Unmittelbar nach der Entdeckung Amerikas durch Columbus setzte auch die wissenschaftliche Erforschung der Neuen Welt ein. Zahlreiche Forscher aus allen Ländern Europas haben daran teilgenommen. Ihres Wirkens wird in den Annalen der besonderen Wissenschaften gedacht, denen sie gedient haben. Nur das Andenken eines von ihnen erhebt sich hoch und weit über die unmittelbar interessierten Fachkreise hinaus, nur er ist ähnlich wie Columbus selbst oder wie sein Freund Bolivar zu einem Symbol der Neuen Welt schlechthin geworden: Alexander von Humboldt! Wenn Columbus der Entdecker des Iberoamerikanischen Kontinents gewesen ist und Bolivar sein politischer Befreier, dann ist Humboldt genau so zum Symbol seiner wissenschaftlichen Erforschung geworden. Es bedeutete daher keine Übertreibung, sondern die einfache Feststellung eines wirklichen Tatbestandes, wenn „La Universidad de la Habana“ durch die Gesandtschaft von Kuba in Berlin im Jahre 1939 — also kurz bevor sie Deutschland beim Ausbruch des zweiten Weltkrieges verlassen mußte, auf Alexander von Humboldts Denkmal vor der Berliner Universität den Dank-und Gedenkspruch anbringen ließ: „El segundo descubridor de Cuba“ (der zweite Entdecker Kubas). Nach keinem anderen der Erforscher Amerikas sind in allen Gegenden der Neuen Welt soviele Berge, Flüsse, Meeresströme, Tiere und Pflanzen, ja sogar Städte und zahllose Hotels noch heute genannt wie nach Humboldt, keinem hat man in diesen Ländern soviele Denkmäler errichtet wie ihm.
Das muß natürlich seine guten Gründe haben, und es ist nicht wertlos, über sie ein wenig zu grübeln. Er war nicht der erste bedeutende Wissenschaftler in Amerika und bei weitem nicht der letzte. Wodurch also ist er zum Symbol der wissenschaftlichen Forschung in Amerika schlecht-hin geworden? Drei Motive von Geschichte bestimmender Kraft haben sich hier vereinigt, um das immer noch schöpferische Humboldt-Bild in Amerika zu gestalten: Die Gunst der Stunde, der Zauber seiner Persönlichkeit und vor allem natürlich die einmalige Besonderheit seiner wissenschaftlichen Leistung!
Es war die Zeit der großen Weltumsegelungen. Jede europäische Großmacht entsandte Kriegsschiffe auf große Fahrt rund um die Erde. Die hierbei verfolgten Ziele dienten in erster Linie der politischen und weltwirtschaftlichen Orientierung. In der Zeit des beginnenden europäisch dirigierten Kolonialismus galt es für jede Nation, die besten Routen für ihren wachsenden Überseehandel zu erkunden. Aber an jeder dieser in der Regel mehrere Jahre umfassenden Weltumsegelungen nahmen auch Naturforscher teil, welche die Natur der bereisten Länder und Küsten zu erforschen und Sammlungen von Pflanzen, Tieren und Mineralien zu besorgen hatten, die dann nachher in den heimischen Museen wissenschaftlich ausgewertet wurden. An einer der wirtschaftlich und kolonialpolitisch folgenreichsten dieser Weltumsegelungen, an derjenigen von Kapitän Cook, dem unbestritten größten Meister dieser Kombinationen von Seemacht und Forschung in ihren Diensten, nahmen die deutschen Naturforscher Georg Forster, der Lehrer Humboldts, dem wir die erste auch als Literaturwerk meisterhafte Schilderung der Südseewelt verdanken, und sein Vater Johann Reinhold Forster, später Professor an der Universität Halle, teil. Elf Jahre nach der Rückkehr Humboldts von seiner Reise nahm der Dichter und Naturforscher Chamisso an der Weltumsegelung der russischen Fregatte „Rurik“ als ein solcher Naturforscher teil. Eines der letzten Unternehmen dieser Art war die Reise des Beagle, an welcher Darwin als Naturforscher teilgenommen hat und während welcher ihm auf den Galapagos-Inseln der Gedanke der Evolutionstheorie erstmalig aufleuchtete. Ein letzter Ausläufer dieser Unternehmungen ist wohl noch Nansens berühmte Fahrt „in Nacht und Eis“ gewesen, die nach Plan, Durchführung und Ergebnissen noch vollkommen diesem Geiste des 18. und 19. Jahrhunderts angehört. Heute könnte man sich nur noch schwer vorstellen, daß eine große wissenschaftliche Expedition, welche von der Begeisterung der ganzen gebildeten Welt getragen war, nur wenige tausend Kilometer von Europas Küsten entfernt vier volle Jahre lang in der Arktis verschollen war. Heute wären wir durch Radio und Flugzeug in stündlicher Verbindung mit ihr. Das Gegenstück zu diesen Unternehmungen, die nur wenig mehr als ein halbes Jahrhundert hinter uns liegen, aber nach Art und Charakter den Irrfahrten des Odysseus näher stehen als unsrem zwanzigsten technischen Jahrhundert, ist heute beispielsweise das antarktische Großunternehmen des amerikanischen Admirals Byrd. Während die großen klassischen Forschungsreisenden ihr gesamtes Instrumentarium — wenig mehr als Lupe, Besteck, Thermometer, Barometer und Sextant — sozusagen im Rucksack notfalls auf Fußmärschen mit sich führen konnten, reisen wir heute mit komplett ausgerüsteten transportierbaren Forschungsinstituten, mit Foto-und Filmlaboratorien, in transportierbaren Häusern hinter Traktoren, in Flugzeugen und auf Dampfern sowie in stündlicher Radioverbindung mit der gesamten Erde. Wer alles das erwägt, versteht, daß das Zeitalter der großen klassischen Forschungsreisen, das mit der Renaissance begann. mit dem 19. Jahrhundert definitiv zu Ende gegangen ist. Jede beendete Epoche aber hat ihre Anfänge, ihre Ausklänge und ihren Höhepunkt. Diesen bildet für das Zeitalter der Entdeckungsund Forschungsreise die große Reise in die Amerikanischen Äquinoktien von Alexander von Humboldt. Weshalb? Weil sie die einzige aier dieser großartigen und oft sehr abenteuerreichen Unternehmungen gewesen ist, die autonom angelegt, geplant und durchgeführt ausschließlich der reinen Forschung und Erkenntnis diente und keinerlei wirtschaftliche, politische oder sonstige Nebenabsichten verfolgte. Während seines ganzen Lebens und besonders bei der Planung und Durchführung seiner großen amerikanischen Reise ist Humboldt stets ängstlich darauf bedacht gewesen, in jeder Hinsicht persönlich und finanziell vollkomme?! unabhängig zu sein und es zu bleiben. Als während dieser Reise in England eine Nachricht erschien, der zufolge er in spanische Dienste getreten sei, schrieb er unter dem 21. Februar 1801 an seinen Lehrer und Freund Willdenow:
„Meine Unabhängigkeit wird mir mit jedem Tage teurer, daher habe ich nie, nie eine Spur von Unterstützung irgendeines Gouvernements angenommen, und falls deutsche Zeitungen vielleidtt einen englischen, mir übrigens sehr schmeichelhaften Artikel übersetzen, daß idt mit Aufträgen vom spanischen Gouvernement reise und zu einem hohen Posten int Rate von Indien bestimmt sei — lache darüber wie idt. Falls idt glüdilidt nadt Europa zurückkehre, so werden midi ganz andere Pläne beschäftigen, die mit dem Consejo de Indias wenig Zusammenhängen. Ein Mensdienleben, begonnen wie das meinige, ist zum Handeln bestimmt, und sollte ich unterliegen, so wissen die, weldie meinem Herzen so nahe sind als Du, daß ich midi nicht gemeinen Zwed^en aufopfere.“ Für heutige Leser sei hier angemerkt, daß das von Humboldt hier benutzte Wort „gemein“ nicht die heutige schlechte Bedeutung hat, vielmehr dasselbe wie im Sprachgebrauch Goethes meint, etwa also den Sinn der Worte „gewöhnlich“ oder „untergeordnet" hat. Wie peinlich genau Humboldt immer auf seine finanzielle LInabhängigkeit bedacht gewesen ist, selbst in seinen älteren Jahren, als er sein gesamtes Vermögen mit der Publikation seines großen dreißigbändigen Reisewerkes verbraucht hatte und seine finanzielle Aufbesserung sehr wohl hätte vertragen können, da zeigt sein Verhalten gegenüber dem Zaren von Rußland, der ihn zu seiner zweiten großen Forschungsreise nach dem Ural, Altai und dem Kaspischen Meer eingeladen hatte, als er eben in sein 60. Lebensjahr eingetreten war, also genau 30 Jahre nach seiner viel längeren und bedeutsameren Amerikareise. Humboldt machte zur Bedingung, daß er die Reise von Berlin nach St. Petersburg selbst bezahlen dürfe — offenbar doch wohl, um die Freiheit der unabhängigen Entscheidung dem ganzen Plan gegenüber noch in St. Petersburg selbst zu besitzen. Freilich erlaubte das die russische Regierung nicht, sie ließ Humboldt in Berlin für diese Reise, die ihm damals 2 500 bis 3 000 Thaler gekostet hätte, 1 200 Dukaten anweisen. Für seine persönlichen Ausgaben während dieser russisch-asiatischen Reise hatte ihm der Zar alsdann 20 000 Rubel auszahlen lassen. Nach seiner Rückkehr hatte Humboldt davon noch 7 050 Rubel übrig behalten, die er zurückgeben wollte. Als das auch nicht angenommen werden konnte, schenkte Humboldt diesen Betrag seinen mineralogischen Reisebegleitern von Helmersen und Hofmann, die sich ihm auf Anordnung der russischen Regierung in Minsk angeschlossen hatten, damit sie davon eine neue wissenschaftliche Expedition bestreiten sollten. So hat Humboldt alle seine Unternehmungen immer als Grandseigneur, niemals als abhängiger Angestellter durchgeführt. In diesem Sinne ging von ihm ein überwältigender Zauber aus, der seine Forschungsreise wesentlich in persönlicher Hinsicht von den LInternehmen der anderen großen Forschungsreisenden unterscheidet. Vielleicht läßt sich am ehesten noch Nansen in dieser Hinsicht mit ihm vergleichen, dessen spätere erfolgreiche Tätigkeit auf diplomatischem Gebiet ebenfalls mit Humboldts späteren Pflichten am Berliner Hof verglichen werden kann.
Die Gunst der historischen Stunde, die Humboldts Unternehmen auszeichnet, ist aber nicht nur das Ergebnis persönlichen Charmes, der von ihm ausging, und seiner finanziellen Unabhängigkeit, die ihm erlaubte, ohne Rücksicht auf andere Interessen ausschließlich der reinen Grundlagenforschung sein Leben darzubringen, sondern sie hat ihren Hauptgrund in der universalen, auf ein großes philosophisches Ziel gerichteten Planung, in welcher alle noch so verschiedenen Wissenschaften zu gemeinsamer Leistung zusammengeführt wurden. Vom Gedanken des „Kosmos", der später das große Thema seines Hauptwerkes wurde, ist schon seine gesamte Reise und alles, was wissenschaftlich von ihm selbst über ihre Ergebnisse publiziert worden ist, getragen. Nirgends tritt das deutlicher zutage als in den wundervollen Essays der „Ansichten der Natur", von denen jeder einzelne eine kosmische Variation seines besonderen Themas darstellt, die sich miteinander zwanglos zum Ganzen einer „Philosophie der Erde“ zusammenreimen, zur „idee dune Physi-
que du Monde“, wie Humboldt das selbst schon in seiner Jugend einmal ausgedrückt hat. Alle großen Wissenschaften erleben nur gelegentlich ihre „Sternstunde", die immer dann erscheinen, wenn die betreffenden Wissenschaften sich so sehr universalisieren, daß man mit Recht sagen kann, daß nicht nur sie selbst Philosophie geworden sind, daß sich vielmehr auch die Philosophie dann nahezu vollkommen mit ihnen identifiziert hat. Solche Sternstunden finden sich als seltene Höhepunkte in allen großen und genügend alten Wissenschaften. Die Mathematik hat sie erlebt zuerst in Euklid und dann wieder in Gauss, die Physik in Newton und in unserem Jahrhundert in Planck, die Biologie in Aristoteles, Linne und Darwin, die Medizin im Corpus Hippocraticum und in Paracelsus, und die Geographie zum bisher ersten Male in Humboldt.
Diese Gründe sind es also, welche Humboldts Werk so bedeutend über den Leistungen seiner Vorgänger und Nachfolger hinaufheben. Die Epoche der großen Forschungsreisen über die Erde ist mit Ende des neunzehnten Jahrhunderts vergangen und seit dem Beginn unseres zwanzigsten Jahrhunderts durch die Aera der über die ganze Erde verteilten großen Forschungsinstitute abgelöst worden. Unter den Forschungsreisen aber stellt diejenige von Humboldt zwar nicht die größte, aber die universalste und für ihre gesamte Aera am meisten vollendete dar.
Beruf und Berufung waren identisch
Bevor wir uns der Schilderung seines wichtigsten Lebenswerkes, eben der amerikanischen Reise, etwas genauer zuwenden, ist es nun zunächst angebracht, einige wesentlichen Daten seines Lebens, die heute nicht mehr als allgemein bekannt vorausgesetzt werden dürfen, zu erzählen.
Friedrich Heinrich Alexander Freiherr von Humboldt wurde am 14. September 1769 in Schloß Tegel bei Berlin geboren. Die Familie Humboldt gehörte keineswegs zum preußischen Adel, vielmehr war ihr Adels-prädikat zu Humboldts Zeiten erst wenige Generationen alt. Dafür aber ist der Name Humboldt zum Symbol eines ganz „anderen Preußens“ geworden, das nichts mit Militarismus zu tun hat, vielmehr jene großartige Synthese von Weimar und Potsdam geschaffen hat, welche man in Deutschland fast vergessen hat. Meinecke hat (1906) von Wilhelm von Humboldt, dem zwei Jahre älteren und nicht minder berühmten Bruder Alexanders, im Hinblick auf sein Verhältnis zum damaligen Preußen der Steinschen Reformen folgende Worte gesagt: „Mag die Zeit seiner Wirksamkeit noch so kurz sein — daß sie überhaupt stattfinden konnte, daß der preußische Staat ihn und er den preußischen Staat ausgehalten hat, ist vielleicht der feinste Gradmesser für die Umwandlung dieses Staates“. Das damalige Preußen wurde nicht von engstirnigen Bürokraten sondern von feinsinnigen „Weltbürgern im Sinne Goethes geleitet. „Nidits ist so wichtig bei einem höheren Staatsbeamten , sagte Wilhelm Humboldt einmal während seiner Kultusministerzeit, „als welchen Begriff er eigentlich nach allen Richtungen hin von der Menschheit hat, worin er ihre Würde und ihr Ideal im ganzen setzt . Solche Auffasung von „Weltbürgertum und Nationalstaat“ war nicht nur den damaligen Staatsministern Preußens aus der Schule Steins eigentümlich, sondern in nicht geringerem Grade auch den Militärs der Reformzeit, einem Scharnhorst, Gneisenau und vor allem einem Clausewitz. Diesem Preußen gehörte auch Alexander von Humboldt an. In der Nähe Pots-dams, im väterlichen Schloß Tegel ist er zusammen mit seinem Bruder durch Privatlehrer im Geiste Weimars erzogen worden. Als beide noch Knaben waren, ist Goethe einmal zu einem kurzen Besuch in Tegel gewesen. Seine Universitätsstudien absolvierte Humboldt zunächst in Frankfurt an der Oder, dessen Universität 1810 in der Breslauer Universität aufgegangen ist, danach in Göttingen und an der Bergakademie in Freiburg in Sachsen. Zwischen Göttingen und Freiburg verbrachte er auch noch einige Semester an der Büsch-Akademie in Hamburg, der einen großen Ruf in der Welt genießenden Vorbereiterin unserer modernen Handelshochschulen. Sein Studienfach wurde damals „Camera-lia“ genannt, eine Kombination von Naturwissenschaften mit Staats-'Wissenschaften, welche vielfach von solchen Studierenden betrieben wurde, welche sich der höheren Staatsverwaltung in ihren technischen Zweigen widmen wollten. In Freiburg hat Humboldt vor allem Mineralogie, Geologie und Bergbau im Hinblick auf eine spätere Laufbahn in der preußischen Bergbauverwaltung studiert. Der Vorbereitung auf seinen eigentlichen Beruf des Freien Forschungsreisenden diente seine Teilnahme an einer Reise, die der schon erwähnte Cook-Begleiter Georg Forster im Jahre 1790 durch Belgien, die Niederlande, England und Frankreich unternommen hatte. Danach trat Heinrich Humboldt dann zunächst in den Staatsdienst und zwar von 1792— 97 als Preußischer Oberbergmeister tätig. Dann begab er sich, um die letzten wissenschaftlichen Vorbereitungen für seine geplante große Forschungsreise zu treffen, nach Jena und Paris. In Jena verbrachte er drei Monate des Jahres 1797 im dortigen Kreise Goethes und der Romantiker. Schelling und seine naturforschenden Freunde interessierten ihn besonders. Auch Schiller, der sich auf die Dauer allerdings mehr für Alexanders Bruder als für diesen interessierte, trat er damals näher und schrieb ihm für seine „Horen" den berühmten allegorischen Essay über den „Rhodischen Genius" — später wieder abgedruckt in den „Ansichten der Natur“ —.
Dem Naturforscher Humboldt stand der Naturforscher Goethe natürlich näher, und wir werden später noch klar herauszuarbeiten haben, wie sehr Humboldt wirklich ein Naturforscher gerade Goethescher Prägung gewesen ist. In ihm, mehr noch als in C. G. Carus, hat sich der Natur-forscher Goethe selbst übertroffen. Von Jena reiste Humboldt dann nach Paris weiter. Beide Aufenthalte, Jena sowohl wie Paris, haben symbolische Bedeutung für die Besonderheit von Humboldts Forschungsreise im Vergleich zu verwandten Unternehmungen. Wenn im Lebenswerk Humboldts die bis dahin rein empirisch betriebene Geographie durch ihre Synthese mit der transzendentalen Philosophie seiner Zeit, natürlich mehr in der Art, die sie durch Stelling gewonnen hatte, als in der ursprünglichen Form Kants, erstmalig zur modernen Gestalt einer streng wissenschaftlichen Geographie erhoben werden konnte, dann waren die besten Vorbereitungen dazu in einer echten geistesgeschichtlichen Synthese vom damaligen Weimar mit dem damaligen Paris als der wissenschaftlichen Hauptstadt der damaligen Geisteswelt gegeben. In Weimar fand Humboldt im Kreise Goethes und Schellings die ihm kongeniale Naturphilosophie und im Paris von Laplace und Cuvier die ihm nicht weniger kongeniale exakte Naturwissenschaft. Die Naturforschung der Goethezeit hat ihre alle überragende Gipfelleistung weder in Goethe selbst noch in dem ihn in seiner eigenen Linie vollendenden C. G.
Carus, weder in Lorenz Oken noch in Johannes Müller und Karl Ernst von Baer gefunden, sondern allein im Lebenswerk Alexander von Humboldts.
Als echter Naturforscher, gleichzeitig aber von der Absicht durchdrungen, das Erkenntnisideal einer Philosophie der Erde; „l’ide d une physique du monde“, wie er das 1796 in einem Briefe an Pictet genannt hat, zu realisieren, hat er alle Vorgenannten weit übertroffen.
Goethes Weimar und Schellings Jena versorgten ihn mit der transzendentalen Philosophie, aus derem Geist er seine eigene Philosophie der Erde realisieren konnte. Daß diese aber nicht im nur Metaphysischen haften blieb, wie das bei den meisten Schellingianern wie dem Zoologen Oken, dem Physiker Ritter oder dem Geologen Steffens der Fall gewesen war, sondern strenge und exakte Wissenschaft — nach Peschel (cf. Bruhne 1872) die erste Geographie, die dieses Prädikat verdient! — hervorgebracht hat, das verdankt Humboldt ohne Frage seinen Lehrern und Freunden in Paris. „Man scltadet der Erweiterung der Wissenschaft, wenn man sich zu allgemeinen Ideen erheben und doch die einzelnen Tatsachen nicht kennenlernen will“, schrieb Humboldt schon in sehr jungen Jahren. Wie das aber praktisch zu bewerkstelligen ist, das konnte man damals nirgendwo besser als in Paris lernen. Hier hat Humboldt erfahren, daß philosophische Ideen, wenn sie auch noch so universal und glänzend, aber unfähig sind, exakter und sauberer Empirie standzuhalten und sie anzuregen, ebenso leer sind, wie Erfahrung und Beobachtung blind bleiben müssen, wenn sie der philosophischen Führung durch ein umfassendes Erkenntnisideal entbehren, das allein imstande ist, transzendentale Probleme zu formulieren, die mit wissenschaftlichen Methoden gelöst werden können. Es gab in der damaligen Geisteswelt keine großartigere Philosophie als den transzendentalen deutschen Idealismus von Kant, Fichte, Schelling und Hegel, und keine exaktere Naturwissenschaft als diejenige, die ihren Hauptsitz damals in Paris, im Jardin des Plantes mit seinen ersten modernen Forschungsinstituten hatte. Aus demselben Grunde konnte Humboldt nach Rückkehr von seiner großen Reise auch nirgendwo in Europa besser als in Paris an die intensive Bearbeitung seiner mitgebrachten Sammlungen gehen. Nur hier fand er am gleichen Ort alle die wichtigen und erstrangigen wissenschaftlichen Mitarbeiter und Berater, die er dabei gebrauchte. Das hat insgesamt zwei Jahrzehnte (1808— 1827) gedauert, erst dann lag das großartige Reisewerk in insgesamt 30, zumeist Großquartund Foliobänden, vor. Mit diesem Gesamtwerk ist der wissenschaftlichen Welt ein „Corpus Scientificum Americanum“ übergeben worden, das zum ersten Mal ein Gesamtgemälde der amerikanischen Tropenländer unter Heranziehung aller damals verfügbaren Spezialwissenschaften nach einheitlichen Gesichtspunkten gezeichnet hat und noch bis in die fernste Zukunft in der Nachfolge Humboldts die wissenschaftliche Erforschung Ibero-Amerikas bestimmen und anregen wird.
