Der vorliegende Beitrag ist der zweite Teil einer Untersuchung, deren erster am 17. August 1955 (B XXXIII/55) in der Beilage veröffentlicht worden ist.
Noch vor wenigen Jahren lag der Akzent der kommunistischen gegen die Emigration gerichteten Propaganda auf dem Vorhaben „zur Rückkehr in die Heimat“. Mit den Mitteln der Einschüchterung und Erpressungen, aber auch mit Lockungen und Sirenenklängen bemühte man sich in Ostberlin, Warschau, Budapest, Sofia und Prag die Exilgruppen in der freien Welt zur Aufgabe ihres Widerstandes und damit zur politischen Kapitulation zu zwingen. Das Ziel war, dem Westen eine entscheidende Niederlage im Kalten Krieg beizubringen. Nichr auf die Rückgewinnung der Menschen kam es den Kommunisten an, sondern allein auf die Aufweichung der gegnerischen Front.
Die Voraussetzungen, unter denen diese Kampagne 1953/54 mit erheblichem Aufwand startete, waren zudem günstig. Die Hoffnung der Emigranten auf eine baldige Befreiung ihrer Länder vom Kommunismus war einer tiefen Resignation gewichen; der vom Westen nur mangelhafte definierte Begriff „Koexistenz" wurde von den Sowjets, die gerade das Tauwetter erfunden hatten, geschickt ins Spiel gebracht; die allgemeine Flüchtlingsmüdigkeit der europäischen und überseeischen Aufnahmeländer drückte sich in einem ständigen Absinken der Auswandererzahlen aus; das Amt der Flüchtlingskommissare der Vereinten Nationen erschöpfte sich in bürokratischer Routine, und die wirtschaftliche Lage der Emigranten in Europa war im ganzen gesehen miserabel.
In dieser Situation konnten die Kommunisten gewisse Anfangserfolge verbuchen. In Ostberlin etablierte sich das vielsprachige „Komitee für die Rückkehr in die Heimat", nach seinem sowjetischen Chef Mihailow-Komitee
Bis zum Herbst 1956 waren insgesamt etwa 1500 Flüchtlinge im Zuge der Amnestie-und Rückkehrverordnungen in die Länder hinter dem Eisernen Vorhang abgewandert. Gemessen an den Millionen von Osteuropäern, die über die ganze Welt verstreut wohnen, sicherlich eine kaum ins Gewicht fallende Zahl. Doch psychologisch war den Kommunisten ein Einbruch gelungen. Innerhalb der tschecho-slowakisehen Emigration machte sich wachsende Nervosität bemerkbar. Die Infiltration der in . geschlossenen Siedlungsgebieten lebenden Polen in Nordostfrankreich und der Bundesrepublik entwickelte sich günstig für Warschau. Die Unsicherheit, seit altersher ein Element der politischen Emigration, nahm infolge sowjetischer Repatriierungsnoten unter Russen, Ukrainern und anderen früheren Sowjetbürgern erheblich zu.
Das war in großen Zügen die Lage am Vorabend der Ungarischen Revolution, die nun allerdings völlig neue Verhältnisse schuf. Was immer auch die Historiker von dem Oktober 1956 vermelden werden, es war aktuell gesehen ein tiefer Einschnitt. Der Schock, der sich der gesamten Welt mitteilte, wirkte auf die Emigranten wie das lang-ersehnte Signal zum Angriff. Allenthalben brachen abgestaute Gefühle hervor, provisorische Stäbe wurden errichtet, Pressekonferenzen einberufen, Resolutionen in den Äther geschickt, und die Flüchtlinge ergriff eine nie vorher in diesem Umfang gekannte antikommunistische Stimmung.
