Der hier veröffentlichte Aufsatz ist mit freundlicher Genehmigung des Göttinger Arbeitskreises dem im Holzner-Verlag, Würzburg, erschienenen Handbuch „Das östliche Deutschland" entnommen. Dieses Werk umfaßt mehr als 20 Beiträge, die der völkerrechtlichenBetrachtung, der Geschichte und der Wirtschaft des deutschen Ostens sowie einer Untersuchung der Sudetenfrage gewidmet sind.
Die Beziehungen zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarvölkern haben bekanntlich in dem geschichtlichen Werdeprozeß des Abendlandes eine wichtige Rolle gespielt. Über Verlauf, Bedeutung und Auswirkung dieser Beziehungen gehen freilich die Ansichten auseinander Nationale Abneigung und politische Rivalität haben eine unbefangene und wissenschaftlich objektive Würdigung der abendländischen Kulturentwicklung im deutsch-slawischen Geschichtsraum außerordentlich erschwert. Sie bilden letztlich auch die Ursache dafür, daß es bisher nicht gelungen ist, ein gesamtabendländisches oder gesamteuropäisches Geschichtsbild, das der historischen Wirklichkeit in vollem Maße gerecht wird, zu entwerfen und bei uns heimisch zu machen. Denn unsere landläufige Europa-Vorstellung unterliegt noch immer einer merkwürdigen Einengung. Sie beruht auf der Konzeption Rankes, der in offensichtlicher Ablehnung der umfassenderen geschichtlichen Kategorien „Christenheit" und „Europa" in der romanisch-germanischen Einheit den maßgeblichen Träger europäischer Geschichte erblickt und die slawisch-osteuropäische Welt als ein konstitutives Glied in dem Komplex der christlichen Völker Europas nicht berücksichtigt hatte. Daher ist unsere geläufige Europa-Vorstellung nur allzu geneigt, die Geschichte dieser romanisch-germanischen Kulturgemeinschaft mit der Vergangenheit unseres Kontinents zu identifizieren. Sie weiß zwar von dein Eintritt Rußlands in das europäische Staatensystem, und sie sieht dah: r auch die russische Geschichte der letzten Jahrhunderte als einen Bestandteil des europäischen Geschichtsprozesses an, aber sie übersieht den zwischen dem Ostrand der romanisch-germanischen Einheit und der russischen Welt gelegenen östlichen Teil Mitteleuropas mit seiner Vielzahl von Völkern und individuellen nationalen Kulturen.
Als diese Völker beim Ausgang des 1. Weltkrieges — nach einer meist jahrhundertelangen Existenz ohne staatlichen Rahmen -die politische Bühne Ostmitteleuropas wieder betraten, wurde zwar die Unzulänglich-keit und Begrenztheit der geläufigen Abendland-und Europa-Vorstellung deutlich Aber auch jetzt blieb die Rolle, die dieser Raum für die Gestaltung und für die Geschichte des Abendlandes gespielt hatte, im Schatten politischer und kulturpsychologischer Auseinandersetzungen und drang nicht in die Tiefe des allgemeinen Geschichtsbewußtseins. Die Völker dieses Raumes galten weiterhin als geschichtslose und junge Nationen, obwohl die meisten von ihnen in Wirklichkeit alt waren und auf eine Vergangenheit zurückblicken konnten, deren Anfänge sich mit dem Erwachen einer höheren Gesittung im Frühmittelalter verband, und obwohl ihre seit dem 19. Jahrhundert aufblühende Geschichtsforschung unablässig bemüht blieb, diesen historischen Hintergrund durch Quelleneditionen, kritische Untersuchungen und Synthesen aufzuhellen. Damit waren fraglos grundlegende Erkenntnisse gerade auch für den Vorgang der Rezeption der christlich-antiken Tradition und die vielfältigen Verflechtungen dieses Geschichtsraumes mit der romanisch-germanischen Völkergemeinschaft bereitgestellt. Ergebnisse einer erstaunlich reichen wissenschaftlichen Forschung, die aber im Gewand betont national ausgerichteter Geschichtsbilder eine Korrektur der dominierenden Europavorstellung nicht bewirken konnte.
Wohl haben auch zwischen den übrigen europäischen Nationen nationale Aspekte stets zu Nuancen und Differenzen in der Beurteilung und Bewertung des Werdegangs der europäischen Kultur geführt. Aber wohl nirgends sonst ist die Gegensätzlichkeit der Auffassungen stärker zu Tage getreten als in der östlichen Randzone des Abendlandes und nirgends sonst hat sich der Gegensatz verhängnisvoller ausgewirkt als in dem Protest der ostmitteleuropäischen Nationen gegen die dominierende Konzeption der romanisch-germanischen Kulturgemeinschaft als Inbegriff der abendländisch-europäischen Geschichte, eine Begleiterscheinung des politischen Schicksals Ostmitteleuropas, Auswirkung und Ursache zugleich.
Daß dieses herkömmliche Abendland-und Europabild in seiner Begrenztheit zur Aussage der Quellen und damit zur historischen Wirklichkeit im Widerspruch steht, ist heute für die historische Wissenschaft evident. Diese Feststellung ist in erster Linie den geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen der ostmitteleuropäischen Nationen selbst zu verdanken, in denen der Nachweis von der eigenständigen Rolle und Bedeutung dieses Raumes und seiner Völker sowohl für die Entstehung des Abendlandes als auch für seinen geschichtlichen Beitrag im Rahmen der europäischen Gesamtgeschichte in entscheidenden Punkten überzeugend dargetan ist. Auf diese Ergebnisse wird die Geschichte als Wissenschaft nie mehr verzichten können. Wieweit sie die Aufgabe meistern wird, auch die Fehler der Vergangenheit im allgemeinen euro-päischen Geschichtsbild zu korrigieren und das östliche Mitteleuropa in seiner geschichtlichen Tiefe den Vorstellungen vom Werden und Schicksal Gesamteuropas einzuordnen, wird die Zukunft erweisen.
Wohl hat auch bei uns langst die Diskussion um ein neues, der historischen Wirklichkeit entsprechendes Geschichtsbild begonnen. Aber die Erfahrungen aus den politischen Konflikten der jüngsten Vergangenheit und der seit langem bestehende Antagonismus in den Geschichtsinterpretationen haben bei den ostmitteleuropäischen Nationen wie auf deutscher Seite ungewöhnliche Spannungen und Empfindlichkeiten hervorgerufen. Hinzu kommt, daß dieser gesamte ostmitteleuropäische Raum mit dem Abschluß des 2. Weltkrieges in den Einflußbereich der sowjetischen Welt geraten ist und dadurch seine eigene geistige Liberlieferung einer totalitären Liberformung und Überfremdung ausgesetzt sieht. Zu den traditionell nationalen Spannungen treten die ideologischen, und innerhalb der ostmitteleuropäischen Nationen hat sich in den Auseinandersetzungen um ein neues, der sowjetischen Wirklichkeit angepaßtes Geschichtsbild eine höchst bemerkenswerte und eigenartige Synthese aus marxistisch-leninistischen und nationalistischen Elementen ergeben.
So besteht die Gefahr, daß dieser ostmitteleuropäische Geschichtsraum auch weiterhin das Stiefkind des europäischen Geschichtsbewußtseins bleibt und daß seine Rolle und Bedeutung gerade für das Werden des Abendlandes nunmehr endgültig verblaßt und unserer historischen Vor-
steilungsweit entschwindet.
Es mag sein, daß angesichts einer sich rasch wandelnden Welt, in der Europa seine zentrale Stellung eingebüßt hat und die Kenntnis vom Gang der europäischen Kulturentwicklung allein uns nicht mehr sicher in der Gegenwart zu orientieren vermag, das hier berührte Problem des deutschen und europäischen Ostens nur noch eine begrenzte und höchstens regionale Bedeutung zu besitzen scheint. Aber es kann ebenso-wenig geleugnet werden, daß das abendländische Europa noch immer eine von geistigen Kräften und durch geistige Grenzen bestimmte Welt darstellt, die aus der Teilhabe der Völker an diesem Traditionsraum und aus deren Selbstverständnis und Bekenntnis zu diesen Überlieferungen lebt. So lange dieses Selbstverständnis an einer Stelle aber gestört ist, bleibt die Frage nach der historischen Stellung dieses Raumes innerhalb der europäischen Geschichtsentwicklung höchst legitim und von einem besonderen aktuellen Interesse. Denn, wie es kürzlich der polnischer Historiker Oskar Halecki formuliert hat. „das historische Europa, das weiterleben soll, kaun sich uidtt auf die Greuzeu des karolingischen Reiches zurüd^ziehen. Es darf sidt nicht damit abfinden, int zwanzigsten Jahrhundert auf mehr oder weniger alles zu verzichten, was sich im zehnten, eben deswegen so entsdteidenden Jahrhundert an Alteuropa angeschlossen und das Geamteuropa des folgenden Jahr tausend gebildet hat.“ Bei der Lösung dieser Aufgabe geht es aber nicht allein um die Klärung eines für das Geschichtsverständnis an sich höchst wichtigen historischen Problems, es geht zugleich auch um die Klarstellung des Verhältnisses des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn und dessen Bedeutung für die abendländische und europäische Geschichte, eines Problems, das zugleich für die Zukunft in psychologischer Hinsicht von größter Tragweite bleibt. Erst kürzlich ist von berufener Seite bei einer Suche nach den „Elementen eines europäischen Geschichtsbildes“ die Klärung unserer Frage mit dem Ziel einer unbefangenen und objektiven Darstellung des Europäisierungsvorganges in diesem östlichen Geschichtsraum als eine der „duingendsten und grössten Zukunftsaufgaben einer europäisch gesinnten Geschichtsforsdiung und Historiographie“ bezeichnet worden. Es wird deshalb die Pflicht gerade der deutschen Geschichtsforschung sein, stets diesen gesamteuropäischen Aspekt bei der Betrachtung und Behandlung historischer Phänomene im Osten unseres Kontinents und insbesondere für das Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn im Auge zu behalten
An dieser Stelle soll zu einigen grundsätzlichen Fragen, die zwischen der deutschen und der östlichen Geschichtswissenschaft stehen, Stellung genommen werden, und es soll versucht werden, wenigstens in großen Umrissen den Verlauf der frühesten für die politische Geschichte bedeutsamen Beziehungen zwischen der fränkisch-deutschen Welt und den Stämmen und Völkern im Osten zu skizzieren. Diese frühgeschichtliche Phase, die vom Einsetzen der Quellenzeugnisse bis zur Herausbildung einer Gesellschaft christlicher Herrschaftsgebilde in der östlichen Hälfte unseres Kontinents um die Jahrtausendwende reicht, gehört bekanntlich zu den dunkelsten und daher in der Interpretation umstrittensten Perioden. Das ist nicht nur in der bruchstückhaften Überlieferung begründet, sondern hat noch andere Ursachen, auf die darum zunächst näher einzugehen ist. Die Gefahr, die geschichtliche Wirklichkeit durch Wunschbilder zu ergänzen und zu verzerren, ist in dieser Periode noch größer als in sonst einem Abschnitt der Geschichte Osteuropas, und man wird sich daher besonders sorgfältig und vorsichtig nur an die Aussagen der Quellen und der wissenschaftlich gesicherten Ergebnisse der Forschung zu halten haben; und für das Verstehen und Deuten der frühesten Geschichtsperiode des europäischen Ostens, in der die Grundlegung einer höheren Gesittung erfolgt und sich der Eintritt in die christliche Gemeinschaft vollzieht, kann und sollte allein ein gesamteuropäischer Aspekt angemessen und legitim erscheinen.