Es ist an dieser Stelle wohl angebracht, einiges über seinen Reisebegleiter Bonplant zu sagen. Seine Geburtsnamen waren Aime Alexandre Goujaud (1773— 18 58). Später nahm die Familie den Namen Bonpland an. In Humboldts, von der Spanischen Regierung ausgestelltem Reisepaß wird sein Begleiter Don Alejandro Bonpland genannt und als Humboldts „Ajudante o Secretario" bezeichnet. In der Tat hat Humboldt natürlich auch Bonplands Reise vollkommen bezahlt. Wenn daher Bonpland auch tatsächlich Humboldts Angestellter gewesen ist, so kennt die Geschichte der Forschungsreisen doch kaum eine harmonischere und freundschaftlichere Zusammenarbeit, als sie vom ersten bis zum letzten Tage der Reise und lange darüber hinaus zwischen Humboldt und Bonpland bestanden hat. In Gefahren, an denen es wirklich nicht gemangelt hat, ist ständig jeder von ihnen bereit gewesen, für den andern sein Leben einzusetzen, und einmal hat Bonpland Humboldts Leben unbedingt gerettet. Im großen 30-bändigen Reisewerk hat Bonpland die botanischen Ergebnisse bearbeitet und die ersten voluminösen Bände allein verfaßt, auch manche von den späteren Bänden enthalten noch Beiträge von Bonpland. Humboldt selbst hat Bonpland schon nach Beendigung der Orinoco-Reise, also des ersten Drittels der Gesamtreise, das glänzendste Zeugnis ausgestellt, indem er aus Habana über Bonpland an seinen Freund Willdenow schrieb: „Mit meinem Reisegefährten Bonpland habe ich alle Ursache überaus zufrieden zu sein. Er ist überaus tätig, arbeitsam, sich leidtt in Sitten und Menschen findend, spricht sehr gut Spanisch, ist sehr mutvoll und unerschrodten —, mit einem Worte, er hat vortrefflidte Eigensdiaften für einen reisenden Naturforsdter. Die Pflanzen, die mit den Dubletten über 12 000 betragen, hat er allein geordnet. Die Beschreibungen sind zur Hälfte sein Werk. Oft haben wir audt jeder besonders ein und dieselbe Pflanze besdrrieben, um der Wahrheit desto gewisser zu sein.“ Nach der Rückkehr nach Paris ist Bonpland bis zum Sturz Napoleons der Aufseher der Gärten der Kaiserin Eugenie gewesen, danach hat er als getreuer Bonapartist sein Vaterland verlassen und ist nach Südamerika zurückgekehrt. Ganz zurückgezogen hat er dort auf einer Hazienda gelebt, welche ihm die argentinische Regierung geschenkt hatte. Der deutsche Tropenreisende Ave-Lallement hat ihn dort noch in seinen letzten Lebensjahren besucht und eine authentische Schilderung von seinem Ende gegeben.
Die große Amerikareise stellt ohne Frage Humboldts Lebensleistung dar. Sie umfaßt ja nicht nur die gut fünf Jahre der eigentlichen Reise—vom 5. Juni 1799 bis zum 3. August 1804 —, auch sein gesamtes bewußtes Leben vorher, von seiner frühesten Jugend an, diente nur dem einen gro-ßcn Lebensziel, ihn zum bestvorbereiteten wissenschaftlichen Forschungsreisenden auszubilden. Dazu kommen dann noch die schon erwähnten mehr als zwanzig Jahre — bis 1827 —, die er zumeist in Paris zur Ausarbeitung der dreißig großen Bände der Reiseergebnisse verbracht hat. Mit der Erfüllung der riesenhaften Aufgabe, die er sich als ein freier „Weltbürger" im Sinne seiner Zeit völlig autonom gestellt hatte, war sein nicht unbeträchtliches Vermögen verbraucht. Er nahm nunmehr das ihm in Würdigung seiner Leistung und seiner Persönlichkeit angetragene besoldete Amt eines Kammerherrn am Preußischen Königshof an und lebte fortan meist in Berlin, vor allem mit der Abfassung seines „Kosmos“ und seiner „Ansichten der Natur“ beschäftigt. Beide Werke gehören zur klassischen deutschen Literatur der Goethezeit und sind in ihrem Stil und in ihrer Sprache geschrieben. Sie haben die im Reisewerk am Beispiel der amerikanischen Tropen durchgeführte Philosophie der Erde auf das höhere Niveau des Kosmos selbst hinaufgehoben und damit vollendet. Das weder der „Kosmos" noch die „Ansichten der Natur“
ohne die große Reise jemals hätten geschrieben werden können, ist für jeden unverkennbar, der auch nur ein wenig in diesen Werken gelesen hat. Die zahllosen Anmerkungen, welche in den „Ansichten der Natur“
den Umfang der eigentlichen Essays um ein Vielfaches übertreffen, geben davon deutlich Kunde und beruhen fast ausschließlich auf den Erfahrungen und Ergebnissen der Reise. Die „Kosmos“ -Vorlesungen hat Humboldt im Winter 1827/28 in der Singakademie gehalten. Die Aula der Berliner Universität war zu klein, um das zahlreiche interessierte Publikum zu fassen.
Nur einmal noch hat Humbold — vom Frühjahr bis zum Ende des Jahres 1928 — eine größere Forschungsreise unternommen. Sie fand uf Wunsch des Zaren statt und führte Humboldt nach dem Ural und Altai sowie nach der chinesischen Dsungarei. Seine deutschen Begleiter waren die Berliner Forscher G. Rose und Ehrenberg. Die wissenschaftlichen Ergebnisse sind, auch wenn man dabei ihre wesentlich geringere Dauer in Betracht zieht, mit denen der großen Amerikareise überhaupt nicht zu vergleichen. Das liegt nicht nur daran, daß Humboldt die Amerikareise im Alter von dreißig Jahren begann, während die Russische Reise den Hauptteil seines sechzigsten Lebensjahres ausfüllte, sondern es ist vor allem in den ganz verschiedenen Zielsetzungen beider Reisen begründet. Die Amerikareise, die Humboldt von Anfang bis Ende autonom geplant und durchgeführt hatte, diente der reinen wissenschaftlichen Grundlagenforschung und stand unter der großen universalen Idee einer Philosophie der Erde, der Russischen Reise aber war vor allem auch das praktische Ziel gesetzt, die Regierung des Zaren gutachtlich über die wirtschaftlich-technischen Entwicklungsmöglichkeiten der bereisten Länder zu beraten. Wie ausgezeichnet Humboldt auch diese Aufgabe bewältigt hat, dafür sei nur ein besonders charakteristisches Beispiel hier angeführt. Am 15. September 1829 schickte Humboldt dem kaiserlichen Minister Grafen von Cancrin, der seine Reise beim Zaren angeregt und vorbereitet hatte, einen eingehenden Reisebericht aus Minsk. Darin hieß es über den Ural: „Der Ural ist ein wahres Dorado, und idi bestehe fest darauf . . ., daß ttodt unter Ihrem Ministerium Diamanten in den Gold-und Platinwäsdten des Ural werden entdedzt werden.“ Diese Voraussage wurde schon wenige Tage darauf erfüllt, als man in den Bergwerken des Grafen Polier tatsächlich Diamanten fand. Als ferner die Russische Regierung lange nach Humboldts Rückkehr nach Berlin erwog, Statt der Gold-eine Platinwährung einzuführen, erbat sie. Humboldts Meinung hierzu. Er riet ab, weil erstens Platin nicht in der erforderlichen Menge und Regelmäßigkeit produziert werden könnte und weil mit dem „kalten“ Platin niemals dieselben Gemütswerte verbunden werden könnten, wie es beim Golde als so vielfach benutztem Schmuck-gegenstand der Fall sei. Die Russische Regierung unternahm trotzdem den Versuch, mußte ihn aber bald wieder aufgeben, so daß Humboldts Rat auch in dieser praktischen Frage der richtige gewesen ist.
Am 28. Dezember 1829 traf Humboldt mit seinen beiden Begleitern wieder in Berlin ein. Hier ist er dann noch weitere dreißig Jahre in der gewohnten Weise tätig gewesen. Des dankbaren Gedenkens wert ist aus dieser Zeit besonders Humboldts nie ermüdende Bereitschaft, jungen tüchtigen Forschern behilflich zu sein, den ihnen gemäßen wissenschaftlichen Lebensweg zu erreichen. Unzählige Empfehlungen und Hilfen sind hier von ihm gegeben worden, die in der Regel bei seinem gewaltigen Ansehen in der ganzen Welt den gewünschten Erfolg gehabt haben. Zu diesen jungen Talenten hat auch der später so berühmte Chemiker Liebig gehört, dem Humboldts Empfehlung das Studium der Chemie in Paris ermöglicht hat. Nur dort konnte Liebig die Ausbildung erhalten, die ihn in den Stand gesetzt hat, das erste chemische Laboratorium an einer deutschen Universität zu errichten. Ganz besonders hat sich Humboldt natürlich für jene Naturforscher interessiert, die durch seine Schriften die Anregung erhalten hatten, nach Südamerika zu gehen. Fs ist wirklich nicht zuviel gesagt, wenn wir hier feststellen dürfen, daß in fast allen heutigen südamerikanischen Hauptstädten die ersten naturwissenschaftlichen Museen und Forschungsstätten von Männern geschaffen worden sind, die in der bewußten Nachfolge und Förderung Humboldts dahin gekommen sind, so Burmeister nach Argentinien die beiden Philippis nach Chile, Spix, Martius u. a. nach Brasilien. Auch für die kleineren Hauptstädte Südamerikas, für Caracas (Venezuela), Bogota (Kolumbien) und Quito (Ecuador) gilt Entsprechendes. Vor allem aber müssen in diesem Zusammenhang auch Lima (Peru) und Mexico genannt werden, ohne daß es nötig ist, aus der Fülle der Namen einzelne herauszuheben. In Mexico, wo Humboldt die längste Zeit seiner Reise verbracht hat, ist sein Wirken so sehr Tradition geworden, daß er nicht nur als einziger Ausländer bisher dort den Titel und Rang eines „Benefactor de la Patria" erhalten hat, sondern daß man noch im vergangenen Jahre einen Band seines großen Reisewerkes erneut gedruckt hat, und zwar nicht aus Gedächtnisgründen, sondern weil man ihn einfach bei der heutigen Forschungsarbeit noch benötigt. Nicht ohne Grund hat Peschel (vgl. Bruhns 1872), Humboldts Monographie über das Königreich Neu-Spanien (Mexico) die erste, wirklich moderne wissenschaftliche geographische Länderkunde genannt. Unter den Persönlichkeiten, welche Humboldt angeregt hat, nach Südamerika zu gehen, befindet sich auch der der Romantik zugehörige Maler Joh. Moritz Rugendas (vgl. Muthmann 19 5 5), dessen in Brasilien, Argentinien, Chile, Peru und Mexico geschaffene Gemälde und Zeichnungen zu den besten Kunstwerken gehören, welche das romantische Ibero-Amerika schildern. Darüber hinaus haben sie auch historisch-dokumentarischen Wert, da sie Szenen auch aus dem Leben der Indianer uns aufbewahrt haben, die heute ausgestorben sind.
Zu den nebenwissenschaftlichen Wirkungen, die von Humboldt ausgegangen sind, und wahrlich nicht zu den geringsten, gehören seine Anregungen zur Schaffung des Panama-Kanals. Unzählige Gutachten hat er darüber den interessierten amerikanischen Regierungen erstattet, und dieses Thema ist ohne Frage auch eines der wichtigsten gewesen, über das er mit dem Präsidenten Jefferson gesprochen hat, als dieser Humboldt am Ende seiner Reise eingeladen hatte, noch einige Wochen in Monticello sein Gast zu sein. Bekannt ist auch, daß Napoleon III. in seiner Jugend sich sehr für dieses Kanalprojekt eingesetzt hat und hierbei ebenfalls die wesentlichen Anregungen von Humboldt bekommen hat, so daß Humboldt auch praktisch bei den späteren französischen Kanal-unternehmen Pate gestanden hat, obwohl die Route, die er für den Kanal vorgeschlagen hatte, nicht die dafür endgültig bestimmte gewesen ist. Humboldts Vorschläge gingen mehr in die Richtung des heute sog. Nicaraguaplans, von dem noch immer wieder gesprochen wird, wenn die Schaffung eines zweiten, strategisch besser gesicherten Kanals gelegentlich erwogen wird. Daß Humboldt aber von Anfang an nur die Vereinigten Staaten für fähig und berufen gehalten hat, diesen Kanal tatsächlich zu verwirklichen, darüber besitzen wir ein überaus lebendiges und selten modernes Gespräch, das Eckermann mit Goethe gehabt har, als dieser am selben Morgen in Humboldts Reisewerk gelesen hatte ) * Bekannt ist auch, daß Bolivar während seines Lebens in Paris dort vielfach Humboldt gesehen hat und von ihm mit angeregt worden ist, sich der politischen Befreiung Südamerikas zu widmen.
Nach diesem ungewöhnlich reich erfülltem und von Anfang bis Ende selbst bestimmten Leben ist Humboldt am 6. Mai 18 59 in Berlin gestorben und im Parke von Tegel neben seinem Bruder beigesetzt worden. So gehört Alexander von Humboldt zu den seltenen Persönlichkeiten unserer abendländischen Geistesgeschichte, welche von den Anfängen ihres Eigenlebens genau gewußt haben, was sie mit ihrem Leben beginnen und erreichen wollten, für die somit Beruf und Berufung immer identisch gewesen sind. Dazu war er ebenso wie sein älterer Freund und Meister Goethe von Hause aus finanziell so günstig gestellt, daß er niemals um des lieben Brotes willen Konzessionen machen mußte, die seine frei gewählte Lebensaufgabe hätte gefährden können. Humboldt ist daher einer von jenen besonderen „Lieblingen der Natur“ gewesen, an welche sie, wie Goethe so schön gesagt hat, „besonders viel verschwendet“ hat.
„Die Tropenwelt ist mein Element . . ”
Wenn wir nach dem persönlichen Leben Humboldts nun auch sein Werk etwas genauer schildern wollen, dann haben wir hier zwei verschiedene, aber innig miteinander zusammenhängende Leistungen zu verzeichnen. Die erste und wesentlichste ist, wie schon erwähnt, seine große Reise in die amerikanischen Tropen, wobei zu ihr nicht nur die fünf Jahre ihrer eigentlichen Durchführung zu zählen sind, sondern auch die mehr als zwanzig Jahre, die der Sichtung und dem Studium der mitgebrachten Sammlungen und der Reisebeobachtungen und Messungen in Paris in Gemeinschaft eines großen Mitarbeiterstabes gewidmet waren, deren endgültige Frucht dann das gewaltige, dreißig Bände umfassende amerikanische Reisewerk gewesen ist, kurz das von uns so genannte „Corpus Scientificum Iberoamericanum". Damit ist ziemlich genau seine erste Lebenshälfte ausgefüllt. Die zweite Lebenshälfte steht im Dienste seines größten literarischen Lebenswerkes, des Kosmos, dessen fünf Bände zum Teil schon in verschiedenen Auflagen von 184 5 bis 1862 erschienen sind. Die Ansichten der Natur, welche Humboldt selbst sein „Lieblingswerk" genannt hat, bilden die literarische Brücke vom Reisewerk zum Kosmos. Sie erscheinen in ihrer ersten Auflage schon 1808, also ziemlich bald nach der Rückkehr von der großen Reise. Verbesserte und vermehrte Auflagen der „Ansichten" erschienen 1827, 1849 und 1860. Vergleicht man die Abschnitte der „Ansichten" mit dem großen Reisewerk und dem Kosmos, dann muß man feststellen, daß sie bis auf den Essay über den „Rhodischen Genius", den Humboldt schon vor seiner Reise für Schillers „Horen" geschrieben hat, samt und sonders mit dem Reisewerk Zusammenhängen. Es sind feinsinnige literarische Essays über Themen der Reise von hohem künstlerischem Wert. Es ist große Literatur, sonntägliche Betrachtungen sozusagen, die durch ihr riesiges, streng wissenschaftliches Notenbeiwerk unmittelbar mit der nüchternen Wochentagsarbeit der Reisebände verknüpft sind. Der Kosmos andererseits wird ebenfalls in den „Ansichten der Natur“ bereits antizipiert. Jeder der hier auftretenden Essays ist für sein Problem bereits ein Kosmos im Kleinen. Die Schilderung des „Nächtlichen Tierlebens im Urwalde", die Studie „Über Steppen und Wüsten“ usw. leisten für ihren Gegenstand genau das Gleiche, was der Kosmos für das Ganze der Natur erstrebt, alle Essays der „Ansichten" sind in genau diesem „kosmischen" Sinne Beiträge zur Gesamtphilosophie der Erde. Wir wollen uns nun mit diesen beiden Hauptwerken seines Lebens, dem großen Reisewerk und dem großen Werk klassischer deutscher wissenschaftlicher Literatur nacheinander beschäftigen.
Zunächst behandeln wir die Amerikanische Reise und schildern in großen Zügen ihren Verlauf und einige der heute noch allgemein interessierenden Erfahrungen, die Humboldt dabei gemacht hat. Als er seine Reise begann, wußte er wirklich noch nicht, wohin sie ihn führen würde. Wie es damals alle großen europäischen Nationen getan haben, wollte auch das Direktorium der jungen Französischen Republik eine neue Weltumseglung starten. Sie sollte unter Leitung des Flottenkapitäns Baudin stehen, und Humboldt war eingeladen worden, an dieser französischen Weltumseglung als Naturforscher teilzunehmen. Aus mancherlei Gründen finanzieller und politischer Art kam diese Reise aber zunächst nicht zustande, Humboldt reiste dann nach Madrid, um mit der Spanischen Regierung den Plan einer Forschungsreise in die spanischen amerikanischen Kolonien zu verhandeln. Er fand dafür das größte Verständnis und bekam von der Regierung jegliche ihm erwünschte Unterstützung, vor allem angelegentlichste Empfehlungsbriefe an die spanischen auf das Gouverneure und Vizekönige. hat dann auch überall allerbeste und angenehmste funktioniert. Wo immer Humboldt erschien, wurde er von den spanischen Behörden auf das aufmerksamste umsorgt und versorgt, desgleichen von der hohen und niederen Geistlichkeit, auch dieser Länder behandelten ihn jeder die vornehmen Familien in Weise als ihren Ehrengast. Den französischen Plan gab er aber deshalb noch nicht auf, er hoffte irgendwo und irgendwann auf seiner Reise doch noch in die französische Expedition einsteigen zu können. Erst nach dem zweiten Drittel seiner Reise zerschlugen sich diese Hoffnungen definitiv in Callao. Statt, wie ursprünglich geplant, um das Kap Horn herum die südamerikanische Westküste hinaufzusegeln, war Kapitän Baudin schließlich um das Kap der Guten Hoffnung herum nach Asien und erst von dort nach Nordamerika gefahren. Damit fiel er für Humboldt endgültig aus.
Humboldts Amerikareise gliedert sich eigentlich in drei in sich selbständige, aber natürlich miteinander verbundene Reisen, die sich ziemlich gleichmäßig über die insgesamt fünf Reisejahre verteilen. Das erste Drittel umfaßt die Venezuelareise, deren wichtigster und längster Ab-
schnitt von der Orinocoreise eingenommen wird. Sie dauerte ungefähr eineinhalb Jahre und begann mit Humboldts Abreise aus La Coruna (Spanien) am 5. Juni 1799 und endete mit Humboldts Abreise von Nueva Barcelona nach Habana (Kuba) am 24. November 1800. Nur für diesen ersten großen Teil der Forschungsreise liegt eine in sich geschlossene Reisebeschreibung vor, welche im Gesamt-Reisewerk drei voluminöse Foliobände umfaßt, die Bände XXVIII—XXX, welche in französischer Sprache unter dem Titel: „Relation historique du Voyage aux regions equinoctiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804, par A.de Humboldt et A. Bonpland. Red. par A.de Humboldt, Paris 1814— 1825“ erschienen. Davon erschienen bei Cotta in Stuttgart zwei deutsche Übersetzungen, die ein eigenartiges Schicksal hatten. Die erste erschien in sechs Oktavbänden und war von Therese Huber, geb. Heyne, einer der großen Damen jener Zeit, die in erster Ehe mit Humboldts berühmtem Lehrer Georg Forster verheiratet gewesen war, bearbeitet worden. Diese deutsche Bearbeitung entsprach in keiner Weise den an sie gestellten Erwartungen und war voll von Fehlern, Humboldt verlangte von Cotta daher eine neue Ausgabe seines Reisebuches, die von Hermann Hauff bewerkstelligt wurde und in vier Bänden als einzige von Humboldt autorisierte Ausgabe 18 59— 60 erschien. Humboldt hat ihr ein am 26. März 18 59 geschriebenes kurzes Vorwort mit auf den Weg gegeben, das nach Hauffs Worten „eine seiner letzten Arbeiten, vielleicht die letzte war“. Von diesem Werk erschien soeben in Brockhaus'„Klassikern der Forschungsreisen“ eine neue, nur wenig gekürzte Ausgabe, auf welche der interessierte Leser verwiesen sei (Humboldt 1958).
Obwohl diese Venezuelareise etwas weniger als ein Drittel der Gesamtreise umschließt, stellt sie gleichwohl keinen Torso dar, bildet vielmehr ein in sich vollendetes und abgerundetes Unternehmen. Ihr zentrales Thema ist der Orinoco, die großartige tropische Flußlandschaft schlechthin, in deren Schilderung Humboldt seine “ idee d'une Physique du monde“, seine Philosophie der Erde also zum ersten Male beispielhaft dargestellt hat. Den geographischen Höhepunkt dieser Reise bildet die Beschreibung des Cassiquiare, der natürlichen Stromverbindung zwischen den Flußsystemen des Orinoco und des Amazonas. Die Existenz dieses Verbindungsflusses war den Bewohnern jener Gegend durchaus bekannt, für die geographische Wissenschaft ist er jedoch erstmalig durch Humboldt entdeckt und beschrieben worden, der ihn auch erst auf seiner Orinoco-Rückreise gefunden hat. Die Sache liegt hier ähnlich wie beim Humboldtstrom, der, wie Humboldt selber sagt, auch jedem Schiffsjungen längst geläufig war, den Humboldt aber als erster ozeanographisch bestimmt und gemessen hat. Der exakte Nachweis einer zwischen zwei sonst durch natürliche Wasserscheiden getrennten Strom-bereichen bestehenden natürlichen Stromverbindung war für die geographische Wissenschaft jener Tage eine neue überraschende Erkenntnis. Denn bisher war man gewohnt, Stromsysteme durch Gebirge entschieden voneinander getrennt zu sehen. Das ist in Südamerika ganz anders, nicht nur im Falle von Orinoco und Amazonas übrigens. Auch im Süden ist das riesige Amazonassystem nicht scharf vom Paran-Paraguay-System getrennt. Während der Regenzeit sind beide Stromgebiete durch die Sümpfe von Matto Grosso miteinander verbunden. Wäre das gesamte Südamerika im Zeitalter der großen Kanalbauten, also in der zweiten Hälfte des vergangen Jahrhunderts schon wesentlich dichter besiedelt gewesen, als es auch heute noch ist, so würde es sich ohne Frage gelohnt haben, durch seine Mitte von Norden nach Süden mit Hilfe der genannten natürlichen Stromverbindungen einen großen Kanal zu bauen. Schiffe hätten dann von der Mündung des Orinoco bis zu derjenigen des La Plata den gesamten Kontinent in seiner Mitte durchfahren und erschließen können. Die großen Kanäle unseres Jahrhunderts sind jedoch inzwischen die innerkontinentalen Autostraßen und die Flugzeuge geworden.