Mit der Empörung über das sowjetische Eingreifen in Budapest, in die sich sehr bald Wut und Scham über die Rolle des Westens mischte, fand auch die Aktion zur Rückkehr in die Heimat ein vorläufiges Ende. Die Glaubwürdigkeit kommunistischer Angebote war schlagend wider-• legt worden, und selbst die westeuropäischen Linksintellektuellen, die sich auf einen langen Flirt mit dem Kreml eingerichtet hatten, schienen sichtlich verschnupft. Der Geist von Genf, die Koexistenz, das Tauwetter, oder wie immer man den kommunistischen Versuch, dem Gegner Sand in die Augen zu streuen, etikettieren will, wurden vorläufig ad acta gelegt. Moskau hatte seinen nach dem XX. Parteikongreß mühsam erworbenen Kredit rasch vertan. Haß, Ablehnung und eisige Verachtung waren die Quittung für Budapest — das Klima war wahrscheinlich nicht geeignet, Emigranten zur Rückkehr ins kommunistische Paradies zu ermuntern.
Heute schreiben wir das Jahr 19 59. Zwei Jahre sind vergangen, doch die Weltlage hat sich grundlegend geändert. Selbst der Begriff Satellit hat einen neuen Inhalt erhalten. Wie sieht es nun heute innerhalb der politischen Emigrationsgruppen aus, wie ist ihr Verhältnis zu den Regimen in Osteuropa und welche Konsequenzen ergeben sich für die Zukunft?
Zur Einführung in die Problematik sind einige allgemeine Feststellungen erforderlich. Der von dem Ungarischen Aufstand ausgelöste Schock hat, zumindest in einem Punkt, heilsam auf die Emigranten gewirkt. Das Ergebnis ist eher ein Gewinn denn ein Verlust — obgleich der Gewinn mit dem Verlust einer Konzeption erkauft worden ist. Gab es vor dem Oktober 1956 noch unzählige Menschen, die an die Fiktion einer aktiven Befreiungspolitik glaubten, so können sich heute nur noch Naive oder Zyniker solche Parolen leisten. Ende 1956 wurde dieser Konzeption, die überdies den Vorzug besaß, niemals klar formuliert worden zu sein, der Grabstein gesetzt. Der Westen begann den Status quo der Aufteilung Europas de facto anzuerkennen. Zwar ging man nicht ganz so weit, wie Chruschtschow es sich wünschte: nämlich die Sowjetisierung Osteuropas als politisch unwiderruflich zu akzeptieren, doch ist von einer Befreiung der kommunistisch regierten Länder. die immer nur durch Gewalt erreicht werden kann, nicht mehr die Rede Das war für viele Emigranten, die sich vielleicht doch noch in solchen Hoffnungen wiegten, die vielleicht bitterste Lehre Auch hier also hat das Jahr 1956 eine deutlich erkennbare Zäsur gesetzt.
Für die politischen Flüchtlinge ergab sich daraus die Notwendigkeit, sich neu zu orientieren. Dieser Prozeß des Llmdenkens ist heute in vollem Gange und noch keineswegs abgeschlossen. Es ist daher nur möglich, bestimmte Verhaltensweisen anzudeuten, Veränderungen, die einen neuen Weg bezeichnen ohne dabei ein abschließendes Urteil zu fällen. Das augenfälligste, für alle Nationalgruppen charakteristische Symptom, ist die Resignation der Alten: der ehemaligen Minister und Würdenträger aus der Vorkriegs-und Kriegszeit, die bis 1956 das politische Profil der Emigrationen bestimmten. Sie befinden sich im Rückzug; sowohl unmittelbar durch ihr Ausscheiden aus wichtigen Positionen, die sie teils freiwillig, teils widerstrebend räumen, wie auch politisch durch den Bankrott ihrer Anschauungen und Methoden Überall sind die jüngeren Leute, die Nachkriegs-und Nachrevolutionsflüchtlinge im Kommen. In weit höherem Maße als ihre Vorgänger haben sie Zugang zu der Wirklichkeit in ihren Heimatstaaten; sie sind frei von der Lethargie und dem Wunschdenken, die sich unweigerlich während einer langen Emigrationszeit einstellen; ihre Ansichten sind nüchterner und moderner.