Kultur Europas keine Schöpfung eines einzelnen Volkes
Die Kultur Europas ist weder im Westen noch im Osten unseres Kontinents je die Schöpfung eines einzelnen Volkes oder gar einer einzelnen Rasse gewesen. Sie ist zweifellos das Ergebnis eines vielfältigen Entwicklungsprozesses, und sein entscheidendes Charakteristikum bildet die Bewahrung der Mannigfaltigkeit eigenständiger Kultur „Europa ist“ — nach einer Definition Haleckis — „die Gemeinschaft aller Nationen, die unter den günstigen Bedingungen eines kleinen, aber von Vielfältigkeit erfüllten Kontinents das durch das Christentum umgewandelte und erhöhte Erbe der griechisch-römisd'ten Kultur übernahmen und weiterentwid^elten . . Es sind demnach für die Gestaltung Europas und seiner Kultur letztlich zwei konstituierende Elemente zu unterscheiden: die christlich-antike Überlieferung und die regionale Mannigfaltigkeit eigenständiger Gemeinschaftsformen. Das Christentum mit dem von ihm übernommenen und umgeformten Erbe der griechisch-römischen Kultur ist es schließlich gewesen, das für alle Glieder Europas verbindlich geworden ist, in einem universalen Prozeß, der von dem Boden des spätantiken römischen Imperiums seinen Ausgang genommen und bis zur Jahrtausendwende den weitaus größten Teil des geographischen Europa erfaßt hat. Dabei hat dieser weiträumige und vielschichtige Prozeß sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen des römischen Reiches Stämme und Völker verschiedener Herkunft auf verschiedenen Stufen ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung und unter räumlich höchst unterschiedlichen Bedingungen erfaßt, so daß überall die Aufnahme, Anpassung und Umformung des christlich-antiken Erbes zu spezifischen regionalen Ausprägungen auf dem Boden des neu entstehenden Kultureuropa geführt hat. Es ist für eine möglichst sach-lich-objektive Betrachtung der Entstehung dieses christlichen Osteuropa und damit der frühgeschichtlichen Phase, um die es sich hier handelt, nicht unwichtig, sich dieses für die gesamte europäische Kultur gültigen Formungsprinzips zu erinnern.
Die Bildung der Gemeinschaft christlicher Völker Europas steht also im Westen wie im Osten unter dem gleichen Gesetz. Zwar hat diese Entwicklung im Westen streckenweise einen beträchtlichen zeitlichen Vorsprung gewonnen, so daß die Ausbreitung des christlich-antiken Elements für weite Partien Zentral-und Osteuropas vornehmlich in west-östlicher Richtung erfolgt ist. Diese Tatsache aber darf weder dazu dienen, bei der Betrachtung der europäischen Kulturentwicklung von einem West-Ostgegensatz auszugehen, noch ist sie geeignet, ein Überlegenheitsgefühl der westlichen Kulturträger zu rechtfertigen. Der zeitliche Vorsprung in der Entwicklung ist nicht etwa einseitig der besonderen Leistung und Tüchtigkeit etwa der Germanen zuzuschreiben. Er beruht nicht zuletzt vielmehr auf der Gunst ihres raumhistorischen Schicksals, das ihnen erlaubte, nach einer langdauernden Nachbarschaft mit Kelten und Römern auf deren altem Kulturboden früher und erfolgreicher die Synthese mit dem christlich-antiken Erbe zu vollziehen als die von der mediterranen Welt weiter entfernt siedelnden Stämme und Völker des inneren Kontinents und seiner Randgebiete. Auch diese Gebiete sind schließlich integrierende Bestandteile der gleichen Völker-gemeinschaft geworden, und über Rang und Würde entscheidet nicht dte Chronologie. In zeitlich unmittelbarem Anschluß an die Bekehrung der letzten kontinentalen Germanenstämme und in zeitlicher Parallele zu der Christianisierung des Nordens haben die Völker und Herrschaftsgebilde des europäischen Ostens im 9. und 10. Jh.den Anschluß an das Christentum vollzogen und damit die Ausweitung eines in gemeinsamen religiösen Traditionen ruhenden „Kultureuropa“ in entscheidender Weise gefördert. Sie haben damit den Teil unseres Kontinents der europäischen Kultur zugeführt, der infolge seiner geographischen Lage in der Nachbarschaft Asiens weitaus größeren Gefahren ausgesetzt war und blieb als der Westen und der sicherlich durch die Leistungen und Opfer seiner Völker nicht wenig zu der relativen Sicherheit des abendländischen Westens beigetragen hat. Besonders von der Seite der slawisch-osteuropäischen Geschichtsschreibung ist dieser Umstand in letzter Zeit wiederholt und mit Nachdruck hervorgehoben worden, und in der Tat hat Osteuropa jahrhundertelang schon während des Mittelalters die Funktion eines „antemurale christianitatis" ausgeübt, lange bevor dieser Begriff die Stellung der christlichen Außenmächte des östlichen Abendlandes und ihre Aufgaben gegen Türken und Tataren bezeichnete. So erweist sich auch von dieser Seite her der Zusammenhang und die innere Einheit zwischen dem älteren Westen und einem jüngeren Osten, die nicht als Rivalen gegensätzlicher, sondern letztlich nur als Glieder gemeinsamer Kulturtraditionen, in wechselseitiger Verantwortung und Verpflichtung stehend, historisch zu begreifen sind.
Übermittlung kultureller und zivilisatorischer Errungenschaften
Aber in einer Hinsicht hat der zeitliche Abstand, mit dem der Prozeß der Ausbreitung der christlich-antiken Kultur in Osteuropa sich vollzog, weittragende Folgen gehabt. Diese zeitliche Verspätung hat bewirkt, daß die Rezeption der christlich-antiken Tradition in weiten Gebieten des Ostens teils durch unmittelbare Einwirkung, teils durch das Medium des fränkisch-deutschen Elements vonstatten ging. Lind dieses historische Phänomen hatte wiederum zur Folge, daß die im 11. und 12. Jahrhundert sich im romanisch-germanischen Überschichtungsgebiet vollziehende Kulturentfaltung auch in diesen bis zum 10. Jh. christianisierten Teilen des östlichen Kontinents Eingang suchte und fand Für die vornehmlich aus nationalen Kräften gespeiste moderne Geschichtsschrei-bung lag bei der Deutung dieses Vorgangs die Versuchung nahe, diesen besonderen Verlauf, den der Europäisierungsprozeß im Osten genommen hatte, unter nationalen Gesichtspunkten zu interpretieren und so einerseits ihn als Stütze für die These von der überlegenen Kulturträgerrolle des deutschen Volkes im Osten heranzuziehen und andererseits mit ihm die pessimistische Auffassung von der Auslöschung einer autochthonen Kultur durch den deutschen Drang nach Osten zu begründen.
Dieser Gegensatz ist ein Zeugnis jener geschichtsideologischen Simpli-fikationen, die seit dem 19. Jahrhundert das Leben der europäischen Völker und Staaten vergiftet haben, und er ist auch heute selbst in den wissenschaftlichen Diskussionen noch nicht überwunden. Wer den Werdeprozeß der europäischen Kultur als ein Gesamtphänomen betrachtet und sein Ziel, die Vervollkommnung der Hochkultur in der Mannigfaltigkeit regional-nationaler Ausprägungen, bejaht, wird weder der einen noch der anderen These beipflichten können. Die Durchführung jener Aufgabe ist bekanntlich im Sinne der Gleichwertigmachung des Ostens unseres Kontinents erfolgt, d. h. Sinn und Wesen dieser Expansion lagen nicht in der territorialen Eroberung und wirtschaftlichen Ausbeutung, sondern in der Übermittlung der kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften der westlichen Christenheit an den neuen östlichen Zweig. Dabei ist dem deutschen Volk dank seiner räumlichen Lage eine aktive und führende Funktion zugefallen, was wiederum zugleich als eine Folgewirkung jenes großen vorausgegangenen Prozesses zu verstehen ist, den die Durchdringung der germanischen Völker mit antikem Kulturgut in allen Bereichen des politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens herbeigeführt hatte. Mit Recht ist kürzlich dieser Vorgang als ein Vorspiel zu dem Geschehen im Osten während des 13. und 14 Jahrhunderts bezeichnet worden, das schließlich Ausdruck für den Leistungswillen des gesamten Abendlandes geworden ist, und an dem auch die neu hinzugetretenen Glieder der christlichen Völkergemeinschaft selbst durch ihre eigene Ostexpansion aktiv teilgenommen haben.
Es ist nicht zuletzt das Verdienst der ostmitteleuropäischen Geschichtsforschung, den Blick für diese Zusammenhänge und den gesamteuropäischen Aspekt geschärft zu haben. Sie hat auch immer wieder die Bewahrung der Mannigfaltigkeit nationaler Kulturen im Osten sowie ihre geschichtliche Rolle hervorgehoben, die diese bis in die Gegenwart als Glieder der europäischen Gemeinschaft gespielt haben, ein Faktum, das auch nach dem Urteil der slawischen Forschung nicht zuletzt ganz besonders dem kulturellen und zivilisatorischen Aufschwung zu verdanken ist, den diese östlichen Gebiete im 13. und 14. Jahrhundert erlebt haben. Daß dieser Aufstieg nicht möglich war ohne die Bereitschaft und Initiative dieser Völker und ihrer Führungsschichten und vor allem nicht ohne ihre vorausgegangenen intensiven Bemühungen um die kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Hebung und Fort-entwicklung, wissen wir heute, wiederum in erster Linie aus den wissenschaftlichen Ergebnissen der östlichen Geschichtsforscher. Gerade angesichts ihrer Aufgeschlossenheit und ihres Verständnisses für den europäischen Gesamtzusammenhang und angesichts ihres berechtigten Stolzes auf Teilhabe muß aber das Festhalten an dem Mythos einer eigenständigen Kulturentfaltung und ihrer Unterbrechung durch die angeblich „verhängnisvolle“ Kolonisation als widerspruchsvoll und befremdend bezeichnet werden. Wie einseitig und falsch eine solche Auffassung ist und wie wenig sie der geschichtlichen Bedeutung dieser zweiten Phase in der Kulturausbreitung gerecht wird, für die H. F. Schmid nur noch in der Kulturassimilisation des Imperium Romanum eine vergleichbare Parallele erblickt, zeigen die Ausführungen W. Kuhns in dem folgenden Beitrag "). Man wird aber auch nicht verkennen dürfen, daß schon der Begriff „Kolonisation“ für die Umschreibung dieses geschichtlichen Phänomens höchst ungeeignet ist. Denn diese sogenannte Kolonisation hat sich nicht in leeren, kulturlosen und barbarischen Gebieten vollzogen, und sie hat weder die Vertreibung und Ausrottung der Bevölkerung noch die bloße Ausdehnung der Herrschaft zum Zwecke wirtschaftlicher Ausbeutung als Ziel gehabt. Erst kürzlich hat W. Schlesinger diesen Gedanken nochmals nachdrücklich hervorgehoben, wobei er aber auch von Seiten einer aufgeschlossenen marxistischen polnischen Geschichtsinterpretation grundsätzlichen Widerspruch gefunden hat.