Humboldts Orinocoreise stellt jedenfalls ein selbständiges, vollendet in sich geschlossenes Forschungsunternehmen dar, während die anderen Abschnitte der Gesamtreise damit verglichen partikuläre Unternehmungen sind, welche verschiedenen, voneinander unabhängigen Forschungsaufgaben dienen. Das ist vermutlich auch der tiefere Grund dafür, daß Humboldt den erzählenden Gesamtbericht seiner Reise nicht über das Orinocounternehmen hinaus durchgeführt hat, was er, wie der französische Originaltitel dieses Reisewerkes andeutet, zunächst jedenfalls vorgehabt hat. Der bedeutsamste Abschnitt der weiteren Reise ist ohne Frage der letzte gewesen, der sich auf Mexico bezieht. Auch ihn hat Humboldt in einem in sich vollendeten Werk dargestellt, das in zwei Bänden mit einem Atlasband im großen Reisewerk enthalten ist (Bde XIX, XXV und XXVI). Es hat den Titel: “ Essai politique sur le royaume de la Nouvelle Espagne“ und stellt nach Peschel, einem der Humboldt-Biographen (cf. Bruhns 1872), die erste großartige Monographie der modernen Geographie dar, seitdem sie eben durch Humboldt von einer rein enzyklopädischen Stoffsammlung für praktische Zwecke zu einer modernen systematisch wohlgeordneten Wissenschaft geworden war.
Wegen dieses klassischen Werkes über ihr Land betrachten die Mexikaner noch heute Humboldt als einen der ihrigen. Während Venezuela und Mexico das erste und letzte Drittel seiner Reise umfassen, ist das zweite Drittel durch die Reise bestimmt, die ihn von Habana bis Lima-Callao durch die Länder Cuba, Kolumbien, Ecuador und Peru gebracht hat.
Die Ergebnisse dieser Reise sind nicht wieder in in sich geschlossenen Ländermonographien dargestellt, sondern in den verschiedenen Bänden des Reisewerkes nach fachlichen Gesichtspunkten abgehandelt worden, die botanischen Ergebnisse in den vielen botanischen Bänden, die geodäti-
tischen und geophysikalischen wie geographischen in den diesen Wissenschaften gewidmeten Bänden. Humboldts „idee d'une physique du monde“, einer Philosophie der Erde, findet sich im Reisewerk also vollendet dargestellt nur dreimal, in der Venezuela-Orinoco-Monographie, im Mexicowerk und dann in den Bänden XX und XXVII, von denen der letztere den berühmten „Essai sur la Geographie des plantes", den Humboldt selbst auch deutsch herausgebracht und, wie wir später noch deutlicher erkennen werden, mit besonderem Recht Goethe gewidmet hat. Der genaue deutsche Titel dieses Werkes lautet: „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, auf Beobachtungen und Messungen gegründet, welche vom 10. Grade nördlicher bis zum 10. Grade südlicher Breite in den Jahren 1799— 1803 angestellt worden sind“ (Tübingen: Cotta 1807, 4, XII und 182 S.). Das Werk enthält eine Kupfertafel und ein von Thorwaldsen gezeichnetes Widmungsblatt an Goethe. Nicht umsonst hat Humboldt sich dieses Werkes und seiner Widmung so ganz besonders angenommen, es ist ohne Frage seine größte wissenschaftliche Leistung die alle seine sämtlichen sonstigen Werke, welche epochenbedingt sind, über alle Epochen hinweg überdauern wird, wofür der erst vor zwei Jahren erfolgte Neudruck der französischen Originalausgabe durch das „Institute Panamericano de Geografia e Historia“ in Mexico ein sprechendes Beispiel ist. Denn hier ist zum ersten Male gleich in vollendeter Weise eine vollkommen neue und von Humboldt geschaffene Wissenschaft dargestellt worden, nämlich die Pflanzengeographie. Daß er niemandem dieses Werk mit größerem Recht widmen konnte als Goethe, ist ebenfalls zutiefst begründet: Es ist die großartige idealistische Morphologie Goethes, die hier auf die Geographie der Pflanzen angewandt wird. Durch dieses Werk ist Humboldt, wie wir noch zu zeigen haben werden, der Vollender der Naturwissenschaft Goethes und zugleich auch ihr historischer Überwinder geworden; denn Humboldts Werk trägt bereits in sich alle Keime, welche die damalige morphologische Pflanzengeographie in die moderne physiologisch-kausale Pflanzengeographie hinüberzuführen fähig waren. Der auch in diesem Zusammenhänge erwähnte Band XX des Reisewerkes: „Geographie des Plantes equinoctiales. Tableau physique des Andes et pays voisins" enthält nur eine einzige Tafel, die zum erwähnten Hauptwerk gehört und in der Regel auch diesem, in Quart-format umgebrochen beiliegt.
Gleichwohl ist auch Humboldts Reise durch die genannten vier Länder nicht ohne sehr wichtigen Ertrag für seine Philosophie der Erde geblieben. Wir haben oben schon Humboldts Lieblingswerk, die „ Ansichten der Natur“ als eine Sammlung von Mikrokosmen als Vorspiel zum großen „Kosmos“ charakterisiert. Das ist in der Tat in vollem Umfange richtig. Denn gerade diese Essays ergänzen die bisher genannten drei großen erdphilosophischen Monographien in sehr bestimmter Weise zum Totalgemälde einer „Philosophie der Erde . Während die Mexicomonographie das erste Totalgemälde eines bestimmten ganzen Landes, das die moderne, nach Peschel von Humboldt geschaffene wissenschaftliche Geographie besitzt, geliefert hat, die Orinocoreise in gleicher Art eine gewaltige tropische Flußlandschaft in ihrer noch vollkom-men natürlichen unberührten Totalität geschildert hat und endlich die „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ die Vegetation der Erde mit den Augen der idealistischen und holistischen Morphologie Goethes in ihrer Gesamtgestalt angeschaut haben, finden wir dieselbe mikrokosmische Art, die Dinge dieser Erde geographisch-philosophisch als natur-gewordene „Holismen", wie wir mit Smuts (1927) und Meyer-Abich (1948, 1949) sagen, zu erkennen, auch in sämtlichen Essays der „Ansichten der Natur“ wieder. In dieser Art handelt Humboldt „Über die Steppen und Wüsten“ und „Das nächtliche Tierleben im Urwalde" sowie „Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen“. Auch die Landschaft des Hochgebirges empfängt die ihr gemäße Totalschilderung in den Essays „Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen“ und über „Das Hochland von Cajamarca". Die ersten beiden Bände des „Kosmos“ bringen alsdann die allgemeinen Ideen und Prinzipien von Humboldts „Philosophie der Erde“ und unter dem Titel: „Geschichte der physischen Weltanschauung, Hauptmomente der allmählichen Entwicklung und Erweiterung des Begriffs vom . Kosmos', als eines Naturganzen“ eine Darstellung seiner goetheschen Art der Naturanschauung und Erkenntnis, wie sie sich seit der Antike entwickelt und vervollkommnet hat. Hier ist eine Geschichte der Naturforschung seit der Antike in einer nur als „kosmisch“ zu bezeichnenden Vollendung und ideologischen Geschlossenheit gegeben worden, dazu in der herrlichen Sprache Goethes, wie sie seitdem nicht wieder versucht worden ist und die durchaus eine Neuausgabe verdienen würde, nicht in historischer Absicht, sondern um den unmittelbaren Interessen der neuesten Naturwissenschaft zu dienen.
Nach diesen schon in den folgenden Paragraphen hinüberleitenden Betrachtungen kehren wir zur Schilderung des weiteren Verlaufs der großen Amerikareise als der repräsentativsten Leistung von Humboldts Leben und Werk zurück. Während der Orinocoreise, bei der wir noch ein wenig zu verweilen haben, haben Humboldt und Bonpland insgesamt 272 5 Kilometer zu Fuß und im Kanu zurückgelegt und damit auch in sportlicher Hinsicht eine großartige Leistung vollbracht. Sie vermittelte den Forschern Erlebnisse von einmaliger Größe und Schönheit, zwang sie aber auch, grimmige Strapazen zu erdulden und gefährliche Abenteuer zu bestehen. Hinsichtlich der Tropenwunder, die ihrer warteten, schrieb Humboldt am 16. Juni, dem Tage ihrer Landung in Cumana (Venezuela), an seinen Bruder Wilhelm: „Wie die Narren laufen wir jetzt umher; in den ersten Tagen können wir nidtts bestimmen, da man immer wieder einen Gegenstand wegwirft, nm einen andern zu ergreifen. Bonpland versidtert, daß er von Sinnen kommen werde, wenn die 'Wunder nidrt bald aufhören. Aber schöner nodt als diese Wunder im einzelnen, ist der Eindrudt, den das Ganze dieser kraftvollen, üppigen und doch dabei so leichten, erheiternden, milden Pflanzennatur macht. Idt fühle es, daß ich hier sehr glücklich sein werde und daß diese Eindrücke mich audt künftig noch oft erheitern werden“. Lind am Ende eben dieser Orinoco-Reise schrieb Humboldt an seinen Lehrer und Freund Willdenow unter dem 21. Februar 1801 aus Habana über die glücklich überstandenen Strapazen der Reise folgendes: „Vier Monate hindurch sdrliefen wir in Wäldern, umgeben von Krokodilen, Boas und Tigern (die hier selbst Kanoes anfallen), nidtts genießend als Reis, Ameisen, Maniok, Pisang, Orinokowasser und bisweilen Affen. Von Mondavaca bis zum Vulkan Duida, von den Grenzen von Quito bis Surinam hin, Strecken von 8000 Quadratmeilen, in denen kein Indianer, sondern nichts als Affen und Schlangen anzutreffen sind, haben wir an Händen und Gesicht von Moskitostichen geschwollen, durdistridten“. Indessen „meine Gesundheit und Fröhlichkeit hat, trotz des ewigen Wechsels von Nässe, Hitze und Gebirgskälte, seitdem ich Spanien verließ, sichtbar zugenommen. Die Tropenwelt ist mein Element, und ich bin nie so ununterbrochen gesund gewesen als in den letzten zwei Jahren“. Um das vollauf zu würdigen, muß man sich daran erinnern, daß Humboldt von frühester Jugend an sehr an Migräne gelitten hat. Erst in den Tropen konnte er sich jene eiserne Gesundheit erwerben, die ihn während der ganzen Reise begleitet hat und 90 Jahre hat alt werden lassen. Die tropischen Zonen sind also von Natur keineswegs ungesunder als die gemäßigten Zonen der Erde, wenigstens dann nicht, wenn man die ihnen gemäße Lebensweise in Ernährung und Kleidung beachtet, vor allem sich nicht allzu sehr der von den Nordländern in den Tropen so beliebten Maxime hingibt, daß „das Beste an den Tropen der Durst sei“. Es scheint auch in der weißen Rasse somatische Konstitutionen und Dispositionen zu geben, für welche die Tropen das gesundere Klima bedeuten. Humboldt hat fraglos zu diesem Menschentypus gehört.
Von Interesse ist hier noch Humboldts Meinung über das spanische Volk, insbesondere in seinen amerikanischen Kolonien, zu erfahren. In dem schon zitierten Brief an Willdenow sagt er hierüber: „Wir Ost-und Nordeuropäer haben übrigens seltsame, fast möchte idt sagen tolle Vorurteile gegen das spanisdte Volk. Idt habe nun zwei Jahre lang, vom Kapuziner an (denn idt war lange in ihren Missionen unter den Chaymas-lndianern) bis zum Vizekönig, mit allen Mensdtenklassen genau verbunden gelebt, ich bin der spanisdten Sprache jetzt fast so gut wie meiner Mutterspradie mächtig und bei dieser genauen Kenntnis kann idt versidtern, daß diese Nation, trotz des Staats-und Pfaffenzwanges, mit Riesenschritten ihrer Bildung entgegengeht, daß ein großer Charakter sielt in ihr entwickelt“.
Humboldts Orinoco-Reise *), deren Einzelheiten der Interessierte in der soeben bei Brockhaus erschienenen Neuauflage (Humboldt 195 8) nachlesen möge, endete in Nueva Barcelona nahe der Orinocomündung, von wo Humboldt am 24. November 1800 nach Habana (Kuba) hinüberfuhr. Nach einer sehr stürmischen Überfahrt, die fast einen ganzen Monat in Anspruch nahm — ein Dampfer macht das heute in wenigen Tagen und ein Flugzeug in einigen Stunden —, kam Humboldt dort am 19. Dezember 1800 an und blieb in Kuba bis zum 8. März 1801. Ihn beschäftigte dort eine Vermessung des Hafens von Habana, und außerdem sammelte er schon während dieses ersten Aufenthaltes in Kuba während dieser Reise Materialien für seinen „Essai politique sur File de Cuba“, der 1826 in zwei Bänden in Paris erschien. Von Kuba aus wollte Humboldt nun eine Reise durch Nord-amerika bis zu den kanadischen Seen hinauf machen und dann von dort nach Mexico gehen. Er las jedoch in Habana in nordamerikanischen Zeitungen, daß der französische Kapitän Baudin seine Weltumsegelung inzwischen angetreten habe und um das Kap Hoorn herum nach Chile und Peru segeln wolle. In der Hoffnung nun, ihn dort endlich doch noch treffen zu können, beschloß Humboldt nun, statt nach Nordamerika wieder nach Südamerika in Richtung Peru zu reisen, um Baudin so in Callao zu erwarten. In diesem Sinne schrieb er an ihn nach Lima. Aber statt um das Kap Hoorn war Baudin um das Kap der Guten Hoffnung gesegelt, und Humboldt fand seinen Brief an Baudin bei seiner Ankunft in Lima unbestellt wieder vor. Eine Verbindung von Humboldts Reise mit der Weltumsegelung Baudins war nun endgültig unmöglich geworden. Deshalb reiste Humboldt nun von Lima nach Mexico hinauf, das er auf jeden Fall am Ende seiner Reise besuchen wollte. An die Stelle der Nordamerikareise war nun diejenige durch drei weitere südamerikanische Staaten getreten, nämlich durch Kolumbien, Equador und Peru. Diese Änderung des Reiseplans ist vom Standpunkte der wissenschaftlichen Forschung sehr zu begrüßen gewesen; denn damit wurden drei noch wissenschaftlich fast unbekannte südamerikanische Länder der modernen Forschung erschlossen, während Nordamerika in dieser Hinsicht getrost den hervorragend tüchtigen eigenen Wissenschaftlern überlassen bleiben konnte.
Die wesentlichen Daten für Humboldts Weiterreise von Kuba sind die folgenden. Am 8. März 1801 fuhr Humboldt von Batabano, einem kleinen Hafen an der Südküste Kubas, nach Cartagena in Kolumbien, wo er erst am 30. März — diesmal nicht wegen allzu stürmischer See, sondern wegen zu großer und anhaltender Windstille — eintraf. Bei normalen Windverhältnissen hätte diese Reise auch damals mit einem Segler nur fünf bis sechs Tage gedauert. Nach dreiwöchigem Aufenthalt in dem heute noch durch seine großartigen Befestigungen aus der spanischen Kolonialzeit berühmten Cartagena setzte Humboldt seine Reise nach der Hauptstadt Kolumbiens, nach Bogota fort. Er fuhr zunächst zu Schiff auf dem Magdalena, dem zweiten großen Flußsystem Südamerikas nördlich des Amazonas, bis Honda und ritt dann von dort mit Maultieren nach dem zweieinhalbtausend Meter hochgelegenen Bogota hinauf. Dieser Reiseweg bildete noch bis zum Ende des ersten Weltkrieges die einzige Möglichkeit, nach Bogota zu gelangen. Erst die Gründung der Skadta, der Sociedad Colombo-Alemana de Transportes Aereos, durch einige kühne deutsche Fliegeroffiziere des ersten Weltkrieges, verkürzte die bisherige ungefähr zwei bis drei Wochen dauernde Reise nach Bogota auf ebensoviele Stunden. Diese Stadt bildete eine der wichtigsten Stationen von Humboldts Reise. Hier wirkte damals im Auftrage der spanischen Regierung der spanische Geistliche und Botaniker Mutis — einer ursprünglich deutschen Familie (von Mutius) entstammend, die zur Zeit der Habsburger nach Spanien gekommen war —, dem Humboldt bereits angekündigt war und der ihn als Ehrengast in seinem Hause aufnahm. Hören wir, wie Humboldt selbst seine erste Begegnung mit Mutis geschildert hat: „Unsere Ankunft in Santa Fe (de Bogota) glich einem Triumpfzuge. Der Erzbischof hatte uns seinen Wagen entgegengeschickt; mit demselben kamen die 'Vornehmsten der Stadt, und wir zogen mit einem Gefolge von mehr als sechzig Personen zu Pferde ein. Da man wuflte, daß wir Mutis zu besuchen kamen, und dieser durch sein hohes Alter, sein Ansehen bei Hofe und seinen persönlichen Charakter in der ganzen Stadt in außerordentlicher Achtung steht, so sudite man seinetwegen unserer Ankunft einen gewissen Glanz zu geben und ihn in uns zu ehren. Der Vizekönig darf in der Stadt, der Etikette nach, mit niemand essen; er lud uns daher auf seinen Landsitz Fucha zu sich ein. Mutis hatte uns ein Haus in seiner Nähe einrichten lassen und behandelte uns mit ausnehmender Freundschaft. Er ist ein ehrwürdiger alter Geistlicher von beinahe 72 Jahren, und dabei ein reicher Mann; der König zahlt für die botanische Expedition (die unter Mutis Leitung stand) hierselbst jährlich 10 000 Piaster. Seit fünfzehn Jahren arbeiten dreißig Maler bei Mutis; er hat 2— 3000 Zeid; nungen in Großfolio, weldie Miniaturgemälde scheinen. Nächst der von Banks in London habe ich nie eine größere botanische Bibliothek als die von Mutis gesehen". (Bruhns 1872). So hat Humboldt kaum noch irgendwo sonst auf seiner großen Reise so günstige Arbeitsbedingungen vorgefunden als in den Monaten seiner Zusammenarbeit mit Mutis in Bogot. Der große Wert, den die von Mutis besorgten botanischen Sammlungen noch heute für die botanische Forschung in Südamerika besitzen, wird durch nichts besser illustriert als durch die Tatsache, daß die von Humboldt erwähnten großartigen Pflanzengemälde, welche Mutis'Maler nach seinen Vorlagen sachgetreu angefertigt haben, eben heute gemeinsam von der Universidad Nacional de Colombia und dem Institute de Estudios Hispanicos in Madrid herausgegeben werden. Von den für dieses Monumentalwerk vorgesehenen großen etwa vierzig Foliobänden sind bisher drei erschienen. Ein kundiger Blick in dieses Standardwerk klassischer Botanik zeigt, daß damit nicht nur die verspätete Ehrung eines großen Forschers beabsichtigt ist, vielmehr ein wesentlicher Dienst an den immer noch aktuellen Aufgaben der taxonomischen Botanik Iberoamerikas geleistet wird. Dieses Werk Mutis gehört ebenso wie Humboldts großes 30-bändiges Reisewerk, das ebenfalls eine Neuherausgabe im Dienste gegenwärtiger Forschung verdienen würde, zum Gesamtcorpus Scientificum Iberoamericanum.
Bonpland hatte sich auf dem Wege nach Bogota die Malaria zugezogen, weshalb unsere Forscher volle zwei Monate in Bogota verweilen mußten. Erst im September 1801 konnte die Reise nach Quito (Ecuador) fortgesetzt werden. „Es ist dies", schreibt Humboldt (Bruhns 1872), „die beschwerlichste Straße in der Cordillere der Anden. Es ist ein dichter, ganz unbewohnter Wald, den man auch in der besten Jahreszeit nicht schneller als in zehn oder zwölf Tagen zurücklegt. Man findet keine Hütte, keine Lebensmittel, und die Reisenden müssen sich in jeder Jahreszeit auf einen ganzen Monat mit Vorräten versehen, weil sie nur zu oft durch das Schmelzen des Schnees und das plötzliche Anschwellen der Giesbäche nach keiner Richtung fortkommen können. Der höchste Punkt des Weges liegt 3 505 m über der Fläche des Ozeans. Der Pfad ist so eng, daß seine gewöhnliche Breite nicht über drei bis vier Dezimeter beträgt, und er größtenteils einer offenen durch den Felsen gehauenen Galerie gleicht". So war damals der Weg bis Popayan, noch in Kolumbien, beschaffen. Die Weiterreise von dort bis Quito war womöglich noch beschwerlicher. „Nachdem wir zwei Monate hindurdt Tag und Nacht von Regengüssen durchnäßt worden waren und bei der Stadt Ibarra beinahe ertranken, da plötzlich bei einem Erdbeben das Wasser stieg, langten wir am 6. Januar 1802 in Quito an“.