Die Umstellung auf die neue Lage erfordert von den Emigranten eine Entscheidung, die viele noch vor wenigen Jahren vermeiden zu können glaubten. Die Entscheidung, ob sie als Durchgangsreisende mit befristetem Aufenthalt in den Asylländern Unterkunft nehmen oder als vollwertige Bürger der neuen Heimat sich ihre Existenz selbst aufbauen sollen. Auch hier sind es die neuen Emigranten sowie die nachwachsende Generation, die für praktische Lösungen eintreten. Das beste Beispiel liefern die ungarischen Studenten, die im November 1956 in großer Zahl nach Österreich entkamen (ca. 8000). Sie haben sich feste organisatorische Formen geschaffen, nicht in der Absicht, Exilpolitik zu betreiben und der gescheiterten Revolution nachzutrauern, sondern allein zu dem Zwecke, alle sich bietenden Chancen zur Förderung ihres Studiums zu nützen, sich Kenntnisse und Erfahrungen anzueignen, um diese einmal als geschulte Fachkräfte in den Dienst Ungarns zu stellen. Ihr Programm lautet: erst die Grundlagen für ein normales Leben im Westen schaffen, sich in die neuen Verhältnisse einordnen, ohne dabei die eigene Nationalität aufzugeben. Der Tag ihres Übertritts in die Emigration ist für diese Studenten der Nullpunkt. Sie sind der Ansicht, daß sie sich erst die Position schaffen müssen, die von den älteren Herrn, den Politikern der Vorkriegszeit, a priori beansprucht wurden.
Die von dem Kongreß der ungarischen Studentenverbände in der freien Welt im Oktober 195 8 in Rom gefaßten Resolutionen entsprechen dieser Haltung. Delegierte aus 16 Ländern beschlossen in Rom: 1. ein studentisches Außenamt zu schaffen, um sich aktiver am Leben studentischer Organisationen in den Aufnahmeländern zu beteiligen,
Ein weiteres Symptom des Wandlungsprozesses ist die wachsende Abneigung gegenüber jeder Art von sinnlosem Exilbetrieb, wie er lange Jahre hindurch, besonders auf europäischem Boden, praktiziert wurde.
Die Abkapselung von der anderssprachigen Umwelt wird abgelehnt. Veranstaltungen, die eine versunkene Vergangenheit glorifizieren, finden kaum mehr Anklang. Statt Gedenk-und Feierstunden zu arrangieren, auf denen ebenso scharfe wie wirkungslose Reden gehalten werden, konzentriert man sich auf aktuelle Ereignisse, wie die Ungarn-debatte vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, den Besuch des „Genossen“ Mikojan in Nordamerika oder die Anerkennung des diplomatischen Status der polnischen und litauischen Geschäftsträger seitens des Vatikans. Natürlich bleibt der Protest der Emigranten auch hier nur eine Geste, die im günstigsten Fall von den Verantwortlichen zur Kenntnis genommen wird. Unmittelbarer Einfluß auf Entscheidungen ist ihnen versagt. Sie können Anregungen vermitteln, sich als Berater bewähren und hinter den Kulissen der politischen Auseinandersetzungen ihres Amtes walten. Das Privileg des Handelns besitzen sie nicht.
Polen und Ungarn im Exil
An dem Beispiel zweier großer Nationalgruppen, der Polen und Ungarn, läßt sich die Problematik des Exils 2) im Jahre 1959 konkret darstellen.
Vor dem Oktober 1956 waren im Verhältnis Warschaus zu den polnischen Emigranten zwei Tendenzen bemerkbar: 1. das Bestreben, die Rückkehr in die Heimat, vom Regime „Repatriierung“ genannt, in Gang zu bringen, und 2.der mit erheblichen Mitteln unternommene Versuch einer Infiltration des Exils, das für die Ziele Volkspolens in Westeuropa geködert werden sollte.