Es ist gewiß nicht anzunehmen, daß die Verfechter jener These vom slawischen Autochthonismus und dem Verhängnis der deutschen Kolonisation sich der fundamentalen Bedeutung der Vorgänge des 13. und 14. Jahrhunderts verschließen. Was die slawische Geschichtsforschung traditioneller und marxistischer Prägung dennoch weitgehend dazu bestimmt, den Eintritt in die christliche Völker-und Staatengemeinschaft im 9. und 10. Jahrhundert als einen begrüßenswerten Fortschritt und als einen Beweis eigenständiger Leistung hinzustellen und den Prozeß der Angleichung und Gleichwertigmachung als die Auflösung einer hoffnungsvollen Entwicklung zu beklagen, findet seine Erklärung allein in dem Verharren in modernen nationalstaatlichen Vorstellungen und einem daraus gespeisten antideutschen Ressentiment. Wer in dieser Weise argumentiert, verschließt sich dem Sinn und Wesen der europäischen Kultur und ihres Werdegangs. Weder das Wunschbild von der Ausformung autochthoner Kulturen in alleiniger Anlehnung an den romanischen Westen unter Verzicht und Ausschluß deutscher Kräfte und ihrer Vermittlerrolle, noch das Ideal eines extremen Autochthonismus, der nach eigenen Gesetzen im Rahmen eines östlichen Geschichtsfeldes seine Vollendung gefunden hätte, können davon überzeugen,, daß auf diesen Wegen der Prozeß der Kulturvereinheitlichung und der Gleichwertigmachung des europäischen Ostens besser und wirkungsvoller hätte erreicht werden können. Der Verlauf der europäischen Kulturentwicklung seit dem hohen Mittelalter wäre zweifellos ein anderer gewesen, aber es ist nur schwer vorzustellen, daß sein Ergebnis zu einem ähnlichen Verwandtschaftsgrad im Erscheinungsbild der abendländischen Kultur in Ost und West geführt hätte, wie er durch das Geschehen im 13. und 14. Jahrhundert tatsächlich erreicht worden ist. Wer die Blindheit und politische Unfähigkeit slawischer Herrscher schilt und verurteilt, sobald sie sich deutscher Siedel-und Aufbaukräfte bedienten, der setzt bei ihnen eine Einsicht und ein Denken in nationalen Kategorien voraus, das noch für lange Zeit von untergeordneter Bedeutung blieb, und national-politische Erwägungen haben schon aus diesem Grunde im Siedlungsprozeß und Landesausbau keine Rolle spielen können. Es steckt in einem solchen Vorwurf zugleich aber auch die gänzlich abwegige These, daß die mittelalterliche Siedlungsbewegung letzten Endes als ein politischer Anschlag und als eine planvolle Unterwanderung slawischer Gebiete aufzufassen ist. Und wenn man von dem Primat autonomer Kulturen ausgeht und den deutschen Anteil in der hoch-
mittelalterlichen Kulturexpansion als eine Überfremdung und Bedrohung bedauert und mißbilligt, dann sollte man konsequenterweise auch die eigenen kulturellen Expansionsvorgänge, gleichfalls auf Herrschaft und Siedlung beruhend, kritisch beurteilen, was teilweise die heutige ost-mitteleuropäische Geschichtswissenschaft unter den besonderen Voraussetzungen im sowjetischen Bereich tut. Es geht hier um die Klarstellung eines für das Verständnis der europäischen Kulturentwicklung im Osten grundsätzlichen Interpretationsproblems. Offenbar ist es noch nicht möglich, diesen Vorgang der Eingliederung und Gleichwertigmachung des Östens weitgehend unbefangen und frei von nationalen Vorurteilen zu betrachten. Sicher wird es aber auch der ostmitteleuropäischen Geschichtsschreibung, deren Forschung wir für die historischen Sachverhalte im einzelnen soviel verdanken, nicht entgehen, wie sehr sie durch die Bindung an eine einseitig national befangene Interpretation ihrem eigenen Anliegen im Wege steht. Denn ihr Bemühen, sofern sie außerhalb der totalitären Grenzen arbeitet, bleibt doch darauf gerichtet, den Zusammenhang und die Gemeinsamkeit der kulturellen Grundlagen in West und Ost sowie die volle Gleichrangigkeit des östlichen Teils und die geschichtlich bedeutsame Rolle seiner Glieder irn Rahmen einer abendländischen Völker-und Staatengemeinschaft im allgemeinen Geschichtsbewußtsein zur Geltung zu bringen, und die Berechtigung ihres Anliegens und die Richtigkeit ihrer Auffassung dürften kaum in Frage stehen.
In zwei Phasen ist dieser für die Geschichte Gesamteuropas höchst bedeutsame Prozeß erfolgt. Am Anfang stehen Staatenbildung und Christianisierung, am Ende Anpassung und Gleichwertigmachung an den Bereich der Hochkultur, gipfelnd in der Übernahme abendländisch-deutscher Rechtsordnungen, und als Ergebnis erscheint die politische und kulturelle Vielfalt des östlichen Mitteleuropas bis an die Grenzen der tatarischen und moskowitischen Macht neben der romanischen und germanischen Völkerwelt als ein neues konstitutives Glied der abendländischen Kultur. Denn die machtvolle hochmittelalterliche Kultur-expansion nach dem Osten hat die hier vorhandenen christlichen Völker und ihre autochthonen Kulturen weder vernichtet noch in ihrer Entfaltung gehemmt, sondern sie vielmehr erhalten und nur überformt und ihnen neue starke Impulse vermittelt, die sie über viele Jahrhunderte hin zur Lösung ihrer geschichtlichen Aufgabe befähigt hat.
Staatenbildung und Christianisierung
Im folgenden soll nur von der ersten Phase die Rede sein. Sie beginnt in den frühmittelalterlichen Jahrhunderten, da sich das Dunkel über der östlichen Völkerwelt durch das Einsetzen der schriftlichen Über-lieferung zu erhellen beginnt, und sie erreicht ihren Höhepunkt im 10. Jahrhundert mit dem Abschluß der Staatenbildung und Christianisierung fast aller slawischen Vöker sowie des magyarischen. Das Werden dieses neuen Europa im östlichen Teil unseres Kontinents unterliegt dabei dem gleichen Gesetz, d. h. es vollzieht und vollendet sich durch die Verbindung der Formelemente der christlichen Hochkultur mit den autochthonen Ordnungsformen. Der entscheidende Unterschied aber ist der, daß hier zwar auch im Zuge der Stürme der Völkerwanderung der Einbruch in das Imperium Romanum gelingt, aber weder seine Unterwerfung noch die Adaption seiner Kultur durch die barbarischen Völker aus der Tiefe des Kontinents. Dieser Raum bleibt noch bis zum Ende des 7. Jahrhunderts in ständiger Gärung und Unruhe, verursacht durch das Auftauchen neuer Reiternomaden aus der Steppe nach dem Zusammenbruch des Hunnenreiches sowie durch den Abzug der Ost-germanen aus ihren einstigen Herrschaftsgebieten und die in Fluß geratene Wanderbewegung der Slawen. Diese Jahrhunderte kriegerischer Gefahren, denen sich Byzanz und der Westen vor allem von der 2. Hälfte des 6. Jahrhunderts an von Seiten der awarisch-slawischen Macht ausgesetzt sehen, mit ihren unaufhörlichen Raubzügen und Grenzkriegen, boten noch kaum eine Möglichkeit für die Saat einer höheren Gesittung in diesem Barbarenraum. Wohl eröffneten sie Kontakte nicht nur feindlicher Art zwischen, zwei wesensverschiedenen Kulturbereichen, auch führten sie zur Aufnahme und Ansiedlung slawischer Stämme auf dem Boden des oströmischen Reiches bis zur Adria und Ägäis und zwangen vor allem die der Gefahr unmittelbar ausgesetzten Mächte, die Franken, Baiern, Langobarden und Byzantiner, zu einer wachen und ständig wachsenden Abwehrbereitschaft. Aber erst das Abklingen der Unruhe in jener noch weithin unbekannten Völker-welt schuf hier die Voraussetzung für das Werden und Wachsen eines neuen Kultureuropa. Erst der Niedergang der noch immer bedrohlichen Awarenherrschaft und der Stillstand der slawischen Wanderung, womit die Konsolidierung der Siedlungsverhältnisse und der Herausbildung räumlich begrenzter Stämme und Stammesverbände verknüpft war, boten über das Ziel der Eindämmung hinaus dem Gedanken einer Pazifizierung mit kulturmissionarischen Mitteln eine echte Chance. Sie zeichnete sich zeitweilig bereits um die Mitte des 8. Jahrhunderts im bairisch-slawischen Grenzgebiet ab, und sie wurde Wirklichkeit, als Karl der Große mit seiner das ganze Problem erfassenden Konzeption für die Lösung der Aufgabe den entscheidenden und folgenreichen Anstoß gab und damit der zukünftigen Entwicklung die Richtung wies.
Denn erst durch den Anschluß der Christianisierung der rechtsrheinischen Germanenstämme, vollendet in der Niederwerfung der Sachsen, und durch die Eingliederung des bairischen Herzogtums Tassilos zusammen mit der Vernichtung der Awarenmacht war die Außengrenze des Abendlandes von dem auf ihr lastenden Druck befreit, wurde der defensive Charakter der Grenze in einen offensiven verwandelt und waren einer planenden Staatstätigkeit neue Möglichkeiten im Osten eröffnet. Sie führten die fränkische Ostpolitik in die unmittelbare Nachbarschaft der byzantinischen Interessensphäre, und sie machten den Rahmen zwischen Adria, Donau und Schwarzem Meer mit einem Schlag zu einem Spannungsfeld der Diplomatie der beiden christlichen Imperien. Es entstand ein politisches und kulturelles Spannungsfeld, in dem die vom awarischen Druck befreiten Slawen zur Bildung eigener staatlicher Herrschaftsformen fanden und hierdurch den Boden bereiteten, der sich geeignet erwies für die Aufnahme höherer Lebens-und Ordnungsformen und auf dem in knapp zwei Jahrhunderten eine von den Grenzen der Kulturwelt nach Norden und Osten wachsende, sprachlich und kulturell weitgehend differenzierte slawische Christenheit entstehen konnte. Fassen wir daher zunächst einmal die Ausgangslage auf der östlichen Seite ins Auge, die sich für die Beziehungen zwischen der fränkisch-deutschen und der slawischen Welt als ein Ergebnis der vorausgegangenen Völker-bewegungen im 8. Jahrhundert bot.
Die Auffassung, das Auftreten der Slawen in dem Raum zwischen Ostsee und Adria östlich der Elbe-Saale-Böhmerwald-Linie im 6. und 7. Jahrhundert sei das Ergebnis einer vorausgegangenen Wanderbewegung aus ihrer Urheimat zwischen Karpaten, Pripet und Dnjepr gewesen, wird noch heute besonders von slawischen Forschern in Frage gestellt und bestritten. Vielmehr seien slawische Stämme in weiten Teilen Ostdeutschlands schon viele Jahrhunderte seßhaft gewesen, wenn nicht gar ihre Urheimat zwischen Elbe und Weichsel zu suchen sei. Demgegenüber stützt sich die hier vertretene Ansicht von der Einwanderung der Slawen vornehmlich auf die schon vor längerer Zeit von sprachwissenschaftlicher Seite erbrachten Kriterien und die Widerlegung aller bisher für eine frühe Anwesenheit der Slawen zwischen Elbe und Weichsel vorgebrachten Argumente. Die Thesen vom Autochthonismus der Slawen in Ostdeutschland beruhen in erster Linie auf der Kombination linguistischer und archäologischer Methoden und Indizien, wobei die schriftlichen Zeugnisse bei den klassischen Schriftstellern weitgehend außer acht gelassen werden.
Dieses außerordentlich diffizile und vielschichtige Problem der slawi-sehen Altertumskunde, für das die Ergebnisse der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen mit größter kritischer Sorgfalt herangezogen werden müssen, berührt zwar die hier interessierende Frage der deutsch-slawischen Beziehungen im Werdeprozeß Osteuropas nicht unmittelbar. Denn nach dem Zeugnis der Quellen kennen wir seitdem 7. Jahrhundert außer den Steppenvölkern nur Slawen jenseits der damaligen Kultur-welt und an ihrem Nord-und Ostrand baltische und finnische Völker-gruppen, während die gewiß vorhandenen, aber geringfügigen ostgermanischen Reste jedenfalls geschichtlich bedeutungslos geblieben sind. Aber das Problem ist seit Jahrzehnten mit besonderer Leidenschaft von slawischer Seite behandelt worden, und seine Beantwortung im Sinne des slawischen Autochthonismus sollte dazu dienen, auch besondere Rechtsansprüche auf diesen Siedlungsraum zwischen Elbe und Weichsel durch den Nachweis eines besonders hohen Alters slawischer Siedlung zu dokumentieren und zu begründen. Zwar dürfte eine Argumentation, die sich auf die ethische Verwandtschaft mit den Trägern prähistorischer Kulturen zu stützen versucht, für die Begründung eines Gebietsanspruches und Heimatrechts innerhalb der christlichen Völkergemeinschaft ohnehin ebensowenig geeignet und überzeugend sein wie eine Berufung auf die einstige Anwesenheit germanischer Stämme im vorgeschichtlichen Osteuropa für die mittelalterliche deutsche Ostsiedlung oder irgendwelche Ansprüche des deutschen Volkes im Osten. Dennoch haben die ständigen Wiederholungen der besonders von polnischen und tschechischen Forschern mit verschiedenen Argumenten begründeten Thesen den Erfolg gehabt, den hypothesenhaften Charakter ihres Bildes zu verschleiern, und sie haben oft genug den Eindruck zu erwecken versucht, als handele es sich bei ihren Darlegungen um gut-begründete Tatsachen, weil sie meist davon absahen, sich mit den kritischen Einwänden näher auseinanderzusetzen. Das Problem ist im Grunde eine rein wissenschaftliche Frage, die unbedingt ohne nationale Empfindlichkeiten und Voreingenommenheiten betrachtet werden sollte, und es kann in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommen, einen umfassenden Rückblick auf die wissenschaftliche Diskussion bis zu ihrem heutigen Stand zu geben. Es soll hier vielmehr nur untersucht werden, die für eine objektive Klärung dieser Frage wichtigsten Gesichtspunkte und Kriterien zusammenzufassen, die gegen die Richtigkeit der Auffassung von einer frühen Anwesenheit der Slawen in diesem Raume nach wie vor sprechen und deren Widerlegung erst eine solche Hypothese glaubwürdig machen könnte.
