möglich, daß in einzelnen konkreten Fällen der Teil dem Ganzen widerspricht, dann muß man den Teil verwerfen"
Diese Thesen sind für die kommunistischen Machthaber nicht nur abstrakte Theorie. Die SED-Führer benutzen diese Thesen in der internen Propaganda als Begründung für ihre Konzeption zur Wiedervereinigung Deutschlands. Für die Kommunisten ist die „Lösung der nationalen Frage Deutschlands", die deutsche Wiedervereinigung, eine Teil-frage ihrer Vorstellungen über die proletarische Revolution und somit der Festigung und Ausbreitung des kommunistischen Regimes untergeordnet. Die offizielle Losung dafür lautet: „Nicht Wiedervereinigung um jeden Preis, sondern nur um den Preis der Bändigung und Entmachtung des deutschen Imperialismus.“ Die SED erklärte auf der 30.
Tagung ihres ZK: „Eine entsdieidende Besonderheit der Spaltung Deutschlands besteht darin, daß sie eng verknüpft ist mit dem Klassenkampf zwischen der Arbeiterklasse und der imperialistischen Bourgeosie. Deshalb sind die Wiedervereinigungslosungen und Vorschläge, die unsere Partei aufstellt, in erster Linie an die deutschen Arbeiter geTiditet"
Man wird einwenden, die SED-Führer seien nicht die Entscheidenden;
die Entscheidungen fielen in Moskau. Das ist richtig. Aber hat der Kreml eine andere ideologische Konzeption? Und, wenn Chruschtschow eine realistischere Konzeption durchsetzen wollte oder könnte, hätte er dazu vor kurzem nicht eine günstige Gelegenheit gehabt? Die Linie Schirdewans bestand u. a. darin, diese Konzeption im Sinne einer etwas realistischeren Politik zu modifizieren. Er ging davon aus, daß eine relativ schnelle Wiedervereinigung Deutschlands die besseren Voraussetzungen für den Kommunismus schaffe, dazu aber gegenseitige Zugeständnisse unvermeidbar seien. Diese Linie wurde als „Konzeption der Wiedervereinigung um jeden Preis" verurteilt. Hatte Schirdewan etwa nicht den genügend langen Arm nach Moskau? Fühlte er sich im Gegenteil vielleicht sogar anfangs durch Moskau ermutigt?
Schirdewan hatte 195 5 eine große Delegation der SED geleitet, die längere Zeit umfangreiche Studien der Parteiarbeit in der Sowjetunion führte. Bei dieser Gelegenheit hatte er viele Aussprachen mit den Spitzen der KPdSU. Es wurde ihm wiederholt erklärt, seine Delegation solle das Wesentliche der Arbeit der KPdSU studieren, sich aber vor jeglicher schematischer Übertragung hüten; die SED müsse ihre Arbeit den Bedingungen in Deutschland anpassen. Als Beispiel wurde damals auf die Kommunisten Chinas verwiesen. Auch die führenden Kommunisten Chinas — so sagte man ihm — hätten wiederholt die Probleme der KPdSU studiert, gingen aber richtig davon aus, das Wesentliche auszuwerten, jedoch die Ausarbeitung einer ihren Bedingungen entsprechenden Politik nicht zu vernachlässigen. Schirdewan mußte sich also förmlich dazu aufgefordert fühlen, in Deutschland nach neuen Wegen zu suchen. Als er soweit war, wurde er fallengelassen. Gewiß, in Moskau hatte sich der Standpunkt inzwischen in einigen Fragen geändert. Aber hatten nur einige Erfahrungen und Ereignisse der Zwischenzeit Moskau abgeschreckt? Schirdewan hatte sich von Anfang an gegen die Politik von Nagy in Ungarn ausgesprochen. Er ist auch kein deutscher Gomulka; trotz Korrekturen, die er anstrebte, war er ein viel schärferer Verfechter der Moskauer Linie; seine Vorschläge betreffs innerer Korrekturen waren viel orthodoxer. Von dieser Seite aus hätten Moskau keine Gefahren gedroht. Daß Schirdewan sich zu einem zweiten Mao Tse-tung entwickelte, war ebenfalls nicht zu befürchten. Moskau hätte wahrscheinlich sogar die Möglichkeit gehabt, die Linie Schirdewans durchzusetzen, ohne einen Wechsel in der SED-Führungsspitze vornehmen zu müssen. Jedoch Ulbrichts Argumentation, daß die Linie Schirdewans die kommunistische Grundkonzeptionen gefährde, fand Chruschtschows Ohr. Die starren kommunistischen Dogmen errangen den Sieg über den Versuch einer etwas realistischeren Politik. Es zeigte sich, daß auch Chruschtschow nationale Bedingungen und Momente eindeutig für kommunistisches Machtstreben ausnutzt. Ulbricht konnte Chruschtschow überzeugen, daß die künstlich geschaffene nationale Situation Deutschlands, die Frage der Wiedervereinigung unter den gegenwärtigen Bedingungen und dem Kräfteverhältnis— der Stärke der demokratischen, freiheitlichen Kärfte in Deutschland — in Richtung gegen den Kommunismus wirkt, daß man darum nicht die geringsten Zugeständnisse machen dürfe, ohne kommunistische Positionen zu gefährden, daß man die Bedingungen für eine Ausnutzung der nationalen Probleme Deutschlands im kommunistischen Sinne erst durch eine harte Politik schaffen müsse. Das Gemeinsame zwischen Chruschtschow und Ulbricht hat sich ohne Zweifel stärker erwiesen als die Unterschiede. Eine oft anzutreffende einseitige Einschätzung der Reformbestrebungen und einiger realpolitischer Tendenzen Chruschtschows verleitet mitunter dazu, dieses Faktum, diese Seite der Übereinstimmung zwischen der Politik Chruschtschows und Ulbrichts abzuschwächen, wodurch leicht Illusionen entstehen können. Hinzu kommt — und das beeinflußt wesentlich Chruschtschows Deutschlandpolitik — daß er in gewissem Sinne den Gedanken der Weltrevolution, den Traum von der Ausbreitung des Kommunismus ernster nimmt, mehr mit Leben erfüllen möchte, zielstrebiger nachhängt als Stalin, daß er sich dabei weniger auf den mechanischen Verlauf verlassen möchte: daß er dazu Momente der ideologischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzung mehr in den Vordergrund rückt; daß er dabei stärker eine innere Stabilisierung in der Sowjetunion und die Beseitigung einiger der abstoßensten Züge des kommunistischen Regimes als wichtige Notwendigkeit ansieht. Daß er sich dabei auch in der Hinsicht an Leninsche Gedanken zu halten sucht, wonach mitunter ein Zickzackweg, einige Kompromisse, ja mitunter sogar zeitweilige Rückzüge schneller zum Ziel führen können, — all das macht die Sache nicht harmloser, sondern gefährlicher.
Vorläufig helfen noch verständliche Hoffnungen nicht darüber hinweg: in den Köpfen der maßgebenden kommunistischen Führer ist die Frage der Wiedervereinigung Deutschlands nach wie vor eine Teilfrage der kommunistischen Revolution. Natürlich wird dies in den öffentlichen Erklärungen der Machthaber nicht ausgesprochen. Wo steht geschrieben, daß wir alles sagen müssen, was wir wissen und was notwendig ist — pflegen kommunistische Führer mitunter zu sagen, wenn sie ihre Konzeption theoretisch begründen, aber den internen Charakter betonen wollen. (Für die Unterschiede zwischen den Zielen und den Losungen gibt es in der Theorie ebenfalls eine Erklärung, auf die später noch eingegangen werden muß).