Nach vorsichtigen Schätzungen wohnen etwa 8 340 000 Menschen polnischer Abkunft außerhalb ihres Vaterlandes. Rund 612 000 verließen nach dem 2. Weltkrieg das Land bzw. kehrten nicht in ihre Heimat zurück.
Am 31. Juli 1955 sowie am 15. Januar 1956 verbreitete Radio Warschau Aufrufe an die im Westen wohnenden Landsleute, in die Heimat zurückzukehren. Ein eigner Sender „Kraj“ wurde in Betrieb genommen, und in der polnischen Hauptstadt konstituierte sich die Gesellschaft „Polonie", die die Verbindung zu den Auslandspolen pflegen sollte. Gleich-* zeitig wurden polnische Emigrantenverbände im Westen mit Propagandamaterial überschüttet; kommunistisch gesteuerte Tarnorganisationen wie die „Gesellschaft für französisch-polnische Freundschaft“ und der „Verband der Polen in Deutschland, Zgoda“ finanziert. Alles deutete darauf hin, daß Volkspolen entschlossen war, das Problem der Emigration in seinem Sinne zu lösen.
Mit dem Oktober 1956 — den bekannten Ereignissen, die Gomulka an die Macht brachten — trat dann ein grundlegender Wandel ein, der nicht nur das Verhältnis Warschau zu der Emigration betraf, sondern auch zu einer Um-und Neuorientierung des polnischen Exils 3) gegenüber dem Mutterland führte. Die Aktion zur Rückkehr -nch Polen wurde abgebrocnen. Statt die Emigranten zu ermuntern begann das Regime damit, ihnen eventuell bestehende Pläne zur Heimkehr auszureden. Die Auslandskonsulate und der Sender „Kraj“ erklärten, daß die Verhältnisse in Polen eine Repatriierung großen Stils nicht zuließen. Wohnraummangel und Arbeitslosigkeit wurden als Gründe angeführt. Die Unterbringung und Versorgung der aus der Sowjetunion heimkehrenden polnischen Bürger sei ohnedies ein kaum zu bewältigendes Problem. In der Tat sind bisher etwa 224 000 Polen aus Sowjetrußland repatriiert worden, allein im Jahre 1958 betrug ihre Zahl 67 000. Bis zum 31. März 1959, dem Schlußtermin der Rücksiedlung, wird mit weiteren 3 5 000 Zugängen gerechnet.
Doch nicht nur wirtschaftliche Überlegungen waren für den Kurs-wechsel maßgebend. Gomulka-Polen begann, die Emigration als einen wertvollen Partner zu betrachten. Es kam zu einer Art InteressenGemeinschaft mit dem Exil, ein Phänomen, das keine Parallele im kommunistischen Machtbereich kennt
Um diese Entwicklung zu verstehen, muß man die besondere Lage Polens, das sich im Oktober 1956 bestimmte Grundrechte und Freiheiten erkämpfte und noch heute teilweise leisten kann, bedenken. Es sei hier nur an die unerschrockene Haltung der polnischen Intellektuellen. die sich in nichts von dem stürmischen Drängen des Petöfi-Kreises in Budapest unterschied, erinnert; an die freiheitliche Sprache der polnischen Schriftstellervereinigung mit ihren Wortführern Jan Kott und Anton Slonimski; an die Studentenzeitschrift „Po Prostu“ und den 2 5jährigen, aufsässigen Dichter Marek Hlasko, der damals das Idol der jungen Intellektuellen war. Man muß ferner wissen, daß große Teile der polnischen Emigration Gomulkas „eigenen, sprich polnischen Weg zum Sozialismus“ enthusiastisch begrüßten. Der „polnische Oktober“, so schien es, war der sehnsüchtig erwartete Wendepunkt. Im Tauwetter schmolzen Ablehnung und Opposition gegenüber dem kommunistischen Regime, das man in ein polnisch-sozialistisches umzudeuten trachtete, dahin, und das Nationalgefühl erhielt mächtigen Auftrieb.