Ausdehnung der Slawen nach Westen
Die Unsicherheit in den Anschauungen über die Herkunft der ältesetn Sitze der Slawen resultiert bekanntlich aus den spärlichen historischen Nachrichten und aus der Dürftigkeit der archäologischen Hinterlassenschaft der Slawen, die es bisher unmöglich gemacht hat, irgendeine prähistorische Kulturgruppe vor der Völkerwanderungszeit mit Bestimmtheit den Slawen zuzuschreiben. Die vergleichende Sprachwissenschaft und die Namenkunde haben darum bisher das meiste an gesicherten Erkenntnissen über die Frage der Urheimat der Slawen beisteuern können, und ihre Ergebnisse sind auch durch die neuerlich vorgetragenen Gedanken über die Zugehörigkeit der Gebiete westlich der Weichsel zur slawischen LIrheimat nicht erschüttert worden. Unter Berücksichtigung der ältesten Lehnwörterverhältnisse, der Ortsnamenforschung und der Pflanzengeographie hat vor mehr als drei Jahrzehnten Max Vasmer in seinem grundlegenden Aufsatz „Die LIrheimat der Slaven“ den Nachweis erbracht, daß diese etwa das Gebiet von Lublin-Pinsk-Kiew umfaßt hat, . eine Ansicht, die auch heute noch von fast allen Forschern insofern geteilt wird, als sie dieses Gebiet auch für urslawisch ansehen. Eine Differenz der Meinungen besteht hingegen darüber, wieweit die Ausdehnung der Slawen nach Westen in alter Zeit gereicht hat.
Für die Begrenzung der slawischen LIrsitze auf einem Raum zwischen Karpaten, Pripet und mittlerem Dnjepr sprechen im einzelnen folgende Argumente und Überlegungen. Vor Beginn ihrer Wanderung müssen die Slawen östlich der Buchengrenze, d. h. östlich der Linie, die etwa von Königsberg nach Odessa verläuft, gesessen haben, ein Ergebnis, das durch neueste sprachwissenschaftliche Untersuchungen seine Bestätigung gefunden hat. Die Slawen müssen ferner in einer engen Nachbarschaft, die sich auch in sprachlichen Übereinstimmungen deutlich abzeichnet, zu den Balten, deren LIrheimat in der Gegend von Smolensk anzusetzen ist, gesiedelt haben. Die Existenz einer balto-slawischen Gemeinschaft ist für die Sprachwissenschaft ein gesicherter Tatbestand, und ihre Auflösung wird allgemein kurz nach der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends angenommen. Außerdem standen die Slawen, die als Träger einer Satem-Sprache zum östlichen Zweig der Indogermanen gehören und an dessen Westrand beheimatet gewesen sein müssen, in nachbarschaftlichen Beziehungen zu den östlichen Vertretern der Kentumgruppe, den Germanen, Illyrern und Venetern, worauf Entlehnungen im Wortschatz und sprachliche Gemeinsamkeiten hindeuten. Da nun für das Illyrische und das Venetische (bzw. Nordillyrische) sich in weiten Teilen Ostdeutschlands sprachliche Zeugnisse im überlieferten Namengut nachweisen lassen, scheiden diese Gebiete, die in historischer Zeit dann slawisch besiedelt erscheinen, für die Ansetzung der slawischen LIrheimat auch aus diesen Gründen aus. Schließlich kommt noch die trotz allen Bemühungen bisher unwiderlegte Tatsache als ein weiteres starkes Argument hinzu, daß sich in dem ganzen Raum zwischen Elbe und Weichsel in der Überlieferung der klassischen Schriftsteller kein einziger einwandfrei slawischer Name nachweisen läßt. Die immer wieder besonders von der polnischen Forschung angeführten Stammesnamen der Lugii und Mugilones lassen sich nicht aus dem Slawischen herleiten, sondern sie sind nur aus dem Germanischen zu deuten und stehen zudem noch in den Quellen inmitten der Masse germanischer Stammesbezeichnungen. Ebenso fragwürdig bleibt die Verknüpfung des bei Ptolemaios überlieferten Ortes Kalisia mit dem heutigen Kalisch; die etymologische Deutung dieses Namens ist eher aus dem Illyrischen oder Venetischen vorzunehmen als aus dem Slawischen, für das sich sonst keinerlei Spuren zu dieser Zeit in dem fraglichen Gebiet zeigen.
Aus diesen noch nicht widerlegten und darum wissenschaftlich gültigen Erkenntnissen lassen sich weitere Schlußfolgerungen ziehen. Diese Ergebnisse verbieten, die Urslawen mit irgendeiner prähistorischen Kultur im Gebiet zwischen Weichsel und Elbe zu identifizieren, und sie legen nahe, für eine solche Verknüpfung an eine archäologische Kulturgruppe auf russischem Boden zu denken. Daraus ergibt sich, daß auch die bekannte, von polnischen und tschechischen Prähistorikern aufgestellte These, die Träger der sogenannten Lausitzer Kultur seien Slawen gewesen, unter keinen Umständen wissenschaftlich aufrechterhalten werden kann. Diese Auffassung ist zwar nie von allen slawischen Archäologen einmütig vertreten worden, und auch heute sind die Meinungen der polnischen und tschechischen Forscher hierüber durchaus geteilt. Aber noch immer spielt diese Behauptung im Schrifttum eine nicht unerhebliche Rolle, wenn sich auch das Zentralproblem in den Bemühungen, mit Hilfe archäologischer Methoden die ältesten Sitze der Slawen nach Westen zu verlegen, verschoben hat, wovon gleich noch gesprochen werden soll.
Abgesehen von allen sich auch vom rein archäologischen Standpunkt ergebenden Schwierigkeiten für die Annahme einer Identität der Träger der Lausitzer Kultur bei den Slawen müßte bei einer solchen Aus-Weitung der slawischen Urheimat vom Gebiet des mittleren Dnjepr bis zur Elbe, die dann mindestens seit dem Ausgang des zweiten vorchristlichen Jahrtausends in dieser Ausdehnung bestanden haben müßte, vor allem eine viel stärkere Differenzierung der slawischen Sprachen erwartet werden, als sie sich tatsächlich zeigt, und ferner müßte dann die Auflösung der baltoslawischen Gemeinschaft sich bereits um die Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends vollzogen haben, eine Annahme, die allen Erkenntnissen über die langdauernden Zusammenhänge dieser Sprachen widerspricht. Schließlich müßten sich unter einer solchen Voraussetzung unzweifelhaft slawische Lehnwörter im Urgermanischen nachweisen lassen, und ganz unverständlich bliebe auch die Tatsache, daß angesichts der besonders hochentwickelten Keramik der Lausitzer Kultur die Bezeichnungen für derartige Tongeräte in der ältesten Schicht des Slawischen überwiegend germanischen Ursprungs sind. Ergänzend ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, daß sowohl das Fehlen einer slawischen Terminologie für die Seeschiffahrt als auch eines alten Namens für den Bernstein jede Möglichkeit ausschließt, die urprünglichen Sitze der Slawen bis an die Ostsee auszudehnen oder sie mit Ostpreußen in Verbindung zu bringen.
Nun hat der polnische Sprachforscher Lehr-Splawihski in letzter Zeit versucht, das Entstehen der Urslawen im Gebiet zwischen Weichsel und Oder aus einer maßgeblichen Beteiligung der Veneter, die er als Träger der Lausitzer Kultur ansieht, zu erklären. Er ist der Ansicht, daß die östlichen Teile einer seßhaft gebliebenen Restbevölkerung der Veneter, eines alten Nachbarvolkes der Urgermanen, deren nähere Erforschung noch im Gange ist und deren Namen schließlich auf die Slawen übertragen worden ist, einen wichtigen Faktor für die Entstehung der urslawischen Gemeinschaft (identisch schließlich mit der Höhlengräberkultur zwischen Oder und Rotrußland) gebildet haben. Es ist in dieser außerordentlich hypothesenreichen Konstruktion, die das Nacheinander verschiedener archäologischer Kulturgruppen in Ostdeutschland auszu-deuten versucht, keiner der oben angeführten Einwände entkräftet worden, wie mit Nachdruck hervorzuheben ist. Abgesehen von den verschiedenen unbewiesenen prähistorischen Verknüpfungen setzt diese Hypothese voraus, daß jene Reste der Veneter von einer Kentum-zu einer Satem-Sprache übergegangen sein müssen, ein Vorgang, der doch nur mit dem Vordringen slawischer Sprachträger nach Westen in Verbindung zu bringen ist. Es muß demnach bei der wissenschaftlich bisher allein gesicherten Feststellung bleiben, daß weder der Bereich der lausitzischen Urnenfelderkultur, der die Lausitz, Schlesien, Nordost-Böhmen, Nord-Mähren und Teile Polens umfaßt hat, als ein Teil der slawischen Urheimat aufgefaßt werden darf, noch daß irgendeine prähistorische Kultur westlich der Weichsel vor dem vierten nachchristlichen Jahrhundert bisher mit Sicherheit für die Slawen in Anspruch genommen werden kann, weil es keinerlei Spuren des Slawentums in diesem Raum vor dieser Zeit gibt, vielmehr nur germanische und illyrisch-venetische Zeugnisse. Auch die Vorstellung von einer autochthonen slawischen Urbevölkerung in Ostdeutschland, die über ein Jahrtausend unter dem Joch germanischer Herrenvölker gelebt hätte, bleibt archäologisch gänzlich unbeweisbar und aus den angeführten Gründen indiskutabel. Eine solche Konzeption kann weder die Ergebnisse M. Vasmers noch seine Schlußfolgerung widerlegen. Vor allem wäre gerade dann ein nachhaltiger Einfluß des Slawischen auf das Germanische zu erwarten, und es müßten sich ebenso keltische Entlehnungen im Urslawischen nachweisen lassen, die es bekanntlich nicht gibt.