In Quito hatte Humboldts Freund, der Marques de Salvelegre, für unsere Forscher ein vortrefflich eingerichtetes Haus gemietet, wo sie sich von ihren Strapazen gründlich erholen konnten. Über ihre dortige Tätigkeit schreibt Humboldt: „Wir haben uns fast acht Monate in der Provinz Quito aufgehalten, vom Anfang des Januar bis in den August. Diese Zeit ward angewandt, die wichtigsten Vulkane zu besteigen. Wir untersuduen nacheinander den Pichincha, Cotopaxi, Antisana, llinica, brachten vierzehn Tage bis drei Wochen bei jedem zu, kehrten in der Zwischenzeit immer nadt der Hauptstadt zurück, und brachen am 9. Juni 1802 von da auf, um nach dem Chimborazo zu reisen“. Die Haupt-ergebnisse dieser Forschungen sind einmal in zwei schon erwähnten Essays der „Ansichten der Natur“ enthalten, dem „Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu ersteigen“ und „Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdschichten", und speziell in den der Berliner Akademie vorgelegten beiden Abhandlungen „Geogno-stische und physikalische Beobachtungen über die Vulkane des Hoch-landes von Quito" aus den Jahren 18 37 und 1838. Über Humboldts persönliches Leben in Quito hat uns Moritz Wagner, der in Humboldts Sterbejahr 18 59 durch Quito kam, eine hübsche Nachricht überliefert, die für Humboldts allgemeines persönliches Auftreten während seiner großen Reise sehr bezeichnend ist. Es sind auch aus anderen der von ihm besuchten Länder, besonders Mexico, ähnliche Histörchen überliefert. Moritz Wagner konnte in Quito noch zwei alte Damen der dort sehr angesehenen und begüterten Familie Aguirre y Montufar besuchen, die aus ihrer Jugendzeit sich noch sehr gut an Humboldts Be-such erinnerten. Dona Rosa Montufar berichtete Moritz Wagner folgendes: „Der Baron war immer galant und liebenswürdig. Bei Tisch verweilte er nie länger als notwendig war, den Damen Artigkeiten zu sagen und seinen Appetit zu stillen. Dann war er immer wieder draußen, schaute jeden Stein an und sammelte Kräuter. Bei Nacht, wenn wir längst schliefen, guckte er sich die Sterne an. Wir Mädchen konnten all das noch viel weniger begreifen als der Marquis, mein Nater.“
Von Ekuador setzte Humboldt seine Reise nach Peru fort, jedoch nicht auf dem direkten Wege von Quito nach Lima, er machte vielmehr zunächst einen Abstecher in das Tal des Amazonas und begab sich von dort dann über das Hochland von Cajamarca nach Lima-Callao. Die schönste literarische Frucht dieser Reise ist die ebenfalls in den „Ansichten der Natur“ mitgeteilte Studie über „Das Hochland von Cajamarca“, wo sich die Residenz des letzten Inka Atahualpa befunden und das blutigste Drama der spanischen Conquista abgespielt hatte. Auf dieser Reise erlebte Humboldt „den ersten Anblidt der Südsee von dem Rücken der Andeskette.“ Diese großartige Schau „hatte etwas Feierliches für den, weldier einen Teil seiner Bildung und viele Richtungen seiner Wünsd'te dem Umgänge mit einem Gefährten des Kapitän Cook verdankte“. Mit diesen Worten gedenkt Humboldt dankbar seines Lehrers Georg Forster, dessen „anmutige Schilderung von Otaheiti" offensichtlich Humboldts Vorbild bei seiner Studie über das Hochland von Cajamarca gewesen ist.
In Lima bestimmte Humboldt die bis dahin noch nicht genau bekannte geographische Lage der Stadt. Außerdem konnte er am 9. November 1802 in Callao, dem Seehafen von Lima, den Merkurdurchgang vor der Sonne genau beobachten. Hier studierte er ferner die Entstehung des Guano auf den Callao vorgelagerten Inseln und hat überdies als erster größere Proben dieses Düngemittels nach Europa gebracht.
Auf der Weiterreise nach Mexico verließ Humboldt Callao am 5. Dezember 1802 und traf am 9. Januar 1803 in Guyaquil, dem Haupthafen Ekuadors ein. Hier blieb er etwas länger als einen Monat und führte damals die ersten exakten ozeanographischen Messungen des seitdem nach ihm benannten „Humboldt-Stromes“ durch. Humboldt, der andere Verdienste stets bereitwilligst anerkannt hat, hat selber niemals den Anspruch erhoben, der „Entdecker" des Humboldtstromes gewesen zu sein. Er bemerkt ausdrücklich, „die Strömung sei von Chile bis Payta schon im 16. Jahrhundert jedem Schiffsjungen bekannt gewesen“. Da es aber nun einmal mit vollem Recht in den Wissenschaften üblich ist, denjenigen Forscher als den eigentlichen Entdecker eines Sachverhaltes zu feiern, der seine Geltung erstmalig mit den Methoden exakter Wissenschaft sichergestellt hat, so ist es nicht nur als einwandfrei sondern als durchaus angemessen zu bezeichnen, daß dieser erstmalig von Humboldt exakt-ozeanographisch vermessene Strom auch fernerhin mit seinem Namen geehrt wird. In Peru hat ein nicht zu billigender engstirniger Nationalismus gelegentlich dazu geführt, diesen Strom „Peru-Strom“ zu nennen. Das ist auch schon deshalb nicht gerechtfertigt, weil er in seinem längsten Abschnitt gar nicht an der Küste Perus sondern an derjenigen Chiles entlangläuft. Soll man nun deshalb etwa diesen durchaus einheitlichen Strom in einem Peru-und in einen zweiten Chile-Strom teilen? Das wäre denn doch wohl reichlich absurd!
Am 15. Februar 1803 verließ Humboldt Guayaquil und traf Ende März in Acapulco, dem Pazifikhafen und heute mondänsten Seebad Mexicos, ein. In Mexico blieb Humboldt fast ein ganzes Jahr, das letzte seiner großen Reise. Hier hat er eine große Fülle von Untersuchungen aus allen Zweigen der Geographie und Naturwissenschaften durchgeführt. Sie haben ihre großartige Darstellung in der schon mehrfach erwähnten klassischen Länderkunde von Mexico gefunden, dem ersten Standardwerk moderner geographischer Wissenschaft überhaupt. Nach Pechei beginnt erst mit diesem Werk, was wir heute als eigenes Fach „Geographie" auf unsern Hochschulen und Forschungsinstituten betreiben. Es kann daher an dieser Stelle nur noch einmal auf diese erste morphologische Geographie im weltweiten Sinne des Morphologiebegriffes von Goethe verwiesen werden.
Am 7. März 1804 verließ Humboldt Mexico von Veracruz aus und begab sich zunächst noch einmal kurz nach Habana, um seine früher dort zurückgelassenen Sammlungen aufzunehmen und weitere Materialien für sein schon erwähntes Kubabuch zu sammeln. Mit Humboldts Abreise aus Habana am 29. April 1804 war dann seine große Ibero-Amerika-Reise definitiv beendet. Sie hatte aber noch ein hochinteressantes und für Humboldt sehr wesentliches Nachspiel in den Vereinigten Staaten, welches ihm zugleich den ersten schönen Vorgeschmack seines mit dieser Reise festbegründeten Weltruhms vermittelte. Nach einer abermals sehr stürmischen Reise von zwanzig Tagen traf Humboldt Ende Mai in Philadelphia ein und meldete in einem Briefe vom 24. Mai 1804 dem Präsidenten Jefferson seine Ankunft in den Staaten, wie er das auch früher stets aus Gründen der Höflichkeit und des Protokolls bei den spanischen Autoritäten der von ihm besuchten Länder getan hatte. Unter dem Datum des 28. Mai 1804 bekam er von Jefferson umgehend die folgende Antwort und Einladung: “ Siri I received last night your favour of the 24th and offer you my congratulations on your arrival here in good health after a tour in the course of which you have been exposed to so many hardships and hazards. The countries you have visited are of the least known and most interesting, and a lively desire will be feit generally to receive the Information you will be able to give. No one will feel it more strongly than myself, because no one perhaps views this new world with more partial hopes of its exhibiting an ameliorated state of the human condition. In the new Position in which the the seat of our government is fixed, we have nothing curious to attract the observation of a traveller, and can only Substitute in its place the welcome with whidt we should receive your visit, should you find it convenient to add so much to your journey. Accept, 1 pray you, my respectful salutations and assurances of great respect and consideration et. Jefferson." Humboldt nahm diese Einladung an und war noch einen vollen Monat Jeffersons Gast in Washington und auf seinem Landsitz Monticello. Unter erstaunlich großen und weit vorausschauenden Gesichtspunkten sind damals alle gegenwärtigen und vor allem künftigen Probleme Iberoamerikas in ihrer Verbindung mit den Vereinigten Staaten diskutiert worden. Goethes oben zitiertes, auf Humboldts Informationen beruhendes Gespräch mit Eckermann über den Panama-Kanal läßt uns die weltbürgerliche Haltung und Gesinnung, die dem großen amerikanischen Staatsmann und dem großen deutschen Naturforscher gemeinsam waren, ahnen, in welcher diese Gespräche geführt worden sind. Es soll dabei auch von einem Plan gesprochen worden sein, das gesamte Amerika in drei große Staaten zu teilen, womit wahrscheinlich der angelsächsische Norden, Brasilien und die spanisch sprechenden Republiken, damals noch spanische Kolonien, gemeint waren. Allein Brasilien hat dieses Ziel bisher erreicht, im Norden fehlt noch die letzte Union mit Canada, während die spanischen Republiken immer noch neunzehn verschiedene Länder umfassen. Es wird noch viel Wasser den Orinoco, den Magdalena und den La Plata hinunterfließen, ehe diese spanisch sprechenden Länder von Mexico bis Chile und Argentinien sich in einen gemeinsamen Staatenbund zusammengefunden haben werden. In ihren gegenseitigen Beziehungen treibt immer noch der alte, Machiavelli wie Richelieu zugeschriebene eng-nationalistische Grundsatz sein Wesen, wonach immer der Nachbar der Feind und der Nachbar des Nachbarn der Freund sein soll.
Am 8. Juli 1804 verließ Humboldt die Vereinigten Staaten von Philadelphia aus und traf am 3. August nach glücklicher Reise wohlbehalten mit Bonpland wieder in Europa ein und ging in Bordeaux von Bord. Die als in sich vollendetste geistige Leistung bedeutsamste Forschungs-reise des großen Zeitalters der Weltumsegelungen hatte damit ihr Ende gefunden. AIs Preuße hatte Humboldt Europa verlassen, in Amerika war er zum echtesten Amerikaner herangereift, um danach als einer der ersten wirklichen Europäer nach Paris und Berlin zurückzukehren.
Eine Synthese von Goethe und Newton
Humboldts Lebenswerk bildet, wie wir schon mehrfach hervorzuheben Gelegenheit nehmen mußten, ohne Frage seine große amerikanische Reise von 1799— 1804, begonnen in seinem 30. Lebensjahr, und die darauf folgenden ca. 25 Jahre der Durch-und Ausarbeitung ihrer Ergebnisse, vornehmlich in Paris, in insgesamt dreißig umfangreichen Quart-und Foliobänden. Die Krönung aber dieser ganzen gigantischen Arbeit ist in jenen drei Werken enthalten, die wir in literarischer Beziehung als sein geistiges Vermächtnis zu betrachten haben, das definitiv in die Geschichte der Naturwissenschaft eingegangen ist und deren klassische Epoche von Linne bis Darwin, in der deutschen Geistesgeschichte als Goethezeit klar und deutlich abgehoben, führend gestaltet und vollendet hat. Diese Werke sind die „Ansichten der Natur“, die „Ideen zur Geographie der Pflanzen“ und der „Kosmos“. Diese literarischen Hauptwerke Humboldts stehen aber nicht neben oder folgen nur nach der großen amerikanischen Reise, sie hängen vielmehr auf das innigste von Anfang bis zu Ende mit ihr zusammen. Das Reise-werk und das literarische Lebenswerk stellen ein in sich geschlossenes, von einander völlig unabtrennbares Ganzes dar. Beide sind aus derselben Idee entsprungen und nach dem gleichen Plan durchgeführt. Am Anfang steht auch hier wie immer die „Idee“. Humboldt aber war genau wie sein Meister Goethe ein echter Platoniker und hat deshalb wie dieser sein gesamtes Schaffen unter die Idee gestellt. Diese stand ihm schon am Ende seiner Studien-und Vorbereitungszeit vor seiner Reise fest, als er am 24. Januar an seinen Freund Pictet schrieb -. ‘‘Je confus 1‘idee d'une physique du woude“. Humboldt hat das später im Untertitel seines „Kosmos“ als eine „physische Weltbeschreibung“ definiert.
Was er hier aber wirklich geleistet hat, ist sehr viel mehr als das, was wir heute — auch im weitesten Wortsinne genommen — als „Physik“
bezeichnen, es ist in Wahrheit eine Philosophie der Erde, wie wir schon wiederholt betont haben. Physisch ist hier im ursprünglichen griechischen Sinne des Wortes „Physis“ zu verstehen, der etwa genau das meint, was Goethe in seinem berühmten „Fragment über die Natur"
als Natur verstanden hat. Worin sich dieser klassische Begriff der Phvsis vom modernen des Physischen unterscheidet, hat Goethe nirgends prägnanter zum Ausdruck gebracht als in seinem polemischen Gedicht gegen Albrecht von Haller. Dieser hatte resignierend festgestellt: „Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist; Glückselig, wem sie nur die äußere Schale weist!“ Darauf hatte Goethe, zutiefst empört die berühmte Antwort mit dem „Allerdings“ überschriebenen und „dem Physiker“
anbefohlenen Gedicht erteilt: „Ins Innre der Natur — O du Philister! — Dringt kein erschaffner Geist. Mich und Gesclrwister Mögt ihr an solches Wort Nur nicht erinnern; Wir denken: Ort für Ort Sind wir int Innern. Glückselig, wem sie nur die äußre Schale weist! Das Hör ich sechzig Jahre wiederholen, Ich fluche drauf, aber verstohlen; Sage mir tausend tausend Male: Alles giebt sie reichlich und gern; Natur hat weder Kern Nodi Schale Alles ist sie mit einem Male; Dich prüfe du nur allermeist, Ob du Kern oder Schale seist.“ Wir werden dieses Garn der philosophischen Begründung der Erdkunde durch Humboldt und ihre innige Verbindung mit der Naturwissenschaft Goethes im folgenden Paragraphen im einzelnen weiterzuspinnen haben, hier haben wir zunächst die Geschichte der eben genannten drei literarischen Meisterwerke Humboldts und ihrer Abhängigkeit von den Ergebnissen der großen Reise zu erzählen. Die eben propädeutsch skizzierte Idee einer Philosophie der Erde liegt beiden Unternehmungen als das sie leitende und begleitende Erkenntnis-
ideal zu Grunde. Es war die Aufgabe der Reise, die für ein solches Unternehmen erforderlichen Erfahrungen in der Natur selbst zu sammeln und zwar unter gebührender Heranziehung und Verwertung sämtlicher Naturwissenschaften. Hier haben wir den letzten Grund auch für die oft hervorgehobene Tatsache der wahrhaft enzyklopädischen Natur der Kenntnisse und Erkenntnisse Humboldts, den einer seiner Feinde am damaligen Preußischen Hofe, der engstirnige Theologe Ancillon deshalb die „enzyklopädische Katze“ zu nennen pflegte. Humboldt vereinigte in der Tat eine ganze Akademie der Wissenschaften in seiner Person, und insofern kann man sagen, daß er wohl der letzte große Natur-forscher gewesen ist, der dazu noch imstande war. Aber es ist falsch, wenn man damit sagen wollte, daß es heute und in Zukunft keine enzyklopädischen Naturen mehr geben könnte. Diese wird und muß es geben, solange es noch eine lebendige Philosophie gibt, die diesen Namen verdient. Jeder Philosoph ist seiner Natur nach ein Enzyklopädist, nur daß sich die enzyklopädische Universalität mehr und mehr vom Felde der Tatsachen in dasjenige der Theorien und Prinzipien zurückzieht. Was wir heute an umfassender Tatsachenkenntnis verloren haben, haben wir reichlich in der Möglichkeit umfassenderer Theorien-und Prinzipienkenntnis zurückgewonnen. Und wenn wir diesen Dingen recht auf den Grund gehen, müssen wir auch von Humboldt und allen seinen enzyklopädischen Vorgängern seit Platon und Aristoteles sagen, daß auch bei Ihnen das philosophische Denken zur Tatsachenenzyklopädie geführt hat, nicht aber umgekehrt die Sammlung der Tatsachen aus vielen verschiedenen Wissenschaften erst hinterher zur Enzyklopädie geführt habe. So etwas hat es nie gegeben und kann es nie geben; denn alle Tatsachen sind als solche genommen vollkommen blind und gewinnen Sinn und Wert erst aus der idee-ellen Perspektive heraus, durch welche sie allein interpretiert werden können. Umgekehrt werden Ideen aber erst dann für die menschliche Erkenntnis fruchtbar und machtvoll, wenn sie in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung zu wissenschaftlich fest begründeten Tatsachen geworden sind, denn wie Humboldt schon in seiner Jugend klar erkannt hatte: „Man schadet der Erweiterung der Wissenschaft, wenn man sich zu allgemeinen Ideen ergeben und doch die einzelnen Tatsachen nicht kennenlernen will“. Denn Tatsache und Tatsache ist noch lange nicht ein und dasselbe! Neben den durch sog. „grobe Empirie" (Kisskalt) gefundenen Auch-Tatsachen steht die wissenschaftlich exakt begründete Tatsache, d. h. diejenige, deren Geltung theoretisch klar bestimmt und definiert ist. Diese Tatsachen waren es, die Humboldt auf seiner Reise unermüdlich gesucht und festgestellt hat. Nie hat er sich beruhigt, ohne, wo das immer möglich war, die von ihm gewonnenen Erfahrungen durch exakte Messungen zu sichern oder durch statische Ermittlungen. In dieser Hinsicht war Humboldt trotz aller geistigen Verwandtschaft mit Goethe diesem als moderner Naturforscher gleichwohl überlegen, er bildete eine wirkliche Synthese von Goethe und Newton, oder, wie wir oben gesagt haben, von Weimar und Paris. Weiter ist für die Tatsachenforschung Humboldt'wichtig, ständig dessen eingedenk zu sein, daß er seine Tatsachen in den amerikanischen Tropen gesammelt hat; denn erstens ist die Natur der Tropen die einzige wahrhaft große und reiche Natur auf dieser Erde, nur hier gedeiht das organismische Leben in all seiner unbeschränkten Fülle und Mannigfaltigkeit, ohne wie bei uns in der gemäßigten Zone durch den Winter einseitig eingeschränkt zu sein. In unseren Wäldern gibt es nur etwa dreißig verschiedene Baumarten, in den tropischen aber bis zu sechshundert und mehr. Das gilt beispielhaft für die gesamte übrige Welt der Lebewesen. Außerdem war die tropische Natur in den von Humboldt besuchten Regionen vom Menschen außerhalb der wenigen Städte noch so gut wie unberührt. Auf solche Art hat Humboldt als erster moderner Naturforscher für seine Philosophie der Erde ein Tatsachenmaterial beigebracht, wie es in gleicher Reichhaltigkeit und Universalität kein früherer Naturforscher besessen hat. Was der Zoologiehistoriker R. Burckhardt (1709) von Aristoteles als dem Begründer der Biologie gesagt hat: „In gleicher Vollkommenheit ist nie mehr die Absicht durchgeführt worden, die Biologie als Teil der Allgemeinwissenschaft einzugliedern, sie aber auch andererseits als Ganzes aus den Erscheinungen systematisch durch eigene Beobachtung, Aufnahme fremder mündlich und literarisch überlieferter Angaben aufzubauen, der Mannigfaltigkeit der Natur ebenso gerecht zu werden, wie ihrer Einheit und dadurch zwischen Realismus und Idealismus eine Mitte einzuhalten, wie sie bei gleicher Stoffülle nie mehr wiedergewonnen ist“, genau dasselbe müssen wir von Humboldt als dem Begründer der modernen wissenschaftlichen Geographie sagen. Der Satz kann vollkommen ungeändert bleiben, wenn wir statt Aristoteles Humboldt und statt Biologie Geographie schreiben. Mit derart umfassendem wissenschaftlich gesichertem Erfahrungsmaterial versehen begann Humboldt sogleich nach seiner Rückkehr von der großen Reise mit der Ausarbeitung nicht nur des dreißigbändigen Reisewerkerkes selbst sondern auch mit der Abfassung der darauf gegründeten drei universalen theoretischen Werke zur Philosophie der Erde, nämlich der „Ansichten der Natur“ und des „Kosmos“, und der besonderen Philosophie der Pflanzenwelt auf der Erde, als welche wir seine „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen" wohl am präzisesten charakterisieren können.
Nach seiner Rückkehr Anfang August 1804 in Bordeaux besuchte Humboldt zunächst seinen Bruder in Rom, der damals dort Preußischer Gesandter war. Im November desselben Jahres kehrte er dann nach Berlin zurück. Hier schrieb er in den nächsten Jahren bis zu seiner Übersiedelung nach Paris (1808) die „Ansichten der Natur“ und die „Ideen zur Geographie der Pflanzen“. Die „Ansichten der Natur“ hat Humboldt selbst als sein liebstes Buch bezeichnet, es war „ein rein auf deutsche Gefühlsweise berechnetes Buch“, in Goethes Sprache und Diktion geschrieben, und erzielte sofort einen ungeheuren Anklang und Verbreitung. Es ist bis heute Humboldts populärstes Buch geblieben, erschien zuerst 1808 bei Cotta und hat seitdem bis in unsere Tage immer wieder neue Auflagen im Ganzen oder in einzelnen Essays erlebt, ist natürlich auch in alle Kultursprachen übersetzt worden. Einen „Überblick der Natur iw Großen, Beweis von dem Zusammenwirken der Kräfte, Erneuerung des Genusses, welchen die unmittelbare Ansicht der Tropenländer dem fühlenden Mensd^en gewährt“ wollte Humboldt mit diesem Buche seinen Lesern vermitteln und schließt das Vorwort mit folgenden charakteristischen Sätzen: „Überall habe ich auf den ewigen Einfluß hingewiesen, welchen die physische Natur auf die moralisdte Stimmung der Menschheit und auf ihre Schicksale ausübt. Bedrängten Gemütern sind diese Blätter vorzugsweise gewidtmet. Wer sich heraus-gerettet aus der stürmischen Lebenswelle, folgt mir gern in das Dikkicht der Wälder, durch die unabsehbare Steppe und auf den hohen Rücken der Andeskette“. Auch später hat dieses Buch nichts von seiner immer wieder großartigen, besonders die angehenden jungen Forscher beeindruckenden Kraft verloren. Dafür ist der Nachruf auf Humboldt bezeichnend, den der berühmte Botaniker C. Fr. Philipp von Martius, der selbst als junger Forscher durch Humboldt angeregt im Gefolge einer bayerischen Prinzessin nach Brasilien gekommen war und dort großartige heute ebenfalls klassische botanische Forschungen durchgeführt hatte, in der Münchner Akademie auf Humboldt gehalten hat. Wenn er dabei von der „unbeschreiblichen“ Wirkung der „Ansichten der Natur“ spricht, dann gibt er damit sicherlich höchst persönliche Erfahrungen wieder, die er mit diesem Buch erlebt hat: „Seit G. Forsters lebensvollen Schilderungen war der Nation nidus Ähnlidies geboten uns seines worden. Es ersdieint als das Samenkorn Ruhmes. Ein ähnlicher Ton war noch nicht angeschlagen worden, um uns in die Welt zwischen den Wendekreisen zu versetzen. Es ward dieses Büchlein Muster und Vorbild späterer Reisenden für die Plastik in Worten. Wir begegnen seinem Einflüsse überall in der neuen Reiseliteratur. Linser Kontinent war während des Druckes unheilvoller Kriege von den Ländern jenseits des Ozeans abgeschlossen gewesen. Nun warf ein lebendiger Geist den Strahl der Tropensonne, den Duft amerikanischer Zaubergärten in den deutschen Nebel. Da war kein Freund, kein Schüler der Wissenschaft, der nicht voll Entzücken und Sehnsucht jene Bilder aus dem fernen Weltteil betrachtet, sich nicht aus ihnen bereichert hätte. Sie sind mit leichten aber sicheren Zügen entworfen. Ihre Meisterschaft liegt nicht sowohl in der tiefen Beherrschung der Einzelheiten, in der Schärfe der Konturen, als in der glüdüidien Verteilung von Licht und Schatten, in der Pracht der Farbe, in der reizenden Jugendlichkeit beherrschten der aesthetisch Komposition. Des Malers weiches und empfängliches Gemüt wirft über die üppigen Szenen der irdischen T, -penwelt, über die ernsten Schauer des südlichen Sternhimmels jenen milden Duft der Empfindung, des menschlichen Mitgefühls für den rohen Wilden, für die untergegangenen Völker, deren dunkle Geschichte wir aus den Skulpturen hoch über dem Wasserspiegel des Orinoco, aus den überwaldeten Bauwerken von Mexiko und Guatemala nicht zu enträtseln vermögen“.