Eine aus vielen Quellen gespeiste Aktion zur Unterstützung des neuen Kurses hob an: politisch durch das Zugeständnis der Salonfähigkeit an Gomulka, den man in Verkennung der Realität für einen Politiker hielt, welcher sich im Ernstfälle für Polen und gegen den Kommunismus entscheiden würde; wirtschaftlich durch großzügige Spenden von Lebensrnitteln, Textilien und vor allem Medikamenten; propagandistisch durch eine intensive pro-Gomulka Stimmungsmache, vornehmlich in den Vereinigten Staaten. Der freie Reiseverkehr zwischen Mutterland und Exil führte zu zahllosen menschlichen Kontakten. Die geistige Verbindung, die nach 1945 fast völlig abgerissen war, wurde wieder hergestellt, kurz, die von Warschau angestrebte und vom Exil bejahte Interessengemeinschaft der „beiden Polen“ nahm sehr konkrete Formen an.
Noch in einem anderen Punkt konnte Warschau mit der fast einmütigen Unterstützung durch die Emigration rechnen: die Oder-Neiße-Grenze ist für die Polen, ob Konservative, National-Demokraten, Bauernparteiler, Sozialisten oder Kommunisten, ein nationales Tabu.
In dieser Atmosphäre der Annäherung kehrten eine Reihe von prominenten Exilpolen in die Heimat zurück, unter ihnen die ehemaligen Premiers der Londoner Regierung Mackiewicz und Hanke sowie der Schriftsteller Melchior Wankowicz.
Polens Weg zum Sozialismus ist kommunistisch gepflastert
Wann sich das erste Mißbehagen zu regen begann, ist, wie meist bei ablaufenden Entwicklungsprozessen, schwer bestimmbar. Gomulka, dem man vieles nachzusehen gewillt war, zog die Zügel straffer an. Er zeigte sich versöhnlich gegenüber den Stalinisten in der Parteispitze, der soge-nannten Natolin-Gruppe. Er fuhr nach Moskau und versicherte Chruschtschow, daß Polens Weg zum Sozialismus kommunistisch gepflastert und nur im Zusammenwirken mit der Sowjetunion zu erreichen sei. Er verbot die Studentenzeitschrift „Po Prostu" und ließ sich auf eine Kraftprobe mit der katholischen Kirche ein.
Heute sind die politisch nüchterner denkenden Exilpolen überzeugt, daß sie sich in der Beurteilung des Experimentes Gomulka geirrt haben. Der Parteichef hat 1956 Konzessionen gemacht, weil er, gewarnt durch die Vorgänge vom Juni in Posen, den Kommunismus in Polen retten wollte. Seine scheinbare Beharrlichkeit gegenüber dem Kreml, sein Entgegenkommen im Lande selbst, entsprang nicht, wie man irrtümlich an-nahm, einer eigenen Konzeption, die Polen auf friedlichem Wege zu einer Entwicklung führen sollte, um deren Früchte LIngarn so schmählch betrogen wurde.
Das Ergebnis dieser traurigen Bilanz ist Verwirrung innerhalb des polnischen Exils, Unklarheit über den künftig einzuschlagenden Weg, interne Streitigkeiten, die den Zerfall von Institutionen wie dem „Rat der Drei“ in London (General Anders, General Bor-Komorovski, Graf Raczinski) signalisieren. Immer vernehmlicher werden die Stimmen, die von den polnischen Exilpolitikern eine klare Absage an Gomulka fordern. Am 28. Oktober 195 8 faßte der „Verband Polnischer Studenten im Exil“ in London folgende Resolution, die kennzeichnend für die Lage ist: „Der Verband ist der Ansicht, dass die gegenwärtige polnische Volksrepublik mit ihrer Einparteiregierung nur eine kleine Minorität der Nation repräsentiert und sich nur dank der Llnterstiitzung einer auswärtigen Macht halten kann. Die Volksrepublik garantiert nicht das natürliche Recl-tt auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung aul das Polen, wie jede andere Nation, Anspruch hat. Bis heute ruhte das ganze Gewicht des Kampfes für die Freiheit Polens auf den Schultern der älteren Generation, deren Reihen sich rapide lichten. Es ist jetzt an uns, die Verantwortung zu übernehmen und die bestehenden Organisationen durch neue Ideen und neue Arbeitsmethoden, die der heutigen Wirklichkeit entsprechen, zu modernisieren“.