Wie soll die sowjetische Deutschlandpolitik die Bedingungen schaffen helfen, die die Ideologie als notwendige Voraussetzungen für die Entwicklung der kommunistischen Revolution ansieht?
Die erste „Bedingung" wäre die Schürung von Gegensätzen, die Zerrüttung der Einheitsfront der westlichen Welt.
Die sowjetische Deutschlandpolitik als Prüfstein tür die Einheit des Westens
Lenin hat wiederholt erklärt, die kommunistische Politik müsse sich, um erfolgreich zu sein, jeden, auch den kleinsten Riß oder Gegensatz in der nichtkommunistischen Welt nutzbar machen.
„Einen mächtigeren Gegner kann man . . . nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs sorgfältigste, . . . sowohl jeden, auch den kleinsten Rifj zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeosie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeosie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen 'Verbündeten zu gewinnen . . . Wer das nidit begriffen hat, der hat auch nicht einen Deut vom Marxismus und vom wissenschaftlichen Sozialismus überhaupt begriffen“
Für die gegenwärtig zwischen den Ländern der freien Welt bestehenden Beziehungen sind nicht Gegensätze und Differenzen, sondern gemeinsame Interessen und Einigkeit in prinzipiellen Fragen charakteristisch. Trotzdem gibt es natürlich zumindest in Detailfragen unterschiedliche Auffassungen und Auslegungen. Nach kommunistischer Ideologie werden aber nicht die Einigkeit, sondern die Gegensätze von Dauer sein. Die gegenwärtige Situation Deutschlands scheint den Sowjets geeignet, vorhandene unterschiedliche Auffassungen in der freien Welt zu testen und zu fördern. Die jüngsten Berlin betreffenden Vorstöße der Sowjetunion sind ein Musterbeispiel dafür.
Jedes westliche Land, das heute mit seinen Kräften die Positionen der freien Welt in Deutschland sichert und verteidigt, hat seine eigenen Probleme, mit denen es fertig werden muß. Die Verpflichtungen dieser Mächte zur Verteidigung der freien Welt in Deutschland und damit auch in Berlin erleichtern nicht immer die Lösung ihrer eigenen Probleme. Die kommunistischen Machthaber registrieren sorgsam jedes Anzeichen, aus dem eventuell gefolgert werden kann, daß in einer der Westmächte Probleme entstehen, die die Deutschlandfrage überschatten und in den Hintergrund drängen könnten. Beeinflußt von ihrer Ideologie rechnen die Kommunisten damit, daß verschiedene Schwierigkeiten einzelner westlicher Länder nicht geringer, sondern größer werden, diesen Staaten das Hemd näher ist als der Rock, sie darum im Interesse der Lösung ihrer eigenen Probleme geneigt sein werden, ihre Verpflichtungen gegenüber Deutschland einzuschränken. Da die Probleme oder innenpolitisch notwendigen Rücksichten der einzelnen Staaten unterschiedlich sind und deren Kräfte auch unterschiedlich binden, sehen die Kommunisten hier eine Möglichkeit zur Erzeugung von Gegensätzen. Das glauben sie jedoch besser mit einer harten, als mit einer weichen Deutschlandpolitik erreichen zu können. Eine „weiche“ Deutschlandpolitik würde nach Ansicht der Kommunisten den Westmächten zu viel Spielraum für die Lösung anderer Fragen lassen. Eine weiche Deutschlandpolitik der Sowjetunion, die die einheitlichen Erklärungen und Deklarationen der Westmächte betreffs Deutschlands nicht auf die Probe stellt, keiner wirklichen Belastung aussetzt, kann den wirklichen Willen und vor allem die Fähigkeit der Westmächte zum einheitlichen Handeln nicht testen. Gerade aber dieser Test ist für die kommunistischen Machthaber äußerst wichtig.
Von den Schlußfolgerungen, die Chruschtschow aus seinem jüngsten Test gezogen hat, wird es mit abhängen, wie die nächsten außenpolitischen Aktionen des Kreml aussehen werden. Die Chruschtschowschen Belastungsproben haben die freie Welt nicht erschüttert. Eine generelle Kapitulation dürfte Chruschtschow allerdings auch nicht erwartet haben — so unrealistisch ist er nicht; für ihn zeigt sich das Neue zunächst in schwachen Keimen, die aber wachsen werden. Es gab in der westlichen Welt einige Erscheinungen, die als diese „zunächst noch schwachen Keime“ gewertet werden könnten, die vorläufig nicht dazu beitragen dürften, aus dem Osten eine wesentliche Klimaverbesserung zu erwarten. Die nach den Berlinvorschlägen Chruschtschows einsetzende Verwirrung in Teilen der Öffentlichkeit, unterschiedliche Auffassungen über die Begegnung der von den Sowjets angedrohten Maßnahmen, einzelne Tendenzen der Nachgiebigkeit gegenüber den Sowjets und auch gegenüber Ulbricht waren viel zu offensichtlich, als daß sie die Kommunisten nicht verleiten könnten, diese Situation bis zum Letzten auszunutzen und auch künftig in solchen massiven Vorstößen ein geeignetes Mittel zu sehen, um Verwirrung, Unsicherheit und Differenzen zu züchten.
Chruschtschow erklärte während seines Aufenthalts in Ostberlin dem Zonen-Präsidenten Pieck: „Unsere Sache geht gut voran. Die Gegner sind in die Defensive gedrängt. Das ist die Hauptsache.“ Der Kreml-Gewaltige wird alles versuchen, um die Initiative auch weiterhin in der Hand zu behalten und den Westen noch mehr in eine Defensivstellung zu drängen. Das scheint ihm aus zwei Gründen wichtig: Die Erfahrungen lehren ihn, daß die Position der Machthaber innerhalb des kommunistischen Lagers immer dann am gesichertsten ist, wenn die Politik und Diplomatie der freien Welt in die Defensive gerät. Die kommunistische Ideologie besagt, die Offensive (der kommunistischen Politik) sei das beste Mittel, um im Lager des Gegners — also in der westlichen Welt — Verwirrung, Differenzen und Gegensätze zu erzeugen. Das glaubt Chruschtschow mit seiner gegenwärtigen Deutschlandpolitik zu erreichen Es wird einiger Anstrengungen der freien Welt bedürfen, Chruschtschow aus diesem Traum zu erwecken.
Bereits die bekannte Rede Eisenhowers über die Haltung der Westmächte in bezug auf Berlin, der alle westlichen Staatsmänner zustimmten, scheint Chruschtschow veranlaßt zu haben, vorsichtiger zu werden.
Ein entschlossenes, einheitliches und offensives Auftreten der Westmächte auf der Genfer Konferenz kann ein übriges zur Ernüchterung Chruschtschows beitragen.