Die „Ansichten der Natur“ bekunden bereits in ihrer äußeren Komposition die Synthese zwischen dem Erfahrungsmaterial der großen Reise und dem Ideengehalt der großen literarischen Werke. Die Essays der „Ansichten“ bilden in ihrer in sich geschlossenen Form nicht nur literarische Kunstwerke hohen Ranges, sie stellen sachlich auch partikuläre Mikro-Kosmen den großen „Kosmos“ in der Schilderung der Philosophie der Erde dar. Jedem Essay folgen aber, ihn selbst an Umfang oft um ein Vielfaches übertreffend, eine reiche Anzahl von Noten, welche das in den Essays Gesagte mit vielen und umfassenden wissenschaftlich gesicherten Tatsachen belegen, die nahezu ausschließlich auf den Beobachtungen und Messungen der großen Reise beruhen oder auf dem Studium der mit ihr zusammenhängenden Literatur.
Genau dieselbe Erfahrung machen wir auch mit dem zweiten literarischen Hauptwerk Humboldts, den „Ideen zur Geographie der Pflanze n“, die Humboldt zugleich mit den „Ansichten“ in den drei Jahren seines Berliner Aufenthalts nach Rückkehr von der Reise und vor seiner Übersiedlung nach Paris, wo er dann volle zwanzig Jahre blieb, geschrieben hat. Auch bei diesem nicht nur literarisch glänzend geschriebenem sondern auch wissenschaft-1 i c h e m Hauptwerk Humboldts liegt der enge Zusammenhang mit der Reise sogar noch klarer zutage als bei den „Ansichten“. Denn es erschien zuerst in französischer Sprache und zwar als Band XXVII des großen Reisewerkes: „Essai sur la geographie des plantes; accompagne dun tableau physique des regions equinoctiales ... Paris 1805, 155 p. 4". Obwohl als Band XXVII im Reisewerk geführt, ist er jedoch der erste Band desselben, der herausgekommen ist. Humboldt selbst hat von diesem Werke die oben schon bibliographierte deutsche Ausgabe der „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, auf Beobachtungen und Messungen gegründet . . veranstaltet, die bei Cotta 1807 erschien, und sie mit einem von Thorwaldsen gezeichneten Dedikationsblatt Goethe gewidmet. Dieser, „durch dieses ihm auf so bedeutende Weise gewidmete gehaltvolle Werk“ und „aus frühester und immer erneuerter Freundschaft für den edlen Verfasser, und durch diesen neuesten schmeichelhaften Anklang aufgerufen“ hat das Buch dann sofort gründlich durchstudiert und war von ihm so gefesselt, daß er selbst, da diese Ausgabe die angekündigte Beilage des „Naturgemäldes der Tropenländer“ — welcher als eigener Folioband XX des Reise-werkes herausgekommen ist und den späteren deutschen und französischen Auslieferungen der „Ideen“ direkt beigefügt wurde — nicht enthielt, ein entsprechendes „landschaftliches Bild“ zeichnete und es als „eine symbolische Landschaft“ Humboldt seinerseits widmete. Genauer kommen wir im folgenden Abschnitt auf Humboldts geistesgeschichtliche Beziehungen zu Goethe zurück.
Hier müssen wir noch kurz dieses uns mit dem Titel wissenschaftlichen Vermächtnisses beschäftigen. Humboldts Die „Ansichten“ und der „Kosmos“ charakterisieren das „Naturgemälde“ einer ganzen Epoche des abendländischen Geisteslebens, nämlich der Klassik, welche man vielleicht am besten als die geistesgeschichtliche Synthese der Antithesen Aufklärung und Romantik definieren kann und welche in der Geistesgeschichte des Abendlandes wohl dieselbe Stellung einnimmt wie die Hochantike im Altertum, jedenfalls die bisher großartigste des Abendlandes gewesen ist. Aber die „Ideen zur Geographie der Pflanzen“ sprengen diesen geistesgeschichtlichen Rahmen. Durch sie ist von Humboldt eine ganz neue moderne Wissenschaft begründet worden, eben die Biogeographie, welche fortan von den Epochen unabhängig als solche durch die Zeiten geht, natürlich nicht ohne in jeder neuen Epoche ein neues epocheneigenes Gesicht zu offenbaren. So trägt auch Humboldts „Geographie der Pflanzen“ natürlich das Gesicht der eigenen Epoche, d. h. sie ist mehr als das, was seitdem als Pflanzengeographie durch die Geschichte der Wissenschaften geht. Dieses Mehr kommt sehr gut in dem Zusatz von Humboldts Titel zum Ausdruck, eben in den Worten „nebst einem Naturgemälde der Tropenländer“, welches ganz und gar das „Naturgemälde“ der Goethezeit ist. Humboldt selbst ist sich über dieses „Mehr“ seines Werkes über alle bloße Pflanzengeographie hinaus vollkommen klar gewesen, sagt er doch selbst in seinem Buche, nachdem er die Probleme dieser neuen Wissenschaft geschildert hatte: „Alle diese Verhältnisse sind unstreitig für sich selten hinlänglich, um den weiten Umfang der Disziplin zu schildern, welche wir mit dem nicht ganz passenden Namen einer Pflanzengeographie b e l eg en“. (Von mir gesperrt, M-A.). „Aber der Mensch, der Gefühl für die Schönheit der Natur hat, freut sidt, darin zugleidr auch die Lösung mandter moralischen und ästhetischen Probleme zu finden. Weidien Einfluß hat die Verteilung der Pflanzen auf dem Erdboden und der Anblid^ derselben auf die Phantasie und den Kunstsinn der Völker gehabt? Worin besteht der Charakter der Vegetation dieses oder jenes Landes? Wodurch wird der Eindrud^ heiterer oder ernsterer Stimmung modifiziert, welche die Pflanzenwelt in dem Beobad'iter erregt? Diese Untersuchungen sind um so interessanter, als sie unmittelbar mit den geheimnisvollen Mitteln Zusammenhängen, durch welche Landsdtaftsmalerei und zum Teil selbst beschreibende Dichtkunst ihre Wirkung hervorbringen. — Die Natur im großen betraditet, der Anblick von Fluren und Waldung, gewährt einen Genuß, welcher wesentlidi von dem versdtieden ist, weldren die Zergliederung eines organischen Körpers und das Studium seiner bewundernswürdigsten Struktur erzeugt. Hier reizt das einzelne die Wißbegierde, dort wirken Massen auf die Phantasie. Wie andere Gefühle erweckt das frische Grün der Wiesen und der dunkle Schatten der Tannen! Wie andere die Wälder der gemäßigten Zone und die der Tropenländer, in weld^en die schlanken Stämme der Palmen hoch über dem did^belaubten Gipfel der Hymenäen gleidisam einen Säulengang bilden! Ist die Versdtiedenheit dieser Gefühle in der Natur und Größe der Massen, in der absoluten Schönheit oder in dem Kontrast und der Gruppierung der Pflanzenformen gegründet? Worin liegt der malerische Vorzug der Tropenvegetation? Weldie physiognomischen Llntersdtiede beobadrtet man zwischen den afrikanischen Gewädtsen und denen von Südamerika, zwisdren den Alpenpflanzen der Andeskette und denen der Pyrenäen oder der Gebirge von Habesdt? — Unter der fast zahllose Menge von Vegetabilien, weldre die Erde beded^en, erkennt man bei aufmerksamer Beobaditung einige wenige Grundgestalten, auf weldie man wahrscheinlich alle übrigen zurückführen kann und weldie ebensoviele Familien oder Gruppen bilden.“ Hier tritt die Geistesverwandtschaft der Pflanzengeographie Humboldts mit der allgemeinen Morphologie Goethes wieder springend deutlich hervor. Auf die siebzehn physiognomischen Grundgestalten, die Humboldt hier als „Klassen oder Gruppen" seines „natürlichen Systems" der Vegetationsformen des Pflanzenreiches unters heidet, kommen wir im nächsten Paragraphen noch eingehend zurück. Hier galt es nur deutlich zu machen, daß Humboldt unter Pflanzengeographie wesentlich mehr und Größeres versteht, als was heute gewöhnlich so genannt wird. Es hat das schon mehr Verwandtschaft mit dem, was wir in der modernen Ökologie als Synökologie der Organismen bezeichnen, geht aber auch darüber noch ganz wesentlich hinaus. Denn auch in der Ökologie wird man heute vergeblich Betrachtungen über die moralischen und ästhetischen Wirkungen der Pflanzenwelt suchen, die ebenso bei Humboldt wie bei Goethe einen so breiten Raum in allen ihren naturwissenschaftlichen Studien einnehmen. Man denkt dabei bei Goethe besonders an die Farbenlehre, aber auch die „Metamorphose der Pflanzen" darf hier nicht übersehen werden, wie es auch bestimmt kein Zufall gewesen ist, daß Humboldt Thorwaldsen auf dem Dedikationsblatt der „Ideen zur Pflanzengeographie“ auch Buch und Titel der „Metamorphose der Pflanzen“ hat anbringen lassen. Alles hier über die „Ansichten der Natur“ und die „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ Gesagte kulminiert letzten Endes im „K o s-m o s“. Über die Absichten, die Humboldt von Anfang mit diesem seinem Hauptwerk verwirklichen wollte, unterrichtet uns nichts besser als sein Brief von 24. Oktober 1834 an seinen besten literarischen Freund Varnhagen von Ense. Nachdem er schon einmal — gute fünf Jahre früher — denselben Varnhagen um Rat über den Titel dieses Werkes gefragt hatte, schreibt er ihm dieses Mal: „Ich fange den Druck meines Werkes (des Werks meines Lebens) an. Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt, alles was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebensternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in Einem Werke darzustellen, und in einem Werke, das zugleich in lebendiger Sprache anregt und das Gemüth ergötzt. Jede große und widttige Idee, die irgendwo aufglimmt, muß neben den Thatsadten hier verzeichnet sein. Es muß eine Epoche der geistigen Entwicklung der Menschheit (in ihrem Wissen von der Natur) darstellen. Die Prolegomena sind meist fertig, der ganz neu umgearbeitete, von mir frei gehaltene, aber an demselben Tage diktierte Discours d'ouverture, das Naturgemählde, die Anregungsmittel zum Naturstudium im Geiste unserer Zeit . . Geschichte der physischen Weltbeschreibung, wie die Idee der Welt, des Zusammenhangs aller Erscheinungen, den Völkern durch den Verlauf der Jahrhunderte klar geworden ist. Diese Prolegomena sind die Hauptsache, und enthalten den generellen Theil, ihm folgt der spezielle, die Einzelnheiten, geordnet, . . . Da diese Einzelnheiten nicht derselben litterarischen Darstellung fähig sind, als die allgemeinen Kombinationen des Natur-wissens, so wird das nur Faktische nur in kurzen Sätzen fast tabellarisch geordnet. . . . Die Formähnlichkeit (litterarische Übereinstimmung) mit dem allgemeinen Theile wird vermittelt durch kleine Einleitungen . zu jedem speziellen Kapitel . . . — Ich habe gewünscht, daß Sie, hochverehrter Freund, einen deutlichen Begriff von meinem Unternehmen durch mich selbst erhalten möchten. Es ist mir nicht geglüdtt, das Ganze in einem Band zusammenzudrängen, und doch würde es in dieser Kürze den großartigsten Eindrudt hinterlassen haben. Idi hoffe, daß zwei Bände das Ganze fassen. Keine Note unter dem Texte, aber hinter den Kapiteln Noten, weldie ganz ungelesen bleiben können, die aber solide Erudition und mehr Einzelheiten enthalten. Das Ganze ist nicht, was man gemeinhin physikalische Erdbeschreibung nennt, es begreift Himmel und Erde, alles Gesdiaffene. Ich hatte vor 15 Jahren angefangen, es französisdt zu sdireiben, und nannte es Essai sur la Physique du Monde. In Deutsdiland wollte ich es anfangs das Buch der Natur nennen, wie man dergleidien im Mittelalter von Albertus Magnus hat. Das ist alles aber unbestimmt. Jetzt ist mein Titel: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung von A. v. H. Nadi erweiterten Umrissen seiner Vorlesungen in den Jahren 1827 und 1828. Bei Cotta. . . Idi weiß, daß Kosmos sehr vornehm ist und nicht ohne eine gewisse Affeterie, aber der Titel sagt mit einem Schlagworte Himmel und Erde . . . Mein Bruder ist audt für den Titel Kosmos, ich habe lange geschwankt.“ Dieses Zitat ist deshalb mit Absicht ausführlich gegeben, weil es uns einen vortrefflichen Einblick in Humboldts literarische Diktion gibt, in die auch in der Darstellung klare Scheidung des Idee-ologischen vom rein Tatsächlichen und dabei doch die vollbewußte Abhängigkeit und Aufeinanderbezogenheit des einen Momentes zum anderen. Diese Kunst der sauberen Komposition auch eines wissenschaftlichen Werkes, welche den Autoren der Goethezeit eine Selbstverständlichkeit war, stellt ohne Frage auch für unsere Zeit noch ein Ideal dar, welches der Nacheiferung würdig ist.
So stellt der Kosmos in der Tat die letzte große und vollauf gelungene Synthese des gesamten Lebenswerkes von Alexander von Humboldt dar. Die Reise und die Materialien des gesamten Reisewerkes, die „Ansichten der Natur“ und die „Ideen zur Pflanzengeographie“, dazu die zahllosen anderen Schriften und Abhandlungen, von ihnen allen findet sich der wertvolle Niederschlag, d. h. alles was einer „Philosophie der Erde" dienlich war, im Kosmos zu großartiger Schau vereint beisammen. Damit hat das Zeitalter der Klassik in der Naturwissenschaft, die Physik von Galilei und Newton, von Ritter und Oerstedt bis Helmholtz sowie die Biologie von Linne und Haller, von Cuvier, Joh. Müller und K. E. von Baer, die geistesgeschichtliche Synthese also von Aufklärung und Romantik, gegen ihr Ende hin — wie das immer so zu geschehen pflegt — ihre gewaltigste und zugleich in literarischer Hinsicht vollkommenste Synthese gefunden. Mit Humboldt ist die sog. Neuzeit oder Moderne zu Ende. Mit der Entwicklungslehre — Darwins Hauptwerk erschien im Todesjahr Humboldts! — und noch ausgesprochener mit der Genetik Mendels in der Biologie sowie mit der Quantenphysik unseres Jahrhunderts beginnt eine vollkommen neue Naturwissenschaft, nicht minder revolutionär als die in der Renaissance entstandene moderne Physik Galileis und Newtons. Es ist gewiß kein Zufall, daß die mikrobiologische Genetik und die mikrophysikalische Atomistik beide diskontinuierlich in „Quanten“ denken, die Genetik in Genquanten und die Mikrophysik in Energiequanten. So leitet um die Jahrhundertwende die sich in Humboldts „Kosmos“ vollendende Neuzeit in unsere eben beginnende noch namenlose Neueste Zeit hinüber.
Weist Humboldts Naturwissenschaft in unsere Zeit?
Alles was in der Geistesgeschichte des Abendlandes einmal groß gewesen ist und den geistigen Charakter einer Epoche oder einer Wissen-
schaftsgruppe in ihr geprägt hat, schafft damit zugleich eine Tradition, welche auch alle späteren Epochen manchmal nur mittönend manchmal aber auch wieder tonangebend beherrscht. Wie läßt sich nun die geistes-
geschichtliche Gestalt der Naturwissenschaft Humboldts so bestimmen, daß man sie jederzeit als lebendige Tradition wiedererkennen kann? Jede geistesgeschichtliche Epoche stellt eine echte historische Ganzheit aus den Traditionen der vergangenen Epochen und ihrer eigenen historischen Originalität dar, aber es liegt auf der Hand, daß das nicht in mechanistischer Weise dahin mißverstanden werden darf, als ob die Traditionen einer Epoche die Komponenten und ihre Originalität nur die summarische Resultante wie in einem Parallelogramm der Kräfte seien. Dergleichen kann es im Lebendigen nie geben, wo immer alles aktiv sich behauptende Ganzheit ist und wo es deshalb das Ganze ist, das sich nach seinem Ebenmaß seine Komponenten bestimmt und nicht umgekehrt. In unserem Falle bedeutet das aber, daß die Traditionen der Ge-
schichte einem Gestaltwechsel unterliegen und sich je nach der Originalität der Epoche, die sie mitbestimmen helfen, so oder anders offenbaren. Wir wissen ziemlich genau, was Platonismus ist, aber er bekundet trotzdem in der Epoche ein neues und eigenes Gesicht, weshalb wir ja auch, solange wir selber schöpferisch sind, das uns von den Vätern Vererbte immer uns erst wieder neu erwerben müssen, wenn wir es wirklich besitzen wollen. Wie sieht uns nun in diesem Lichte heute das Erbe Humboldts aus? Es gibt also keinen Platonismus an sich, der als unveränderlich seitdem durch die Geschichte gegangen ist, vielmehr muß jede Epoche und Generation sich den eigenen Platonismus immer erneut bestimmen, und der Platonismus schlechthin als solcher ist identisch mit der Geschichte seiner eigenen wechselnden Traditionen, seines Nachlebens also. Dasselbe gilt wie von jeder anderen großen historischen Gestalt auch von der Naturwissenschaft Humboldts. Wir stehen also nun vor dem Versuch, ihre für uns bestimmende historische Gestalt, ihre für uns lebendige Tradition also, zu definieren.
Das läßt sich vollauf zufriedenstellend in folgender Formel machen: Humboldt ist der Vollender der Naturwissenschaft der Goethezeit und hat sie damit für uns zugleich überwunden, d. h. wir erfahren durch ihn, was die Naturwissenschaft uns heute noch sein kann und was sie uns nicht mehr sein kann. So hilft sie uns dazu, die eigene Originalität unserer eigenen Epoche klar zu erkennen und gliedert sich damit zugleich als eine ihrer lebendigsten Traditionen in sie ein. Wie spiegelt sich nun die Goethesche Naturwissenschaft im Werke Humboldts, das haben wir zunächst zu fragen, und alsdann: Worin weist Humboldts Naturwissenschaft über sie hinaus und in unsere eigene Epoche hinüber?
Wir haben immer wieder erfahren, daß es der „kosmische" Gedanke einer Philosophie der Erde gewesen ist, der Humboldt die Idee seiner großen amerikanischen Reise eingegeben hat, deren Sinn und Ziel es folglich sein sollte, in umfassendster Weise in einer dafür kongenialen tropischen Natur alle Erfahrungsmaterialien zu sammeln, die zu einem so großartigen Naturgemälde notwendig waren. Diese „Ansichten der Natur', die Humboldt suchte, waren aber genau die gleichen „Natureinsichten ", die er von Goethe erfahren hatte. Er selbst berichtet darüber während der amerikanischen Reise: „In den Wäldern des Awazonenflusses wie auf dem Rücken der hohen Anden erkannte ich, wie von einem Hauch beseelt von Pol zu Pol nur Ein Leben ausgegossen ist in Steinen, Pflanzen und Tieren und in des Menschen schwellender Brust. Überall ward ich von dem Gefühl durchdrungen, wie mächtig jene Verhältnisse von ]ena auf mich gewirkt, wie ich durch Goethes Natureinsichten gehoben, gleichsam mit neuen Organen ausgerüstet worden war. Was hat er nun genau mit diesen „Natureinsichten Goethes" gemeint, welche ihn „gleichsam mit neuen Organen" der Erkenntnis „ausgerüstet" haben? Darüber werden wir von Goethe selbst auf das eingehendste unterrichtet. In den für seine geistige Reisevorbereitung entscheidenden letzten Jahren war Humboldt, wie wir oben schon erfahren haben, bevor er zum gleichen Zweck nach Paris ging, wiederholt mit seinem Bruder Wilhelm und allein in Jena und Weimar im Kreise Goethes sowie der romantischen Naturforscher um Schelling. Goethe hat darüber in den Jahren 1794— 97 in seinen „Tages-und Jahresheften" und Briefen wie auch in den Nachträgen zur „Osteologie“ wiederholt berichtet. Da nun in allen diesen Bemerkungen immer von demselben Hauptthema der Naturforschung Goethes die Rede ist, so ist die Annahme unabweisbar, daß es eben diese „Naturansicht Goethes" gewesen ist, welche Humboldts Erkenntnisart entscheidend bestimmt hat. In Goethes „Tages-und Jahresheften" heißt es im Jahre 1794: „Alexander von Humboldt, längst erwartet, von Bayreuth ankommend, nöthigte uns ins Allgemeinere der Naturwissenschaft. Sein älterer Bruder, gleichfalls in Jena gegenwärtig, ein klares Interesse nach allen Seiten hin richtend, theilte Streben, Forschen und Unterridtt.“ Was den Gegenstand ihrer Gespräche gebildet hat, wird in der aus dem folgenden Jahre stammenden Notiz vollkommen deutlich: „Zur Naturbetraduung zurückgeführt ward ich, als gegen das Ende des Jahres die beiden Gebrüder von Humboldt in Jena erschienen. Sie nahmen beiderseits in diesem Augenblid^i an Naturwissenschaften großen Antheil, und ich konnte midt nicht enthalten, meine Ideen über vergleichende Anatomie und deren methodisdie Behandlung im Gesprädi mitzutheilen. Da man meine Darstellungen zusammenhängend und ziemlich vollständig eradttete, ward ich dringend aufgefordert, sie zu Papier zu bringen, weldtes idt auch sogleich befolgte, indem ich an Max Jacobi das Grundsd^ema einer vergleichenden Knochenlehre, gegenwärtig wie es mir war, dictirte, den Freunden Genüge that, und mir selbst einen Anhaltepunkt gewann, woran ich meine weiteren Betrachtungen knüpfen konnte." Nahezu mit denselben Worten gedenkt Goethe auch in den „Nachträgen zur Osteologie“ dieser entscheidenden Begegnung mit Humboldt: „Ich trug die Angelegenheit meines Typus so oft und zudringlich vor, daß man,, beinahe ungeduldig, zuletzt verlangte, idt solle das in Schriften verfassen, was mir im Geiste, Sinn und Gedächtnis so lebendig vorschwebte." Das alles waren weder bei Goethe noch bei Humboldt vorübergehende Zusammenstimmungen sondern lebensentscheidende Eindrücke, die ihre Gemeinschaft auf dem Felde der Naturforschung und Naturphilosophie definitiv geprägt haben. Zwei Jahre später, 1797, kommt Goethe noch einmal auf diese Tage mit Humboldt zurück: „Die Gebrüder von Humboldt waren gegenwärtig, und alles der Natur Angehörige kam philosophisch und wissenschaftlich zur Sprache. Mein osteologisdier Typus von 1795 gab nun Veranlassung, die öffentliche Sammlung sowie meine eigene rationeller zu betrachten und zu benutzen. Ich schematisierte die Metamorphose der Insekten, die ich seit mehrern Jahren nidtt aus den Augen ließ. Die Krause'schen Zeichnungen der Harzfelsen gaben Anlaß zu geologischen Betrachtungen. Galvanische Versuche werden durch Humboldt angestellt". Nach einem erneuten Besuche Humboldts in Weimar schrieb Goethe darüber — unter dem 26. April 1797 — an Schiller: „Mit Humboldt habe ich die Zeit sehr angenehm und nützlich zugebracht; meine naturhistorischen Arbeiten sind durdt seine Gegenwart aus ihrem Winterschlaf gewerkt worden".