Ich erwähnte bereits, daß die polnische Situation mit der anderer Exilgruppen nicht vergleichbar ist. Das trifft im besonderen Maße auf die Ungarn zu. Die einzige Parallele ergibt sich aus der Tatsache, daß die Zustände innerhalb des ungarischen Exils sowie das Verhältnis der Emigranten zum Kadarregime nur unter dem Blickwinkel der Revolution von 1956 gewertet werden können. Die Ereignisse vom Oktober/November haben die Struktur des Exils grundlegend verändert und eine Lage geschaffen, die auf lange Sicht jede Versöhnung oder auch nur Annäherung ausschließt. Wenn die übrige Welt sich auch anschickt, den Volksaufstand und seine Niederschlagung als eine zwar bedauerliche, doch historisch gegebene Tatsache zu registrieren, die Ungarn selbst sind zu einer solchen Betrachtungsweise nicht bereit.
Zur Orientierung einige Zahlen. Der unmittelbar nach der zweiten sowjetischen Intervention am 4. November einsetzende Flüchtlingsstrom führte insgesamt 180432 LIngarn nach Österreich und 19 328 nach Jugoslawien. Bis zum 31. Dezember 1958 waren allein aus Österreich 157 411 Flüchtlinge ausgewandert; 36041 nach den USA, 25 472 nach Kanada, 20 660 nach Großbritannien, 14 309 nach der Bundesrepublik, 12 128 in die Schweiz etc. Insgesamt nahmen 37 Staaten neue ungarische Emigranten auf. Nach zuverlässigen Angaben des Wiener Innenministeriums und des Zwischenstaatlichen Komitees für Europäische Auswanderung (ICEM) kehrten 11 883 Personen oder 5, 2 v. H. nach LIngarn zurück. Die Zahl der heute noch in österreichischen Lagern wohnenden Flüchtlinge beträgt 14 969. In Jugoslawien-sind nur einige hundert LIngarn verblieben.
Der Zusammenprall zwischen den neuen ungarischen Flüchtlingen, denen die von Humanität und schlechtem Gewissen diktierte Sympathie der freien Welt gehörte, und der alten Emigration vollzog sich sehr rasch. In einer emotionell geladenen Atmosphäre begegneten sich die beiden künftigen Partner, ein hochinteressanter Vorgang, weil sich gewisse Grundtendenzen jeder Emigration hier an einem konkreten Beispiel darstellten.
Die Haltung der „Neuen“ war ablehnend, im besten Falle mißtrauisch abwartend. Die alte Emigration war für sie politisch suspekt, ein Interessenklüngel ehemaliger Minister und Generäle des Horthystaates, abgedankte Vertreter einer Epoche, die die Verbindung zu der ungarischen Wirklichkeit verloren hatte. Es galt, die Ideen der Revolution vor ihrem Zugriff, vor den ihnen unterstellten exilpolitischen Machinationen zu schützen. Ferner traten die Revolutionsflüchtlinge im Westen mit dem Anspruch auf, daß nur sie allein die Repräsentanten Ungarns seien. Zwar wurde im rein menschlich karitativen Bereich die Hilfsbereitschaft der Landsleute anerkannt, ja, als eine selbstverständliche Pflicht der materiell bessergestellten Emigranten akzeptiert — politisch jedoch wurde keinerlei Kooperation geduldet oder angestrebt.
In dieser ersten Phase einer oft hektischen Aktivität, die etwa bis Ende 19 57 andauerte, wurde der sogenannte Straßburger Revolutionsausscltuß gegründet, ein arbeitsunfähiges Superkomitee mit Anna Kethly, der bekannten Sozialistenführerin, General Bela Kiraly und dem ehemaligen Budapester Stadthaupt Koevago an der Spitze.