Die Bundesrepublik soll das schwächste Kettenglied in Westeuropa werden
Die sowjetische Deutschlandpolitik soll nicht nur Widersprüche und Gegensätze in der westlichen Welt erzeugen, sie soll auch das gewünschte „schwächste Kettenglied“ schaffen, welches zur weiteren Ausdehnung des Kommunismus erforderlich ist. Wie soll dies geschehen?
Als Folge der Vergangenheit blieben auch bei Völkern der freien Welt nicht wenige Ressentiments gegenüber Deutschland. Indem die Kommunisten das Feuer ihrer. Propaganda gegen „den wiedererstandenen deutschen Imperialismus und Militarismus“ richten, hoffen sie unter Ausnutzung dieser Ressentiments das westliche Bündnissystem von innen heraus schwächen zu können. Aber diese propagandistische Seite scheint noch nicht das Wesentlichste. Die sowjetischen Führer dürften das moralische Gewicht einer starken deutschen Armee mehr fürchten als deren militärische Rolle. Warum?
Die russische Oktoberrevolution habe nicht zuletzt deswegen verhältnismäßig leicht gesiegt, weil die russische Bourgeosie schwach und ihr Militärapparat bankrott war. Der Aufbau des „Sozialismus" in der „DDR“ sei möglich geworden, weil im Ergebnis des zweiten Weltkrieges die deutsche Staats-und Militärmaschinerie zerschlagen war. Die Ausdehnung des „Sozialismus“ auf ganz Deutschland in friedlicher Weise sei solange möglich gewesen, wie in Westdeutschland der „Militarismus“ noch wiedererstanden war. Das sind wesentliche Gedankengänge der kommunistischen Ideologie.
Beeinflußt durch ihre Ideologie meinen die Kommunisten, die wirtschaftliche und politische Stabilität der Bundesrepublik werde nicht mehr von langer Dauer sein. Sie befürchten jedoch, das moralische Gewicht einer starken Armee werde es ihnen unmöglich machen, die erwarteten politischen und wirtschaftlichen Krisen in der Bundesrepublik mittels äußerem Druck für ihre Interessen nutzbar zu machen. Darum die scharfen Angriffe der Sowjets gegen eine starke deutsche Bundeswehr.
Der Austritt der Bundesrepublik aus der NATO ist die immer wieder betonte Forderung der SU. Was verbirgt sich dahinter? Nur das sowjetische Sicherheitsbedürfnis?
Die Sowjets hoffen, daß sich die Westmächte sofort stärker ihren eigenen Problemen zuwenden würden, die Deutschlandfrage nicht mehr ein gemeinsames Bindeglied sein werde, wenn die Bundesrepublik von der NATO getrennt wird.
Alle Vorschläge, die Bundesrepublik aus der NATO herauszulösen, sind gekoppelt mit Bedingungen, die Deutschland politisch und militärisch schwächen und gegenüber einem kommunistischen Druck widerstandslos machen sollen. Das eigentliche Ziel der kommunistischen Deutschlandpolitik ist auch nicht die Neutralisierung Deutschlands. In den Verfechtern für eine Neutralisierung Deutschlands sehen die Kommunisten nur geeignete Bundesgenossen. Ulbricht wies auf der 30. Tagung des ZK der SED deutlich darauf hin. Er erklärte:
„Die Kreise der Bevölkerittig in Westdeutscl-iland, die für die Neutralisierung Deutschlands sind, unterstützen wir in ihren Bestrebungen. Wir weisen aber darauf hin, daß die Neutralität Deutschlands nur gewährleistet werden kann, wenn, . . . die imperialistischen und militärischen Kräfte, die Träger der Politik der Revanche und des Krieges ausgeschaltet sind.“
Es geht also nicht nur um Sicherheit, nicht schlechthin um Neutralität, sondern darum, einen schwachen Punkt im Gefüge der freien Welt zu schaffen, der gegenüber kombinierten kommunistischen Vorstößen nicht voll widerstandsfähig ist.
Schaffung innerer Bedingungen für einen revolutionären Umschwung in der Bundesrepublik
Die kommunistischen Ideologen hoffen, daß die Unabhängigkeitsoder nationalistischen Bewegungen in Entwicklungsländern künftig den Westmächten stärker zu schaffen machen werden und damit die Westmächte oder zumindest einige von ihnen von der Deutschlandfrage ablenken könnten. Außerdem sind die Kommunisten davon überzeugt, daß „der Gegensatz zwischen dem sozialistischen und dem kapitalistischen System,“ deren Grenzen mitten durch Deutschland verlaufen, auf längere Sicht gesehen, für ihre Deutschlandkonzeption günstige Auswirkungen zeitigen wird. Gestützt auf die kommunistischen Positionen in der Zone hofft man, die in Westdeutschland fehlenden inneren Voraussetzungen für die Ausbreitung des Kommunismus schaffen zu können. — In welchen Richtungen soll dies nach kommunistischen Vorstellungen geschehen?
A) Erhöhung des moralischen Gewichts der Zone durch Überwindung der äußeren Isolierung.
Bereits Ende 19 5 5 erklärten die Machthaber des Zonenregimes in internen Beratungen das Bemühen um die diplomatische Anerkennung durch mindestens einen oder einige nichtkommunistische Staaten zur Generallinie ihrer Politik. Sie betonten, die volle Unterstützung der Sowjetunion sei ihnen dafür zugesichert. Der Grundgedanke dabei war, eine Anerkennung durch nichtkommunistische Staaten werde die Wirkungskraft aller Vorschläge der „DDR“ gegenüber der westdeutschen Öffentlichkeit maximal erhöhen und in der Bundesrepublik die Tendenzen fördern, die im Nachgeben gegenüber der Politik der SED den einzigen Ausweg sehen. Die Zonenmachthaber glauben, auf diesem Wege ihren moralischen Einfluß auf die westdeutsche Öffentlichkeit erhöhen und Teile der Bevölkerung in der Bundesrepublik — welche politischen Parteien sie auch immer bilden mögen — gegen die Bundesregierung ausspielen zu können.
B) Stärkere Ausstrahlungskraft des Zonenregimes auf Teile der westdeutschen Bevölkerung durch Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in der Zone.
Die Konzeption der SED für den wirtschaftlichen Wettbewerb mit der Bundesrepublik ist mehr oder weniger eine Kopie der Linie Chruschtschows. Beeinflußt durch ihre Krisentheorie meinen die SED-Führer, bei den wirtschaftlich schwächsten Schichten in der Bundesrepublik werde die Sorge um die wichtigsten Lebens-und Existenzbedingungen so stark in den Vordergrund treten, daß dadurch die Bereitschaft zur Verteidigung allgemein demokratischer Freiheiten, aber auch der Gedanke an Fernsehapparate, Autos und sonstige Dinge des gehobenen Lebensstandards zurück gedrängt werden könnte. Auf diesem Gedankengang dürfte die wirtschaftliche Konzeption der Zonenmachthaber im wesentlichen beruhen. Sie erwarten in der Bundesrepublik eine Wirtschaftskrise, die sich auf die wirtschaftlich schwächsten Schichten hart auswirken werde. Sie wollen bis dahin die wichtigsten; allgemeinsten wirtschaftlichen Exisstenzbedingungen der mitteldeutschen Bevölkerung so verbessern, daß Teile der westdeutschen Bevölkerung mit Neid auf diese schauen sollen.
C) Infiltrationsarbeit in der Bundesrepublik.