Die Slawen sind demnach in einer Wanderbewegung großen Stils aus ihrer Urheimat in ihre historisch bezeugten Siedlungsräume eingerückt. In der Frage der Datierung dieses Vorrückens sind nun ebenfalls alle Versuche slawischer Forscher, nach dem Beispiel von L. Niederle die Anwesenheit der Slawen im Gebiet westlich der Weichsel, in Schlesien, Böhmen, Mähren und Ungarn bereits für die Zeit vor dem sechsten nachchristlichen Jahrhundert durch die Deutung einzelner Stammes-, Fluß-und Ortsnamen anzusetzen, als gescheitert zu betrachten. Die vorgebrachten Argumente, bei denen bisweilen die elementarsten Regeln der slawischen Sprachgeschichte außer acht gelassen wurden, sind längst sämtlich durch die Kritik von M. Vasmer und E. Schwarz überzeugend widerlegt, und seither ist kein einziges sprachliches Zeugnis mehr vorgebracht worden, das diese Feststellung erschüttern kann. Unter welchen Voraussetzungen sich das Vordringen der Slawen in die von den Ost-germanen verlassenen Siedlungsräume vollzogen hat, inwieweit der durch den Hunnensturm veranlaßte Zusammenbruch der germanischen Herrschaftsgebilde diesen Vorgang ausgelöst hat und in welchem Grade dann der awarische Faktor eine entscheidende Rolle mitgespielt hat, läßt sich noch nicht im einzelnen klar übersehen. Hier wird die Prähistorie noch ein wichtiges Wort bei der Aufhellung dieser Zusammenhänge zu sprechen haben. So ist es offenbar bereits den tschechischen Forschern gelungen, in der Keramik vom sogenannten Prager Typus die materielle Hinterlassenschaft der slawischen Kultur im Boden zu erfassen, womit zweifellos ein wichtiger Ansatz für die slawische Vorgeschichte gewonnen ist und vermutlich neue Aussagen möglich werden. Ob freilich die von den tschechischen Prähistorikern bisher vertretene Datierung der Funde in Südmähren ins 5. Jahrhundert sich bestätigen wird, muß abgewartet werden. Gesichert erscheint sie bisher auf keinen Fall, und es gibt noch immer eine Reihe gewichtiger Zeugnisse, die gegen die Anwesenheit von Slawen in ihren neuen Siedlungsgebieten vor dem 6. Jahrhundert sprechen. So lange hier keine endgültige chronologische Klärung erfolgt, müssen wir uns weiterhin an die überzeugenden Argumente der Sprachwissenschaft halten. Daß bei diesem Stand der Forschung auch das kürzlich von H. Preidel entworfene Bild von der Zeit der Völkerwanderung, das unsere bisherigen Anschauungen grundsätzlich in Frage zu stellen versucht, keine ausreichende Erklärung für das Erscheinen der Slawen im östlichen Mitteleuropa bietet, sei hier wenigstens abschließend erwähnt. Für Preidel ist die Völkerwanderungszeit der unausbleibliche Verzweiflungskampf einer zusammenbrechenden Welt, „in der die unproduktiven Kräfte, die die gerwanisdte Lebensauffassung keraufgefülrrt hatte, sich selbst verzehrten“ und in der dann „das ziemlich unvermittelte Auftreten der Slaven im östlid-ien Mitteleuropa nicht als Ergebnis einer wohlgeordneten Einwanderung slawischer Stämme, sondern als das Ergebnis eines sozialen Umschwungs“ zu begreifen ist. Dieser soziale Umschwung erweist sich nach der Auffassung Preidels deshalb als Umvolkung, weil die produktiven Kräfte wohl vorwiegend slawische Idiome sprachen.
Es ist sicher richtig und verdienstlich, wenn von Zeit zu Zeit die Grundanschauungen unseres historischen Wissens einer sachlichen Überprüfung unterzogen werden, und Preidel hat zweifellos mit dem Blick auf die wirtschaftlichen Voraussetzungen und Notwendigkeiten höchst wichtige und beachtenswerte Ergebnisse für die Erhellung der Frühgeschichte des Slawenproblems in Böhmen und Mähfen geboten, an die die Forschung anknüpfen kann. Wenn er aber der konventionellen Anschauung von der Wanderbewegung ganzer Bauernvölker als einer blutleeren Abstraktion und bloßen Fiktion seine eigene Konzeption von den Germanen als reinen Eroberer-und Herrenvölkern und von den Slawen als friedlichen Bauern entgegenstellt, dann hat er damit zwei neue Mythen geschaffen, die in ihrer Antithetik mit allem, was wir aus der historischen Überlieferung wissen, kaum in Einklang zu bringen sind. Mit Recht hat erst kürzlich E. Schwarz auf die verschiedenen Widersprüche, die in Preidels Auffassung stecken, hingewiesen und vor jeder Vereinfachung gewarnt. Seine Erklärung für das Auftauchen der Slawen im östlichen Mitteleuropa durch das Herbeiholen von slawischen Arbeitskräften seitens der germanischen Herrenvölker seit dem 3. Jahrhundert läßt alle mit einem solchen Vorgang verbundenen sprachgeschichtlichen Probleme außer acht; sie setzt sich weder mit den Einwänden gegen das frühe Erscheinen der Slawen kritisch auseinander, noch findet sie im prähistorischen Material irgendwelche Belege für das langdauernde Nebeneinanderleben germanischer „Herren'und slawischer „Knechte“. Preidel hat sich zwar gegen den romantischen Autochthonismus der Slawen ausgesprochen, aber er hat ihn durch einen sozialökonomischen ersetzt, der ohne wissenschaftlich stichhaltige Argumente deshalb nicht überzeugender wirkt.
Die frühen Herrschaftsordnungen
Das Vordringen der Slawen nach Südwesten und Westen ist also im 6. Jahrhundert erfolgt und mindestens in einer zweiten Phase von der Mitte des 6. Jahrhunderts an nicht von dem Auftreten der Awaren zu trennen. Der Aufbruch der Slawen aus ihrer Urheimat steht nach allem, was die Wissenschaft bisher mit Sicherheit aussagen kann, offenbar in engem Zusammenhang mit den Veränderungen, die der Einbruch der Hunnen im östlichen Teil unseres Kontinents ausgelöst hatte. Die Ausbreitung der Slawen hat sich dann erstaunlich rasch vollzogen, so daß ungefähr gleichzeitig die äußersten Grenzen des Raumes zwischen Ostsee, Adria und Ägäis, zwischen Elbe, Schwarzem Meer, Don und oberer Wolga, wo es nach der Durchdringung des baltischen Siedlungsgebietes zu einer Begegnung mit finnischen Völkern kam, von den Slawen erreicht worden sind. Wie und auf welchen Wegen diese Siedlungsexpansion im einzelnen vor sich gegangen ist, wird die Forschung noch näher zu klären haben. Sicherlich wird man dabei nicht an ein Vorrücken geschlossener Stämme und Stammesverbände zu denken haben, sondern vielmehr an soziale Gruppen recht verschiedener Art, die sich auch in ihrer Zusammensetzung, Größe und inneren Ordnung voneinander unterschieden, die dazu fremden Einflüssen ausgesetzt waren durch die Einschmelzung von Bevölkerungsresten heterogenster Herkunft und durch Einwirkungen von Seiten iranischer Elemente und turknomadischer Völker, wie der Awaren und Bulgaren. Es ist gerade erst kürzlich von M. Hellmann mit Recht auf diese besonderen Voraussetzungen hingewiesen worden, aus denen klar wird, weshalb es so außerordentlich schwer ist, eine slawische Gemeinschaft in Recht, Sitte und Kultus aufzuspüren. Eine solche Einheit hat, sofern sie für die Urheimat überhaupt vorauszusetzen ist, für das frühmittelalterliche Slawentum nicht mehr bestanden. Die Slawen haben sich den Bedingungen ihrer jeweiligen neuen Heimat überraschend schnell anzupassen verstanden. Sie haben sich kulturell und sprachlich erheblich voneinander differenziert, und an eine Einheit in stammesmäßiger, sozialer und politischer Hinsicht darf selbstverständlich nicht gedacht werden. Wie es zur Bildung von Stämmen und Stammesverbänden unter den verschiedenen räumlichen und historischen Bedingungen gekommen ist, bleibt vorläufig noch eines der wichtigsten Forschungsprobleme der slawischen Frühzeit. Daß es bei den Slawen aber allenthalben bald kleinere und größere territoriale Verbände, aufbauend auf den natürlichen Siedlungsräumen und beruhend auf einer gegliederten und meist herrschaftlich geprägten Sozialordnung, gegeben hat, läßt sich aus den frühesten historischen Zeugnissen und wohl auch aus den archäologischen Befunden erkennen.
Besonders in der Nachbarschaft des fränkischen Kulturbereichs ist mindestens im 8. Jahrhundert mit dem Bestehen derartiger Verbände zu rechnen, die einen politischen und militärischen Charakter getragen haben müssen, mit einer auf Burgen gestützten Adelsschicht und einer breiten vornehmlich Ackerbau und Viehzucht treibenden Bevölkerung.
Daß es sich hierbei noch längst nicht immer um festgefügte und konstante Gebilde gehandelt hat, diese vielmehr noch mancherlei Wandlungsprozessen sowie inneren und äußeren Fährnissen ausgesetzt blieben, läßt sich häufig genug aus ihrem Schicksal ablesen, das mindestens anfänglich eng an die militärische Führerpersönlichkeit gebunden erscheint. Es leuchtet ein, daß dieser Prozeß der Herrschaftsbildung, die sich unter verschiedenartigen historischen und räumlichen Voraussetzungen vollzogen hat, nicht gleichartig verlaufen ist. Ob aber die gelegentlich ausgesprochene Ansicht, in verkehrsentlegenen Gegenden wie in Innerkärnten sei es schneller zur Stammesund Herrschaftsbildung gekommen, richtig ist und ob die Annahme von wesentlich anderen Voraussetzungen im nördlichen Abschnitt der Slawenwelt jenseits der Gebirgsschwelle, wo die Herrschaftsbildung angeblich stärker unter fränkischem Einfluß gestanden haben soll, zutrifft, muß völlig offen bleiben, da wir hier auf Grund der Quellenlage über die eigentlichen Anfänge so gut wie nichts wissen. In diesen frühen Herrschaftsordnungen mit einer dem Abendland verwandten, wenn auch primitiven Sozialstruktur sind jedenfalls die entwicklungsfähigen Ansätze für den Prozeß der Europäisierung dieser slawischen Welt im Osten unseres Kontinents zu erblicken, für deren Gelingen sie eine der wichtigsten Voraussetzungen bedeuten. Zu ihnen bahnten sich von den Zentren der Hochkultur die entscheidenden politischen Beziehungen an, die hier abschließend kurz skizziert werden sollen.
Unter diesen Herrschaftsgebilden hoben sich schon früh während des 7. Jahrhunderts einige heraus, die meist freilich kurzfristig in das Licht der Geschichte traten: Allen voran das Reich des Samo, eines fränkischen Waffenhändlers, dem es gelang, die Anerkennung slawischawarischer Mischlinge in ihrem Aufstand gegen den Awarenkagan zu erringen und eine ausgedehnte Herrschaft — vielleicht mit dem Kern in Mähren — über die Landschaften zwischen den Ostalpen und dem Erzgebirge und wohl noch darüber hinaus zu errichten, ein Gebilde, das aber nach seinem Tode rasch wieder zerfiel. Daß es infolge der Erschütterung des Awarenreiches nach seiner Niederlage vor Byzanz zu weiteren ähnlichen ephemeren politischen Bildungen gekommen ist. läßt das Beispiel der Herrschaft des Bulgaren Kuber über kroatische und serbische Gruppen im Gebiet von Monastir und Prilep erkennen.
Dauerhafter als diese Zerfallsprodukte einer awarischen Schwächeperiode erwies sich das Gebilde der karantanischen Slawen, das sich zunächst unter seinem dux Wallucus dem Reiche des Samo unterstellt hatte und sich nach dessen Tode als ein selbständiges Fürstentum gegen die Langobarden und Baiern zu behaupten verstand, bis es schließlich unter dem Drude der wieder erstarkenden Awarenmacht gezwungen war, sich im Jahre 763 der bairischen Oberhoheit zu unterstellen. Möglicherweise ist auch dem Zusammenschluß sorbischer Stämme, die sich unter einem dux Dervanus im Jahre 631 Samo in seinem Kampf gegen die Franken angeschlossen hatten, mehr als nur eine vorübergehende Bedeutung zuzuschreiben. Dieses Gebiet blieb zwar noch für eine lange Zeit außerhalb der unmittelbaren Interessensphäre der fränkischen Ost-politik, aber bei ihrem Einsetzen unter Karl d. Gr. traten dann die Sorben sofort als ein politischer Verband unter duces und reges in Erscheinung. Was hier an mehr oder minder zukunftsträchtigen Ansätzen herrschaftlicher Organisationen letztlich als eine Folge der Erschütterungen innerhalb der Awarenmacht und der Einwirkungen des Franken-reichs und des byzantinischen Imperiums im 7. Jahrhundert sich zeigte, hat wenig später noch eine Parallele in der Unterwerfung der Donau-slawen durch die Bulgaren gefunden, woraus sich freilich erst unter Krum und Omurtag im Anfang des 9. Jahrhunderts ein kraftvolles, slawisiertes und zunächst noch heidnisches Bulgarenreich entwickeln sollte, das rasch zum gefährlichen Rivalen der beiden christlichen Imperien aufsteigen konnte. Wohl haben von Seiten dieser beiden christlichen Mächte schon in dieser frühen Phase slawischer Herrschafts• bildungen unmittelbare politische und kulturelle Ausstrahlungen in diese Barbarenwelt hineingewirkt. Doch erst mit dem Erscheinen Karls d. Gr. nach dem Abschluß der staatlichen Einheit des Abendlandes und der Beseitigung der Awarengefahr konnten daraus Wirkungen von bleibender Dauer werden. Das einprägsamste Symbol für dieses große Verdienst hat die Sprache geschaffen, indem der Name des Awarenbezwingers zur höchsten Herrscherbezeichnung bei allen slawischen Völkern geworden ist.