Politiker von gestern haben keine Chance
Der einem Naturereignis vergleichbare Eintritt der neuen Flüchtlinge in die Arena des Exils erschütterte dessen Gefüge erheblich. Die nur mühselig gekittete Koalition der politischen Parteien unter Leitung des letzten Präsidenten des 1946 frei gewählten ungarischen Parlamentes Bela Varga zerbröckelte. Einige Politiker, unter ihnen Ferencz Nagv und Imre Kovacs, suchten Anschluß bei dem Straßburger Komitee; Zwietracht und Mißgunst hielten ihren Einzug. Die ungarische Revolution hatte deutlich gezeigt, daß die Politiker von gestern keine Chancen besaßen, daß man sie im Falle der Befreiung kaum mit verantwortlichen Posten betraut hätte. Es erwies sich, daß ihre Erwartungen Illusionen waren und ihre politische Bedeutung zwar symbolischen, doch keinen realen Charakter hatte. Diese Einsicht veranlaßte nun auch die interessierten amerikanischen Kreise mit den Neuflüchtlingen direkte Verbindung aufzunehmen und die Möglichkeiten einer Koordinierung der Exilarbeit zu erwägen.
In der zweiten Phase kam es dann zu einer Annäherung. Sie wurde möglich, weil die neuen Emigranten inzwischen mit ihren stürmisch begonnenen Projekten steckengeblieben waren und sich nun bereit fanden, die guten Beziehungen der alten Emigration in Washington, New York, London, Rom, Paris und Bonn auszunutzen. Es kam zu langwierigen Verhandlungen, die schließlich zu einem Kompromiß führten: Nach dem Ausscheiden einer Reihe von Persönlichkeiten, die entweder für untragbar galten oder selbst an der neuen Entwicklung desinteressiert waren, wurde der ungarische Nationalrat in New York in eine Dachorganisation beider Emigrationsgruppen umgewandelt. Bela Varga behielt zwar den Vorsitz, doch traten die Herren Kiraly und Koevago als gleichberechtigte Partner in das neue Komitee ein. Nur die Sozialdemokraten mit Frau Kethly blieben außerhalb dieses Arrangements.
Die Einigung an der Spitze war im Grunde nichts weiter als eine personell-administrative Maßnahme, die noch dazu den Herren Kiraly und Koevago einen erheblichen Teil ihres Prestiges kostete. Die entscheidenden Kräfte innerhalb der neuen Emigration — die sehr aktiven Studenten-und Jugendgruppen, der Petöf-Kreis, die regionalen Verbände der Freiheitskämpfer und die ehemaligen politischen Häftlinge — stehen außerhalb dieser Regelung. Zwar sind sie mittlerweile in ihrer Beurteilung der alten Emigration milder geworden und zu einer Zusammenarbeit auf den verschiedensten Gebieten durchaus bereit, doch halten sie von Exilpolitik, wie sie vom Nationalrat betrieben wird, nicht allzu viel. So scheint auch die zweite, verbesserte Auflage des ungarischen Nationalrates dem Schicksal der ersten anheimzufallen: sich zu einer Sinecure der unmittelbar daran interessierten Herren zu entwickeln.
Während zwischen Warschau und dem polnischen Exil nach 1956 eine Art Partnerschaft zustande kam, war im Falle Ungarn das Gegenteil zutreffend. Furcht vor der zu erwartenden Rache, Feindschaft gegen das Kadarregime und einfach menschliche Verzweiflung waren die Motive, die rund 200 000 Ungarn zur Flucht veranlaßten. Auf beiden Seiten waren die Gefühle maßlos aufgepeitscht. Die Blutopfer der Revolution standen zwischen den feindlichen Brüdern. Der Akzent lag und liegt noch heute auf Unversöhnlichkeit. Als der Sonderausschuß der Vereinten Nationen im Winter 1957 mit seiner Untersuchung des Ungarn
Problems begann, waren es Flüchtlinge, die als die schärfsten Ankläger gegenüber Budapest auftraten. Der am 7. Juni 1957 angenommene Bericht der LINO, der die Sowjetunion der Einmischung in die inneren Angelegenheiten Lingams beschuldigt und das kommunistische Regime verurteilt, basierte auf Aussagen aktiver Teilnehmer der Revolution. LIngarische Studenten waren es, die im Juni 1958 die Bonner Sowjet-botschaft angriffen, und Genosse Mikojan erhielt während seines Amerikabesuchs einige Kostproben magyarischer Anhänglichkeit geliefert.