Unter Voraussetzung des unter A und B genannten, meinen die SED-Führer, ihre bisher mehr oder weniger wirkungslos gebliebenen Infiltrations-und Wühlarbeit in der Bundesrepublik werde künftig einen günstigeren Nährboden vorfinden und größere Erfolge zeitigen. Auch diese Infiltrations-und Wühlarbeit wird in der Ideologie berücksichtigt. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU entspannen sich in der SED heftige Diskussionen über die Gültigkeit des Prinzips der Koexistenz im Verhältnis „zwischen den beiden deutschen Staaten“. Diese Diskussionen und die zwei dabei auftretenden Meinungen gingen bis in die oberste Führungsspitze der SED. Die einen meinten, wenn es in Deutschland zwei verschiedene Staaten mit verschiedener sozial-ökonomischer Struktur gebe und wenn die Koexistenz ein leninistisches Grundprinzip des Verhältnisses zwischen Staaten mit verschiedenen Gesellschaftsordnungen sei, so müsse auch für das Verhältnis zwischen „den beiden deutschen Staaten“ das Prinzip der Koexistenz gültig sein. Die anderen verneinten die Gültigkeit des Prinzips der Koexistenz im Verhältnis „zwischen den beiden deutschen Staaten“. Sie meinten, die Anerkennung dieses Prinzips innerhalb Deutschlands würde die „Unterstützung des Kampfes der westdeutschen Arbeiterklasse“ stark beeinträchtigen. Es sei immer-hin ein Unterschied zwischen der „Hilfe“, die die Sowjetunion beispielsweise dem Kampf der französischen „Arbeiter“ gewähren könnte und dei „Hilfe“ die die „sozialistische DDR“ für den Kampf der westdeutschen „Arbeiter“ geben müßte. In Kreisen höherer Funktionäre wurde dabei mitunter angedeutet, daß bei Anerkennung des Prinzips der Koexistenz „zwischen den beiden deutschen Staaten“ auch die direkte Arbeit der SED und des FDGB in Westdeutschland ihre „legitime Berechtigung“ verlieren würde. Ulbricht entschied schließlich, das Prinzip der Koexistenz habe für „das Verhältnis zwischen den beiden deutschen Staaten“ keine Gültigkeit, da es in Deutschland zwar zwei Staaten, aber nur eine gesamtdeutsche Arbeiterklasse gebe, die „DDR“ der. Staat der Arbeiter sei und zwischen „der deutschen Arbeiterklasse und dem deutschen Imperialismus“ keine Koexistenz möglich sei.
Die sowjetischen und sowjetzonalen Vorschläge für eine Konföderation und einen Friedensvertrag sollen dazu dienen, die hier angedeuteten Ziele der kommunistischen Machthaber in Ruhe verwirklichen zu können und der Bundesrepublik die Hände zu binden. Auch diese Konzeption wird in einer Anleitung für ideologische Schulungsabende entsprechend verschleiert angesprochen.
„Der Weg zur demokratischen Wiedervereinigung Deutschlands führt über die Konföderation. Wir verlangen für das Zustandekommen der Konföderation weder den Sturz der Adenauerregierung, noch die Beseitigung des imperialistischen Systems in Westdeutschland. Heisst das, daß wir unser Ziel, ein demokratiscltes und schließlich sozialistisches Deutschland zu schaffen, aufgeben? Nein, im Gegenteil, wir werden als überzeugte Sozialisten immer und überall den Kampf für die sozialistische deutsche Republik führen, aber wir tragen zugleich der Tatsaclte Rechnung, daß der Kampf um den Sieg der sozialistischen Revolution von Bedingungen abhängig ist, die in WestdeutsMand noch nicht geschaffen wurden. Die Konföderation wird dazu beitragen, die friedliebenden demokratischen Kräfte in beiden Teilen Deutschlands unter Führung der Arbeiterklasse zu einen und die große Überlegenheit der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR in ganz Deutschland noch stärker zu demonstrieren. Auf diesem Wege wird über den Sturz des Imperialismus die Wiedervereinigung Deutschlands mit friedliebenden und demokratischen Mitteln vollzogen. Auf der Basis dieses geeinten demokratischen Deutschland wird die Arbeiterklasse im Verein mit allen deutsd'ien Patrioten den unmittelbaren Kampf um den Sieg der sozialistischen Revolution führen“
In der Tat, bei den Konföderations-Vorschlägen ist man mit Bedingungen relativ zurückhaltend. Die Konförderation soll ja auch nur die nötige Zeit sichern und mithelfen, dem Zonenregime eine günstigere Position zu schaffen. Die Konföderations-Vorschläge werden aber auch weitgehend im Zusammenhang mit den Vorschlägen für einen Friedensvertrag nach sowjetischen Vorstellungen gesehen. Dabei geht man stillschweigend davon aus (nur selten wird es offen betont), daß in der Zone alle Bedingungen des Moskauer Friedenvertrags-Vorschlages erfüllt seien, während in der Bundesrepublik diese Bedingungen erst verwirklicht werden müßten. Der gegenwärtige sowjetische Vorschlag für einen Friedensvertrag mit beiden Teilen Deutschlands dient eindeutig dem Ziel, die Bundesrepublik in eine benachteiligte Stellung zu drängen. Der verlangte Austritt der Bundesrepublik aus der NATO und der vorgesehene Austritt der Zone aus dem Warschauer Pakt sind offensichtlich keine gleichwertigen Fakten. Nicht nur wegen der Nähe der schwer-bewaffneten Sowjetunion. Wer sich über die Art der Verbindungen zwischen den im Sowjetblock an der Macht befindlichen kommunistischen Parteien nähere Gedanken macht, kann sich vorstellen, wie leicht der Austritt der Zone aus der Organisation des Warschauer Paktes zu einer Formsache werden kann. Ungarn läßt außerdem keinen Zweifel darüber, wie die Sowjetunion ihren militärischen Vorteil, bedingt durch ihre günstigere territoriale Lage, ausnutzen würde, wenn es nach dem Abzug ihrer Truppen in der Zone oder etwa in Polen zu „Aufweichungserscheinungen“ käme. Für die Zone gäbe ihr der Friedensvertrag — jedenfalls bei den gegenwärtigen Formulierungen — genügend formelle Vorwände.
Die im Friedensvertrags-Entwurf vorgesehenen militärischen Bedingungen sollen die Bundesrepublik zu einem Spielball in den Händen der sowjetischen Politik machen. Die Sowjetunion lieferte jetzt bereits genügend Beispiele, wie sie ihre politischen Vorschläge durch Bemerkungen über ihre Raketenwaffen zu erhärten sucht. Die gewünschte militärische Schwächung der Bundesrepublik soll ermöglichen, mittels mit Drohungen verbundener, politischer Vorstöße die Tendenzen der Nachgiebigkeit gegenüber der sowjetischen Politik zu verstärken.