Damit sind wir in die Lage versetzt, sehr genau den Punkt zu bezeichnen, von welchem die zugleich naturwissenschaftliche und natur-philosophische Arbeitsgemeinschaft von Humboldt mit Goethe ausgegangen ist, die so tief und nachhaltig im Geiste Humboldts verankert war, daß die erste große Frucht seiner Reise, sein persönlichstes und wichtigstes naturwissenschaftliches Werk, die „Ideen zur Geographie der Pflanzen" aus dem Jahre 1805 und 1807 geradezu als eine unmittelbare Fortsetzung von Goethes morphologischen Hauptwerken, dem „Ersten Entwurf einer allgemeinen Einleitung in die vergleichende Anatomie, ausgehend von der Osteologie“ aus dem Jahre 1795 und der berühmten „Metamorphose der Pflanzen“ aus dem Jahre 1790 erscheinen. Wir haben mit Absicht hier die Allgemeine Einleitung in die vergleichende Anatomie zuerst genannt, weil wir sie für Goethes morphologisch-biolo-gisches Hauptwerk halten, welches die allgemeinen Grundsätze des biologischen Denkens von Goethe viel deutlicher herausarbeitet und schärfer bestimme als die um fünf Jahre ältere, dem allgemeinen Publikum vertrautere „Metamorphose der Pflanzen.“ Es ist auch diese Arbeit Goethes gewesen, die für seine Morphologie Schule gemacht hat. Alle die in der Nachfolge der Naturwissenschaft Goethes stehen, nicht nur Humboldt sondern auch C. G. Carus, Lorenz Oken, K. E. von Baer und viele andre bis zum heutigen Biologen wie dem Zoologen Naef und dem Botaniker Wilhelm Troll, sind von den Prinzipien dieser Schrift am stärksten beeinflußt worden. Das gilt ganz besonders für Humboldt; denn wie die eben gegebenen Zitate aus Goethes Tagebüchern zeigen, haben die Unterhaltungen, die er in den Jahren 1795— 97 verschiedentlich mit Humboldt geführt hat, Goethe den Anlaß gegeben, eben diese „Einleitung in die vergl. Anatomie“ in eben dem Jahre 1795 erstmalig niederzuschreiben.
Welches sind nun die entscheidenden Prinzipien dieses Werkes, die Humboldt und alle anderen Morphologen Goethescher Prägung hier so entschieden beeindruckt haben?
Diese Prinzipien ermöglichen uns, die einmal in ihrer Organisation und zum anderen in ihrer Lebensweise verschiedenen Organismen sinnvoll miteinander vergleichen zu können. Alle Morphologie ist vergleichende Wissenschaft, die vergleichende Anatomie ebenso wie die vergleichende Embryologie, und sogar auch die vergleichende Physiologie gehört. In diesem Gesamtbereich der im Goetheschen Sinne vergleichenden Morphologie, die man deshalb auch typologische Biologie oder „idealistische Morphologie“ (Naef) genannt hat. Die hier einbezogene vergleichende Physiologie gehört nämlich nicht zum Erkenntnistypus der modernen kausalen Physiologie.
Wenn man aber Formen oder, wie im Falle der vergleichenden Physiologie, Funktionen miteinander vergleichen will, braucht man dazu einen Maßstab, der angibt, was sinnvoll miteinander verglichen werden kann. Dieser Maßstab ist der Typus, der sich philosophisch aus der Idee Platons herleitet, weshalb eben Naef diese ganze Art der Naturforschung sehr treffend als „idealilistische Morphologie“ bezeichnet hat.
Als solche Typen haben wir nun zwei grundsätzlich verschiedene zu un-
terscheiden: Typen der Organisation oder des Bauplans und Typen der umweltbezogenen Lebensweise oder des Funktionsplans der Organismen.
Bauplanentsprechungen hei Organismen, die verschiedenen Gruppen des natürlichen Systems der Organismen angehören, nennen wir homolog, Funktionsplanentsprechungen hingegen analog. In diesem Sinne sind innerhalb des Gesamttypus der Wirbeltiere das Haar der Säugetiere, die Feder der Vögel, die Schuppen der Fische und Reptilien homologe Organe, hingegen sind die Kiemen der Fische und die Lungen der Landwirbeltiere nur analoge Organe, da sie sich nur in ihrer Funktion, nicht aber in ihrem Bau entsprechen. Diese scharfe Unterscheidung zwischen Homologie und Analogie ist erst durch Owen (1848) erfolgt.
Goethe sprach noch ebenso wie sein französischer Zeit-und Gesinnungsgenosse Etienne Geoffrey de St. Hilaire mit Bezug auf beide typologische Grundbeziehungen nur von „Analogien“, ein Prinzip, das schon Aristoteles im ersten Buch seiner „Tiergeschichte" definiert hatte.
Wie wir noch sehen werden, waren sowohl für Goethe wie für Humboldt die späteren Analogien, also die Lebensformtypen wichtiger als die Homologien, die nur für das sog. „Natürliche System der Organismen“ die typologisch entscheidenden Beziehungen bilden. Zu diesen typologischen Grundbegriffen Goethes gehört nun natürlich auch das Prinzip der Metamorphose, wie es in der „Metamorphose der Pflanzen" eine so glänzende Anwendung und Darstellung gefunden hat.
In der uns hier besonders angehenden „Einleitung in die vergleichende Anatomie" ist neben dem Typusbegriff vor allem das später von Haecker so genannte Kompensationsprinzip, das Goethe begründet und das auch die gesamte Pflanzengeographie von Humboldt wie ein roter Leitfaden durchzieht. Wir wollen diese beiden Prinzipien hier mit Goethes eigenen Worten wiedergeben, weil sie so vermutlich das genaueste Ergebnis der mit Humboldt gepflogenen Gespräche sind. Zuvor jedoch eines von vielen Zitaten, welche den philosophischen Ursprung der typologischen Morphologie Goethes aus dem Geiste der Ideenlehre Platons dartun: „Um sid aus der grenzenlosen Vielfadiheit, Zerstüd^elung und Verwiddung der modernen Naturlehre (gemeint ist die analytische elementaristisch-kausal denkende moderne Anatomie, M-A.) wieder ins Einfache zu retten, muß sich immer die Frage vorlegen: wie würde sich Plato gegen die Natur, wie sie uns jetzt in ihrer größeren Mannigfaltigkeit, bei aller gründlidten Einheit, erscheinen mag, benommen haben?" Goethes Typen sind aber keine statisch-unveränderlichen Typen wie die Ideen Platons, sondern „dynamisch“, richtiger kinetisch wirksame Prinzipe wie die Entelechien, in welche Platons größter Schüler Aristoteles die Ideen umgeformt hat: „Die Griedten nannten Enteledteia ein Wesen, das immer in Funktion ist“, treffender kann man unmöglich die Metamorphose der Idee Platons in die Entelechie des Aristoteles schildern, als Goethe das mit diesen Worten getan hat. Ebenso wenig läßt sich der Begriff des Typus, soweit man kategoriale Prinzipien dieses logischen Ranges überhaupt noch definieren kann, definitorisch besser verdeutlichen, als es Goethe in den obigen Worten getan hat. „Einheit in der Mannigfaltigkeit“ zu sein, das ist gleichermaßen die Erkenntnisfunktion der echten Typen wie sie diejenige der Ideen Platons gewesen ist. Das morphologische Grundprinzip des Typus entwickelt Goethe nun in folgenden Sätzen: „Naturgeschichte beruht überhaupt auf Vergleichung. Äußere Kennzeichen sind bedeutend, aber nidit hinreidtend, um organisdie Körper gehörig zu sondern und wieder zusammenzustellen. — Anatomie leistet am organisierten Wesen, was Chemie am unorganisierten. — ... Die Hindernisse, weldte der vergleidtenden Anatomie bisher im Wege standen, sind mannigfaltig. Sie hat keine Grenzen, und jede bloß empirisdte Behandlung müdet sich ab in dem weiten Umfang. — Die Beobaditungen blieben einzeln, wie sie gemacht wurden, stehen. Man konnte sidt über Terminologie nidit vereinigen. ... — Niemand glaubte an einen Vereinigungspunkt, an den man die Gegenstände hätte ansdiließen können, oder einen Gesiditspunkt, aus dem man sie anzusehen hätte. ... Deshalb gesdiieht hier ein Vorsdilag zu einem anatomisdten Typus, zu einem allgemeinen Bilde, worin die Gestalten sämtlidter Tiere, der Möglichkeit nadt, enthalten wären, und wonach man jedes Tier in einer gewissen Ordnung besdiriebe. Dieser Typus müßte soviel wie möglidi in physiologisdier Rüdtsidit aufgestellt sein. Sdton aus der allgemeinen Idee eines Typus folgt, daß kein einzelnes Tier als ein soldier Vergleidtungskanon aufgestellt werden könne; kein Einzelnes kann Muster des Ganzen sein. — . . . Die Erfahrung muß vorerst die Teile lehren, die allen Tieren gemein sind, und worin diese Teile versdiieden sind. Die Idee muß über dem Ganzen walten und auf eine genetische Weise das allgemeine Bild abziehen. Ist ein soldter Typus audt nur zum Versudi aufgestellt, so können wir die bisher gebräudtlidren Vergleidiungsarten zur Prüfung desselben sehr wohl benutzen. (Unterstreichungen vom Verfasser: M-A.). Damit ist der Begriff des Typus im Rahmen der Goetheschen Morphologie klar definiert. Hören wir nun, wie Goethe das zweite wesentliche Grundprinzip seiner vergleichenden Morphologie, -das Kompensationsprinzip, herleitet: „Betraditen wir nadt jenem, erst im allgemeinsten aufgestellten Typus die versdiiedenen Teile der vollkommensten, die wir Säugetiere nennen, so finden wir, daß der Bildungskreis der Natur zwar eingeschränkt ist, dabei jedodt, wegen der Menge der Teile und wegen der vielfadten Modifikabilität, die Veränderungen der Gestalt ins Unendliche möglidi werden. — Wenn wir die Teile genau kennen und betraditen, so werden wir finden, daß die Mannigfaltigkeit der Gestalt daher entspringt, daß diesem oder jenem Teil ein Übergewicht über die andern zu -gestanden ist. — So sind, zum Beispiel, Hals und Extremitäten auf Kosten des Körpers bei der Giraffe begünstigt, dahingegen beim Maulwurf das Umgekehrte stattfindet. — Bei dieser Betrachtung tritt uns nun gleich das Gesetz entgegen: daß keinem Teil etwas z u g e l e g t werden könne, ohne daß einem andern dagegen etwas ab g e z o-gen werde, und umgekehrt. — Hier sind die Schranken der tierischen Natur, in welchen sidt die bildende Kraft auf die wunderbarste und beinahe auf die willkürlidtste Weise zu bewegen scheint, ohne daß sie im mindesten fähig wäre, den Kreis zu durdibredien oder ihn zu überspringen. Der Bildungstrieb ist hier in einem zwar beschränkten, aber doch wohl eingerichteten Reiche zum Beherrscher gesetzt. Die Rubsken seines Etats, in weldie sein Aufwand zu verteilen ist, sind ihm vorgeschrieben, was er auf jedes wenden will, steht ihm, bis auf einen gewissen Grad, frei. Will er der einen mehr zuwenden, so ist er nicht ganz gehindert, allein er ist genötigt, an einer andern sogleich etwas fehlen zu lassen; und so kann die Natur sich niemals verschulden oder wohl gar bankrott werden. — Wir wollen versuchen, uns durch das Labyrinth der tierischen Bildung an diesem Leitfaden durchzuhelfen, und wir werden künftig finden, dafl er auch bis zu den formlosesten organischen Naturen hinabreicht. Wir wollen ihn an der Form prüfen, um ihn nachher auch bei den Kräften brauchen zu können. — Wir denken uns also das abgeschlossene Tier als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst, und weil alle seine Teile in der unmittelbarsten Wechselrichtung stehen, ein Verhältnis gegeneinander haben und dadurch den Kreis des Lebens immer erneuern, so ist auch jedes Tier als physiologisch vollkommen anzusehen. Kein Teil desselben ist, von innen betrachtet, unnütz, oder wie man sich manchmal vorstellt, durch den Bildungstrieb gleichsam willkürlich hervorgebracht; obgleich Teile nach auflen zu unnütz erscheinen können, weil der innere Zusammenhang der tierischen Natur sie so gestaltete, ohne sich um die äußeren Verhältnisse zu bekümmern. Man wird also künftig von solchen Gliedern, wie zum Beispiel von den Eckzähnen des Sus babirussa, nicht fragen, wozu dienen sie? sondern, woher entspringen sie? Man wird nicht behaupten, einem Stier seien die Hörner gegeben, daß er stoße, sondern man wird untersuchen, wie er Hörner haben könne um zu stoßen. ]enen allgemeinen Typus, den wir nun freilich erst konstruieren und in seinen Teilen erst erforschen wollen, werden wir im ganzen unveränderlich finden, werden die höchste Klasse der Tiere, die Säugetiere selbst, unter den verschiedensten Gestalten in ihren Teilen höchst übereinstimmend untre f f e n“. (Alle Sperrungen von mir, M-A.). Diesen „Allgemeinen Typus“ der Tiere und aller Organismen überhaupt kann man nun einmal unabhängig von den besonderen Umwelten, in die er naturgemäß eingepaßt sein muß, um existieren zu können, betrachten, dann ist man nur an den Homologien der umweltverschiedenen Organismen des gleichen „allgemeinen Typus“ interessiert, oder aber man interessiert sich gerade für die besondere Art der Umweltanpassungen, die der gleiche „allgemeine Typus“ in seinen besonderen Arten vollziehen muß, dann studiert man die Analogien der Typen. Das Studium der Homologien der Typen führt zur Aufstellung des taxonomischen sog. „Natürlichen Systems“ der Organismen, während das Studium der Umwelteinpassungen der Organisationstypen zu den verschiedenartigen Systemen der sog. Biotopen der Organismen, ökologischen „natürlichen Systemen“ also führt. Goethe hat sich in erster Linie für diese Umwelt-Analogien der „allgemeinen Typen“ interessiert, und Humboldts „Geographie der Pflanzen“ ist gleichfalls auf jene ökologischen Analogien gerichtet, durch welche sich die verschiedenen Florengebiete auszeichnen. Wir sprechen sogleich davon, wollen aber zuvor noch in einigen Goethezitaten am Beispiel illustrieren, wie sich Goethe und Humboldt in ihren Jena-Weimarer Gesprächen diese typologischen Prinzipien erarbeitet haben. Im oben zitierten Paragraphen fährt Goethe etwas weiter unten folgendermaßen fort: „Zuerst wäre aber der Typus in der Rüd^sicht zu betrachten, wie die verschiedenen elementaren Naturkräfte auf ihn wirken und wie er den allgemeinen äußeren Gesetzen, bis auf einen gewissen Grad, sich gleichfalls fügen muß. — Das Wasser schwellt die Körper, die es umgibt, berührt, in die es mehr oder weniger hineindringt, entschieden auf. So wird der Rumpf des Fisches, besonders das Fleisch desselben aufgeschwellt, nach den Gesetzen des Elements. Nun muß nach den Gesetzen des organischen Typus auf diese AufSchwellung des Rumpfes das Zusammenziehen der Extremitäten oder Flilfsorgane folgen, ohne was noch weiter für Bestimmungen der übrigen Organe daraus entstehen, die sich später zeigen werden. — Die Luft, indem sie das Wasser in sich aufnimmt, trocknet aus. Der Typus also, der sich in der Luft entwickelt, wird, je reiner, je weniger feucht sie ist, desto trockener inwendig werden, und es wird ein mehr oder weniger magerer Vogel entstehen, dessen Fleisch und Knochen' rippe reichlich zu bekleiden, dessen Hilfsorgane hinlänglich zu versorgen für die bildende Kraft noch Stoff genug übrig bleibt. Was bei dem Fisch auf das Fleisch gewandt wird, bleibt hier für die Federn übrig. So bildet sich der Adler durch Luft zur Luft, durch die Berghöhe zur Berghöhe. Der Schwan, die Ente, als eine Art von Amphibien, verraten ihre Neigung zum Wasser schon durch ihre Gestalt. Wie wundersam den Storch, den Strandläufer, die Nähe zum Wasser und seine Neigung zur Luft bezeichnen, ist anhaltender Betrachtung wert. — So wird man die Wirkung des Klimas, der Berghöhe, der Wärme und Kälte, nebst den Wirkungen des Wassers und der gemeinen Luft, auch zur Bildung der Säugetiere sehr mächtig finden. Wärme und Feuchtigkeit schwellt auf und bringt selbst innerhalb der Grenzen des Typus unerklärlich scheinende Ungeheuer hervor, indessen Hitze und Trockenheit die vollkommendsten und aus-gebildetsten Geschöpfe, so sehr sie auch der Natur und Gestalt nach dem Menschen entgegen stehen, zum Beispiel den Löwen und Tiger, hervorbringen, und so ist das heiße Klima allein imstande selbst der unvollkommenen Organisation — (der Mensch bildete für Goethe Gipfel und oberster Maßstab der tierischen Organisation: M-A.) — etwas Menschenähnliches zu erteilen, wie zum Beispiel im Affen und Papageien geschieht“. — Diese letzten Worte Goethes über den hohen Wert der tropischen Zonen für jegliche Art von Naturforschung waren Humboldt ganz besonders aus der Seele gesprochen, ist doch für ihn, wie wir schon wiederholt erfahren haben und sogleich noch einmal hören werden, die Natur der Tropen der allerhöchste Maßstab für eine objektive naturwissenschaftliche Beurteilung aller übrigen Klimazonen, welche gemessen an den Tropen stets Defekte und Einseitigkeiten zeigen.
Wir haben Goethes besondere morphologisch-typologische Art der Naturforschung — das Wort „Morphologie“ hat Goethe bekanntlich selbst geschaffen — hier so ausführlich schildern müssen, einmal, weil Humboldt selbst an der Durcharbeitung dieser Prinzipien sehr aktiv beteiligt gewesen ist, so daß in Humboldt und nur in ihm Goethes Naturforschung ihren höchstmöglichen Gipfel erklimmt, und weil infolgedessen nur so die Eigenart und historische Tradition der von Humboldt begründeten Pflanzengeographie verdeutlicht werden kann, welche sein bleibendes wissenschaftliches Hauptwerk darstellt und zugleich sein am meisten Goethesches. Statt von Morphologie spricht Humboldt jedoch gewöhnlich von „Physiognomie“, einen ursprünglich auf Lavater zurückgehenden Begriff, den Goethe aber ebenfalls in sein ständiges Repertoire morphologischer Grundbegriffe ausgenommen hat. In der Natur bezeichnet das Physiognomische nur eine besondere Art des morphologischen Denkens, das immer dann zur Anwendung kommt, wenn es sich vorzüglich um die Beschreibung der äußeren Erscheinung morphologischer Gestalten handelt, wenn also die Analogien der Typen mehr gemeint sind als ihre Homologien. Das ist ja beim Vergleich klimatisch verschiedener Vegetationszonen fast durchweg der Fall. Homologe, d. h. in unserm Falle identische und somit kosmopolitische Pflanzenarten, spielen beim physiognomischen Vergleich verschiedener Klimazonen so gut wie gar keine Rolle. Hier sind es stets taxonomisch verschiedene Arten, die im natürlichen System oft sehr weit auseinanderstehen, welche in den verschiedenen Klimazonen analoge Pflanzenphysiognomien aufbauen.
Die für Humboldts Pflanzengeographie wichtigsten morphologischen Prinzipien sind gerade die hier behandelten beiden Hauptprinzipien des Typus und der morphologisch-physiognomischen Konpensationen innerhalb der Typen, die zueinander analog sind. Typus, Kompensation und Analogie — bzw. Homologie — kommen überall miteinander vor, wo morphologisch gedacht wird, einerlei ob es sich schon um alte, klassische Wissenschaften, wie die biologischen handelt, die schon von Aristoteles als Morphologien geschaffen sind, oder aber ob es sich um ganz moderne Wissenschaften wie z. B. die Soziologie unseres Jahrhunderts handelt, die ebenfalls als eine typologische Morphologie der „Formen der Vergesellschaftung“ (Tönnies, Simmel) begonnen hat und so beginnen mußte, um überhaupt erst einmal Ordnung und Klassifikation in die verwirrende Fülle ihrer soziologischen „Phänomene“ bringen zu können. So ist alle typologische Morphologie ihrer Natur nach zunächst einmal Phänomenologie. Außerdem sind auch die Begriffe „Metamorphose“ und „Natürliches System" morphologische Grundbegriffe, aber in Humboldts Pflanzengeographie tauchen sie erst am Rande auf und haben ihre wirkliche Durcharbeitung erst in der modernen „Synökologie" gefunden. Hier können wir auf die Erörterung dieser Prinzipien bei Humboldt verzichten.