Das Kadarregime reagierte ebenfalls, mit erbitterter Schärfe. Die Flüchtlinge wurden als Verbrecher, ihre Abwanderung als Selbstreinigung des Volkskörpers bezeichnet. Doch schon sehr bald begann man in Budapest mit frei erfundenen Statistiken zu operieren. Man sprach von einer Gesamtzahl von 150 000 Emigranten, darunter 20 000 bis 25 000 kriminelle Elemente. Zirka 50 000 seien bereits wieder nach Ungarn zurückgekehrt. Das Regime machte sich die erste Enttäuschung vieler Flüchtlinge zunutze und begann statt von Verbrechern von irregeleiteten Menschen zu reden. Am 29. März 1957 wurde ein Dekret erlassen, welches Bestimmungen über die Repatriierung enthielt; die ungarischen Konsulate wurden angewiesen, Rückkehreranträge von Einzelpersonen entgegenzunehmen; das ungarische Rote Kreuz überreichte in Genf Listen von jungen Rückkehrwilligen, die angeblich an der Durchführung ihres Planes gehindert würden. Eine allgemeine Amnestie wurde allerdings nicht ausgerufen. Nach wie vor ist die legale Heimkehr von der individuellen Überprüfung der Anträge, die oft monatelang dauert, abhängig. Sehr bald zeigte sich, daß das Regime an zwei Gruppen von Heimkehrern besonders interessiert ist: erstens Jugendliche, die noch nicht durch „kapitalistische Vorstellungen“ verdorben sind, zweitens Facharbeiter, deren Massenflucht 19 56 dem Lande empfindliche wirtschaftliche Einbußen verursachte. Budapest wünscht nur solche Heimkehrer, die es sich selbst aussuchen kann. Neben den diplomatischen Vertretungen sind auch Rundfunk und Presse in das begrenzte Programm eingeschaltet. Radio Budapest sendet sechsmal täglich ein sogenanntes „Heimatprogramm“, das sich unmittelbar an die Auslands-ungarn wendet. Außerdem wird eine Zeitung, „Magyar Hirek (LIngarische Nachrichten), an die Flüchtlinge versandt. Die Methoden dieser Propaganda unterscheiden sich in nichts von den Bestrebungen des mit Tränendrüsen, Potemkin’schen Dörfern und Brunnenvergiftung operierenden Mihailow-Komitees in Ostberlin.
Alle diese Anstrengungen haben bisher zur Rückkehr von rund 11 000 Neuflüchtlingen geführt. Diese Zahl ist an sich schon gering, doch wird sie bedeutungslos, wenn man bedenkt, daß die große Welle im November 1956 auch viele Kommunisten über die Grenzen schwemmte, Funktionäre der Partei und AVO, die nicht vor den sowjetischen Panzern, sondern vor der scheinbar siegreichen Revolution flüchteten. Ferner muß man in Betracht ziehen, daß auseinandergerissene Familien wieder zusammengeführt werden, daß sich auch unter den ungarischen Flüchtlingen Faulenzer, Rowdies und asoziale Elemente befinden und schließlich das Heimweh noch immer ein bestimmendes Motiv im Leben der Menschen gewesen ist.
Was damals im bösen Vorwinter 1956 geschah, war überstürzt, die gewaltsame Reaktion eines gequälten Volkes, das selbst in ruhigeren