Außerdem sieht die Sowjetunion in der Verwirklichung ihrer jetzigen Friedensvertrags-Ideen eine Möglichkeit der unmittelbaren Einflußnahme auf die inneren Verhältnisse der Bundesrepublik. Die Kontrolle über die Einhaltung der einzelnen Artikel würde ihr viele Möglichkeiten in die Hand geben. Die völlig andere sowjetische Auffassung von Demokratie, von „revanchistischem Auftreten“ und so weiter würde zu ständigen Interventionen Anlaß geben. Vergleicht man die jetzigen offiziellen sowjetischen und sowjetzonalen Charakteristiken über die einzelnen Parteien in der Bundesrepublik und deren führende Persönlichkeiten, so würden von den Verbotsbestimmungen des gegenwärtigen Vertragsentwurfes nach sowjetischer Terminologie mit Ausnahme der jetzt verbotenen KPD, alle Parteien der Bundesrepublik wesentlich beeinträchtigt werden. Der jetzige Vertragsentwurf soll also der SU nicht nur Einfluß auf die Bundesrepublik schlechthin, sondern auch Einfluß auf die einzelnen Parteien ermöglichen.
Schon diese wenigen Momente zeigen, wie schwer die Verhandlungen um einen annehmbaren Friedensvertrag sein werden — mit den Schwierigkeiten im Falle Österreich kaum vergleichbar. Noch hält die Sowjetunion — und davon wird sie nicht so leicht abzubringen sein, solange sie auch nur eine Aussicht auf Erfolg zu sehen glaubt — an ihren Bedingungen für die Wiedervereinigung fest, die die Konföderation und der Friedensvertrag vorbereiten helfen sollen. Dazu dürfte der Scwjetunion ein ihren Vorstellungen entsprechender Friedensvertrag mit beiden deutschen Teilstaaten günstiger erscheinen, als ein Separat-Vertrag mit dem Zonenstaat. Chruschtschow sieht jedoch die geringen Aussichten, einen Friedensvertrag mit solchen Bedingungen durchzusetzen. Um diese Aussichten zu vergrößern, droht er einen Separat-Vertrag mit dem Zonenregime an. Notfalls hofft er mit einem Separat-Vertrag einige gleiche Effekte zu erzielen. Auch damit könnte das moralische Gewicht des Zonenstaates erhöht werden. Die These von der alleinigen Zuständig-'keit Ulbrichts und Grotewohls für alle die Wiedervereinigung betreffenden Fragen erhielte den Schein einer völkerrechtlichen Rechtfertigung. Chruschtschows Berlin-Ultimatum und die Übertragung der Kontrollfunktionen an Ulbricht würde auf elegantere Art verwirklicht werden. Aus diesen Gründen holte Chruschtschow sein Reserverezept aus der Schublade, bevor es zu internationalen Konferenzen kam.
Zwei Etappen der Revolution
Die oben zitierten Ausführungen, nach denen der Sturz des „Imperialismus“, mit all dem, was nach kommunistischer Auffassung damit verbunden ist, die Voraussetzung für die Wiedervereinigung sei, ist nicht nur die Meinung eines untergeordneten Propagandisten, sondern nach wie vor offizielle Linie.
Bedingung für die Wiedervereinigung — so sagt Ulbricht — sei nicht die Übertragung der Verhältnisse der „DDR“ auf die Bundesrepublik. Er meint damit die gegenwärtigen Verhältnisse in der Zone, und spricht nicht einmal die Unwahrheit. Die kommunistische Konzeption für die Bundesrepublik ist eine Widerspiegelung der kommunistischen Theorie von der Überleitung der „bürgerlich-demokratischen in die sozialistische Revolution.“
Was besagt diese Theorie? Stalin sagte darüber:
„Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, daß unter den Verhältnissen des Imperialismus . . . die bürgerlich-demokratiscl'ie Revolution in einem mehr oder weniger entwickelten Lande ... an die proletarische Revolution herankommen muß, daß die erste in die zweite hinüber-wachsen muß. , . . Nicht umsonst hat Lenin . . . in seiner Schrift „Zwei Taktiken“, die bürgerlich-demokratische Revolution und die sozialistische Umwälzung als zwei Glieder einer Kette dargestellt, als einheitliches und geschlossenes Bild
Zunächst scheint es fraglich, ob selbst die Kommunisten mit dieser These in bezug auf Deutschland noch etwas anfangen können. Und dennoch, auch diese S. alinsche These ist Leitbild der kommunistischen Deutschlandpolitik. Daß dabei — wie durch alle anderen ideologischen Thesen — die Tatsachen vergewaltigt werden, braucht mar nicht erst nachzuweisen. Trotzdem offenbart auch hier die Ideologie die wahren Zielt und Hintergründe der kommunistischen Konzeption für die Wiedervereinigung. Hier einige Thesen aus der „theoretischen Begründung“ dieser Konzeption:
Zunächst mußte das Geschichtsbild mit der gegenwärtigen politischen Orientierung in Einklang gebracht werden: „Die Novemberrevolution (1918) hatte ihre historische Aufgabe nicht gelöst. Selbst die bürgerlich-demokratische Revolution war infolge der konterrevolutionären Rolle der SPD-Führer nicht zu Ende geführt worden."
Dann wurde die Entwicklung 'der Z. e nach dieser Theorie erklärt:
„In den Jahren 1945 bis 194S wurden die Aufgaben der bürgerlich demokratischen Revolution unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer Partei auf dem Gebiet der DDR gelöst“. „Ausgehend von der Leninschen Lehre in seinen Werken , Der Imperialismus . . und . Zwei Taktiken . . stellte unsere Partei — entsprechend der damaligen sozialen, politischen und ökonomischen Lage unter Berücksichtigung des Grades des Klassenbewußtseins der Arbeiter — die Aufgabe, die bürgerlich-demokratisclte Revolution zu Ende zu führen. Im breiten Bündnis mit den Bauern und den antihitlerischen bürgerlichen Kreisen und durch die sowfetischen Streitkräfte vor Interventionen der westlichen Imperialisten geschützt, führte die Arbeiterklasse die antifasthistisch demokratische Umwälzung durch. Die Hegemonie der Arbeiterklasse . . . war die Garantie für den konsequenten Charakter der Umwälzung; in ihr lag der Keim des Hinüberwachsens in die sozialistisdte Revolution“
In Westdeutschland dagegen sei die Vollendung der bürgerlich-demokratischen Revolution — die unter den Bedingungen des Imperialismus andere Konsequenzen erfordere als im vorigen Jahrhundert — nicht erfolgt. Dies nachzuholen, sei Voraussetzung und Bedingung für die Wiedervereinigung. Entsprechend dieser Thesen der SED-Propaganda folgerte Ulbricht auf der 30. ZK-Tagung: „Die Liquidierung der Herrschaft der Monopole in der Bundesrepublik, der Verzicht auf die Politik der Remilitarisierung und Refaschisierung sowie der Verzicht auf die Teilnahme an aggressiven Militärbündnissen sind allgemein demokratische und Forderungen, deren Sinn darauf abzielt, die friedliche Wiedervereinigung . . . zu gewährleisten. Das aber kann nur erreidtt werden, wenn sidt die deutsche Arbeiterklasse an die Spitze des Kampfes . . . stellt.“
Zusammengefaßt: AIs Voraussetzung für die Wiedervereinigung sollen in der Bundesrepublik solche Verhältnisse geschaffen werden, die nach der kommunistischen Ideologie der Vollendung der bürgerlich-demokratischen Umwälzung entsprechen, der sozialökonomischen und politischen Struktur der Zone etwa aus der Zeit von 1948 bis 1952 gleichen und die es den Kommunisten ermöglichen sollen, nach zonalem Vorbild mit der „sozialistischen Umwälzung“ zu beginnen. Dem entsprechen auch folgende, von der 30. ZK-Tagung gestellte Bedingungen, die in der Bundesrepublik als Voraussetzung für die Wiedervereinigung zu verwirklichen seien:
Überführung der Schlüsselindustrie in Volkseigentum» (Was darunter zu verstehen ist, zeigt das „Vorbild“ der ersten Periode des Zonen-regimes). Durchführung einer Bodenreform, von der die Betriebe über 100 Hektar betroffen werden sollen.