Sowohl der Typus wie die Kompensation sind echte holistische Prinzipien. Damit ist gemeint, daß diejenigen wirklichen Sachverhalte, auf welche sie bezogen werden dürfen, echte Ganzheiten sein müssen, in genau dem Sinne, in welchem diese von Christian von Ehrenfels definiert worden sind (1890), dem zufolge eine „Ganzheit immer mehr ist als die Summe ihrer Teile". Das trifft bei den Goethe-Humboldtschen Typen vollkommen zu. Nur innerhalb von Ganzheiten können ihre homologen oder analogen „Teile“ — die deshalb besser Glieder genannt werden sollten — so miteinander kompensiert werden, daß gleichwohl „dieselbe“ Ganzheit dabei erhalten bleibt. Außerdem sind Ganzheiten so beschaffen — was aber erst eine neuerdings gesicherte Erkenntnis darstellt (Smuts, Meyer-Abich) —, daß ihre Aufrechterhaltung allein einen beträchtlichen Energieaufwand erfordert, während sie, wenn dieser nach dem Tode nicht mehr disponibel ist, in gewöhnliche physikochemische Gleichgewichte verfallen. Ganzheiten sind also auch „mehr als" solche bloßen Gleichgewichte. Diese sind immer tot, Ganzheiten immer lebendig. Bei Lebewesen darf man daher eigentlich nicht von Gleichgewichten — im Leben ist nie etwas wirklich im Gleichgewicht, sondern stets von seinem Verlust bedroht oder um seine Wiedergewinnung bemüht — sprechen, sondern nur von Harmonien; denn Harmonien müssen, wie in der Musik, ständig neu geschaffen und variiert werden, wenn sie klingend bestehen sollen. Gerade diese Art des „holistischen“ Denkens, wie wir seit Smuts sagen, findet sich bei Humboldt im schönsten Essay seiner Jugendzeit, der ebenfalls nicht zufällig aus der Zeit seiner ersten Begegnung mit dem Goethekreis stammt und in Schillers „Horen“ zuerst erschien, nämlich im „Rhodischen Genius".
Daß Humboldt ihn aber nicht für ein bloßes Produkt seiner Jugendzeit gehalten, sondern sein Leben lang an dieser allgemeinen Naturphilosophie als der Grundlage seiner „Philosophie der Erde“ festgehalten hat, geht deutlich daraus hervor, daß er ihn weder in sein gleich nach der Reise geschriebenes Lieblingsbuch, die „Ansichten der Natur“, ausgenommen und in allen späteren Auflagen beibehalten hat. Hier ist in Form einer Fabel eben jene holistische Naturauffassung geschildert worden, die in dem oben dargelegten Wesensunterschied von Ganzheit und Maschine, von Harmonie und Gleichgewicht oder, wie man damals im Kreise der Romantiker um Schelling und der Klassik von Goethe und Schiller sagte, um den Wesensunterschied von „Organismus und Mechanismus" gipfelt. Genau das hat Humboldt im Geiste, wenn er im „Rhodischen Genius“ die Wesensdifferenz zwischen dem Organismus und dem „Anorgischen“ — wie Schelling sich ausdrückte — mit folgenden Worten beschrieb: „In der toten unorganischen Materie ist träge Ruhe, solange die Bande der 'Verwandtschaft nicht gelöst werden, solange ein dritter Stoff nicht eindringt, uni sich den vorigen beizugesellen. Aber auch auf diese Störung folgt wieder unfruchtbare Ruhe“. So beschreibt Humboldt das, was wir oben das bloße physikochemische Gleichgewicht genannt haben. Dann aber fährt er fort: „Anders ist die Mischung derselben Stoffe int Tier-und Pflanzenkörper. Hier tritt die Lebenskraft gebieterisch in ihre Rechte ein; sie küntmert sich nicht um die deniokritische Freundschaft und Feindschaft der Atonie; sie vereinigt Stoffe, die in der unbelebten Natur sich ewig fliehen, und trennt, was in dieser sich unaufhaltsam sucht“. Man sieht, das ist genau die Lehre, die wir oben beschrieben haben und welche Schelling für die Goethezeit auf die lapidare Formel gebracht hat: „Nicht, wo kein Mechanismus ist, ist Organismus, sondern umgekehrt, wo kein Organismus ist, ist Mechanismus“. Man darf sich nicht daran stoßen, daß Humboldt hier das Wort „Lebenskraft" gebraucht. Humboldt so wenig wie Goethe sind Vitalisten im klassischen Sinne dieser Antithese gewesen. Sie waren von Anfang an Holisten, und im Holismus als seine überlegene Synthese ist diese alte Antithese restlos aufgegangen. „Lebenskraft“ ist dann nur noch ein Wort für solche organismischen Sachverhalte, die einer rein mechanisierten Erklärung nicht mehr bedürfen, da wir für sie eine logisch universalere Theorie bereits besitzen, aus welcher die diesen Sachverhalten inhärenten mechanistischen Apparaturen durch „holistische Simplifikation" (Meyer-Abich) vollkommen befriedigend ableitbar sind. So dachten auch Goethe, Schelling und Humboldt.
Eine überragende wissenschaftliche Leistung: Die Pflanzengeographie
Humboldts alle Epochen überragende wissenschaftliche Schöpfung ist, wie wir festgestellt haben, die Pflanzengeographie. Diese wie die Tier-geographie, also die Biographie überhaupt ist ihrer logischen Erkenntnisstruktur nach eine rein biologische Wissenschaft. Nur deshalb war es Humboldt auch möglich, seine neue Pflanzengeographie restlos in den Erkenntniskreis der Morphologie Goethes einzubeziehen.
Humboldts Todesjahr stellt zugleich den entscheidenden Wendepunkt von der klassischen Biologie der Neuzeit, welche durch die großen Namen Linne und Cuvier charakterisiert ist, zur aktuellen Biologie der Neuesten Zeit dar, welche durch die Evolutionstheorie Darwins und die Genetik Mendels bestimmt ist und eben das erste Jahrhundert seiner Existenz bestanden hat. Diese Wende entspricht zeitlich und geistes-geschichtlich genau der realen Wende in der Geschichte der Physik, deren klassische von Galilei über Newton bis Helmholtz reichende moderne Epoche um die Jahrhundertwende — also der Genetik Mendels genau entsprechend — durch die „Physik des XX. Jahrhunderts“ in revolutionärer Weise abgelöst wurde. Humboldts Biogeographie vollendet sich daher noch innerhalb der klassischen Naturwissenschaft, deren biologischen Gipfel sie genau so darstellt wie die Physik von Helmholtz ihren physikalischen.
Die wesentliche Theorie, welche der heutigen Erklärung der geographischen Vorbereitung der Pflanzen und Tiere über die Oberfläche der Erde zugrundeliegt, ist natürlich die Entwicklungslehre. Humboldt, dessen „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ gut fünfzig Jahre früher erschienen, stand sie noch nicht zur Verfügung. Wohl wetterleuchteten ihre Grundgedanken schon von überall her in die klassische Naturforschung hinein, aber von allen ernsten und großen Natur-forschern der Goethezeit — Goethe selbst keinesfalls ausgenommen — wurden solche Gedanken lediglich als romantische Träumereien höchstens am Rande zur Kenntnis genommen. Cuvier z. B. übersah nachsichtig die entsprechenden Träumereien seines auch von ihm wegen seiner sonstigen „klassischen" Leistungen sehr geschätzten Kollegen Lamarck.
Nicht anders dachte auch Humboldt über solche Spekulationen. Für ihn stellten die Arten der Tiere und Pflanzen konstante Wesenheiten ganz im Sinne Linnes dar, die über eine gewisse Variationsbreite verfügen, ganz wie wir das oben im Zitat über Goethes Typus und seine möglichen Kompensationen erfahren haben. Die Wandlungen der Flora und Fauna bestimmter Erdgebiete konnten dann nur durch Klimawandel, Katastrophen und nachfolgende Neubesiedlungen von nicht betroffenen Nachbarräumen her, ganz im Sinne der von Cuvier ungefähr gleichzeitig mit Humboldt entwickelten Katastrophentheorie erklärt werden. In einem wärmeren Klima hat es im arktischen Spitzbergen z. B. Palmen und andere mindestens subtropische Pflanzen gegeben. Die Katastrophen der Eiszeit haben damit aufgeräumt und nacheiszeitlich sind dann die heutigen dortigen Organismen dahin erneut eingewandert. Eine wirkliche phylogenetische Geschichte der Organismen stand damals noch nicht zur Debatte. Man dachte nicht phylogenetisch sondern noch rein typologisch im Sinne der oben charakterisierten „idealistischen Morphologie". Die Typen der Organismen sind die Arten Linnes, die auch bei Linne schon über eine sogar so große Variationsbreite verfügen, daß er in der „Philosophia Botanica“ die These entwickelte, daß das „Infinitimum Ens“ am Anfang nur soviele konstante Arten geschaffen habe, wie wir heute Gattungen unterscheiden und alle heutigen Arten durch Kreuzung dieser Urarten entstanden seien, was offenbar mit den Ergebnissen der modernen Genetik und ihren Artkreuzungen erstaunlich gut übereinstimmt. Die große Frage, welche die damalige typologische Morphologie beschäftigte, war nun allein das Problem, ob man alle Tiere von einem „Urtier" (Geoffroy St-Hilaire) und alle Pflanzen von einer „Urpflanze“ (Goethe) rein typologisch herleiten könne. Damit war keine moderne phylogenetisch-historische Abstammung, sondern eine rein idealtypologische Ableitung gemeint, etwa so wie man alle Kegel-schnitte rein geometrisch aus einander konstruktiv ableiten kann. Man wünschte sozusagen Einblick in Gottes „Schöpfungspläne" zu erhalten, zu wissen, ob er nach einem einzigen Grundriß gearbeitet habe oder deren verschiedene, auseinander nicht ableitbare benutzt habe. Darum allein ging es bei diesen Ableitungen, z. B. bei dem berühmten Streit um 18 30 in der Pariser Akademie zwischen Cuvier und Geoffroy de St. Hilaire, an dem Goethe, wie Eckermann berichtet, einen so leidenschaftlichen Anteil genommen hat und bei dem es nur darum ging, ob man die Wirbeltiere und die Mollusken aus einem gemeinsamen Obertypus, einem sog. Architypus ableiten könnte oder ob jedem der beiden Tier-stämme ein eigener Architypus konveniere. Cuvier behauptete das letztere und hat damit in dieser Diskussion einwandfrei vor der Geschichte gesiegt. Haeckel hat dann später diese rein typologisch-idealistsiche Diskussion in eine phylogenetisch-historische mißdeutet. In diesem rein typologischen Sinne allein sind nun auch Humboldts folgende Sätze, die sich in den „Ideen“ und den „Ansichten der Natur“ finden, zu verstehen: „Die urtiefe Kraft der Organisation fesselt, trotz einer gewissen Freiwilligkeit im abnormen Entfalten einzelner Theile, alle thieriscke und pflanzliche Gestaltung an feste, ewig wiederkehrende Typen." Wen erinnert das nicht an Goethes oben zitierten „allgemeinen Typus“? Dem entsprechend hat nun die Pflanzengeographie zu untersuchen, „ob man unter den zahllosen Gewächsen der Erde gewisse Urformen entded^en oder ob man die spezifische Verschiedenheit als Wirkung der Ausartung und als Abweichung von einem Prototypus betrachten kann". Daß solche „Wirkung der Ausartung“ rein typologisch und keinesfalls phylogenetisch gedacht ist, erhellt klar aus folgendem der Tierwelt von Humboldt entnommenen Beispiel: „Die kleine und schlanke Form unserer Eidechse dehnt sich im Süden zu dem kolossalen, schwerfälligen, gepanzerten Körper furditbarer Krokodile aus. In den ungeheuren Katzen von Afrika und Amerika, im Tiger, im Löwen und Jaguar, ist die Gestalt eines unserer kleinsten Hausthiere nach einem größeren Maßstabe wiederholt . Man vergleiche die auffallend hierzu passende Bemerkung Goethes über die Schöpferkraft der Tropen am Ende unseres obigen ausführlichen Zitates über Goethes morphologische Typologie.
Dieselbe typologische Morphologie liefert Humboldt nun auch die Theorie seiner speziellen Biogeographie, der Pflanzengeographie vor allem, der Humboldts ganze Neigung gehört, aber auch der Tiergeographie, für welche theoretisch dasselbe gilt. Es gibt, wie wir gesehen haben, zwei Arten von typologischen Morphologien der Organismen, diejejnige welche die Baupläne erforscht, die Homologien also, und die der Funktionspläne oder Analogien. Die Homologienlehre muß sich in erster Linie auf solche Organsysteme stützen, die möglichst wenig durch die Umwelt modifiziert werden, die Sexualorgane somit. Daß er dies grundsätzlich als erster — im Gegensatz zu seinem nicht minder berühmten Zeitgenossen Albrecht von Haller z. B„ der aber mehr Physiologe als Morphologe war — klar erkannte, war Linnes genialste Konzeption, aus der seine ganze weitere Leistung sich mit Notwendigkeit ergeben mußte. Denn die Erforschung der typologischen Homologien führt notwendig zum taxonomischen „Natürlichen System“ der Organismen. Mit diesen Bauplanhomologien kann man aber keine typologische Morphologie der Geographie der Pflanzen und Tiere betreiben, denn hier stehen die vegetativen Organe im Vordergrund, die welche Organismen in erster Linie in ihre Umwelten einpassen, ihre Organe für Ernährung, Bewegung und Sinnesempfindung bzw. Reizbarkeit. Infolgedessen ist das „natürliche System“, welches den Umweltbeziehungen der Organismen und damit in erster Linie der Geographie der Pflanzen entspricht, nicht das System der typologischen Homologien sondern dasjenige der typologischen Analogien.
In diesem Sinne hat Humboldt zwei typologisch-vergleichende Systeme pflanzengeographischer Analogien geschaffen, die so miteinander Zusammenhängen, daß das erste die Grundlage des zweiten bildet, nämlich die typologische Analogienlehre Klimazonen und die vergleichende Physiognomie der auf die Klimazonen gegründeten Landschaften oder Vegetationsformen. Die vergleichende Typologie der Klimazonen beruht auf den Erfahrungen, welche Humboldt in den verschiedenen Höhenlagen der Anden machte und die er durch exakte Temperaturmessungen sicherte. Diese Erfahrungen führten ihn zu zwei Hauptregeln, welche die gesamte Verteilung der Vegetation auf der Erde bestimmen, nämlich erstens, daß gleiche mittlere Lufttemperatur in ihrer Physiognomie analoge Landschaften produziert, und zweitens, daß mit zunehmender Gebirgshöhe ebenso wie mit zunehmender Annäherung an die Erdpole die Größe der Stammorgane abnimmt. So gibt es z. B. auf Spitzbergen noch zwei „Bäume“, die Polarbirke und die Polarweide, aber sie kriechen beide nur wie Brombeeren auf dem Boden. Dieselbe Erscheinung ist ja auch aus dem Hochgebirge bekannt. In dieser Weise hat Humboldt bis zur Höhe von 5000 m sechs verschiedene Klima-zonen unterschieden: 1. Palmen und Bananen, von 0— 1000 m, 2. Farn-bäume, von 400— 1600 m, 3. Eichen, von 1700— 3000 m, 4. Escallonien und Wintera, 2800— 3 300 m, in Europa nicht vorkommende sog. Paramoregion, 5. Region der Alpenkräuter, 3 300— 4100 m und 6. Region der alpinen Gräser, 4100— 4600 m, sog. Punaregion. Diese Klima-typen hat Humboldt im Hochland von Quito (Ecuador) aufgestellt, die ihnen entsprechenden Durchschnittstemperaturen lauten in R.: 0— 1000 m: 20, 2 Grad; 1000— 2000 m: 17 Grad; 2000— 3000 m: 15 Grad; 3000— 4000 m: 7, 2 Grad und 4000— 5000 m: 3 Grad Das sind also die Klimazonen unmittelbar unter dem Äquator. Weiter nach Norden oder Süden findet man dann also den Äquatorzonen analoge Vegetationszonen dort, wo ähnliche Durchschnittstemperaturen vorliegen. Das ist der Sinn und Inhalt des von Humboldt entdeckten pflanzengeographischen Grundgesetzes. Auf diese Regel gründet sich die vergleichende Typologie der Vegetations-Klimazonen. Alle Typologie liefert uns letztlich Klassifikationen und auf sie gegründete Definitionen. Solche typologischen Klassifikationen nennen wir nur dann „Natürliche Systeme“, wenn sie auf einer durch reiche Erfahrung bestätigten Naturregel beruhen, wie sie uns hier in Humboldts pflanzengeographischem Grundgesetz vorliegt
Das typologische System der Klimazonen ergibt nun den Rahmen, in welchem sich das eigentliche physiognomische natürliche System der Vegetationsformen oder Formationen der Landschaft verwirklichen kann. Dieses ist das typologische Gegenstück zum natürlichen System der Organisationsformen. Während das letztere an den Merkmalen der Sexualorgane orientiert ist und ihre Homologien ermittelt, ist das pysiognomische System an den Vegetationsorganen ausgerichtet und bestimmt die funktionellen Analogien der Organismen. Das physiognomische System ist also gleichzeitig ein vergleichend-physiologisches, genauer ökologisches System der Organismen, und studiert daher, wie sich die Organisation der Organismen, ihre Homologien also, nach den Erfordernissen ihrer LImwelt oder ihrer Biotope, wie es ökologisch heißt, analogisch abändert. Diese biologische Wissenschaft ist zuerst von Humboldt in seinen „Ideen zur Pflanzengeographie“ geschaffen worden. Insgesamt hat nun Humboldt siebzehn — später neunzehn — physiognomische „Grundgestalten" der Vegetation unterschieden, nämlich die folgenden Grundgestalten der Banane, Palme, des Baum-Farns, der Aloe, des Pothos, des Nadelholzes, der Mimose, der Malve, der Rebe, der Lilie, des Cactus, der Casuarine, des Grases und Schilfes, des Laubmooses, der Blattflechte und des Hutpilzes. Diese sind die Grundgestalten oder Architypen der pflanzlichen Analogien. Aus ihnen lassen sich ökologische „Gattungen“ und „Familien“ der Vegetation bilden, welche dem taxonomischen natürlichen System typologisch aequivalent sind und in einzelnen Fällen sogar mit ihm übereinstimmen, besonders bei den der Ernährung dienenden Pflanzenorganen, deren Analogien mit den Homologien ihrer Blüten und Früchte sehr oft parallelisiert werden können. Diese physiognomischen Grundgestalten bestimmen nun als die ökologischen Leitmotive die Gestaltung ganzer Florengebiete. Von diesen hat Humboldt selbst mit großer Kunst vor allem zwei Hauptflorengebiete seiner venezolanischen Orinocoreise beschrieben, nämlich die berühmten Llanos oder Savannen und die amazonische Hylaea. Die Savannen werden aus den physiognomischen Grundgestalten der Gräser, Mimosen und Fächerpalmen als botanische Leitmotive komponiert, in der Hylaea jedoch gehören die bestimmenden Bäume dieses ununterbrochenen Regenwaldgebietes zur Mimosen-und Lorbeergruppe, durchsetzt von Palmen, Bambusen und dem glänzenden Laub der Heliconien. Die alten Bäume sind natürlich mit Moosen, Orchideen und zahlreichen anderen Epiphyten bedeckt, so daß manchmal ein einzelner, besonders alter und hoher von ihnen an sich selbst einen ganzen botanischen Garten repräsentiert. Es ist hier nicht der Ort, diese wundervollen Schilderungen H boldts näher zu verfolgen, wir hatten nur deutlich zu machen, daß es sich hier überall um echteste typologische und idealistische Morphologie im Sinne Goethes handelt. Das ergibt sich besonders klar und deutlich, wenn wir uns noch einmal das letzte Ziel und Llrmotiv dieser „Naturgemälde“ vor Augen stellen. Diese gesamte typologische Physiognomie der Vegetation gipfelt in der Darstellung der großartigen Harmonie, welche die „anorganische“ mit der organischen Natur zum lebendigen Ganzen des „Kosmos“ vereint. Der Kosmosgedanke der Hochantike erfährt zusammen mit der „Harmonia Mundi“ Keplers eine wiederholte Renaissance in der Naturforschung Goethes und Humboldts. Es sind vornehmlich die Prinzipien der Morphologie Goethes, des „allgemeinen Typus“ in seinen analogischen „Darleibungen“ (Carl Gustav Carus) und wie sie vom Kompensationsprinzip bestimmt werden, welche in der von Humboldt begründeten Geographie der Pflanzen in ihrer ersten vordarwinschen Epoche zur erneuten fruchtbaren Darstellung gekommen sind.
Humboldt hat sich vorwiegend mit der Geographie der Pflanzen beschäftigt, zeigt aber überall, wo er Tierschilderungen gibt, daß auch für die Geographie der Tiere genau dieselben typologisch-analogischen Prinzipien gelten. Schon das von uns oben gegebene Zitat aus dem Tier-leben, wo Tiere der gemäßigten Zone in Analogie zu ihren tropischen Verwandten, durch welche sie zugleich kompensiert werden, gebracht werden, hat das beispielhaft deutlich gemacht. Ferner braucht man nur an die auch von Brehm in seinem Tierleben zitierten berühmten Schilderungen Humboldts über den Sommerschlaf und das Erwachen der Krokodile bei Beginn der Regenzeit in der Savanne zu denken, um miteins klar zu erkennen, daß diese Schilderung aus dem Tierleben der Savanne die genau „harmonisch“ abgestimmte Darstellung ihrer Pflanzen-gestalt ist.
Ohne daß es erforderlich ist, darauf noch näher einzugehen, weil wir damit nichts grundsätzlich Neues mehr erfahren würden, ist es gleichwohl von Wert anzudeuten, daß Humboldt ebenfalls eine „Philosophie der Geologie“, wie er es selbst genannt hat, entwickelt hat, welche in ihren Prinzipien und in ihrer logischen Struktur ein genaues Gegenstück zu seiner geographischen „Philosophie der Erde“ (Physique d’une Monde) bildet. Diese „Philosophie der Geologie“ findet sich in seinem „Essai geognostique sur le gisement des roches dans les deux hmispheres“ (Paris 1823) und stellt genauso eine typologische Morphologie der geologischen Formationen und ihrer Gesteine dar, wie wir die Pflanzen und Tiergeographie als typologische Morphologien der Flora und Fauna der Erde kennengelernt haben. Er läßt jede genetische Erklärung der geologischen Phänomene genauso beiseite, wie er die phylogenetische Betrachtungsweise der pflanzengeographischen Florengebiete ausgelassen hat und auch nicht berücksichtigen konnte, wie wir gesehen haben. So ist auch seine „Philosophie der Geologie" eine rein typologische Morphologie. So unterscheidet Humboldt z. B. im Urgebirge fünf typologisch voneinander unabhängige Hauptformationen und hat noch während seines Aufenthaltes in Mexico für den Unterricht an der dortigen Bergschule bestimmte „Tables de pasigrafia geognostica" (1804) nach den gleichen typologischen Prinzipien zusammengestellt.