Mit dem Sieg über die Awaren war die Hoheitsgrenze des fränkischen Imperiums bis an die Raab, den Bakony-Wald, den Plattensee und die Donau weit nach Osten vorgerückt. Sie berührte hier den nach Westen ausgreifenden bulgarischen Herrschaftsbereich und drang in ihrem weiteren Verlauf über die Fruska gora (Frankengebirge bei Belgrad) und quer durch Bosnien bis zur Adria (bei Almissa) tief in die byzantinische Interessensphäre ein. Zugleich mit der Lösung der Aufgabe, die Grenze zu sichern, war in der Auseinandersetzung mit dem byzantinischen Kaisertum von dem 788 eroberten Istrien aus die Unterwerfung Dalmatiens erfolgt, dessen Küstenstädte freilich ebenso wie Venedig in dem Frieden von 812 den Byzantinern erhalten blieben. Damit war auch das kroatische Küstenland, wo sich offenbar aus der Rückwirkung des fränkischen Vorstoßes der erste christliche Staat auf slawischem Boden gebildet hatte, der fränkischen Hoheit unterstellt. Vermutlich hatte hier, ausgehend von den adriatischen Küstenstädten und dem Herzogtum Spoleto, die Missionstätigkeit unter den Slawen schon im 7. Jahrhundert begonnen und bereits Früchte getragen, bevor die fränkische Expansion einsetzte, so daß hier das wache Interesse Roms schließlich erfolgreich dem Einfluß des fränkischen Episkopats entgegenwirken konnte durch die Errichtung eines dem apostolischen Stuhl unmittelbar unterstellten Bistums in Ninn, der Residenz der kroatischen Fürsten. Den binnenwärts gelegenen slawischen Raum hatten hingegen diese frühen Missionskräfte noch nicht erreicht. Er wurde und blieb der Obhut von Salzburg und Aquileja anvertraut, zwischen deren Bereichen die Drau die Grenze bildete, während in politischer Hinsicht dieser Raum sich gliederte in das Alpenland (Karantanien) und das Gebiet an der Donau (Pannonische Mark), das unter einheimischen Fürsten der Oberhoheit und Leitung fränkischer Markgrafen unterstellt blieb. Hier hat die Arbeit der Kirche zusammen mit den kolonisatorischen Maßnahmen weltlicher Kräfte sehr bald reiche Früchte getragen und die slawischen Stämme nach dem Vorgang der Karantanen innerhalb eines Jahrhunderts karolingischer Herrschaft eng mit der fränkischen Reichskultur verbunden. Die Krise, die hier der Aufstand der pannonischen Slawen unter Ljudevit vorübergehend ausgelöst hatte mit seinen Möglichkeiten eines Zusammenschlusses aller Südslawen, war rasch durch den straffen Aufbau des Markensystems in Verbindung mit einer intensiven Siedlungstätigkeit überwunden worden, womit auch dem Vordringen der bulgarischen Macht Einhalt geboten war.
Was aus den unmittelbaren Anlässen der Politik Karls d. Gr. gegen Awaren und Byzantiner dem Frankenreich an Macht und Aufgaben im Südosten zugewachsen war, konnte vor seinen nördlichen Grenz- nichts Vergleichbares haben. Es war wohl weniger eine Frage unzureichender militärischer Machtmittel, die es hier nur zu Ansätzen einer Markenorganisation, teilweise noch auf dem Boden des engeren Reichsgebietes, kommen und es bei der Errichtung einer Zone tributär abhängiger Slawenvölker bewenden ließ. Es fehlte hier vor allem der konkrete politische Anreiz zu einer Machtauseinandersetzung großen Stils, der eine ähnliche politische Zielstrebigkeit wie im Süden hätte hervorrufen können. Für die Sicherung der Hoheitsgrenze genügte die Einflußnahme durch Unterwerfung und Tributpflicht der weithin noch in Kleinstämme aufgesplitterten Verbände, deren innere Rivalitätskämpfe die fränkische Politik für die Sicherstellung ihres Einflusses auszunutzen versuchte. So waren hier die Sorben, Wilzen und Abroditen schon im Zusammenhang mit der Unterwerfung der Sachsen gezähmt und auch die böhmischen Kleinstämme waren bereits durch Karl den Großen der fränkischen Hoheit unterstellt worden. Ebenso gelang es, die im mährisch-slowakischen Siedlungsraum sich bildende Herrschaft Moimirs zur Anerkennung der Tributhoheit zu zwingen, und hier und in Böhmen fand auch die Tätigkeit der bairischen Kirche von ihren Zentren Regensburg, Passau und Salzburg aus ein weiträumiges Betätigungsfeld. Es ließen sich bereits 845 in Regensburg 14 böhmische Kleinfürsten taufen, und auch im sogenannten Großmährischen Reich mit seinem Zentrum in Neutra fand die christliche Lehre Eingang, während im Norden jenseits der Gebirgsschwelle die Voraussetzung für eine solche Missionstätigkeit von ostfränkischer Seite offenbar noch nicht gegeben war. "
Rivalität zwischen Rom und Byzanz So standen sich um die Mitte des 9. Jahrhunderts im Donau-und Balkanraum die beiden christlichen Imperien gegenüber, das eine jung und durch Awarengefahr und Gleichrangigkeitsanspruch zur Offensive gedrängt, das andere traditionsreich und mit jahrhundertealten Erfahrungen für die Eindämmung anbrandender Barbarenvölker ausgestattet, im Vertrauen auf seine geistige Ausstrahlungskraft betont defensiv, beide blockiert und bedroht durch das Großreich der bulgarischen Khane, als die nach Unabhängigkeit und Souveränität strebende Politik Rastislavs von Mähren das dramatische Geschehen auslöste, dessen Abfolge und Ergebnisse bereits die politischen Möglichkeiten und ihre Grenzen für alle Völker dieses Raumes bei seiner künftigen Gestaltung deutlich erkennen ließen. Es hatte sich gezeigt, daß für die Slawenwelt nur in der Schaffung großräumiger Herrschaftsgebilde, gleichviel auf welchen Grundlagen und von wem sie errichtet waren, die Voraussetzung beruhte, politische Geltung zu erlangen und Eigenleben und Souveränität auf die Dauer zu bewahren. Von dieser Erkenntnis war zweifellos das politische Handeln der großmährischen Moimiriden bestimmt, und Erfahrung und Beispiel dürften vermutlich auch mindestens auf die Machtbildungen der Premysliden und Piasten nicht ohne Einfluß gewesen sein, von denen die letztere nach einer offenbar längeren Vorgeschichte, die sich unseren Blicken entzieht und vermutlich bis in das 9. Jahrhundert zurückreicht, erst in ottonischer Zeit als ein fertiges Staatswesen in das Licht der Geschichte tritt. Zu gleicher Zeit sind damals die ostslawischen Stämme durch die Waräger in einem großräumigen Herrschaftverband zusammengeschlossen worden.
Es zeigte sich aber noch eine zweite wichtige Voraussetzung für die Slawen, wollten sie politisch und kulturell zu ebenbürtigen Partnern der überlegenen Imperien werden: die Annahme des Christentums. Aus der Verbindung dieser beiden fundamentalen Einsichten und aus der geschickten Ausnutzung der Rivalität zwischen den beiden Imperien und ihren geistlichen Oberhäuptern einerseits und der Spannungen zwischen dem Führungsanspruch Roms und der fränkischen Kirche andererseits hat das Großmährische Reich trotz allen Schwankungen und Rückschlägen eine bedeutsame eigenständige Rolle im Geschichtsprozeß des 9. Jahrhunderts zu spielen verstanden. Gleichzeitig hat damals der Bulgarenstaat aus den politischen und militärischen Auseinandersetzungen die entsprechende Konsequenz gezogen und mit der Taufe seines Fürsten Boris die Anerkennung als christliche Macht geabschnitten funden. Auch Bulgarien hat dabei geschickt die Rivalität zwischen Rom und Byzanz zu nutzen verstanden, ehe es definitiv unter die geistliche Obhut des Patriarchen zurückkehrte und ihm dann aus dem Erbe der Slawenapostel ein Jahrhundert kultureller Blüs beschieden wurde, deren Früchte dann auch der Ausbreitung des Christentums unter den. Serben und seit dem Ende des 10. Jahrhunderts im Dnjepr-Land zugute gekommen sind. Der geistige Primat unter den Slawen war damit den Bulgaren zugefallen.
So haben sich schließlich weder die hochgespannten kirchenpolitischen Ziele der Päpste bezüglich Bulgariens noch die Erwartungen der Patriarchen und ihrer Sendboten Konstantin und Method auf Begründung einer eigenen Kirchenorganisation mit slawischer Liturgie auf mährischem Boden erfüllt. Bekanntlich hatte Rom selbst sich zeitweilig diesen Plan zu eigen gemacht, in der Hoffnung, auf diesem Wege den Einfluß der ostfränkischen Reichskirche ausschalten zu können, ihn aber dann preisgegeben, so daß am Ende die bairische Geistlichkeit das Feld behaupten konnte. Dementsprechend haben sich auch die Hoffnungen der slawischen Fürsten auf politische Selbständigkeit und Wahrung ihrer Unabhängigkeit nur begrenzt realisiert. Sowohl Bulgarien als auch Großmähren sind nach Ablauf der dramatischen anderthalb Jahrzehnte in die geistigen und politischen Kraftfelder der ihnen benachbarten Großmächte zurückgekehrt, Bulgarien als ein bald selbständiges und für Byzanz gefährliches Zartum, Großmähren nach einer zeitweiligen Ausweitung seiner Einflußsphäre bis in den Weichsel-und Elberaum schließlich als ein geschwächter Rivale und Vasall des ostfränkischen Reiches. Als einen letzten Versuch, die großmährische Souveränität zu retten, wird man Svjatopluks Schenkung seines Herrschaftgebiets an den Stuhl Petri im Jahre 8 80 ansehen müssen. Es war ein Akt, der zwar politisch bedeutungslos blieb, weil der wachsende Druck des arnulfingischen Reiches zur inneren Aushöhlung und der nachfolgende Magyarensturm zur Auslöschung führte, der aber auf künftige Möglichkeiten in der politischen Gestaltung dieses Ostraumes hinwies und der gerade damals seine Parallele in der Politik des Fürsten Branimir im dalmatischen Kroatien fand. In diesen Vorgängen, die der Aufstieg und die Politik der mährischen Fürsten im 9. Jahrhundert ausgelöst hatte, kann man jedenfalls ein bezeichnendes Vorspiel für die kommenden Ereignisse erblicken und zugleich ein Modellfall für die politische Ordnung und die geistige Orientierung der in die Kul-turwelt eintretenden Völker, in dem bereits alle das künftige Schicksal dieses Raumes bestimmenden Mächte in ihren Tendenzen und ihrer Kräfteverteilung sichtbar wurden.
Der Einbruch der Magyaren, eine Auswirkung der politischen Veränderungen im Dnjeprraum und eine unmittelbare Folge des mährischostfränkischen Gegensatzes, schien zunächst nur die Wiederkehr der Awarenherrschaft zu bedeuten. Er führte den Sturz der politischen Ordnung im mittleren Donauraum herbei, zerstörte teilweise die hier gewonnenen Kulturgrundlagen und gefährdete sie in den Nachbarlandschaften. Er brachte erneut große Teile der Slawen unter das Joch eines turkisierten Steppenvolkes ugrofinnischer Herkunft und sprengte den geschlossenen slawischen Siedlungsbereich in Pannonien durch Landnahme und Herrschaftsbildung, ein Vorgang, dessen Auswirkungen bekanntlich die Herausbildung der drei großen slawischen Sprachzweige gefördert und den Prozeß ihrer kulturellen und politischen Differenzierung erheblich beschleunigt hat.