Die Durchführung einer Schulreform (unter deutlicher Anspielung auf das zonale Vorbild).
Die dazugehörenden „Säuberungen" und Veränderungen in den staatlichen Organen und politischen Parteien nach dem Beispiel der Zone sind umschrieben in den Losungen: Beseitigung der Herrschaft des Imperialismus und Militarismus. Verbot von Kriegshetze, Revanchismus usw.
Für die Kommunisten ist also die Wiedervereinigung identisch mit den Aufgaben der „ersten Etappe der Revolution“, die dann in die „zweite Etappe" übergeleitet werden müsse. Ob dies, entsprechend der Thesen des XX. Parteitages, mit unblutigen Mitteln oder aber nur auf dem Wege des bewaffneten Aufstandes möglich sei, ist nach den Worten Ulbrichts noch nicht entschieden, sondern werde von der „Entwicklung des Kräfteverhältnisses“ in der Bundesrepublik und vom „Verhalten der Bourgeoisie“ abhängen.
Auch in dieser Auslegung einer der neuen theoretischen Thesen des XX. Parteitages befindet sich Ulbricht, soweit zu übersehen, zumindest _ er in theoretischer Übereinstimmung mit Chruschtschow. Gerade hier zeigt sich aber die komplizierte Problematik bei der Begegnung der sowjetischen Außen-und Deutschlandpolitik. Wie Chruschtschow im Welt-maßstab, so hofft auch die SED in Deutschland, gestützt auf eine wirtschaftlich und militärisch starke Ausgangsposition des Sowjetblocks, ihre Ziele ohne große bewaffnete Auseinandersetzungen erreichen zu können. Die theoretische Formulierung dieser Konzeption schließt jedoch die Möglichkeit der Anwendung von Waffengewalt nicht aus.
Wenn auch gegenwärtig die Gefahr, daß die Kommunisten von dieser „Möglichkeit" Gebrauch machen könnten, keine unmittelbare ist, so ist sie doch für die Zukunft nicht ausgeschlossen. Die gegenwärtige Deutschlandpolitik Chruschtschows vergrößert diese Gefahr in erheblichem Maße, und zwar vor allem in folgender Hinsicht: Ulbricht und seine Propagandisten sprechen bereits heute, wo die Versuche der Kommunisten ihre Ziele mit „friedlichen Mitteln“ zu verwirklichen noch im Vordergrund stehen, offen von der Möglichkeit einer bewaffneten Revolution in Westdeutschland oder vom „gerechten Charakter“ eines bewaffneten Kampfes der „DDR“ gegen die Bundesrepublik. Noch würde Ulbricht keinen dementsprechenden Versuch ohne sowjetischen Auftrag unternehmen. Wie aber wird sich in dieser Beziehung die Politik Chruschtschows auswirken, die darauf gerichtet ist, die „Autorität“ und Rolle Ulbrichts maximal zu erhöhen, die Verantwortlichkeit der Sowjetunion für die deutsche Wiedervereinigung zu verneinen und die Zuständigkeit de Zonenregimes für die Wege und Methoden der Wiedervereinigung immer stärker zu betonen? Chruschtschow gibt Ulbricht immer mehr Möglichkeiten in die Hand, die brennende Lunte ans Pulverfaß zu halten. Es wächst die Gefahr, daß Ulbricht einen Weltkrieg provozieren kann. Wenn Ulbricht die Möglichkeit eines bewaffneten Aufstandes in der Bundesrepublik ins Auge faßt» denkt er dabei, wie seine Theorien von „der Verantwortung der gesamtdeutschen Arbeiterklasse im Kampf gegen den deutschen Imperialismus" und von der „DDR als dem Staat der deutschen Arbeiterklasse“ beweisen, in erster Linie seine „Volksarmee u:. d an “ seine Kampfgruppen. Es besteht kaum Grund und Zweifel, daß Ulbricht von dieser „Möglichkeit“ Gebrauch machen würde, wenn er seine Ziele mit „friedlichen Mitteln“ nicht erreichbar und gleichzeitig im militärischen Kräfteverhältnis auch nur die geringste Chance auf Erfolg sehen würde. Die gegenwärtige Politik Chruschtschows kann Ulbricht die Möglichkeit in die Hand geben, auch die Sowjetunion vor eine Alternative zu stellen, die sie gegenwärtig selbst nicht wünscht. Darin besteht eine der wichtigsten Gefahren. Bei den politischen und ideologischen Bindungen ist nicht daran zu zweifeln, daß die Sowjetunion — unabhängig davon, wie der militärische Status Europas aussehen würde — an die Seite der „DDR“ treten müßte, wenn deren Machthaber einen militärischen Zusammenstoß mit der Bundesrepublik provozieren würden. Das wäre der Beginn eines Weltkrieges. Diese Gefahrenquelle wird durch ein Auseinander-schieben der Machtblöcke und die Herauslösung der beiden Teile Deutsdilands aus der NATO und dem Warschauer Pakt nicht ohne weiteres beseitigt, ja unter Umständen sogar vergrößert.
Kommunistische Strategie und Taktik
Um die Deutschlandpolitik der Kommunisten zu verstehen, muß man sich auch ihre Lehre von der Strategie und Taktik ansehen. Sie stützt sich auf Hinweise Lenins und wurde von Stalin zusammenfassend formuliert
Die Strategie und Taktik des Leninismus wird als die Wissenschaft von der Führung des revolutionären Kampfes des Proletariats bezeichnet. Demnach umfaßt die Strategie: „Die Festlegung der Ridttung des Proletariats auf der Grundlage der gegebenen Etappe der Revolution, die Ausarbeitung eines entspredtenden Plans für die Aufstellung der revolutionären Krpfte — der Haupt-und Nebenreserven der Kampf für die Durdtführung dieses Planes während des ganzen Verlauf der gegebenen Etappe der Revolution. . . . Die Strategie befaßt sich mit den Hauptkräften der Revolution und ihren Reserven. Sie ändert sich mit dem Übergang der Revolution von einer Etappe zu anderen, bleibt jedoch während der ganzen Zeitdauer der gegebenen Etappe im wesentlichen unverändert“
Die Richtung „des Hauptstoßes“ ist nach dieser Lehre gezielt „auf die Isolierung der Stütze des Feindes, die die Hauptkräfte der gegebenen Etappe der Revolution und deren nächsten Reserven unter ihren Einfluß bringen und durch eine Verständigung mit dem Feind die Revolution verhindern will.“
Die strategische Führung erfordere, daß die gesamte deutsche Arbeiterklasse — die Hauptkraft des Kampfes um die Wiedervereinigung — den Weisungen eines Generalstabes, dem Politbüro der SED, folgt. Auf dieses utopische Ziel ist die kommunistische Aktionseinheitspolitik gegenüber der SPD gerichtet. Die Mitglieder und Anhänger der SPD sollen der SPD-Führung die Gefolgschaft versagen. Die Aktionseinheitspolitik verfolgt jedoch noch andere, taktische Ziele, wie später ersichtlich sein wird.