Harmonische Vollendung der klassischen Epoche
Es kann nach unseren bisherigen Darlegungen nun wohl als unzweifelhaft angesehen werden, daß Humboldts geistesgeschichtliche Gestalt voll und ganz der morphologisch-typologisch orientierten klassischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie'Goethes angehört. Er hat diese ganze großartige klassische Epoche auf ihrer Höhe, die dann immer zugleich ihr Ende bedeutet, harmonisch vollendet. Damit ist durchaus vereinbar, weil auch diese Erscheinung eine geistesgeschichtliche Regel bekundet, daß Humboldt in einer ganz bestimmten Richtung auch über die Goethe-zeit hinausreicht und das Kommende in weiter und universaler Sicht vorbereitet. Das sind seine Bemühungen um physiologische Dinge, in welchen er die Tendenzen der Goethezeit, wie sie damals am vollendetsten Johannes Müller vertreten hat, zwar auch bestätigt, aber zugleich die Linie Harvey-Haller-Newton, die Goethe vollkommen ablehnte, durch die Goethezeit hindurchträgt und damit die Brücke zur modernen kausalen Physiologie von ihren Anfängen bei Harvey und Haller über die Goethezeit hinweg bis in unsere Gegenwart schlägt.
Auch in der Physiologie gibt es neben der modernen kausalen Physiologie eine klassische typologische Physiologie, die nicht von ungefähr alle vergleichende Physiologie bis in die Gegenwart theoretisch trägt. Diese typologische Physiologie hat naturgemäß auch Goethe überall im Auge, wo er von physiologischen Dingen handelt; denn sie korrespondiert haarscharf seinen morphologischen Bemühungen. Man denke hierbei nur an die Rolle, welche das Prinzip der „Urpflanze“ in Goethes „physiologischer“ Morphologie spielt. Sie bedeutet keinen statischen Zustand, sondern ein realiter nicht existentes kinetisches Modell zur Erfindung unzähliger neuer Pflanzentypen, „die konsequent sein müssen, d. h. die, wenn sie auch nicht existieren, doch existieren könnten und nicht etwa malerische oder dichterische Schatten und Scheine sind, sondern eine innerliche Wahrheit und Notwendigkeit haben" (Brief an Frau von Stein aus Rom vom 8. Juni 1787). Im gleichen Sinne spricht Goethe dann auch von der „Forderung ...der sinnlichen Form einer übersinnlichen Urpflanze“. Gleiches gilt auch vom „Urtier“: ...... und wie ich früher die Urpflanze ausgesucht, so trachtete ich nunmehr das Urtier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Tieres". Man sieht, es geht hier um idee-alistische Morphologie, um Typologie also, wenn auch Goethes Typus keine statische platonische Idee mehr ist, sondern eine kinetische aristotelische Entelechie, die ja aber ihrerseits auf der Idee Platons fußt. In genau diesem Sinne hat ja auch Humboldt Pflanzen-und Tiergeographie betrieben. Seine „physiognomischen“ Typen oder Gestalten mit ihren Analogien und Kompensationen haben ja gleichfalls, wie wir im vorhergehenden Paragraphen eingehend untersucht haben, einen physiologisch-kinetischen Charakter.
Humboldts Physiologie ist also auch zunächst einmal vergleichende typologische Physiologie und keine kausale Physiologie im modernen Sinne. Hier bewegt sich Humboldt auf genau der gleichen Ebene der physiologischen Forschung, welche durch die beiden ganz großen Physiologen der Goethezeit, durch Albrecht von Haller und Johannes Müller bestimmt worden war. Hallers originales physiologisches Hauptwerk, die „Memoires sur la natur sensible et irritable des parties du corps animal" (Tome 1— 4, Lausanne 1756-60), hatte erstmalig durch breit angelegte Untersuchungen ermittelt, daß Reizbarkeit und Sensibilität die wesentlichsten Vermögen der lebendigen Substanz bilden, die im Verhalten der unorganischen Materie kein Gegenstück haben. Seitdem ist die „Reizbarkeit", die allgemeinere der beiden Fähigkeiten, eines der Hauptthemen aller physiologischen Forschung bis heute geblieben. Aber während wir heute diese Erscheinungen kausal zu erforschen trachten, d. h. die „Mechanismen“ zu entdecken trachten, durch welche sie bewirkt werden, wobei wir, wenn irgendmöglich; mit den von der Physik und Chemie her bekannten Energien und Reaktionen auszukommen trachten, waren die genannten Physiologen der Goethezeit zunächst einmal darauf bedacht, durch vergleichende Untersuchung möglichst vieler und möglichst verschiedener Tiere und Pflanzen das universale Vorkommen des Phänomens der Reizbarkeit und seine Wesensverschiedenheit vom allem bloß physikochemischen Geschehen sicherzustellen. Das war auch die Absicht, welche Humboldt in seinem großen physiologischen Werk aus dem Jahre 1797 — also noch vor der großen Reise erschienen — verfolgte, nämlich in den „Versuchen über die gereizte Muskel-und Nervenfaser nebst Vermutungen über den chemischen Prozeß des Lebens in der Thier-und Pflanzenwelt". Die von ihm hier verfolgte Absicht hat er in folgenden Worten klargestellt: „Ich k^be gesucht, in der nachstehenden Abhandlung alles zusammen zu drängen, was ich bisher über Reiz und Reizempfänglichkeit der sensiblen und irritablen Fiber beobachtete“. Wilhelm Wundt (Bruhns 1872) schildert das Ergebnis und das vergleichende Verfahren von Humboldts Forschungen mit folgenden Worten: „Mit der Untersuchung der reizbaren Pflanzen beginnend, entwirft hier Humboldt ein für die damaligen Kenntnisse umfassendes Bild der Reizungserscheinungen in der ganzen belebten Natur. Würmer, Mollusken, Insekten, Fische, zahlreiche Amphibien, Vögel und Säugetiere unterwirft er der Vivisektion, dem galvanischen und mechanischen Reiz-versuch. Überzeugt von der inneren Übereinstimmung aller Organisation, vermuthet er, daß die Reizbewegung der Mimose und anderer Pflanzen, wenngleidr der galvanische Reiz bei ihnen unwirksam bleibt, auf den nämlichen Ursachen beruhen wie die Zusammenziehung der tierischen Muskelfaser.“ Diese Vermutung gründet sich, wie man sieht, auf der Idee von der inneren Übereinstimmung aller Organisation, sei es der pflanzlichen sei es der tierischen Natur. Die Verwandtschaft der Gedankenführung mit dem Denken Goethes ist wieder einmal unverkennbar. Hier steht Humboldt etwa in der Mitte zwischen Haller und Johannes Müller, der sich auch immer zu Goethe bekannt hat. Johannes Müller konnte durch sein berühmtes, auch nicht zufällig der aristotelischen Biologie entnommenes und natürlich wesentlich vertieftes Prinzip der „spezifischen Energie“ — heute noch allgemein bei den Sinnesorganen als Müllersches Prinzip der „spezifischen Energie der Sinnesorgane“ bekannt — die Hallersche Theorie der Reizbarkeit als einer allgemeinen Funktion der organisierten Materie vollkommen dahin verallgemeinern, daß nicht nur Muskeln und Nerven eine spezifische Reizbarkeit und Sensibilität besitzen, sondern daß ganz allgemein jedes lebendige Organ und jede lebendige Zelle ihre stets „spezifische Energie" haben und sich dadurch wesentlich von allen nicht lebendigen Gebilden unterscheiden. Wenn zum Beispiel lebendige Haut angebrannt wird, dann finden nur in den durch solche Verbrennung getöteten Haut-zellen rein chemische Prozesse, durch die sie vollkommen zersetzt werden, statt. In den noch lebendig gebliebenen Hautzellen jedoch geschieht etwas völlig anderes und nur dem Leben Eigentümliches. Hier wirkt die Verbrennung nur als Reiz, der ein spezifisch lebendiges und aktives Geschehen auslöst, nämlich Entzündung, welche letzten Endes die zerstörten Hautteile wieder neubildet und somit den Tod überwindet, entsprechend der ebenfalls aus dieser Gedankenwelt stammenden „Definition“ des Lebens durch Bichat, den Begründer der Gewebelehre, demzufolge " la vie est l’ensemble des fonctions qui resistent a la mort“. Entzündung ist also die „spezifische Energie", mit welcher die lebendige Haut auf irgendwelche Reize — nicht nur den durch Verbrennung, sondern z. B. auch den durch Säureeinwirkung oder Galvanismus gesetzten Reiz — reagiert. „Spezifische Energie“ bekundet, was das Wort Energie besonders zum Ausdruck bringt, somit eine lebendige Aktivität der organisierten lebendigen Substanz. Johannes Müller hat seine grundlegende Lehre von der spezifischen Energie der lebendigen Organe zuerst im Jahre 1826 veröffentlicht. Humboldt hat bereits in seinem hier diskutierten physologischen Hauptwerk eine sehr deutliche Vorstellung von diesen Sachverhalten gehabt, wenn er sie auch noch nicht zu einer umfassenden Theorie verdichten konnte, wie es Johannes Müller getan hat. Humboldt sagt schon am Ende der zweiten Seite seines Buches:
„Ich fange von der Erscheinung des Galvanismus an, weil ich durdi die Art, wie ich diese Versuche anstellte, unwidersprechlidi erweisen zu können glaube, daß der Stimulus in diesem wunderbaren Phänomen größtentheils von den belebten Organen selbst ausgeht, und daß diese sich dabei keineswegs bloß leidend, etwa als elektroskopisdre Substanzen, verhalten. ‘ In Übereinstimmung mit Haller und ganz im Sinne der späteren „spezifischen Energie“ von Johannes Müller hat Humboldt hier einen Wesensunterschied zwischen dem aktiven Verhalten lebendiger Organismen und dem passiven Geschehen bei physikochemischen Erscheinungen wie etwa bei „elektroskopischen Substanzen" festgestellt.
Auch wenn er in seinem physiologischen Hauptwerk immer wieder den Terminus „Lebenskraft" benutzt, will er jedoch hiermit so wenig wie Johannes Müller dem Vitalismus das Wort reden, vielmehr ist seine philosophische Grundhaltung in diesen Dingen, wie wir oben schon festgestellt haben — genau wie auch bei Goethe — eine holistische. Ani Ende der Schilderung seiner galvanischen Reizversuche wird das hier sehr deutlich, indem er es nun nicht länger für erforderlich hält, „eine eigene Kraft zu nennen, was vielleicht bloß durch das Zusammenwirken der im einzelnen längst bekannten materiellen Kräfte bewirkt werde". Damit ist Humboldt aber nun keineswegs in das dem Vitalismus feindliche mechanistis he Lager eingeschwenkt; denn ein Mechanist ist er nie gewesen und konnte er auch — ebenso wenig wie Goethe — jemals sein. Er ist vielmehr nach wie vor — genau wie beim „Rhodischen Genius“ — der Meinung, daß jedoch eben dieses „Zusammenwirken der im einzelnen längst bekannten materiellen Kräfte“ innerhalb der lebendigen Organismen etwas so exzeptionell Eigentümliches darstellt, daß es irgendetwas dergleichen in der nichtlebendigen Natur nicht gibt. Ganz im Sinne auch des heutigen Holismus sind für Humboldt belebte Substanzen so beschaffen, daß sie in ihre Bestandteile zerlegt, in jedem von ihnen unmittelbar den bisherigen, für die lebendige Substanz charakteristischen „Mischungszustand verändern“. Der heutige Holismus geht insofern noch einen Schritt weiter, indem er typisch lebendige „Mischungszustände“ der Bestandteile auch in gewissen mikrophysikalischen Gebilden zu erkennen glaubt. Aber auch diese sind dann theoretisch so beschaffen, daß sie nur durch die in der Biologie üblichen holistischen Prinzipien erklärt werden können, aber nicht durch typisch physikalische Prinzipien.
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Weder die mechanistische Philosophie ist jemals von Humboldt vertreten werden noch das aus ihr geborene kausale Prinzip des „Mechanismus", welches die klassische Physik von Newton bis Helmholtz und Lord Kelvin aufgebaut hat. Deshalb konnte Humboldt zum Aufbau der ihr parallel gehenden mechanistisch-kausalen modernen Physiologie, die besonders in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts blühte und auch noch das erste Viertel unseres eigenen Jahrhundert entscheidend mitbestimmt hat, auch keinerlei Beiträge leisten. Indessen ist diese mechanistische Physiologie heute ebenso vorüber wie die ihr simultane und kongeniale klassische Physik. Geblieben ist aber die aller modernen Physiologie seit Harvey und der Naturwissenschaft überhaupt seit Galilei, Newton und Kant eingeborene mathematische Tendenz. Für die Zukunft vielleicht noch mehr als für die Vergangenheit seit der Renaissance wird Kants Prophezeiung gültig bleiben, daß jede wahre Wissenschaft nur soviel echte Wissenschaft enthält, „als Mathematik darin ist“. Dementsprechend wird man der Forderung Galileis immer wieder nachkommen, „zu messen, was man messen kann, und meßbar machen, was man noch nicht messen kann". Das ist das eigentlich? Wesen der modernen Naturwissenschaft gewesen und wird es auch fernerhin bk • ben, einerlei ob man bei der Verwirklichung solcher Naturerkenntnis dem mechanistischen, dem vitalistischen oder dem holistischen Erkenntnisideal folgt. Nur auf solche Art wurde Harvey der Galilei der modernen Physiologie, indem er die Bewegung des Blutes nach der Vorschrift Galileis maß und damit die eineinhalb Jahrtausende alte Lehre Galens definitiv beseitigte. Diesen Vorschriften hat auch Humboldt überall Folge geleistet, wo immer ihm das möglich war, bei der Schaffung der Geographie als einer modernen exakten Wissenschaft, die bis dahin nur ein unverbindlicher Haufen von mehr oder weniger nützlichen Kenntnissen und Kuriositäten gewesen war, wie ganz besonders auch bei der Begründung seiner Lieblingswissenschaft, der Pflanzengeographie. Darüber müssen wir zum Schluß noch einige Worte sagen, um unser Humboldtbild abzurunden und zu vollenden. Diese Seite seines Wit'kens ist auch deshalb besonders wichtig, weil sie, wie oben schon angedeutet, zugleich diejenige ist, die ihn von Goethe unterscheidet und weit über Goethes eigene Naturwissenschaft hinaushebt.
Als sein bedeutendstes geographisches Werk, das wir zugleich als die erste geographische Monographie kennen gelernt haben, welche echte strenge Wissenschaft ist, muß sein großes Werk über Mexico bezeichnet werden, welches die Bände 25 und 26 des großen Reisewerkes umfaßt. Bei allen hier behandelten Problemen versucht Humboldt, wo immer das möglich war, seine Ausführungen durch möglichst exakte Statistiken zu sichern. Er berechnet nicht nur den Flächeninhalt und die Bewohner-zahl des damaligen Mexico und versucht, auch seine Vergangenheit statistisch zu erfassen, sondern er berechnet auch „die Staatseinkünfte und die Masse edler Metalle, welche seit der Entdeckung von Amerika, gegen Osten und Westen, nach dem Alten Kontinent übergeströmt ist". Ferner ist Humboldt der Schöpfer der Isothermen und der magnetischen Daten in ihrer Verteilung besonders im tropischen Amerika und später in Asien gewesen. Die sich aus diesen erdmagnetischen Untersuchungen ergebenden Resultate zeigten, daß die magnetischen Pole nicht mit den geographischen Erdpolen übereinstimmen können und wurden so einer der wichtigsten Anlässe der späteren Polarforschung.
Auch in seiner liebsten und originellsten Schöpfung, in der Geographie der Pflanzen, hat Humboldt das mathematische Denken zur Anwendung gebracht. Der wohl bedeutendste Botaniker seiner Zeit, der Engländer Robert Brown, hatte als erster (1814) versucht, die geographische Verteilung der Pflanzenarten und -familien statistisch zu erfassen. Er zählte die in jedem Florengebiet vorkommenden Pflanzenarten und bestimmte ihre Verteilung auf die Familien des „Natürlichen Systems“, in der Hoffnung, auf diese Weise ein Florengebiet durch solche Verhältnis-zahlen exakt charakterisieren zu können. Das war ein Verfahren nach dem Herzen Humboldts, der es sich sofort zu eigen machte und 1815 in der Einleitung zum ersten der sieben Bände „Nova Genera et Species Plantarum . . (Großes Reisewerk Bd. VIII) benutzte. Diese Betrachtürliche Klassifikation“ der Florengebiete, also das „natürliche System“ zwei Jahre später als selbständiges Werk herausgab: „De distributione geographica plantarum, secundum coeli temperiern et altitudinem montium, Prolegomena", Paris und Lübeck 1817. Das besondere theoretische Interesse dieser Methode besteht darin, daß die physiognomische „Natürliche Klassafikation“ der Florengebiete, also das „natürliche System“ der pflanzlichen Analogien zum natürlichen System ihrer Homologien oder Organisationsmerkmale in bestimmte zahlenmäßige Beziehung gesetzt wurde. An besonderen Gesetzmäßigkeiten ist damals weder bei Humboldt noch bei Brown irgendetwas Wesentliches bei dieser „Botanischen Arithmetik", wie Humboldt es nannte, herausgekommen. Das war bei der damals immer noch geringen Kenntnis der Pflanzenarten und Familien auch noch gar nicht möglich. Heute würde sich im Hinblick auf bestimmte, auf die sogenannte Geochemie (Vernadsky [1930]) zurückgehende interessante Erkenntnisse über die Konstanz der Gesamtmenge und der durchschnittlichen chemischen Zusammensetzung der Biosphäre als Ganzheit durch alle geologischen Epochen hindurch ein erneuter Versuch einer solchen „Botanischen Arithmetik“ vermutlich besser lohnen. Uns genügt hier die Feststellung, daß Humboldt trotz seiner Zugehörigkeit zur Naturwissenschaft der Goethezeit gleichwohl voll und ganz auch die Idee der mathematischen Naturwissenschaft nicht nur bejaht, sondern auch wichtige Beiträge zu ihr auf dem Felde der klassischen nichtmechanistischen Physiologie geleistet hat. In Humboldt begegnen sich die beiden Hauptlinien der Biologie des Abendlandes, die morphologisch-typologische, welche von Platon und Aristoteles über Linne zu Goethe und Cuvier führt, sowie die kausal-mathematische Linie, die physikalisch in Galilei und physiologisch mit Harvey beginnt und in Newton erstmalig jenen Gipfel erklimmt, zu welchem Kant in der „Kritik der Reinen Vernunft“ die zugehörige Logik und Metaphysik geschrieben hat. Da Humboldt jedoch niemals ein Mechanist, wohl aber ein Holist im heutigen Sinne gewesen ist, so steht zu erwarten, daß, nachdem die mechanistische Naturwissenschaft der zweiten Hälfte des vergangenen und des ersten Viertels unseres eigenen Jahrhunderts nunmehr als überwunden gelten kann, in nächster Zeit eine Renaissance der Naturwissenschaft Goethes, vor allem in der Vollendung, die sie durch Humboldt erhalten hat, als eine wirkliche Synthese also von typologisch-
dynamischer Morphologie und kausal-mathematischer Physik und Physiologie, kommen wird. Dann wird Humboldts „Kosmos“ nicht mehr nur das Ende einer großen und glänzenden vergangenen Naturwissenschaft bedeuten, sondern zugleich den Beginn derjenigen Naturwissenschaft charakterisieren, der wir heute entgegengehen. Denn wie sein „Lied“ ist auch Goethes Wissenschaft „drehend wie das Sterngewölbe, Anfang und Ende immerfort dasselbe, und was die Mitte bringt ist offenbar, das was zu Ende bleibt und anfangs war“.
Literatur
'Alexander von Humboldt: Voyage aux regions quinoctiales du Nouveau Continent, fait en 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 et 1804 par Alexandre de Humboldt et Aime Bonpland, redige par Alexandre de Humboldt. Grande edition. Vols I—XXX, Paris 1807— 1834. Derselbe: Ideen zu einer Geographie der Pflanzen, nebst einem Naturgemälde der Tropenländer, auf Beobachtungen und Messungen gegründet ... Tübingen 1807. Derselbe: De distributione geographica plantarum, ... Prolegomena, Lutetiae Parisiorum et Lübeck 1817. Derselbe: Versuche über die gereizte Muskel-und Nervenfaser Bd. 1, Posen, Berlin 1797. Derselbe: Ansichten der Natur, mit wissenschaftlichen Erläuterungen, Bde. 1, 2, Stuttgart und Tübingen 1. Ausl. 1803, 3. Ausl. 1849. Derselbe: Kosmos, Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, 5 Bde., Stuttgart 1845— 62. Derselbe: Kosmische Naturbetrachtung, sein Werk im Grundriß herausgegeben von Rudolph Zaunick, Stuttgart 1958 (Kröners Taschenausgabe, Bd. 266). Derselbe: Vom Orinoco zum Amazonas, Reise in die Aequinoktialgegenden des Neuen Kontinents, hrsg. und eingeleitet von Adolf Meyer-Abich, bearbeitet von Adalbert Plott, Wiesbaden 1958 (Brockhaus klassische Reisen Bd. 3). Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche 28. August 1949. Bde. 16 u. 17: Naturwissenschaftliche Schriften T. 1 u. 2; Zürich 1949— 1952; Bd. 24: Goethes Gespräche mit Eckermann, ebd. Karl Bruhns: Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie im Verein mit R. Ave-Lallement, J. V. Carus u. a. bearb. u. hrsg. Bde. 1— 3, Leipzig 1872. R. Burckhardt: Geschichte der Zoologie, Leipzig 1907. Christian von Ehrenfels: über Gestaltqualitäten: Vierteljahresschrift für wis-schenschaftliche Philosophie, Jg. 14, 1890. Friedrich Meinecke: Das Zeitalter der Deutschen Erhebung, 6. Ausl. Göttingen 1957. Adolf Meyer-Abich: Naturphilosophie auf neuen Wegen, Stuttgart 1949. Derselbe: Biologie der Goethezeit, ebd. 1949. Johannes Müller: über die phantastischen Gesichtserscheinungen, Bonn 1826. Friedrich Muthmann: Alexander von Humboldt und sein Naturbild im Spiegel der Goethezeit, Zürich und Stuttgart 1955. Richard Owen: On the archetype and homologies of the vertebrate skeleton, London 1848. Jan Christian Smuts, Holism and Evolution, 2 ed. London 1927. W. J. Vernadsky: Geochemie, übers, von E. Kordes, Leipzig 1930.