Für das ostfränkisch-deutsche Reich brachte der Magyareneinfall den Abschluß einer folgenschweren Entwicklung, der sich an den nördlichen und mittleren Abschnitten seiner Ostgrenze schon im Laufe des 9. Jahrhunderts abgezeichnet hatte. Bereits seit dem Kampf Rastislavs mit Ludwig d. Deutschen war hier die Tribut-und Einflußzone dem Reich in den Aufständen der Slawen verlorengegangen. Erst unter dem Einfluß der herannahenden Katastrophe des mährischen Reiches nach dem Tode Svjatopluks hatten im Jahre 89 5 die Böhmischen Pemylidenfürsten in Regensburg die Taufe empfangen und König Arnulf gehuldigt. Aber durch den Einbruch der Magyaren und ihre unaufhörlichen Raubzüge sah sich das ostfränkisch-deutsche Reich in der seit Arnulfs Tod einsetzenden Krise längs der ganzen Ostgrenze weitgehend auf seine alten Ausgangspositionen zurückgeworfen. Auch im Südabschnitt hatte die magyarische Herrschaft die pannomische Mark ausgelöscht und sich bis zur Enns und den Beckenlandschaften am Ostrand der Alpen ausgedehnt Und schon Jahrzehnte vorher war das Band, mit dem das dalmatinische Kroatien an das italische Frankenreich geknüpft war, in den Kämpfen um die Kaiserkrone zerrissen. Der karolingische Einfluß war hier endgültig verloren, als Fürst Branimir mit Hilfe des Papsttums im Jahre 8 80 auch gegenüber den Ansprüchen von Byzanz die Souveränität seines mächtig ausgreifenden Staatswesens errungen hatte. Dieser kroatische Staat hat dann in der Folgezeit, zur Königswürde aufgestiegen, trotz aller späteren Wechselfälle in den byzantinisch-bulgarischen Machtauseinandersetzungen sich schließlich doch als Gebilde erwiesen, das seine vorübergehend verlorene Freiheit im Kampf gegen die Byzantiner als ein unabhängiges, wenn auch locker gefügtes Königreich in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts zu behaupten verstand.
Kristallisation Europas im 10. Jahrhundert
Abgesehen von der südslawisch besiedelten Zone zwischen Adria und Schwarzem Meer, in der die Grundlagen der christlich-antiken Hochkultur sich im Laufe der künftigen historischen Entwicklung trotz vielen erbitterten Kriegen um Freiheit und Eigenständigkeit verbreitern und verfestigen konnten, schienen zunächst alle Voraussetzungen und Aussichten für eine erfolgreiche Wiederaufnahme und Fortführung dieses geschichtlichen Prozesses in der Tiefe des slawischen Siedlungsraumes zunichte gemacht zu sein. Die Magyaren stellten während der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts eine ständige gefährliche Bedrohung für die Kulturländer des Westens und Südens dar. Das mittelalterliche Deutsche Reich hatte die Hauptlast ihrer Angriffe zu tragen und war gänzlich in die Defensive gedrängt. Angesichts dieser politischen Situation muß es als einer der erstaunlichsten Vorgänge im Ablauf des europäischen Geschichtsprozesses angesehen und hervorgehoben werden, daß es innerhalb von zwei Menschenaltern gelang, den weitaus größten Teil des noch barbarischen kontinentalen Europas dem christlich-antiken Kulturbereich zuzuführen und anzugliedern. Diese Leistung verleiht dem 10. Jahrhundert epochale Bedeutung, da durch sie die europäische Gemeinschaft ihre räumlichen Verluste im Mittelmeergebiet kompensiert und damit „in die Zeit ihrer Größe“, in das „Europäische Zeitalter” (Halecki) eintritt.
Zur Ausführung und zum Gelingen dieser historischen Leistung bidurfte es neuer Impulse und des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren. Die Impulse gingen in erster Linie von der neuen sächsischen Dynastie im Deutschen Reich aus, dessen innerstaatliche Erneuerung durch Heinrich I. bereits in den vierziger Jahren zu einer hegemonialen Stellung unter den Nachfolgestaaten des karolingischen Abendlandes geführt hatte, der Otto der Große durch seine erfolgreiche Italienpolitik und die Übernahme der Kaiserwürde sichtbaren Ausdruck verlieh. Diese an karolingische Traditionen anknüpfende Politik, der zugleich auch das Papsttum eine befreiende Regeneration zu verdanken hatte, stellte sofort das fruchtbare Spannungsverhältnis zu Byzanz wieder her, woraus dann zusammen mit der Rivalität zwischen kaiserlichem und päpstlichem Führungsanspruch in der Heidenmission kräftige Antriebe zur Pazifizierung und Christanisierung der Barbarenvölker erwuchsen. Aber noch andere historische Bedingungen und Faktoren traten hinzu, die diesen neuen Impulsen zu einem raschen und durchschlagenden Erfolg verhalfen. Die eine wichtige Vorbedingung lag in dem Wandel, der sich im Schicksal der Magyaren vollzog Die andere zeigte sich in der Tatsache, daß die im 9. Jahrhundert erkennbare Tendenz zu großräumigen politischen Herrschaftsbildungen unter den Slawen anhielt und ihre Dynastien aufnahmebereit für das Christentum machte, das sich ihnen bei ihren Auseinandersetzungen mit partikularen stammheitlichen Feudalgewalten als ein wirksames Mittel zur Festigung ihrer eigenen Stellung und zur Erhaltung ihrer politischen Unabhängigkeit anbot.
Für die künftige Eingliederung der magyarischen Reiternomaden in die Gemeinschaft der westlichen seßhaften Völker bildete bereits die Landnahme Arpads eine wesentliche Vorbedingung. Anders als Hunnen und Awaren hatten die an Volkszahl viel schwächeren Magyaren von dem gesamten Gebiet des Karpatenkessels Besitz ergriffen, und der Schwerpunkt der arpadischen Macht lag von vornherein nicht in der Steppenzone, sondern in dem eigentlichen Pannonien, wo eine rasche und intensive Vermischung mit den dort ansässigen Slawen und anderen Bevölkerungsresten vor sich ging. Hier waren offenbar auch nicht alle Keime einer lateinisch-slawisch-deutschen Mischkultur zugrunde gegangen, während sich in den östlich der Donau gelegenen Teilen bald wieder byzantinisch-bulgarische Einflüsse bemerkbar machten. Von -dieser Seite empfing um die Jahrhundertmitte zuerst Fürst Gyula im östlichen LIngarn die Taufe. Vom Beginn ihrer Landnahme hineingestellt in die Spannung zwischen Ost und West, mußten wohl der Sieg Ottos des Großen auf dem Lechfeld, der ihren Raubzügen ein für allemal ein Ende setzte, als auch die Niederlage des Chazarenreichs, durch den Kiewer Warägerfürsten Svjatoslav ausgelöst, wodurch sie von ihren Brudervölkern im Osten isoliert wurden, tiefe Rückwirkungen auf das politische und kulturelle Schicksal der Magyaren haben. Auf dem Hintergrund dieser bedeutsamen Vorgänge gelang dann der Dynastie der Arpaden erneut die Integration des gesamten Landes unter dem Szepter Geizas, der sofort die Verbindung zu Otto dem Großen suchte und sein Reich der westlichen Kultur öffnete.
Aber lange bevor es zu dieser Wende im Schicksal der Magyaren kam, hatte sich schon seit den Tagen Heinrichs 1. ein neues Kräfteverhältnis an der deutschen Ostgrenze anzubahnen begonnen. Die gefährlichen Raubzüge der magyarischen Reiternomaden hatten auch die slawischen Gebiete schwer getroffen. Soweit hier bei den Slawen die christliche Lehre Eingang gefunden hatte und die christlich-antike Kultur zu wirksamer Geltung gekommen war, wie bei den Böhmen, waren die Fäden zur benachbarten bairischen Kirche nicht abgerissen, wenngleich auch die Pfemysliden an das methodianische Christentum anzuknüpfen suchten. Der Sicherung der bairischen Position in Böhmen diente gewiß schon der Zug Herzog Arnulfs im Jahre 922, dessen Pläne aber König Heinrich durchkreuzte, als er dem Böhmenherrscher Wenzel dazu be-wog, seine Prager Stiftung nicht dem Hl. Emmeran zu weihen, sondern sie dem Schutz des Hl. Veit zu unterstellen, ein folgenreicher Parteiwechsel, der zugleich auch das Machtverhältnis zwischen Heinrich und Arnulf entscheidend beeinflußt hat. Als kurz darauf Wenzel durch eine Verschwörung seines Bruders Boleslav 929 erschlagen wurde, hat das rasche Eingreifen des deutschen Königs die Gefahr einer heidnischen Restauration gebannt. Gleichzeitig war es ihm gelungen, in mehreren Kriegszügen die Kleinstämme der Eibslawen dem Reich tributpflichtig zu machen, womit die Einflußsphäre aus den Tagen Karls des Großen wieder hergestellt war. Wie bedeutsam diese Erfolge waren, erwies die Tatsache, daß die Magyaren bei ihrem Rachezug 933 keine bündnis-bereiten Slawen mehr fanden. Mit dem Sieg bei Riade an der Unstrut krönte Heinrich seine Ostpolitik und bestätigte das deutsche Königtum der sächsischen Dynastie.
Von dieser Grundlage aus hat Otto der Große in bewußter Aufnahme karolingischer Tradition in einer weitschauenden Planung die Eingliederung der Slawen zwischen Elbe und Oder und darüber hinaus in die Kultur des Abendlandes vorbereitet durch die Errichtung einer Marken-und Kirchenorganisation, für die Magdeburg als ein neues Zentrum politischer und geistiger Ausstrahlung in die Slawenwelt bestimmt war. Die Gründung der Bistümer Brandenburg, Havelberg und Oldenburg (in Wagrien) für die polabischen Stämme im Jahr 948 und zwei Jahrzehnte später die Errichtung der Diözesen Merseburg, Zeitz und Meißen für die Sorben und die sich östlich anschließenden Nachbarstämme, zugleich mit der Metropole Magdeburg, bildeten die Etappen dieses Weges, der reich an diplomatischen Schwierigkeiten und des öfteren durch Aufstände der Slawen gefährdet war. Ungeahnte Möglichkeiten schienen sich zeitweilig der deutschen Reichskirche im Osten zu eröffnen, als die Kiewer Großfürstin Olga durch eine Gesandtschaft im Jahre 959 Otto I. um die Entsendung von Missionaren bitten ließ. In diesem warägisch-slawischen Reich trafen sich zu jener Zeit Einflüsse des byzantinischen und lateinischen Christentums. Aber als Ottos Sendbote Adalbert, der spätere Erzbischof von Magdeburg, schließlich die Aufgabe übernahm, hatte Olga das Regiment bereits ihrem Sohn Svjatoslav überlassen, der es ablehnte, der christlichen Lehre sein Ohr zu öffnen. Erst unter seinen Söhnen war der Boden für die Aufnahme der christlichen Kultur bereitet, und Vladimirs Entschluß zur Annahme der Taufe führte die Kiewer Rus'in die byzantinische Sphäre, wobei es offenbar noch für eine geraume Zeit nicht an nachhaltigen kirchenpoli-
tischen Einwirkungen aus dem lateinischen Westen gefehlt hat, wohl nicht zuletzt eine Auswirkung der nachbarlichen Kontakte zwischen den Kiewer Reich und dem bis nach Schlesien und Krakau ausgreifenden Premysliden-Staat mit seinen noch lebendigen methodianischen Über-lieferungen. Dieser Staat war nach anfänglichem Widerstreben im Jahre 950 in ein lockeres Abhängigkeitsverhältnis zum Deutschen Reich getreten, und schon wenige Jahre darauf haben die Böhmen unter Boleslav die Siege auf dem Lechfeld über die Magyaren und an der Raxa über die heidnischen Abodriten und Lutizen miterfochten, Siege, die der Ausbreitung und Sicherung der abendländischen Kultur dienten, für die sich die Pfemysliden endgültig entschieden hatten. Gestützt auf eine straffe Burgenorganisation vermochte diese Dynastie von ihrer Handelsmetropole Prag aus, wo im Jahre 937 ein Mainz unterstelltes Bistum errichtet wurde, sehr rasch im Zeichen des Wenzelkults eine expansive und kulturmissionarische Tätigkeit zu entfalten, die diesem slawischen Staatswesen die Bewahrung seiner Eigenständigkeit auch im Rahmen eines lehnsrechtlich ausgestatteten Verhältnisses zum Deutschen Reich garantieren sollte. Nachhaltige Wirkungen hat diese böhmische Aktivität im 10. Jahrhundert zweifelsohne außer auf Mähren, das im frühen 11. Jahrhundert mit Böhmen definitiv vereinigt wurde, besonders auf den frühpolnischen Staat der Piasten ausgeübt.
Wann solche Einflüsse auf die polnischen Stämme zwischen Oder und Weichsel eingesetzt haben, läßt sich nicht mit feststellen, spätestens jedenfalls in den 60er Jahren des 10. Jahrhunderts. Über die Vorgeschichte dieser Herrschaftsbildung ist aus den Quellen nichts zu erfahren. Die Nachrichten des 10. Jahrhunderts lassen nur das Ergebnis erkennen. Vermutlich aber haben schon lange, bevor der früh-polnischeVerband unter Mieszko I. bei seinem Ausgreifen nach Westen im Jahre 963 mit der deutschen Reichsgewalt zusammenstieß, kulturelle und politische Beziehungen zu den benachbarten Zentren des lateinischen und methodianischen Christentum im Süden und Südwesten, d. h. zu Mähren, Böhmen und dem Wislanenstaat bestanden, die nicht ohne Einfluß auf Mieszkos rasches Handeln gewesen sein dürften und die zugleich auch verwandte Züge im Aufbau des früh-plastischen und frühpremyslidischen Staaten erklären. Jedenfalls setzt die Heirat Mieszkos mit der Pfemyslidentochter Dubravka im Jahre 965 zusammen mit seiner Taufe nach lateinischem Ritus eine Periode friedlicher politischer und kultureller Kontakte zwischen Böhmen und Polen voraus. Damals bereits galt Mieszkos Reich als das größte in der nördlichen Slawenwelt. Seine Macht beruhte auf den Zusammenschluß polanischer und kujawischer Stämme, über die er mit Hilfe einer starken Gefolgschaft und einer straffen Burgenorganisation von den Zentren Gnesen und Posen aus seine Herrschaft ausübte. Möglicherweise hatten auch der Zuzug skandinavischer Elemente und die Teilhabe am aufblühenden Wikingerhandel der einheimischen Piastendynastie zu der frühzeitigen Festigung ihres Staatswesens verholfen, ohne daß sich daraus irgendein stichhaltiger, überzeugender Beweis für die normannische Abkunft der Piasten herleiten ließe.
Als Mieszko zu Beginn der 60er Jahre sich anschickte, sein Herrschaftsgebiet in Richtung auf die mittlere und untere Oder auszudehnen, scheiterte er an dem Widerstand des Markgrafen Gero. Für das Land zwischen Oder und Warthe erkannte der polnische Herrscher die Tributpflicht gegenüber dem Deutschen Reich an, zugleich aber verstand er es, sich nach Annahme der Taufe durch ein persönliches Treueverhältnis zum deutschen König in Form einer Schwur-freundschaft (amicitia) seine Handlungsfreiheit weitgehend zu wahren. Durch das böhmische Medium vor allem empfing das frühpiastische Polen die abendländischen Kulturelemente, wie die kirchliche Terminologie noch deutlich erkennen läßt und wie das Fortleben karolingisch-ostfränkischer Traditionen in verschiedenen Bereichen des staatlichen und kirchlichen Lebens zeigt. Die Errichtung eines eigenen Missionsbistums für sein Land mit dem Sitz in Posen war die unmittelbare Folge dieser geschickten Politik Mieszkos, die zwar die weitgesteckten Pläne Magdeburgs durchkreuzte, die aber für das Imperium Ottos d. Gr. eine bedeutsame Mehrung gleichgerichteter Interessen und kulturmissionarischer Zielsetzungen an seiner Ostflanke darstellte.
Im Zeichen einer engen Zusammenarbeit an der Lösung dieser gemeinsamen christlich-universalen Aufgabe im Kampf gegen die Heiden stand förderhin das Verhältnis Mieszkos zum Deutschen Reich.
Wie Boleslav II. von Böhmen in seiner Politik gegen die Magyaren, denen er Mähren und die Slowakei bis an die Waag entreißen konnte, auf die LInterstützung des Reiches angewiesen war, so bedurfte Mieszko für die Verwirklichung seiner Ziele im pomoranisch-lutizisch-
dänischen Machtbereich des Rückhalts an der deutschen Reichsgewalt.
Wohl noch während der Regierung Ottos II. hatte der Piastenfürst die pomoranische Ostseeküste einschließlich der Odermündung seinem Herrschaftsbereich, allerdings nur für wenige Jahrzehnte, unterworfen, und zur gleichen Zeit war jene Prager Bistumsgründung erfolgt, die sich als ein dauerhaftes und wirksames Strahlungszentrum der lateinisch-christlichen Kulturtradition erwies, hinter der die methodianischen Überlieferungen allmählich zurücktraten. Auch das Eingreifen des polnischen und böhmischen Herrschers in die Thronwirren nach dem Tode Ottos I, und Otto II. entsprang keinen Abfalls-gelüsten, vielmehr nur dem Wunsch, Heinrich von Baiern zum König zu erheben. Als 98 3 der Aufstand der heidnischen Lutizen und Abodriten das staatliche und kirchliche Werk Ottos d. Großen in den Gebieten zwischen Elbe und Oder mit Ausnahme des sorbischen Bereiches zum Einsturz brachte, fielen weder Mieszko noch Boleslav vom Reiche ab. Mieszko ist gerade in den folgenden Jahren zur stärksten Stütze der deutschen Reichspolitik im Osten geworden. Im Jahre 986 erkannte er in Quedlinburg die kaiserliche Oberhoheit in einer Form an, die der Stellung Arnulfs unter Heinrich I. zu vergleichen ist, wenn es auch damals nicht zu einer festen staatsrechtlichen Bindung kam und stets das jeweilige Machtverhältnis entscheidend blieb. Der Zwist Boleslavs II. mit dem Reich entsprang vor allem seinem Anspruch auf Meißen, dessen Besitz offenbar für die Sicherung seines Einflusses in Schlesien bedeutsam war, das Mieszko schließlich mit deutscher Hilfe an sich riß. Durch die Übereignung seines Gesamtbereiches an den Apostolischen Stuhl gewann dann der polnische Herrscher zu der Freundschaft des Reiches auch die päpstliche Garantie für seine ausgedehnten Eroberungen, eine Politik, die sein Sohn Boleslaw Chrobry geschickt weiterführte und die — nach der Angliederung auch des Krakauer Landes — in der Errichtung eines eigenen Metropolitanverbandes durch Papst und Kaiser im Jahre 1000 mit Gnesen als Erzbistum und mit seinen Suffraganbistümern Kolberg, Breslau und Krakau für die eroberten Gebiete gipfelte.
Integrierung Polens und Ungarns im 11. Jahrhundert
Die Voraussetzungen für das Gelingen dieser Politik lagen in der erhabenen Auffassung, die Kaiser Otto III. von seinen Pflichten als Erneuerer des Römischen Reiches hegte und die er in Übereinstimmung mit seinem Lehrer und Ratgeber, dem Papst Sylvester IL, durch eine Vergeistlichung des Kaisertums zu verwirklichen trachtete. Hand in Hand mit dem Papsttum und unter Ausschluß jeder Rivalität konnte Otto III. daran denken, die Eingliederung der neuen Herrschaftsgebilde des Ostens in sein christliches Imperium zu betreiben und das Werk der Heidenmission zu vollenden. Als der gemeinsame Freund des jungen Kaisers und des polnischen Herrschers, der Slavnikidensproß Adalbert, bei den heidnischen Prussen den Märtyrertod erlitten hatte, war die Stunde für die Verwirklichung dieser Konzeption gekommen, die der Dreiheit von Roma, Gallia und Germania die „Sclavinia“ als viertes gleichrangiges Glied zuführen sollte. In der Pilger-fahrt Ottos III. zum Grabe Adalberts und in den außergewöhnlichen Ehrungen die Boleslaw Chrobry als „frater“ und „cooperator imperii" mit der Verleihung der Patriziuswürde und der Mauritiuslanze damals zuteil wurden, fand das neue Verhältnis Polens als eines gleichberechtigten Regnum im Rahmen des christlich-universalen Imperiums seinen sichtbaren Ausdruck. Während aber dem polnischen Fürsten die Königswürde damals versagt blieb, erhielt kurz darauf der junge ungarische Herrscher Stefan, der die staatliche Reorganisation seines Vaters vollendete und die Entscheidung für den Anschluß an den abendländischen Kulturkreis durch seine Ehe mit der bairischen Herzogstochter Gisela bekräftigte, mit der eigenen Kirchenorganisation und der Heiligen Lanze zugleich auch die Krone („imperatoris . . gratia et hortatu“), wodurch das einstige Nomadenvolk endgültig zu einem Glied der westlichen Christenheit wurde und die universale Reichskonzeption Ottos III. einen entscheidenden Erfolg gegenüber dem byzantinischen Imperium und der griechischen Kirche erzielte. Die Bedeutung dieser Vorgänge für die Gestalt und das Schicksal Europas läßt sich kaum überschätzen. War es auch weder Otto III. noch der päpstlichen Politik gelungen, den Kiewer Dnjeprstaat in diese Reichs-ordnung einzugliedern, und war diese selbst nach dem frühen Tod des Kaisers infolge einer Verkettung unglückseliger politischer Umstände und persönlicher Mißverständnisse zwischen Heinrich II. und
Boleslaw in langen und erbitterten Kriegen zerbrochen, so hatte diese von höchster politischer Verantwortung getragene Aktivität Kaiser Ottos III. doch Unvergängliches gestiftet: sie hatte die jungen Herrschaftsgebilde des Ostens eng mit dem abendländischen Kulturkreis verbunden, hatte sie zu Teilhabern seines religiösen und ethischen Wertsystems gemacht und die Berufung zum Schutz der christlichen Kultur an ihre Dynastien weitergegeben. Seither bestand der Osten des europäischen Kontinents — mit Ausnahme der im Heidentum verharrenden polabisch-pomoranisch-baltischen Randzone — aus einem geschlossenen Gebiet dynastisch geprägter christlicher Großflächenstaaten, in denen trotz gelegentlicher heidnisch-partikularer Renktionen die Konsolidierung der christlichen Kultur in der Synthese mit den regionalen Überlieferungen unaufhaltsame Fortschritte machte. Der Osten hatte damit aufgehört, vornehmlich ein Objekt fremder Mac. c-und Kulturpolitik zu sein. An die Stelle eines politischen Vakuums war ein Kräftegleichgewichtssystem getreten, das seit dem 11. Jahrhundert von den Auseinandersetzungen zwischen Kaisertum und Papsttum an als ein neuer Faktor im gesamteuropäischen Geschehen neben den beiden Imperien und den bestehenden souveränen Staaten eine Rolle zu spielen begann. In der selbständigen Übernahme kulturmissionarischer Bestrebungen gegenüber der restlichen Heidenwelt und in der erfolgreichen Zurückweisung universalkaiserlicher Ansprüche durch die neuen Glieder der europäischen Christenheit, in denen sich sehr bald ein eigenes national gefärbtes Geschichtsbewußtsein zu entwikkein begann, wurde der grundlegende Wandel sichtbar, der sich hier gegenüber den Tagen der Magyarengefahr innerhalb weniger Jahrzehnte durch die Leistung der ottonischen Politik und die auf sie erfolgte Reaktion vollzogen hatte. Er bleibt bezeichnend, daß keines der Völker, dem im 10. Jahrhundert die Staatsbildung unter gleichzeitiger Übernahme des Christentums gelang, je den Charakter als Nation eingebüßt hat. Die Geschichte Europas war in eine neue Phase getreten, und der Siegeszug der christlich-antiken Kultur unaufhaltsam geworden.
Politik und Zeitgeschichte
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