Eine weitere wichtige Bedingung der strategischen Führung ist: „Der einmal eingesdilagene Kars muß unbeirrt durdtgeführt werden, ungeachtet aller und jeder Schwierigkeiten und Komplikationen auf dem Wege zum Ziel; dies ist notwendig, damit die Avantgarde das Hauptziel des Kampfes nidit aus dem Auge verliert und damit die Massen, die diesem Ziel zustreben und bemüht sind sidd um die Avantgarde zusammenzuschließen, nicht vom Wege abirren. Verstöße gegen diese Bedingung führen zu einem gewaltigen Fehler, der den Seeleuten unter der Bezeidmung . Kurs verlieren wohlbekannt ist“. Dieser Satz ist zum Verständnis der starren Politik der Kommunisten in der Wiedervereinigungsfrage nicht unwesentlich. Er erklärt das Wiederholen der immer wieder gleichen Bedingungen. Den Machthabern erscheint es wichtig, ihr«. Anhänger immer wieder zu erinnern auf was es ankommt, was erreicht werden soll. Es besteht sonst die Gefahr, daß sich die Anhänger und Funktionäre des kommunistischen Regimes durch andere Vorschläge — die kommunistischen Gegenwartsforderungen entgegenkommen, aber für das strategische Ziel als hinderlich erachtet werden — beeinflussen oder ablenken lassen.
Die kommunistische Lehre von der strategischen Führung verlangt schließlich: Zeit gewinnen, wenn die gegenwärtigen eigenen Kräfte nicht ausreichen, um den Gegner sofort zu schlagen, um Kräfte zu sammeln, den Gegner zu zersetzen und dann im geeigneten Moment zum Angriff überzugehen.
Die kommunistische Lehre über die Taktik des politischen Kampfes besagt: „Die Taktik ist die Festlegung der Linie des Verhaltens des Proletariats für die verhältnismäßig kurze Periode der Flut oder Ebbe der Bewegung . . . ist der Kampf für die Durchführung dieser Linie mittels Ersetzung der alten Kampf-und Organisationsformen durch neue, der alten Losungen durdi neue, mittels Kombinierung dieser Formen usw.
. . . Die Taktik ist ein Teil der Strategie, dieser untergeordnet, ihr dienend.“
Die taktische Führung erfordert: diejenigen Kampf-und Organisationsformen und diejenigen Losungen in den Vordergrund zu stellen, „die den Bedingungen der gegebenen Ebbe oder Flut der Bewegung am besten entsprechen und geeignet sind, das Heranführen der Massen an die revolutionären Positionen, das Heranführen der Millionenmassen an die Front der Revolution und ihre Verteilung an der Front der Revolution zu erleichtern und sicherzustellen.“ Entsprechend dieser These messen die kommunistischen Führer der Auswahl richtiger Losungen große Bedeutung bei. Die Kommunisten unterscheiden zwischen. strategischen und taktischen Losungen. Die strategischen Losungen — mehr für die bewußten Anhänger bestimmt — drücken das Ziel einer strategischen Etappe aus. Sie sind — wenn auch sehr verschleiert und bei weitem nicht alle — in Veröffentlichungen einiger SED ZK-Tagungen zu finden, die sich mit den Bedingungen für die Wiedervereinigung befaßten.
Sie wurden teilweise bereits zitiert. Diese Losungen sind — verständlicherweise — nicht geeignet, die Massen zu gewinnen. Die taktischen Losungen sollen dagegen breite Massen beeinflussen und so ausgewählt sein, daß sie das Ohr der Massen finden, an den „gegenwärtigen Bewußtseinsstand der Massen" anknüpfen. So erscheint beispielsweise die strategische Losung „Entmachtung und Enteignung der Imperialisten“ — deren Formulierung auch den wahren Inhalt verschleiert — als taktische Losung in der Formulierung: „Bändigung des Imperialismus und Militarismus". Die gegenwärtig am meisten im Vordergrund stehenden taktischen Losungen des Kommunismus befassen sich mit dem Kampf gegen die Atombewaffnung, weil man damit an allgemein verbindliche Interessen anknüpfen kcann.
Als taktische Losungen und Elemente des taktischen Kampfes sind auch die Angebote der SED an die Führung der SPD zu betrachten. Sie sollen im Falle des Erfolges taktische Einzelausgaben lösen helfen. Vorwiegend sind sie jedoch dazu gedacht, die SPD-Führung in den Augen ihrer Anhänger zu diskriminieren und Teile der Mitgliedschaft auf die Seite der Kommunisten zu ziehen.
Welche Bedeutung der Auswahl richtiger Losungen beigemessen wird, zeigten Beratungen nach dem Verbot der KPD. Im Programm der KPD „zur Sozialen und nationalen Befreiung" wurde bekanntlich zum „revolutionären Sturz des Adenauerregimes" aufgefordert. Nach dem Verbot der KPD wurde erklärt: diese Losung sei aufgestellt worden, als die Zeit dafür noch nicht reif war. Es sei an sich eine richtige Losung, die aber zu einer Zeit herausgegeben wurde, in der die Massen noch nicht bereit waren, ihr zu folgen. Dadurch habe sich die KPD von den Massen isoliert und ihr Verbot erleichtert. Taktische Losungen haben zwar auch die Aufgabe, den Reifegrad der Massen zu prüfen; man müsse jedoch genügend elastisch sein, unzweckmäßige oder verfrühte Losungen rechtzeitig zu korrigieren.
Das Beispiel der Selbstkritik der SED-Führung nach dem Verbot der KPD zeigt, welche Sprache mitunter gesprochen werden muß, um kommunistische Führer selbst zu solchen zeitweiligen Korrekturen zu veranlassen die durchaus noch im Bereich Ihrer Ideologie liegen. Chruschtschow zeichnet sich allerdings durch größere Elastizität in taktischen Fragen aus. Er scheint darüber seinem Genossen Ulbricht eine Lektion erteilt zu haben. Ulbricht erklärte vor wenigen Wochen anläßlich eines Essens zu Ehren Chruschtschows im Hause des ZK der SED: Chruschtschows Besuch in der Zone sei für die SED „im Hinblid^ auf eine breite Massenarbeit und auf die Verbindung fester prinzipieller Positionen mit großer taktischer Beweglichkeit eine . gute Lektion“ gewesen“
Die kommunistische Lehre von der taktischen Führung verlangt schließlich: „In jedem gegebenen Augenblidt ist jenes besondere Glied in der Kette der Prozesse aufzufinden, das man anpadten muß, um die ganze Kette festzuhalten und die Bedingungen für die Erreichung des strategischen Erfolges vorbereiten zu können."
Lenin formulierte diese Aufgabe der kommunistischen Politik etwas verständlicher. Er sagte:
„Wir wären sehr schlechte Revolutionäre, wenn wir nicht im Stande sein würden, jede Volksbewegung gegen einzelne Nöte des Imperialismus im Interesse der Versdtärfung und Erweiterung der Krise auszunutzen“
In der Bundesrepublik, sind gegenwärtig die Fragen der Atombewaffnung, einzelne Konjunkturschwierigkeiten, der gesunde Drang nach Frieden und einer schnellen Wiedervereinigung — hierbei vor allem die politische Unerfahrenheit vieler einfacher Menschen, solche „Nöte" und „Kettenglieder", die die Kommunisten für ihre Ziele und als Anknüpfungspunkt für weitergehende Aktionen auszunutzen suchen.
Die Strategie und Taktik des Leninismus bestimmt das Verhältnis der Kommunisten zu Reformen und Kompromissen. Stalin sagt darüber:
„Der Revolutionär ist für die Reform, nur um sie als Anknüpfungspunkt zur Kombinierung der legalen mit der illegalen Arbeit und als Deckung zur Verstärkung der illegalen Arbeit zu benutzen zwecks revolutionärer Vorbereitung der Massen zum Sturz der Bourgeosie.“ „Es kommt offenbar nicht auf die Reformen oder Kompromisse und Verständigungen selbst an, sondern auf den Gebrauch, den man von den Reformen und Verständigungen macltt“.
Welchen Gebrauch die Kommunisten von der geforderten „Verständigung zwischen den beiden deutschen Staaten“ machen wollen, braucht wohl im einzelnen nicht noch einmal nachgewiesen werden. Was die Ausnutzung der legalen Möglichkeiten zur Verstärkung der revolutionären illegalen Arbeit betrifft, so sind den Kommunisten in der Bundesrepublik einige Möglichkeiten genommen. Nach dem Verbot der KPD wurde jedoch die Parole gegeben, stärker in die Gewerkschaften und andere Organisationen — heute vor allem die Ausschüsse der Antiatombewegung — einzudringen. Diese legalen Möglichkeiten sollen als Basis genutzt werden, um die illegale Arbeit wirksamer zu gestalten.
Die kommunistische Lehre von der Strategie und Taktik zeigt, daß die Kommunisten ihren Einfluß nicht in erster Linie mit rein kommu-nistischen Losungen, sondern mit versteckten, an breitere Interessen anknüpfenden Parolen zu schaffen suchen.
Es zeigt sich, daß bei der Beurteilung der kommunistischen Politik von der kommunistischen Ideologie nicht abstrahiert werden kann, ohne zu einseitigen Schlußfolgerungen zu kommen. Wenn diese Ideologie auch in ihrem Hauptinhalt noch so falsch, noch so unrealistisch und manchen Veränderungen unterworfen ist, so beeinflußt sie doch wesentlich die Handlungen kommunistischer Politiker, so zeigt sie doch — und das ist das wichtigste hierbei — einige tiefere Hintergründe und Ziele der kommunistischen Politik.
Ergibt sich daraus, daß der Verlust der Freiheit oder der Verzicht auf die Wiedervereinigung die einzigen Alternativen seien, daß Verhandlungen keinen Zweck haben? Auf keinen Fall. Der Erfolg von Verhandlungen wird jedoch kein unmittelbarer — schnell greifbarer sein, er wird nicht allein vom Verhandlungsgeschick der Diplomaten, ja nicht einmal hauptsächlich von den Diplomaten entschieden werden. Er wird weitgehend von der wirtschaftlichen, politischen aber auch militärischen Stabilität und Festigkeit in der Bundesrepublik, von der Einheit und Geschlossenheit der freien Welt abhängen. In erster Linie Tatsachen vermögen die kommunistischen Politiker zumindest davon zu überzeugen, daß ihre Ziele gegenwärtig keine Aussicht auf Erfolg haben. Die Hoffnung auf den Sieg in der Zukunft wird den kommunistischen Führern nie zu nehmen sein. Ihre Politik wird jedoch davon bestimmt, wie sie die unmittelbaren Aussichten einschätzen. Der Erfolg von Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands wird aber nicht zuletzt dadurch entschieden, welchen Einfluß auch in Zukunft die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik auf die Bevölkerung Mitteldeutschlands ausüben. Auch in dieser Hinsicht ist es äußerst wichtig, daß die Politik und Diplomatie des Westens die Initiative wieder in die Hand bekommt und nicht den Eindruck einer Defensivstellung aufkommen läßt. Noch kann Ulbricht Chruschtschow davon überzeugen, daß die ablehnende Haltung der mitteldeutschen Bevölkerung auf zeitweilige Faktoren und Agententätigkeit zurückzuführen sei; daß darum zeitweilig eine stärkere administrative Unterdrückung als in anderen Teilen des Sowjetblocks und eine absolute Isolierung gegenüber der Bundesrepublik notwendig sei; daß aber die „Überzeugungsarbeit", die wirtschaftliche Entwicklung und die politischen Strukturwandlungen der nächsten Jahre diesen Zustand ändern würden, daß die zu erwartende Entwicklung in der Bundesrepublik bald eine negative Auswirkung auf die mitteldeutsche Bevölkerung ausüben werde. Ulbricht wird seinem Chef diesen Beweis schuldig bleiben müssen. Wie schnell Chruschtschow zu überzeugen ist, daß es Ulbricht niemals gelingen wird, das deutsche Volk zu unterwerfen, wird wesentlich von den politischen und wirtschaftlichen Kräften der Bundesrepublik mit bestimmt werden müssen und können. Chruschtschow wird auch dann von seinen ideologischen Grundsätzen'nicht abweichen, nicht aufhören kommunistische Politik zu machen, aber vielleicht eher bereit sein, in seiner Deutschlandpolitik nach neuen und anderen Wegen zu suchen.
Die harte und wenig kompromißbereite Politik, die Chruschtschow gegenwärtig betreibt, beruht nicht auf einer tatsächlichen Überlegenheit seines Regimes. Sie beruht vorwiegend auf der Vorstellung, daß die Entwicklung in der freien Welt zugunsten des Kommunismus verlaufen werde. Beeinflußt durch ihre Ideologie ziehen die Machthaber des Sowjetblocks aus einigen wirtschaftlichen und politischen Erscheinungen in der freien Welt Schlüsse, die sie zu ihrer gegenwärtigen Politik verleiten. Besteht die Aufgabe des Westens in erster Linie darin, mit der Sowjetunion einen Ausgleich zu suchen, der auf der Grundlage der jetzigen Vorstellung der sowjetischen Führer über die Entwicklung des Kräfteverhältnisses in der Welt beruht und nur von kurzer Dauer sein würde? Oder besteht die vorrangige Aufgabe des Westens darin Chruschtschow zu beweisen, daß seine jetzigen Vorstellungen über die Entwicklung in der Welt Illusion sind, daß seine jetzige Politik auch der Sowjetunion nicht zum Vorteil gereichen wird? Gibt nicht nur dieser schwierigere Weg die Möglichkeit, Lösungen zu finden die von Dauer sind, die Position des Westens nicht gefährden und die Hoffnungen der kommunistischen Machthaber nicht unterstützen?
BERICHTIGUNG :
In der Beilage B 20/59 vom 13. Mai 1959 Rudolf H. Brandt: „Ziele und Methoden Chruschtschows" sind durch ein drucktechnisches Versehen auf Seite 244 in der Tabelle 2 die ersten sieben Zeilen in Spalte 1 vertauscht worden. Es muß richtig heißen: