I. Allgemeine Verfassungsgeschichte von 1858 bis 1949
Nach der im 18. Jahrhundert erfolgten Eroberung durch die Engländer unterstand Indien der Verwaltung der Britisch-Ostindischen Kompanie, die einen Generalgouverneur einsetzte. Die Kompanie wurde jedoch nach dem blutig unterdrückten Sepoy-Aufstand (18 57— 5 8) aufgelöst. Die Herrschaft über Indien wurde nun unmittelbar der britischen Krone übertragen, die durch einen Vizekönig vertreten wurde. Der größte Teil des Landes stand als „Britisch-Indien“ direkt unter englischer Verwaltung, während der Restteil von indischen Fürsten unter englischer Kontrolle regiert wurde. 1 877 nahm Königin Viktoria von Großbritannien formell den Titel „Kaiserin von Indien“ an. Während die indischen Fürsten eine starke Stütze der britischen Macht darstellten, entstand unter den indischen Intellektuellen eine nationale Unabhängigkeitsbewegung, der sogenannte „Indische Nationalkongreß“ (Indian National Congress). Dieser wurde paradoxerweise von einem Briten, dem Schotten Allan Octavian Hume, einem früheren Kolonial-beamten, gegründet (1 8 8 5). Sein ursprünglicher Zweck war, ein Forum zu schaffen, um gebildete Inder zu politischen Diskussionen anzuregen. Der Kongreß erstrebte die vollständige politische und soziale Gleichstellung der Inder mit den Briten und die Errichtung eines nationalen indischen Parlaments. Die britische Regierung war dem Kongreß zuerst freundlich gesinnt. Später, als sie eine politische Oppositon vermutete, wurde sie feindlich. Nach 1900 gab es zwei Richtungen im Kongreß: die Radikalen unter Tilak und ie Gemäßigten, unter G. P. Gokhale und P. Mehta. Der Herrschaft der Gemäßigten von 1908— 1916 folgte die Ära Tilak (1916— 1920) Im Tahre 1906 wurde die Moslemliga (MuslimLeague) als Vertretung der Mohammedaner gegründet. Sie wurde von den britischen Behörden nach dem Grundsatz „Divide et impera!" als Gegengewicht zu der vorwiegend hinduistischen Kongreßpartei unterstützt. G. P. Gokhale hatte 1905 die überparteiliche „Gesellschaft der Diener Indiens“ (Servants of India Society) geschaffen. Tilak gründete im April 1916 die „Liga für Selbstverwaltung“ (Home Rule League). Annie Besant, eine Irin, im September 1916 die „Allindische Liga für Selbstverwaltung“. Diese drei Politiker waren gleichzeitig Kongreßführer. Nach dem 1. Weltkrieg, in dem Indien das Britische Empire unterstützt hatte, verlangte das indische Volk ungestüm die Selbstregierung. Besonders die beiden Parteien traten energisch für eine Autonomie des Landes ein. Die Kongreßpartei und die Moslemliga hatten im Dezember 1916 in Lucknow ein Abkommen geschlossen, in dem sie sich zur Erlangung vaterländischer Ziele zusammenschlossen und sich auf ein Programm gemäßigter politischer Reformen einigten. Der Kongreß räumte der Liga das Recht auf gesonderte mohammedanische Wahllisten ein. Die Liga verzichtete dafür auf das Vorrecht der Moslems, an beiden Wahlen, den allgemeinen und den separaten, telzunehmen.
Die britische „Verfassung“ für Indien von 1919 (Government of India Act 1919), welche in Ausführung der Montagu-Chelmsford-Reformen erging, stellte dem Vizekönig, der bereits e n Kabinett besaß einen Beirat (Advisory Council), auch Staatsrat genannt, von 60 z. TL gewählten und z. TL ernannten Mitgliedern an die Seite. Als Parlament, wenn auch mit beschränkten Befugnissen, fungierte eine Gesetzgebende Versammlung (Legislative Assembly), meist Zentralrat genannt, von 140 Abgeordneten, die in ihrer Mehrheit gewählt wurden. Einige Provinzregierungen gingen in indische Hände über. In den Provinzen bestand nämlich das System der Doppelherrschaft. Der Gouverneur besaß einen Exekutivrat (Executive Council) aus britischen Beamten, der nur ihm verantwortlich war und dem bestimmte Tätigkeitsgebiete vorbehalten waren Die restlichen Tätigkeitsgebiete unterstanden einem Kabinett (Ministry) aus Indern, das einer gewählten Provinzlegislatur (Provincial Legislature) verantwortlich war. Diese Verfassung mit ihrem gemischt autoritären und parlamentarischen System, die dem indischen Volk nur einen Anteil an der Regierung gab, wurde als unzureichend abgelehnt. Die Inder forderten vielmehr eine volle Selbstregierung. Übrigens hatte nur eine verschwindende Minderheit der indischen Bevölkerung das Wahlrecht. Die tatsächliche Macht lag in den Händen der Beamten des britischen „Indian Civil Service“ (Ind scher Zivildienst).
Die Kampfweise der beiden indischen Parteien war völlig verschieden Auf die harten Rowlatt-Gesetze (März 1919), das britische Blutbad von Amritsar (April 1919) und die Verfassung von 1919 antworteten sie auf entgegengesetzte Art. Die Moslems unternahmen Aufstände und Ausschreitungen, während die Anhänger der Kongreßpartei unter Führung Gandhis, der seit dem Tod Tilaks
Man konnte den Mahatma, der eine Verbindung von Politiker und Heiligem darstellte, nicht als einen Rebellen abtun, denn seine Bewegung zeigte keine Züge eines gewaltsamen Aufstands. Es ging ihm auch nicht nur um die Befreiung von der britischen Fremdherrschaft, sondern um die innere Erneuerung des indischen Volkes. Wenn auch Churchill, der größte Feind Gandhis und der indischen Unabhängigkeitsbewegung, den Mahatma als aufrührerischen, halbnackten Fakir bezeichnete, so war dieser doch kein Demagog. Da das indische Volk im Gegensatz zu den weltlich-nüchternen Chinesen tiefreligiös gesinnt ist, benutzte Gandhi die Methoden eines religiösen Jogi und Propheten, um auf diese wirksame Weise seinen Indern politische Lehren zu vermitteln. Gandhi war ein Mann der Tat, nicht der Theorien. Er hat nicht, wie es der chinesische Reformer Sun Yat-sen tat, ein geschlossenes staatsrechtliche Lehrgebäude hinterlassen, sondern er hat einzelne konkrete Ziele durch mehrere Llngehorsamkeitsfeldzüge und durch Hungerstreik zu erzwingen versucht. Nicht seine Ideen waren neu, sondern seine Methoden 1).
Im Jahre 1922 wurde Gandhi verhaftet und zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt, 1924 wurde er jedoch vorzeitig aus der Haft entlassen. Während seiner Gefängniszeit erfolgte eine Spaltung der Kongreßpartei. Die eine Hälfte unter Deshbandu Das und Motilal Nehru trat für eine Beteiligung der Partei an den Wahlen für den Zentralrat und die Provinzräte ein. Die andere Hälfte dagegen unter Führung von C. Rajagopalachari, dem späteren Generalgouverneur des freien Indien, wollte Gandhis Feldzüge des bürgerlichen Ungehorsams fortsetzen. Die erste Hälfte trat nun als Swaradsch-Partei (Selbstregierungspartei) in den Wahlen auf, verlor aber in den Wahlen zum Zentralrat und den Provinzräten viele Stimmen. Eine geraume Zeit nach Gandhis Entlassung vereinigten sich die beiden Flügel der Kongreßpartei wieder. 1928 forderte eine Konferenz aller indischer Parteien den Dominionstatus für Indien. Jawaharlal Nehru, der heutige Ministerpräsident, wurde 1928 Generalsekretär der Kongreßpartei. Ende 1928 wurde er zum Präsidenten des 1920 gegründeten Allindischen Gewerkschaftskongresses für dessen Tagung 1929 gewählt. Auf Vorschlag Gandhis wurde Nehru 1929 Präsident der Kongreßpartei. Damit ging die Führung dieser Bewegung vom Vater Motilal Nehru, der 1928 Kongreßpräsident gewesen war, auf den Sohn über. Unter der energischen Führung des jungen Nehru forderte die radikale Mehrheit der Partei auf der Kongreßtagung In Lahore in der Unabhängigkeitsentschließung vom 3. Dezember 1929 die völlige LInabhängigkeit für Indien. Der 26. Januar wurde zum Unabhängigkeitstag bestimmt; heute wird er als „Tag der Republik“ gefeiert. Der Unabhängigkeitsschwur lautete folgendermaßen: „Wir glauben, dafi es das unveräußerliche Recht des indischen Volkes, wie jedes anderen Volkes, ist, frei zu sein, die Früchte seiner Arbeit zu genießen, alle Lebensnotwendigkeiten und die Möglichkeit zu unbegrenztem Wachstum zu besitzen. Wir glauben auch, daß, wenn irgendeine Regierung einem Volk diese Rechte vorenthält und es unterdrückt, dieses Volk das Recht besitzt, die Regierung zu ändern oder abzuschaffen.
Die britische Regierung in Indien hat nicht nur das indische Volk seines Rechts auf Freiheit beraubt, sondern stützt sich auf die Ausbeutung der Massen, so daß sie Indien wirtschaftlich, politisch, kulturell und geistig ruiniert. Wir glauben daher, daß Indien sich von Großbritannien trennen und seine vollständige Unabhängigkeit erlangen muß.“
Diese Sätze sind der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776 nachgebildet, in der es u. a. heißt: „Daß wenn zu irgendeiner Zeit eine Regierungsform diese Rechte zu zerstören droht, das Volk das Recht hat, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen, die auf sold'ien Prinzipien aufgebaut wird und deren Machtbefugnisse so festgelegt werden, wie es im Interesse der Sicherheit und der Zufriedenheit des Volkes am besten erscheint.“
Hier zeigt sich die Parallelität der geschichtlichen Entwicklung der USA und Indiens in ihrem beiderseitigen Freiheitskampf gegen die Briten. Die Sympathien der meisten Amerikaner waren daher auch damals auf Seiten der Inder.
Um Pläne für eine neue Verfassung zu erörtern, veranstaltete die britische Regierung im November 19 30 und im November 19 31 je eine Round-Table-Konferenz mit den Vertretern der indischen Parteien. Die Kongreßpartei lehnte eine Teilnahme an der ersten Konferenz ab, war aber in der zweiten Konferenz vertreten und zwar durch Gandhi allein. Auf dieser Konferenz trieben Delegierte extremer Hindu-Gruppen und -Parteien ihre Forderungen so hoch wie möglich, um dadurch jedes Abkommen mit den Mohammedanern zu verhindern Deren Forderungen und diejenigen der anderen Minderheiten waren zwar übertrieben hoch. So verlangten z. B. alle Minderheiten außer den Sikhs, sogar die Unberührbaren, gesonderte Wahlverfahren und zwar Mandate in einer Anzahl, die in keinem angemessenen Verhältnis zur zahlenmäßigen Stärke der betreffenden Minderheiten standen. Dennoch hätten die Hindus im Interesse der gemeinsamen Sache zu irgendeiner Einigung mit den anderen Glaubensgemeinschaften kommen müssen. Selbst Mohammed Ali Jinnah, der Führer der Moslemliga und spätere Gründer des Staates Pakistan, wollte damals vermitteln. Gandhi trifft eine gewisse Mitschuld, da er sich nicht so energisch gegen die Hindu-Extremisten wandte wie gegen die Mohammedaner. Er nährte damit Jinnahs Mißtrauen gegen sich und den Kongreß, so daß Jinnah schließlich das Recht für die Moslems in der territorialen Trennung von den Hindus suchte
Im Juni-1935 erließ das britische Parlament eine neue Verfassung für Indien (Government of India Act 1935). Diese trat am 1. April 1937 in Kraft. Sie gab Indien eine bundesstaatliche Form und eine beschränkte Selbstregierung. Die meisten Provinzen erhielten Autonomie. Ferner trennte die Verfassung Hinterindien (Birma, englisch: Burma) von Indien ab. Nachdem die Kongreßpartei in den Provinzratswahlen 1937 einen großen Erfolg errungen hatte, sogar in den vorwiegend mohammedanischen Provinzen, wurde sie überheblich und verweigerte der in den Wahlen geschlagenen Moslemliga e. ne Beteiligung an den neuen Provinzregierungen. Sie wollte zwar Vertreter der Mohammedaner einschließlich der Ligamitglieder in die Regierungen aufnehmen, aber nur unter der Bedingung, daß sie der Kongreßpartei beiträten. Da dies für die Mohammedaner unannehmbar war, konnte Jinnah die religiöse Kluft wieder vertiefen. Auf die Behauptung Nehrus, es gebe nur zwei Parteien im Land, den Kongreß und die Engländer, erwiderte Jinnah, es gebe noch eine dritte Partei, die Moslems. Hätte damals nach den Wahlen der Kongreß die Liga klüger behandelt, wäre es vielleicht nie zu Pakistan gekommen. 1937 wurden in sechs Provinzen, in Assam und der Grenzprovinz die Regierungen von der Kongreßpartei gebildet. Nachdem das britische Kabinett bei Ausbruch des
Nehru war wieder Kongreßpräsident in den Jahren 1936 und 1937. Ihm folgte für 1938 und 1939 Subhas Chandra Bose. Dieser war ein Gegner der Gewaltlosigkeitspolitik Gandhis und zeigte — im Gegensatz zu dem links-eingestellten Nehru — Sympathien für die Achsenmächte. Ebenso wie Sardar Vallabhbhai Patel war er ein ernsthafter Konkurrent Nehrus in der Nachfolge Gandhis. 1940 trat Bose aber aus der Kongreßpartei aus und gründete den „Vorwärtsblock''(Forward Bloc) 1941 entfloh er aus der Haft, ging nach Berlin und Singapur und stellte aus indischen Soldaten und Offizieren, die von den Japanern in Birma und Malaya gefangen genommen worden waren, eine „Indische Nationalarmee“ für den Kampf gegen die Engländer auf. In dieser Truppe, die ein Sinnbild nationaler Einigkeit darstellte, waren alle Religionen Indiens vertreten. Bose, der sich selbst den Titel „Netadschi" (englisch: Netaji; Führer) zulegte, bildete unter japanischem Schutz eine „Regierung des Freien Indien". LInter dem Druck der Notwendigkeit, Indien angesichts des japanischen Angriffs von Birma her versöhnlich zu stimmen und es nicht zu einem Unruheherd im Rücken der Front werden zu lassen, schickte der britische Ministerpräsident Churchill, der schon im Januar 1930 erklärt hatte „Früher oder später wird man Gandhi, den indischen Kongreß und alles, was sie repräsentieren, zerschmettern müssen!“ Sir Stafford Cripps (Labour-Partei) im März 1942 nach Indien, um mit den indischen Parteiführern wegen der Verfassung Indiens und seiner Stellung im Britischen Commonwealth zu verhandeln. England bot Indien den Dominionstatus an, der aber erst nach dem Krieg in Kraft treten sollte. Dies lehnten die indischen Führer ab. Die Mission Cripps scheiterte weil Churchill in Wirklichkeit kein positives Ergebns wünschte. Damals -1942 — wäre ein günstiger Augenblick für die Umwandlung Indiens in ein Dominion gewesen. Die britische Armee und die britische Polizei, die Indien noch völlig in der Hand hielten, hätten das Land ohne Schwierigkeiten den Indern friedlich übergeben können. Eine Spaltung Indiens in die Indische Union und Pakistan, die wirtschaftlichen Rückschritt und politische Spannung bedeutete, wäre vermieden worden. Gandhi und die Kongreßpartei reagierten auf den Fehlschlag der Mission Cripps mit einem neuen Ungehorsamsfeldzug. Der Mahatma beabsichtigte im Juni 1942, eine Aktion unter der Losung „Verlaßt Indien!" (Quit India!) gegen die Engländer zu starten. Das Allindische Kongreßkomitee faßte am 7. August 1942 in Bombay eine Entschließung, die den bürgerlichen Ungehorsam und passiven Widerstand guthieß sowie die Engländer zum Verlassen Indiens aufforderte. Als Antwort darauf ließ Churchill zwei Tage danach alle höheren Führer der Kongreßpartei einschließlich Gandhis, Nehrus, des Kongreßpräsidenten Maulana Azads und aller Mitglieder des Arbeitskomitees (des Führungsgremiums der Partei) verhaften und einkerkern. Zum Ausgleich hatte sich Churchill vorher mit der Kommunistischen Partei Indiens (KPI) verbündet, deren Verbot er im Juli 1942 aufgehoben hatte. Die indischen Kommunisten arbeiteten nun eifrig mit dem britischen Erbfeind zusammen, um den Faschismus zu bekämpfen. Unmittelbar nach der Verhaftung des Mahatma -brachen in ganz Indien Unruhen aus. Eine starke Untergrundbewegung entstand, an der ein Teil der Kongreßpartei aktiv teilnahm, besonders die Sozialisten, die damals noch einen Flügel der Kongreßpartei bildeten. Gandhi wurde am 5. Mai 1944 und Nehru mit den Mitgliedern des Arbeitskomitees sogar erst im Juni 194 5 aus dem Gefängnis entlassen. Nachdem Churchill auf Grund der britischen Wahlen vom 26. Juli 1945 die Macht an die Labour-Partei abtreten mußte, änderte sich die politische Lage entscheidend. Denn das neue Labour-Kabinett verkündete seine Absicht, bald die indische Selbstregierung zu verwirklichen.
Gandhi verhandelte jetzt mit dem Moslemführer Jinnah, der sich nun „Kaid-i-Azam" (Retter des Volkes) nannte, wegen einer Einigung zwischen dem Kongreß und der Liga. Während der Mahatma auf einem vereinten weltlichen Staat beharrte, verlangte Jinnah zwei Religions-Staaten. Der Kaid-i-Azam erstrebte einen islamischen Staat „Pakistan“ 2) aus den sechs Provinzen Pandschab, Sind, Belutschistan, der Nordwest-Grenzprovinz, Bengalen und Assam. In einem solchen Groß-Pakistan hätten die Moslems aber kaum mehr als 50 v. H.der Einwohner ausgemacht. LImgekehrt wäre trotzdem noch ein beträchtlicher Teil der Mohammedaner außerhalb Pakistans geblieben. Jinnah wollte seine „Zwei-Nationen-Theorie“ verwirklichen. Da Kongreßpartei und Moslemliga sich nicht einig wurden, entwarf die im . März 1946 nach Indien gekommene britische Regierungsabordnung am 16. Mai 1946 einen eigenen Plan. Dieser riet von einer Aufteilung Indiens ab und empfahl statt dessen: 1. Ein vereintes Indien aus Britisch-Indien und den Fürstenstaaten mit einer Bundesregierung, die nur für die Verteidigung, die auswärtigen Angelegenheiten und den Verkehr zuständig sein solle; 2. ein Bundesparlament, das größere Maßnahmen rassischen oder religiösen Charakters nur beschließen könne, wenn sowohl die Mehrheit der Hindu-als auch der Moslemabgeordneten dafür stimmen; 3. mit großen Vollmachten ausgestattete Provinzregierungen.
Die Verfassunggebende Versammlung sollte sich nach dem britischen Plan in drei Sektionen gliedern. Sektion A sollte die Abgeordneten der mittelindischen Provinzen mit Hindumehrheit, Sektion B die Abgeordneten der vorwiegend mohammedanischen Provinzen Nordwestindiens und Sektion C die Abgeordneten des halbmohammedanischen Nordostindien (Bengalen, Assam) umfassen. Die drei Sektionen sollten Verfassungen für die drei Teilföderationen A, B und C ausarbeiten, in die sich der Bundesstaat Indien gliedern sollte. Die Briten erklärten, daß die einzelnen Provinzen sich später einer anderen Teilföderation anschließen könnten, wenn ihnen die ursprüngliche nicht gefiele. Gandhi, Nehru und der Kongreß lehnten den britischen Plan ab, wodurch er scheiterte; Jinnah und die Liga dagegen nahmen ihn an. Gandhi, der in den Teilföderationen ein Mittel zur Aufspaltung Indiens sah, und Nehru waren das Opfer ihres eigenen Argwohns geworden. Die Moslem-liga faßte dies so auf, als ob die Hindumehrheit der Moslemminderheit einen verfassungsrechtlichen Minderheitsschutz und eine Autonomie für die Moslemgebiete verweigern wollte. Da die Kongreßpartei zudem keine die Moslemminderheit vor Majorisierung schützende Bestimmung in die Geschäftsordnung der Verfassunggebenden Versammlung aufnehmen wollte und auf dem einfachen Mehrheitsprinzip bestand, beschloß die Moslemliga, die Verfassunggebende Versammlung zu boykottieren. Als es nun um die Bildung einer interimistischen Bundesregierung ging, beanspruchte Jinnah, daß er allein alle für das Kabinett vorgesehenen Moslems vorschlagen dürfe. Dies bedeutete den Anspruch der Moslem-liga, alle Mohammedaner Indiens zu vertreten. Dem widersetzte sich die Kongreßpartei, da sie sich nie als rein hinduistische Bewegung betrachtet hatte, vielmehr Angehörige aller Religionen umfaßte, darunter auch viele Mohammedaner. Bedeutende Moslems wie Dr. Ansari und Maulana Azad waren sogar Kongreßpräsidenten gewesen. Jinnah lehnte jedoch eine Beteiligung der Liga an der Kabinettsbildung ab.
Vizekönig Wavell beauftragte am 24. August 1946 Nehru als Führer der stärksten Partei mit der Bildung einer Interimsregierung und ernannte ihn zum Vizepräsidenten dieser Regierung, deren formelle Leitung er — Wavell — als Präsident behielt. Nehru stellte nun ein Kabinett aus Vertretern aller Religionsgemeinschaften zusammen. Daraufhin beschloß die Moslemliga, die Errichtung von Pakistan durch „direkte Aktion“
Am 9. Dezember 1946 trat die Indische Verfassunggebende Versammlung — allerdings ohne die Vertreter der Moslemliga — in Delhi in der Stärke von 308 Abgeordneten zusammen und begann ihre Arbeit, die drei Jahre — bis zum 26. November 1949 — dauern sollte. Jinnah bestand weiter auf seiner Forderung „Entweder Pakistan oder Bürgerkrieg!“ Schließlich waren die verantwortlichen Kongreßführer Nehru und Patel bereit, in die Teilung Indiens einzuwilligen, wenn dadurch ein Bürgerkrieg vermieden würde. Gandhi war nach Ende des 2. Weltkriegs innerhalb der Kongreßpartei politisch in den Hintergrund getreten. Nehru und Patel waren nun die maßgebenden Führer, die alle wichtigen Beschlüsse faßten, von denen viele den Ansichten Gandhis widersprachen. Dies galt auch für den Entschluß, der Moslemliga ihr Pakistan zu geben, wenn auch nur in der Form eines Klein-Pakistans, dem nur vorwiegend mohammedanische-Gebiete angehören. Man sah in der Kongreßpartei nicht die furchtbaren Folgen voraus, die eine Teilung Indiens hervorrufen würde. Klein-Pakistan bedeutete die sechs oben erwähnten Provinzen ohne Assam sowie Pandschab und Bengalen nur zur Hälfte.
Im März 1947 traf Lord Mountbatten als neuer Vizekönig in Neu Delhi ein. Er beschleunigte die Entscheidung über die Teilung Indiens, indem er diese als unvermeidbar und die Unabhängigkeit als verlockend darstellte. Nun billigte das Allindische Kongreßkomitee am 15. Juni 1947 den Teilungsplan. Am 11. Juli 1947 gewährte Großbritannien durch die „Indian Independence Act 1947" Indien und Pakistan die Unabhängigkeit mit dem Dominionstatus. Die beiden neuen Staaten erklärten am 15. August 1947 ihre Unabhängigkeit. Der letzte Vizekönig Lord Mountbatten, Urenkel der Königin Viktoria und Liquidator der britischen Herrschaft in Indien, wurde der erste Generalgouverneur und Nehru der erste Ministerpräsident des unabhängigen Indien. König Georg VI. von Großbritannien legte den Titel „Kaiser von Indien“
(Kaisar-i-Hind), den seine Urgroßmutter Königin Viktoria angenommen hatte, ab und entließ die indischen Fürsten aus seiner Oberherrschaft. Jinnah wurde Generalgouverneur von Pakistan. Im April 1949 verkündete Indien seinen Entschluß, eine selbständige Republik zu werden, jedoch Mitglied des Britischen Commonwealth zu bleiben. Die neue Staatsform und die am 26. November 1949 angenommene Verfassung traten am 26. Januar 1950 in Kraft, genau zwanzig Jahre nach der indischen Unabhängigkeitsentschließung von Lahore. Die Verfassung war hauptsächlich von Sir Benegal Narsing Rau, dem späteren indischen UN-Delegierten, ausgearbeitet und von Justizminister Dr. Ambedkar durch die Abstimmungen der Verfassunggebenden Versammlung hindurchgesteuert worden. Pakistan wurde später ebenfalls Republik; am 23. März 1956 wurde die „Islamische Republik Pakistan“ ausgerufen. Nach dem Abtreten Lord Mountbattens 1948 wurde C. Rajagopalachari, ein bekannter Kongreßführer aus Madras, Generalgouverneur. Bei Ausrufung der Republik (1950) nahm Dr. Rajendra Prasad, früherer Kongreßpräsident (1948) und letzter Präsident der Verfassung-gebenden Versammlung, das neue Amt des Präsidenten von Indien ein.
Auch nach Erlangung der Unabhängigkeit der beiden neuen Dominien setzten sich die Streitigkeiten zwischen Hindus und Sikhs einerseits und Moslems andererseits fort. Zwischen der Indischen Union und Pakistan kam es zu gegenseitigen Massakern sowie zu Massenaustreibungen von Hindus und Sikhs in Pakistan und von Moslems in Indien, besonders in dem geteilten Pandschab, ferner zu Streitigkeiten um die Fürstentümer. Ab Ende Juni 1948 überschritt ein Flüchtlingsstrom von fast 10 Millionen Menschen nahezu ein Jahr lang die Grenze inmitten des Pandschab in beiden Richtungen. Im ebenfalls geteilten Bengalen retteten sich eine Million Flüchtlinge über die Grenzen. Gandhi, der sich gegen die Verfolgung der Moslems in der Indischen Union gewandt hatte, wurde selbst ein Opfer dieses gegenseitigen Terrors. Er wurde am 30. Januar 1948 in Delhi von einem fanatischen orthodoxen Hindu, Mitglied der extremistischen Partei „Hindu Mahasabha“ ermordet, der seine tolerante Haltung gegenüber den Mohammedanern verurteilte. In der Unabhängigkeitsproklamation vom 15. August 1947 war Gandhi noch als „Vater der Nation, ihr Führer und Lehrer“ bezeichnet worden.
Das Fürstentum Haiderabad (englisch: Hyderabad) war zwar kein Zankapfel zwischen Indien und Pakistan, da es in Mittelindien liegt. Aber der Nisam von Haiderabad, ein Moslemherrscher über eine Hindu-mehrheit, widersetzte sich dem Anschluß an die indische Union. Diese übte nun stärksten militärischen Druck aus und besetzte das Fürstentum im September 1948, bis der Nisam im November 1948 durch ein von ihm erlassenes Gesetz den Anschluß an Indien vollzog.
Bei dem Maharadscha von Kaschmir lag die Sache umgekehrt. Denn dieser herrschte als Hindu über eine Moslemmehrheit. Seinen Anschluß an die glaubensgleiche Indische LInion vollzog er jedoch deswegen nicht, weil er unabhängig bleiben wollte. Sowohl Pakistan als auch Indien erhoben Anspruch auf Kaschmir: Pakistan, weil die Mehrheit der dortigen Bevölkerung mohammedanisch ist, und Indien, weil es sich als Rechtsnachfolger des britischen Kaiserreichs Indien betrachtet und nicht die Zwei-Nationen-Theorie Jinnahs anerkennt. Erst am 24. Oktober 1947, nachdem mohammedanische Freischaren der Pathanstämme aus der Nordwest-Grenzprovinz, denen Pakistan den Durchzug gestattet hatte, in Kaschmir eingefallen waren und dort entsetzlich hausten, bat der Maharadscha Indien um die Entsendung von Truppen. Diese wurden am 26. Oktober 1947 auf dem Luftweg geschickt und retteten die . Hauptstadt Srinagar. Vorher hatten sowohl der Maharadscha als auch die „Nationalkonferenz“, die mit der Kongreßpartei Indiens verbündete größte Partei von Kaschmir, unter Führung von Scheich Abdullah die Aufnahme Kaschmirs in die Indische LInion beantragt. Diese nahm den Anschluß mit dem ausdrücklichen Vorbehalt an, daß der Beitritt provisorisch sei und das endgültige Schicksal Kaschmirs durch eine Volksabstimmung nach Wiederherstellung von Frieden und Ordnung entschieden werden müsse. Die schnell gebildete Regierung des „Freien Kaschmir“
(Azad Kaschmir), d. h.des nicht von den indischen Truppen besetzten Landesteils, stellte mit Unterstützung Pakistans eigene Truppen auf. Pakistan ließ auch reguläre Truppen einrücken, so daß es zum bewaffneten Konflikt kam. Indien legte am 30. Dezember 1947 die Angelegenheit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vor, dessen Kaschmir-Kommission einen Waffenstillstand erreichte, der am 1. Januar 1949 in Kraft trat, und eine Waffenstillstandslinie festlegte. Diese besteht heute noch und trennt einen kleineren, pakistanisch besetzten Teil („Azad Kaschmir“) von einem größeren, indisch besetzten Teil Kaschmirs. Der von den Vereinten Nationen eingesetzte Schiedsrichter Sir Owen Dixon trat im August 1950 zurück, da er keine Möglichkeit sah, die Streitteile zu versöhnen. Die Indische Union will ihre Staatshoheit über ganz Kaschmir anerkannt haben. Sie verlangt das Recht, in Kaschmir mehr Truppen zu unterhalten, als man ihr zugestehen will. Im August 195 3 fanden direkte Verhandlungen zwischen den Ministerpräsidenten von Indien und Pakistan statt, die soweit gediehen, daß man bis Ende 1954 einen neutralen Volksabstimmungsadministrator ernennen wollte. Auf Grund der im Februar 1954 erfolgten Waffenhilfe der LISA an Pakistan erklärte Indien, es sei eine völlig neue Lage entstanden, und zog sich von den direkten Verhandlungen zurück.
Der Maharadscha Hari Singh wurde 1949 vertrieben, und sein Sohn Yuvraj Karan Singh übernahm die Regentschaft. Auf Betreiben des Ministerpräsidenten Scheich Abdullah wurde im November 1952 die Monarchie abgeschafft und der bisherige Regent zum Staatspräsidenten (Sadr-i-Riyasat) gewählt Im August 19 5 3 wurde Scheich Abdullah mit inoffizieller Hilfe der indischen Zentralregierung durch einen Staatsstreich gestürzt, weil er angeblich Kaschmir zu einem unabhängigen Staat machen wollte, wahrscheinlich weil er mehr Autonomie für Kaschmir durchsetzen
Am 1. November 1954 trat Frankreich seine vier Kolonien Mähe, Yanam, Pondicherry und Karikal an die Indische Union ab. Die Kolonie Chandernagore war bereits 1951 auf Grund einer Volksabstimmung Indien angegliedert worden. Portugal dagegen gibt seine Kolonien Goa, Damao und Diu nicht heraus.
II. Gandhis Lehren
Aus Gandhis Reden, Schriften und Zeitungsartikeln kann man folgende politische Lehren, Grundsätze und Forderungen ableiten: 1. Die Hauptziele des indischen Volkes sind: Selbstregierung (Swaradsch) sowie Pflicht zu nationaler Erziehung und sozialer Arbeit.
2. Die Selbstregierung ist nicht durch Gewalt, sondern durch Gewaltlosigkeit durchzusetzen.
3. Es genügt nicht, die nationale Unabhängigkeit zu erringen, denn diese ist kein Selbstzweck. Das eigentliche Ziel ist die soziale Befreiung der Massen — besonders der Bauern — von Ausbeutung und Schuldknechtschaft.
4. Die „Unberührbarkeit" ist abzuschaffen. Die Unberührbaren sollen keine besondere Vertretung im Parlament haben, weil dadurch ihr Aufgehen im Volk verhindert wird.
5. Das zukünftige Indien ist nach dem Grundsatz der allindischen Einheit nach geographischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu gliedern. Es darf nicht in Sprachengemeinschaften und Völker auseinanderfallen.
6. Der zukünftige indische Staat muß einen weltlichen (säkularisierten) Charakter haben. Religiöse Gruppen als solche dürfen nicht die Macht im Staat beanspruchen.
7. In allen Dörfern sind Dorfräte (Pantschajats) zu errichten. Sie erhalten alle Macht innerhalb ihrer Zuständigkeit. Auf ihnen sind die Selbstverwaltung und die Demokratie aufzubauen.
8. Höchstens ökonomisches Ziel ist die wirtschaftliche Unabhängigkeit (Autarkie) Indiens. Diese ist durch Selbstherstellung lebenswichtiger Waren (Swadeschi) in Verbindung mit dem Boykott britischer Waren zu erreichen. Heimindustrie und Handwerk sind zu fördern. Lim die Textilien selbst zu erzeugen, soll jeder Inder das Spinnen und Weben erlernen.
9. Das Privateigentum ist anzuerkennen und zu schützen, denn Eigentum ist von Gott anvertrautes Gut. Sozialismus, Sozialisierung und radikale Bodenreformen sind grundsätzlich abzulehnen Ist eine Enteignung im Interesse der Allgemeinheit unumgänglich, so ist eine Entschädigung zu zahlen.
Diese Ideologie oder besser Reihe von Postulaten hat man „Gandhiismus“ genannt und in Gegensatz zu einem nichtmarxistischen Sozialismus, der ebenfalls in der Kongreßpartei vertreten wird, gesetzt. Der Mahatma erstrebte eine Synthese zwischen dem Individualismus und Nationalismus des europäischen 19. Jahrhunderts und Indiens Über-lieferung und Gemeinschaftsgefühl. Gandhi war von den westlichen Denkern Tolstoi. Emerson, Ruskin und Thoreau beeinflußt. Von ihnen übernahm er den Schutz des Menschen gegen die Maschine. Diese europäischen und amerikanischen Auffassungen durchflocht er mit den ursprünglichen Lehren des Hinduismus. Er schätzte die Bergpredigt, lehnte aber sonst das Christentum wegen seiner Nichtanerkennung der anderen Religionen und seines Anspruchs auf Alleingeltung ab. Gandhi wollte den Hinduismus sittlich erneuern durch Abschaffung der Unberührbarkeit und anderer Übel. In seiner Sorge für das Volk gab es für ihn keine Trennung von Religion und Politik. Er sagte: „Poetik ohne Religion ist etwas Totes.“ Der Mahatma nahm das Außere eines Apostels an, um seine politischen Ideen in einem so religiösen Volk wie dem indischen wirksam verbreiten zu können. Wahrheitstreue, mitleidende Liebe, persönliche Reinheit und Selbstbeherrschung sollten nach seiner Ansicht unmittelbar das soziale und politische Handeln bestimmen. Politisch war Gandhi rechts und konservativ eingestellt. Sein Wahlspruch hätte sein können: „Jedem das Seine!“ Das Sozialrevolutionäre und halbsozialistische Programm Nehrus war nicht in seinem Sinne. Die Sowjets bezeichnen daher den Gandhiismus als eine „reaktionäre politische Doktrin, gekleidet in die Form einer religiös-ethischen Lehre“ 5).
1 . Die Hauptziele des indischen Volkes
Selbstregierung (Swaradsch) bedeutet für Gandhi nicht nur Unabhängigkeit der indischen Nation von Fremdherrschaft, sondern auch ein demokratisches Regime im Innern. Er hat darauf hingewiesen, daß Indien in seinen Dörfern sich ein demokratisches Leben bewahrt hat, trotz autokratischen Dynastien bis zur Neuzeit und trotz der englischen Fremdherrschaft Der Mahatma war allerdings kein Demokrat ’m westlichen Sinne. Das Wesentliche einer Demokratie waren für ihn nicht das allgemeine Wahlrecht und Mehrheitsbeschlüsse, sondern Dienst und Opferleistung zum Wohl aller.
Die Pflicht zu nationaler Erziehung soll den Indern das Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln und in ihnen ein nationales und politisches Bewußtsein erwecken. Die Voraussetzungen hierfür liegen in Indien nicht so günstig wie in dem vergleichbaren China, denn Indien ist nicht so homogen wie das „Reich der Mitte“. Es hat nicht wie dieses eine gemeinsame Sprache und eine gemeinsame Schrift, erst recht nicht eine einheitliche Bevölkerung. Den Chinesen hat zudem einst der Konfuzianismus, der keine Religion ist, sondern ein Staatskultus und eine hochstehende Morallehre, eine gemeinsame Philosophie und Staatsauffassung gegeben Die Inder besitzen so etwas nicht. Hinzu kommt daß China immer ein einheitlicher Staat und nominell ununterbrochen selbständig war, während Indien in den letzten zwei Jahrhunderten unter Fremdherrschaft stand und im Innern außerdem in britische Provinzen und zahlreiche Fürstentümer aufgespalten war. Es konnte also nicht ein solches Gemeinschafts-und Nationalgefühl entwickeln wie China. Nach dem Willen Gandhis soll sich der Stolz auf die Vergangenheit Indiens, das immerhin große Reiche und große Kulturen hervorgebracht hat, mit der Bejahung des gegenwärtigen Freiheitskampfes und dem Glauben an die Zukunft des indischen Volkes verbinden. Die Inder sollen endlich ihren Charakter als Kolonialvolk verlieren und zu einem unabhängigen Volk werden.
Die Pflicht zu sozialer Arbeit bedeutet Dienst an der Gemeinschaft, Beteiligung an großen Aufgaben wie der Bekämpfung von Seuchen, der Verbreitung religiöser und gesellschaftlicher Toleranz, der Förderung der Volksbildung usw. und nicht zuletzt Mitarbeit an sozialen Projekten wie z. B.dem jetzigen Gemeindeentwicklungsprogramm.
Gandhi vereinigte also den nationalen, demokratischen und sozialen Gedanken, ähnlich wie Sun Yat-sen in China. Allerdings muß man dann diese Reihenfolge nehmen: nationale Erziehung, Selbstregierung, soziale Arbeit.
2 Gewaltlosigkeit als Aktionsmethode
Gandhi war in seinem Denken und Handeln nicht nur von seiner Religion, dem Hinduismus, sondern auch von dem Dschainismus (Jainismus), der in seiner gudscheratischen Heimat im Westen von Indien stark verbreitet ist, beeinflußt. Zum Wesen des Dschainismus gehören die Gewaltlosigkeit und das Verbot des Tötens (Ahimsa). Diese Mentalität war daher vielen Indern vertraut. Für Gandh; war die Gewaltlosigkeit ein Dogma und eine Gewissenssache, für die Kongreßpartei dagegen nur eine Form der politischen Taktik. Oft war deshalb der Kongreß in dieser Angelegenheit mit dem Mahatma uneins.
Gandhi hatte den Begriff „Satyagraha" für das Verhalten des indischen Volkes in seinem Freiheitskampf geschaffen. Dieser Begriff ist nicht gleichzusetzen mit passivem Widerstand, sondern er umfaßt den gewaltlosen Widerstand (non-violence), den bürgerlichen Ungehorsam (civil disobedience) und die Verweigerung jeder Zusammenarbeit mit den Briten (non-cooperation). „Satyagraha“ bedeutet ein Herausfordern der Kolonialherren durch planmäßigen Bruch bestimmter, für Unrecht gehaltener Gesetze, wobei alle Folgen willig und freudig ertragen werden. So ließen sich die indischen Massen klaglos von britischer Polizei niederreiten, niederschießen und mit Lathis
3. Soziale Befreiung der Massen
Dadurch, daß Gandhi nicht die Erringung der nationalen Unabhängigkeit als das höchste der Ziele anerkannte, sondern die soziale Befreiung der Massen, ragt er weit über die Führer der anderen parallelen Freiheitsbewegungen Asiens und Afrikas hinaus. Für diese war die politische Freiheit Selbstzweck. Man bildete sich ein, daß nach dem Abzug der Kolonialmächte alles in Ordnung sei und sich alle Probleme von selbst lösten. Gandhi hatte die richtige Einsicht, daß der arme indische Bauer und Pächter nicht in dem fernen britischen Vizeköng und den britischen Kolonialbeamten seinen Feind sah, sondern in dem nahen indischen Grundbesitzer und Verpächter, der ihn ausbeutete und seinen Pachtzins erhöhte. Einem solchen armen Teufel waren Person und Nationalität seiner Herren gleichgültig, wenn diese nur sozial handelten. Auch für Gandhi war es im Grunde genommen nicht wichtig, wer regiert, sondern wie der Herrschende regiert. Denn was nützte es dem indischen Volk, wenn es nach Erlangung seiner politischen Unabhängigkeit statt von den Engländern von einheimischen Großbourgeois und Großgrundbesitzern ausgebeutet würde! Damit hätte sich nur die Hautfarbe der herrschenden Schicht geändert, sonst nichts Es galt also zuerst, in Indien in den dumpfen, trägen Massen ein Nationalbewußtsein zu wecken, damit diese in dem „Zamindar“ (Grundbesitzer) ihren Bruder sahen, mit dem sie gemeinsam gegen die Briten zu kämpfen hatten. In einem freien Indien soll sich dann auch der einfache Bauer in sozialer Sicherheit geborgen fühlen. Dieses Ziel Gandhis wurzelte in seiner tief religiösen Einstellung, die in jedem Mitmenschen zuerst den Bruder sah.
4. Abschaffung der Unberührbarkeit
Die Gliederung des indischen Volkes in Kasten und besonders das Vorhandensein von sogenannten „Unberührbaren“ oder Parias ist ein unseliges Kapitel der indischen Geschichte. Das Kastenwesen ist 3 1/2 Jahrtausende alt, also ein noch in die Neuzeit hineinragendes Überbleibsel des Altertums. Es wurde von den zur großen indogermanischen Völkerfamilie gehörenden Ariern eingeführt, die um 1500 v. Chr. — vom Iran kommend — zuerst das heutige Nordindien und schließlich ganz Indien eroberten. Die Arier betrachteten sich als höherwertige Herrenrasse und die in Indien angetroffene Bevölkerung als Unterworfene. Sie hatten daher ein rassisches Vorurteil gegen die dunkelhäutigen Nichtarier und sogar gegen die Mischlinge — die Halbarier —, die eben auch dunkler waren als sie, die helleren Söhne des Nordens Um die rassischen und völkischen Unterschiede zu erhalten, schufen die Arier eine Einteilung der gesamten Bevölkerung in verschiedene Schichten, Kasten genannt. Der ursprüngliche Sinn der Gliederung in Kasten war, die Rassen voneinander getrennt zu halten, damit sie sich nicht vermischten. Es handelte sich also um eine antike Rassenordnung. Natürlich war es aussichtslos, ein Aufgehen der Eroberer in der Masse der Unterworfenen zu verhindern. Die Kasteneinteilung wurde, um sie unangreifbar zu machen, religiös verbrämt. Sie war also jetzt eine gottgewollte Ordnung, die der Mensch nicht umstoßen durfte. Die höchste Kaste war die der „Brahmanen“, d. h.der Priester und des Geistesadels. Daß ein Kriegervolk wie die Arier die Priester als höchste Kaste einsetzten, konnte eben nur den Sinn haben, der Kastengliederung durch den Nimbus der Religion Stabilität zu verleihen. Die zweithöchste Kaste bildeten die „Kschatrijas" (Kshatriyas; Ritter und Kriegeradel), die dritte Kaste die „Waischjas“ (Vaishyas; Gemeinfreie, Bauern und Kaufleute) und die vierte Kaste die „Schudras" (Shudras; Dienende, Arbeiter, Handwerker). Die drei ersten Kasten sind die Arierkasten, wobei die „Rassereinheit“ von oben nach unten abnimmt. Sie werden als solche den verachteten nichtarischen Schudras gegenübergestellt. Die vorarischen Bewohner des Landes, die Drawidas und die vordrawidischen Eingeborenen-stämme, schlossen sich nämlich zu eigenen Gruppen zusammen, deren Nachkommen wir hauptsächlich in der Schudrakaste wiederfinden. Die vier großen Kasten, von den Brahmanen bis zu den Schudras. genannt die vier Hindukasten, gliederten sich im Laufe der Jahrtausende in Unter-kasten. Die Kasten und Unterkasten entwickelten sich nun zu erblichen Berufszünften. Da niemand aus seiner Kaste „ausbrechen“ konnte, erlitten einerseits die höheren Kasten nicht dadurch Einbuße, daß sie von Angehörigen niederer Kasten überschwemmt wurden, und andererseits konnten die niederen Kasten nicht durch Arbeitslose einer höheren Kaste überfüllt werden. Wie das deutsche Zunftwesen des Mittelalters gab die Kasteneinteilung jeder Gruppe wirtschaftliche Sicherheit, legte aber den Einzelnen wirtschaftliche Beschränkungen auf.
Noch unter den Schudras stehen die Unberührbaren (Untouchables) Diese heißen deshalb'so, weil sie als unrein gelten und ein Angehöriger einer höheren Kaste sich verunreinigen würde, wenn er sie berühren würde. Indem man diese Menschen als unrein abtat, wollte man hauptsächlich eine Vermischung mit ihnen verhindern. Die LInberührbaren werden oft als Kastenlose bezeichnet. Dies stimmt nicht. Sie gehören zwar nicht den vier klassischen Hindukasten, den „Warnas“ (Varnas Ständen), an. Aber schon ihre heutige offizielle Bezeichnung „Scheduled Castes“, die an die Stelle der früheren britischen Bezeichnung „depressed Hasses“, „suppressed castes“ oder „exterior castes“ getreten ist, besagt, daß es sich hier um Kasten — wenn auch die allerniedrigsten — handelt. Unter Verallgemeinerung des südindischen Kastennamens „Paraiyan“ werden die Unberührbaren auch „Parias“ genannt. Als Verstoßene stehen die Unberührbaren außerhalb der Gesellschaftsordnung Sie dürfen keinen Hindutempel betreten. Sie wohnen am Rand der Dörfer und in den Elendsvierteln der Städte. Brunnen und Zisternen sind ihnen verboten, da sie diese verunreinigen würden. Sie dürfen nur die niedrigsten Arbeiten verrichten und sind daher Straßenkehrer, Kloakenreiniger, Landarbeiter usw. 1951 zählte man in Indien (ohne Kaschmir) 51, 3 Millionen Unberührbare, also ein Siebtel des indischen Volkes.
Die Starrheit des Kastensystems lähmte die Entwicklung der Hindu-Gesellschaft und verhinderte oft den Aufstieg kluger Männer in höhere Stellungen. Während im kaiserlichen China der Niedrigste Zutritt zu den höchsten Ämtern hatte, wenn er nur die erforderlichen Examen in klassischer Literatur abgelegt hatte, war dies in Indien lediglich den Angehörigen der höchsten Kasten möglich. Die Chinesen kannten zwar auch immer Klassenunterschiede, sogar solch krasser Art wie zwischen den Grundbesitzern (Landlords) und den Pächtern aber ein starres, ungesundes Kastensystem wie in Indien gab es im „Reich der Mitte“ nie. Die Berufsbeschränkungen bei den Hindus begannen sich erst im 19. Jahrhundert aufzulösen. Gandhis Familie z B., die zur Waischja-Kaste und zur Mod-Bania-Unterkaste (Händler) gehörte, stellte schon zwei Generationen vor dem Mahatma die Premierminister eines Fürstentums
Die von den Ariern geschaffene Kastenordnung überdauerte alle Völkerstürme und Erobererwellen. Perser besetzten das Industal (518 v. Chr.), Mazedonier unter Alexander dem Großen gelangten bis östlich von Lahore (326 v. Chr.) und mohammedanische Araber fielen in Sind ein (711 n. Chr.). Diese drei Völker hinterließen aber keine bleibenden rassischen Spuren. Die islamischen Afghanen griffen in zwei Wellen an, zuerst zwischen 1000 und 1030 unter Mahmud von Ghasni, dann im Jahre 1192 unter Mohammed von Ghor in Radschputana, dem heutigen Radschastan. Seit 1206 herrschten afghanische Sultane aus der Ghor-Dynastie in Delhi, das so zur Hauptstadt Indiens wurde. Der Islam wurde durch die Sultane überallhin verbreitet, aber viele Hindu-fürsten behaupteten sich. Sie behielten zumindest ihren Thron, wenn auch nicht ihre Unabhängigkeit. 1526 eroberten türkisch-mongolische Horden unter Baber, einem Nachfahren des berüchtigten Timur Lenk, das morsch gewordene Reich der Sultane. Sie errichteten das neue islamische Reich der Großmoguln von Indien mit Sitz in Delhi. In der Neuzeit gründeten Portugiesen Holländer. Engländer, Dänen und Franzosen Niederlassungen an der Küste Von ihnen blieben als ernsthafte Konkurrenten um die Herrschaft in Indien nur die Briten und Franzosen übrig. 1760 mußten die Franzosen das Land verlassen; sie behielten nur einige Küstenplätze. Diese sind übrigens 1951 und 1954 an die Indische Union zurückgegeben worden. Heute ist als europäische Macht in Indien nur noch Portugal mit kleinen Kolonien vertreten. Auch die Engländer, die zwei Jahrhunderte das Land beherrschten, tasteten in „kluger“ Nichteinmischung das Kastenwesen nicht an.
Die Briten hatten 1909 für die Hindus und Moslems gesonderte Mandate für die Provinzlegislaturen eingeführt. Infolgedessen konnte ein Hindu nur für einen Hindukandidaten und ein Moslem nur für einen Moslem stimmen. Diese britische Einrichtung machte somit religiöse Unterschiede zum entscheidenden Faktor im politischen Leben. Ein solcher Proporz vertiefte naturgemäß die religiöse Trennung in eine politische. Dr. B. R. Ambedkar, der Führer der LInberührbaren
Dem Mahatma kam es mehr darauf an, den Unberührbaren statt abstrakter politischer Rechte konkrete persönliche Rechte, d. h. die bürgerliche Gleichberechtigung, zu gewähren. Gegen die rechtliche Benachteiligung und für die rechtliche Gleichstellung der Haridschans kämpfte er jahrelang mit Einsatz seiner ganzen Person. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran, indem er Unberührbare in seinen Haushalt aufnahm. Die Ausstoßung der Parias, die vorher eine religiöse Pflicht des Hinduismus gewesen war, stempelte Gandhi nun zu einer Sünde. Sein Verdienst indische Volksgemeinschaft eingeleitet zu haben.
5. Allindische Einheit trotz verschiedener Sprachen und Völker
Eines der Hauptziele Gandhis war es, ein allindisches Nationalbewußtsein zu schaffen Der Schwierigkeiten, die dem entgegenstanden, war er sich bewußt. Denn Indien zerfällt in Sprachengemeinschaften, die sich miteinander niht verständigen können, und in Völker, die sich selten miteinander vertragen haben.
Wie gliedert sich nun Indien nach Sprachen und Völkern? Die gröbste Unterscheidung ist die in eine indo-arische, eine drawidische, eine tibetobirmanische und eine Munda-Sprachengruppe. Alle diese Sprachen sind indischen Ursprungs außer den tibeto-birmanischen, die von außen nach Indien hineinreichen. Zu den indo-arischen Sprachen gehört das Sanskrit, die klassische Kultur-und Bildungssprache Indiens, in der die Weden
„Urdu“ heißt mongolisch auch „Hoflager“, „Horde“ (vgl. „Goldene Horde“). Es wird in persischer, d. h. einer semitischen Schrift geschrieben. Es war Kommandosprache in der britisch-indischen Armee, wo es soar in Latein geschrieben wurde. Urdu ist die Verständigungssprache der Moslems und heute die offizielle Sprache Pakistans. Für den Moslem bedeuten übrigens das Persische und das Arabische, die zwei klassischen Sprachen des Islam, das, was für den Hindu das Sanskrit darstellt. Alle indo-arischen Sprachen stehen unter dem Einfluß des Sanskrit und des Persischen und ergänzen aus beiden ihren Wortschatz. Der Sanskriteinfluß ist am stärksten im Osten — besonders im Bengali — und nimmt nach Nordwesten in dem Maße ab, in dem der Einfluß des Persischen zunimmt. Die indo-arischen Sprachen des Nordwestens benutzen allein oder überwiegend die persisch-arabische Schrift. Für die anderen indoarischen Sprachen sind indische Alphabete gebräuchlich, die auf das seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. vorliegende Brahmi-Alphabet zurückgehen.
Die bedeutendste Schrift ist das Dewanagari, in dem die Sanskrittexte geschrieben sind. Es wird heute für Hindi, Marathi und andere Sprachen benutzt. Für Gudscherati und Bengali gibt es besondere Alphabete.
Die drawidischen Sprachen sind die Volkssprachen Südindiens und des Dekkans. Zu ihnen gehören: Kanaresisch (Kannada), im Westen, Malajalam (Malayalam) im Südwesten, Telugu im Osten und Tamil im Südosten, ferner Gond und andere Sprachen.
Die Munda-Sprachen werden von den Ureinwohnern (Aboriginals), den primitiven Stämmen der Santals, Bhils und Kols in Mittelindien und den Nagas in Nordostindien gesprochen.
Die tibeto-birmanischen bzw. tibeto-chinesischen Sprachen herrschen bei den Bergstämmen des Himalaja, z. B. bei den Scherpas, und in bestimmten assamesischen Grenzgebieten vor.
Gandhi wollte nun verhindern, daß der Sprachengegensatz zu einem Sprengstoff gegen die indische Einheit wurde und dem Zusammenwachsen der vielsprachigen indischen Bevölkerung zu einer einheitlichen Nation entgegenstand. Daher sollte die am meisten verbreitete indische Sprache, das Hindi, ein Verständigungsmittel für alle Inder werden. Daneben sollten natürlich die Religionalsprachen beibehalten werden.
Wenn man auch Sprachen und Rassen nicht verwechseln darf, am allerwenigsten in Indien, das so viele Erobererwellen erlebt hat, so deckt sich doch die Gliederung nach Völkern meist mit der Gliederung nach Sprachen. Denn Völker sind fast nie Rassengemeinschaften, aber sehr oft Sprachengemeinschaften. Die Sikhs sind sogar aus einer Religionsgemeinschaft zu einem Volk geworden. Die Kaschmiris, die Gudscheraten. die Pandschabis, die Marathen, die Radschputen, die Biharer, die Orijas, die Bengalen und die Assamesen mögen wohl verschiedene Völker mit eigenen Sprachen sein, aber sie haben seit den Zeiten der Indo-Arier, ihrer gemeinsamen Vorfahren, im großen und ganzen ein gemeinsames Schicksal gehabt. Sie mögen rassisch durch verschiedene Blutsmischung oft ein unterschiedliches Aussehen haben, sie mögen historisch andere Wege gegangen sein, sie mögen sich durch verschiedene Religionen andersartig entwickelt haben, sie besitzen dennoch ein gemeinsames Erbe ihrer indo-arischen Vorfahren sowie Sprachen, die miteinander eng verwandt sind. Man kann diese Völker daher fast als Volksstämme eines gemeinsamen großen nordindischen Volkes bezeichnen. Schließlich unterscheidet sich der Nordchinese vom Südchinesen sprachlich so wie der Norweger vom Süddeutschen, und trotzdem spricht man von einem chinesischen Volk. Zudem werden die nordindischen Völker in dem gemeinsamen unabhängigen Staat Indien mit seinen gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Aufgaben noch mehr zusammenwachsen. Noch stärker verwandt miteinander als die Nordinder sind die Völker Südindiens: die Tamilen, die Kanaresen, die Malajalis und die Andhras. Sie stammen von den Drawidas ab, den vorarischen Bewohnern Indiens, und zeigen, ein ziemlich einheitliches rassisches Aussehen. Sie ähneln den Eingeborenen von Sumatra und Malaya. Kulturell fühlen sie sich einander verbunden und besitzen gemeinsame drawidische Kulturverbände. Eine Annäherung zwischen den dunkelhäutigen Drawida-Völkern und den helleren europiden nordindischen Völkern ist nicht nur aus sprachlichen Gründen schwierig. Dem stehen gegenseitige Abneigung und jahrtausendealte Vorurteile entgegen, ferner Verschiedenheit des Charakters, der Denkweise und der Lebensauffassung. Die Tibeto-Birmanen im Himalaja fühlen sich infolge der Abgeschiedenheit ihrer Täler nicht als Volk oder Völker, sondern nur als Stämme.
Die primitiven Eingeborenenstämme (Aboriginal Tribes) der Santals, Ho, Kols und Bhils stehen auf einer zu niedrigen Kulturstufe, um mehr als ein Sippen-und allenfalls Stammesbewußtsein entwickeln zu können. Die Nagas dagegen, ein nach Hunderttausenden zählendes Kriegervolk im indo-birmanischen Grenzgebiet, haben im Jahre 1957 die Errichtung eines eigenen Verwaltungsgebiets „Naga-Hills" (Naga-Berge) innerhalb der Indischen Union durchgesetzt, ein Zeichen dafür, daß sie als ein Volk angesehen werden können.
Ein Vergleich Indiens mit China ergibt folgendes: Zwar ist auch China völkisch nicht einheitlich, denn es hat etwa 60 nicht-chinesische Nationalitäten. Diese machen aber nur etwa 40 Millionen von insgesamt 600 Millionen Einwohnern aus, so daß die Vorherrschaft des chinesischen Staatsvolks unbestritten bleibt. In Indien gibt es dagegen kein Staatsvolk. Wohl hat auch China mehrere Erobererwellen erlebt: Tataren, Hunnen, Awaren, Mongolen und Mandschus. Aber alle diese fremden Völker und Horden waren wesensverwandt; sie gehörten sämtlich zur gemeinsamen sogenannten mongolischen Rasse. China hat sie auf-gesogen und durch seine einheitliche Kultur zu Chinesen („Han“ -Leuten) gemacht. Indien dagegen ist rassisch, völkisch und kulturell uneinheitlich geblieben. Da seine verschiedenen Rassen (Arier, Drawidas, Mongolen usw.) zu heterogen waren, hat sich weder ein einheitlicher rassischer Typ noch ein einheitlicher Nationalcharakter herausbilden können.
Gandhi verlangte nicht, daß die Völker Indiens ihre nationale Eigenart aufgeben sollten. Sie sollten sich jedoch zu einem allindischen Nationalgefühl durchringen. Der Mahatma befürchtete mit Recht, daß, nachdem mühsam die Unabhängigkeit Indiens errungen war, seine Einheit durch zentrifugale Bestrebungen von Völkern und Sprachengemeinschaften gefährdet werden könnte. Da letztere auf Grund der wechselvollen Geschichte Indiens derart ineinander verzahnt sind, daß sie sich territorial nicht gegeneinander abgrenzen lassen, würde die Schaffung vor Gliedstaaten nach rein völkischen und sprachlichen Gesichtspunkten doch große Minderheiten in den betreffenden Staaten belassen. Das Minderheitenproblem wäre damit jedenfalls nicht aus der Welt geschafft. Statt einer territorialen Aufsplitterung Indiens in Völker und Sprachen-gebiete sollte eine vernünftige Gliederung des Landes nach geographischen, wirtschaftlichen, Verkehrs-und verwaltungsmäßigen Gesichtspunkten erfolgen.
6. Weltlicher Staat trotz politisierter Religionen
Obwohl der Mahatma wie ein Apostel auftrat und ein überzeugter Anhänger des Hinduismus war, wandte er sich gegen eine Einmischung der Religionsgemeinschaften in die Politik. Er kannte den relgiösen Fanatismus, die Intoleranz und den gegenseitigen Haß der Religionen in Asien, so daß er es nicht wünschen konnte, diese erhitzte Atmosphäre auf die Politik zu übertragen. Eine Staatsreligion lehnte Gandhi ab, weil dann die Religionen der Minderheiten unterdrückt würden In einer klaren Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften sah er das Heil beider Teile. Sein höchstes Ideal war der weltliche Staat. „Indien“, so sagte er, „gehört den Christen und Moslems ebenso wie den Hindus. Der indisd^e Staat soll nickt auf die Mehrheit einer religiösen Geuteinsd-iaft, sondern auf die Abgeordneten des ganzen Volkes ohne Unterschied der Religion gegründet werden.“ Wie Kemal Atatürk, der Vater der modernen Türkei, trat Gandhi für einen laizistischen und säkularen Staat ein, bei dem der Einfluß der Religion auf die Staatspolitik beseitigt ist. Besonders bekämpfte er die „Zwei-Nationen-Theorie" Jinnahs, des Führers der Moslemliga, nach der Hindus und Moslems zwei verschiedene Nationen sind. Jinnah verwirklichte übrigens später in Pakistan den religiösen Staat. Denn der mohammedanische Glaube wird offiziell als die Grundlage der „Islamischen Republik“ Pakistan bezeichnet.
Wie groß die Bedeutung der Religionen in Indien ist, geht daraus hervor, daß sogar die politische Ausrichtung in Indien durch sie bestimmt wurde. Die alte Einheit Indiens zerbrach durch den Glaubensgegensatz zwischen Hindus und Moslems. Die Religionen waren hier zu Parteien und dann zu Staaten geworden. Demgegenüber ergibt ein Vergleich mit China, daß zwar die Chinesen auch Religionen (Buddhismus, Taoismus, Islam, Christentum usw.) haben, daß aber eine politische Spaltung aus religiösen Gründen in China nie möglich gewesen wäre.
Es gibt folgende Religionsgemeinschaften in Indien: die Hindus, die Mohammedaner oder Moslems, die Christen, die Sikhs, die Dschainisten (Jainisten), die Buddhisten und die Parsen, ferner primitive Stammesreligionen.
Die größte Religionsgemeinschaft bilden die Hindus. So werden die Anhänger des Brahmanismus oder der Fortentwicklung desselben, des Hinduismus, genannt. Diese Religion entstand durch eine Vermischung der religiösen Anschauungen der Arier mit denen der unterworfenen Drawidas. Der Hinduismus lehrt, daß Brahman der Geist des Alls ist und sich in Gestalt von Göttern wie Brahma, Wischnu und Schiwa sowie von Göttinnen wie Kali und Durga offenbart. Wischnu wiederum tritt als Rama und Krischna auf. Der Hinduismus lehrt die Seelenwanderung. Erst derjenige, der durch mehrfachen Erdenwandel in verschiedener Gestalt geläutert ist und das Brahman — das ewig unwandelbare Eine — erkennt, findet Ruhe im Nirwana und wird von der Seelenwanderung erlöst. Wer sich im gegenwärtigen Leben gut führt, kann im nächsten Leben in eine höhere Kaste hineingeboren werden und umgekehrt. Man kann sogar als Tier wiedergeboren werden. Diese Umwandlungen folgen einem Gesetz, dem „Karma“. Die großen Jogis und die Mahatmas (Große Seelen) brauchen sich nicht noch einmal der Qual des Wiedergeborenwerdens zu unterziehen. Sie gehen direkt ins Nirwana ein.
Es gibt keinen die ganze Hinduanhängerschaft umfassenden hierarchischen Organismus, keine Hindu-„Kirche“, sondern eine große Anzahl nebeneinander auftretender Organismen und Sekten. Die wichtigste Spaltung ist die in den Schiwaismus und den Wischnuismus. Ebensowenig verfügt der Hinduismus über eine fest umrissene Lehre. Er ist wandelbar und vielgestaltig. Seine wichtigsten Lehrsätze sind in den „Puranas“ nieder-* gelegt. Ein heiliges Buch ist auch die Bhagavad-Gita (Der Gesang des Erhabenen). Den Hindus sind die Kühe heilig; sie dürfen daher kein Rindfleisch essen. Das entscheidendste Merkmal des Hinduismus ist die Ausbildung des Kastenwesens.
Der Hinduismus ist gegenüber anderen Religionen tolerant. Da er diese anerkennt und achtet, lehnt er es ab, auf Kosten anderer Religionen Mission zu treiben und Anhänger zu gewinnen. Ramakrischna, ein großer Lehrer des Hinduismus aus dem 19. Jahrhundert, lehrte, daß alle Religionen nur verschiedene Wege zu dem einen Gott seien. Der Hinduismus umfaßte 1951 85 v. H.des indischen Volkes (303 Millionen).
Gandhi entstammte dem Hinduismus und war ein überzeugter Anhänger desselben. Aber er bekämpfte die Auswüchse des Hinduismus, besonders dessen soziale Ungerechtigkeiten wie z. B. die Unberührbarkeit.
Auf dem Boden des Hinduismus entwickelten sich die zwei Religionen des Buddhismus und des Dschainismus (Jainismus). Beide entstanden im 6. Jahrhundert v. Chr. Ihre Stifter sind Gautama Buddha und Mahavira Vardhamana. Beiden Religionen war die Lehre von der Seelenwanderung sowie die Ablehnung der Tieropfer, der Kastenordnung und dei Autorität der Weden gemeinsam.
Dem Buddhismus fehlt der Glaube an einen Gott oder mehrere Götter. Die Weltordnung selbst, vom großen Gesetz des „Karma“ durchdrungen und gelenkt, nimmt den Platz einer höchsten Gottheit ein. Der Hauptbestandteil der Lehre des Buddha (des „Erleuchteten“) sind die Vier Edlen Wahrheiten, die Zehn Gebote und der Edle Achtfache Pfad. Der Buddhismus schreibt den Mittleren Pfad vor, der zwischen den Extremen der Sinnlichkeit und der Abtötung des Fleisches liegt. Die buddhistische Frömmigkeit ist auf die Anhäufung guter Taten, auf Kontemplation und auf geistige Abwehr des Bösen ausgerichtet. In der Poli-tik erstrebt der Buddhismus waffenlosen Ausgleich von Spannungen Die Buddhisten haben zu keiner Zeit über eine Kirche oder eine feste Organisation verfügt Es gibt kein Organ das im Namen aller Gläubigen zu sprechen berechtigt wäre.
Im 3. Jahrhundert v. Chr war der Buddhismus die Staatsreligion Indiens. Großkönig Aschoka (272— 231 v. Chr.) verbreitete damals den Buddhismus durch eifrige Missionstätigkeit in Asien. Die Indische Union hat übrigens das „Rad des Aschoka“ in ihre Nationalflagge und die „Löwen des Aschoka“ in ihr Wappen ausgenommen Der Buddhismus, ursprünglich eine rein indische Religion, wurde zur Hauptreligion von Tibet. China, Japan, Korea, Birma, Ceylon und Nepal In Indien, seiner Heimat starb er etwa um 700 n. Chr. ganz aus. Erst in neuerer Zeit wurde der Buddhismus wieder nach Indien gebracht und zwar meist von Ceylon aus. Heute stellt er ein wichtiges Bindeglied zwischen Indien und den südostasiatischen Staaten dar. Buddhistische Gläubige aus diesen Ländern pilgern zu den heiligen Stätten in Indien Dem Buddhismus gehörten 1951 nur 0, 06 v. H.der indischen Bevölkerung, nämlich 214 000 Menschen, an.
Der Dschainismus lehrt ähnlich wie der Buddhismus einen Atheismus, da er die Hindugötter für sterbliche Wesen hält und sie deshalb nicht anbetet. Jedoch werden mehrere Dschinas (Jinas), große Überwinder, verehrt, von denen der Religionsstifter Vardhamana nur der letzte war. Der Dschainist (Dschaina) glaubt, daß auch leblose Dinge mit einer Seele oder einem Bewußtsein begabt sind. Jede Seele muß die Folgen ihres Karma tragen und durch immer wiederkehrende Geburten zur Erlösung gelangen Allein durch Gewaltlosigkeit und Askese wird man erlöst. Eine Vergebung oder eine Gnade wie in anderen Religionen gibt es nicht. Die Lehre vom „Ahimsa", dem Verbot des lötens, wird übertrieben. Ganz konsequente Dschainisten tragen ein Tuch vor dem Mund, um nicht versehentlich Insekten einzuatmen. Der Dschainismus hat übrigens Gandhis Idee der Gewaltlosigkeit im nationalen Freiheitskampf stark beeinflußt. Zum Dschainismus bekannten sich 1951 0, 45 v. H. aller Inder und zwar über 11/2 Millionen.
Der Sikhismus stellt eine Verbindung von Elementen des Hinduismus und des Islam dar. Sein Religionsstifter ist Nanak (1469— 15 38). Dessen Lehren und die anderer „Gurus“ (geistlicher Lehrer) sind im „Granth Sahib“, dem „Hohen Buch“, gesammelt. Die „Sikhs“ (die „Lernenden“) haben vom Islam den Monotheismus und vom Hinduismus die Seelenwanderung und das Karma übernommen. Gott heißt einfach der „Wahre Name“ oder der „Wahre Guru“. Die Sikhs betrachten alle Menschen als gleich, anerkennen also keine Kastenunterschiede Da der Sikhismus vom Islam sofort scharf abgelehnt wurde, näherte et sich bald wieder mehr dem Hinduismus.
Weil die Sikhs im 17. und 18. Jahrhundert von den islamischen Großmoguln verfolgt wurden, schlossen sie sich damals zu einem militärischen Gemeinwesen zusammen. Im 19. Jahrhundert schufen sie sogar ein starkes Sikh-Königreich im Pandschab, das eist 1849 endgültig von den Briten zerschlagen wurde. Die Sikhs haben auf Grund ihrer Vergangenheit einen eigenartigen kriegerischen Zug. Sie sind an ihrem langen, zu einem Knoten gewundenen Haar erkennbar. Heute betonen die Sikhs vor allem ihre soldatische Tradition, ihre überlieferte Opferbereitschaft für das Vaterland und ihre Lehre von der Gleichheit der Menschen. Die Heimat der Sikhs ist der Pandschab. Durch dessen Teilung im Jahre 1947 wurden viele von ihnen heimatlos und flohen in die Indische Union. Dort gab es 1951 über sechs Millionen Sikhs, d. h. 1, 74 v. H.der Gesamtbevölkerung.
Die erwähnten vier Religionen — Hinduismus, Buddhismus, Dschainismus und Sikhismus — sind in Indien entstanden. Sie werden daher als wesentlich zum Hindutum gehörig betrachtet und infolgedessen als „Hindu-Religionen" (im weiteren Sinne) bezeichnet. Sie umfassen zusammen über 87 v. H.der indischen Bevölkerung. Wenn es im heutigen Indien auch keine Staatsreligion gibt, so werden diese vier typischen Religionen zusammen doch als die Landesreligion angesehen. Die Erringung der nationalen Unabhängigkeit hat den vier „Nationalreligionen“ einen mächtigen Auftrieb gegeben.
Aus dem Ausland sind drei Religionen nach Indien eingedrungen: das Christentum, der Islam und das Parsentum (die Lehre Zarathustras).
Die christliche Syrische Kirche in Indien führt ihre Herkunft nach einer alten Überlieferung auf den Apostel Thomas zurück, der 52 n. Chr. in Craganore an der indischen Westküste gelandet sein soll. Jedenfalls sind aus dem 6. Jahrhundert christliche Gemeinden der Syrischen Kirche in Südindien bezeugt. Im 16. Jahrhundert setzte sich mit den Portugiesen die römisch-katholische Kirche in Südindien fest. Am Anfang des 18. Jahrhunderts missionierten die deutschen Herrnhuter in Südindien und seit Ende des 18. Jahrhunderts die verschiedenen protestantischen Kirchen, besonders diejenigen von Großbritannien und den Vereinigten Staaten, in ganz Indien. Das Christentum Indiens umfaßte 1951 nur 2, 3 v. H.der Gesamtbevölkerung, das sind 8 207 000 Menschen. Davon ist etwa je die Hälfte protestantisch und katholisch. In einigen Gegenden allerdings sind die Christen zahlenmäßig sehr stark vertreten, so z. B. in dem Staat Kerala, dessen Bevölkerung zu fast 40 v. H. aus syrischen Christen besteht. Das Christentum ist also nicht nur durch europäische und amerikanische Mission den Indern gebracht worden, sondern es hat eine bodenständige Überlieferung in Indien. Es ist weit früher nach Indien gekommen als der Islam und das Parsentum. Es war auch nicht ein Wegbereiter des Imperialismus, sondern ihm wurden in der ersten Zeit große Schwierigkeiten von der Ostindischen Kompanie und der britischen Regierung gemacht, welche die andersgläubigen Inder und indischen Fürsten nicht gegen ihre Herrschaft aufbringen wollten. Die christliche Missionstätigkeit wird heute in Indien nicht mehr gern gesehen: Innenminister Katju erklärte 195 3 vor dem Parlament, ausländische Missionare seien willkommen, wenn sie im Gesundheitswesen, in der Erziehung und bei der Sozialreform Arbeit leisten wollten; sie sollten aber lieber das Land verlassen, wenn sie die Bevölkerung zum Christentum zu bekehren gedächten. Die Führung der indischen christlichen Kirchen geht übrigens mehr und mehr von den Europäern und Amerikanern auf die Inder über.
Nachdem die Mohammedaner im 7. Jahrhundert Persien erobert hatten, flohen viele Anhänger der Lehre Zarathustras nach Indien, wo sie „Parsen“ genannt wurden. Die Parsen, die 1951 nur 0, 03 v. H.der indischen Bevölkerung (107 000 Menschen) zählten, wohnen als eine heute noch gesonderte Gemeinschaft in Bombay und Umgebung. Im Handel und Industrie, in Sozialreform und Politik haben sie sich einen Namen gemacht. Nadi der Lehre des Propheten Zarathustra ist Ahura Mazda der oberste Gott. Dieser wird vom bösen Geist Angra Mainyu bekämpft. Da das Feuer für die Parsen ein heiliges Symbol ist — in ihm verkörpert sich Ahura Mazdas Sohn Atar —, werden sie auch „Feueranbeter“ genannt.
Der Islam drang seit dem 8. Jahrhundert in Indien ein; besonders verbreitet wurde er durch die Sultane (ab 1206) und die Großmoguln (ab 1526). Nur ein geringer Prozentsatz der heutigen Moslems in Indien stammt von dem kriegerischen ausländischen Gefolge dieser nach Indien eingedrungenen islamischen Herrscher ab. Der größte Teil — nach Schätzungen mindestens 75 v. H. — besteht aus Nachkommen von zum Islam gewaltsam oder friedlich „bekehrten“ Hindus. Moslems und Hindus zeigen rassisch meist dasselbe Aussehen. Wenn auch LIrdu die vorherrschende Sprache der Moslems und Hindi diejenige der Hindu ist, so sprechen Moslems und Hindus doch in Gegenden, in denen Urdu und Hindi nicht gebräuchlich sind, eine gemeinsame Sprache, so z. B. das Bengali in Bengalen. Das Zusammenleben von Hindus und Mohammedanern war immer schwierig. Die Hindus zeigten sich gegenüber den Moslems überheblich. Sie lehnten es ab, mit ihnen gemeinsam zu essen und Ehen mit ihnen einzugehen. Ein strenggläubiger Hindu nahm im Haus eines Mohammedaners noch nicht einmal ein Glas Wasser zu sich. Hinzukommt, daß die Moslems das Fleisch der den Hindus heiligen Kühe essen, während umgekehrt die Hindus im Gegensatz zu den Moslems Schweinefleisch esen. Auf Grund des Hochmuts der Hindus fürchteten die Moslems, in einem vereinten Indien von der Hindumehrheit majorisiert zu werden.
Der Islam ist der Glaube an den einen Gott Allah, seine Engel, seine Propheten, seine göttlichen Schriften und an das Jüngste Gericht. Das Wort „Islam“ selbst bedeutet arabisch „Ergebung in den Willen Gottes“ kennzeichnet also den Schicksalsglauben und die Vorherbestimmung, die für diese Religion charakteristisch sind. Die Lehren sind von Mohammed, dem größten Propheten, als göttliche Offenbarung im Koran niedergelegt. Die Bekenner des Islam nennen sich Moslems (Muslims) und lehnen die Bezeichnung „Mohammedaner“ ab, da sie sich nicht nach einem Menschen nennen wollen. Denn Mohammed ist für sie nur ein Prophet, aber nicht Gottes Sohn. Die indischen Moslems sind meist Sunniten, d. h. sie sind der Auffassung, daß der Imam, das geistliche Oberhaupt der Mohammedaner, durch freie Wahl zu bestellen ist. Die Schiiten dagegen billigen das Imamat nur den Nachkommen von Mohammeds Schwiegersohn Ali zu. Es gibt in Indien aber noch eine ganze Reihe von islamischen Sonderbewegungen und Sekten.
Trotz der Abspaltung Pakistans von Gesamtindien und des dadurch erfolgten Weggangs von 70 Millionen Moslems zählte die Indische Union noch 351/2 Millionen Mohammedaner, das sind 10 v. H.der Gesamtbevölkerung, in ihren Grenzen. Indien ist also nach Pakistan und Indonesien das drittgrößte Moslemland der Welt
Stammesreligionen gehörten 1951 mehr als 1, 7 Millionen Menschen an (0, 48 v. H.der indischen Bevölkerung). Es handelt sich hierbei um Hunderte verschiedener primitiver Religionen, die sich in den abgelegenen Gebeten Indiens erhalten haben.
Andere Religionen (Juden usw.) umfaßten 1951 71 000 Menschen (0, 02 der Gesamtbevölkerung).
In Indien bezeichnet man alle Religionsgemeinschaften sowie völkische und rassische Gruppen mit einem Eigenleben — wie z. B. die Anglo-Inder und die Eingeborenenstämme — mit dem Sammelbegriff „Communities" (Gemeinschaften). „Kommunalismus" (Communalism) bedeutet daher in Indien ein Denken und Handeln in den engen Schranken und Vorurteilen religiöser, partikularistischer und völkischer Gemeinschaften, das dem Zusammenwachsen Indiens und dem gesamtindischen Interesse entgegensteht. Der Kommunalismus, der natürlich nicht mit Kommunismus verwechselt werden darf, bedeutet somit nach europäischen Begriffen einen Provinzialismus, einen Kantönli-Geist, kurz einen Sammelnamen für von engen Gruppenbegriffen geprägte Weltanschauungen. Der Kommunalismus wendet sich in Indien als konservativ-religiöse Strömung gegen die Säkularisierung des politischen Lebens, für die Pflege der alten Traditionen und die Beibehaltung der alten Gesellschaftsordnung. Die indische Bevölkerung ist innerlich noch nicht säkularisiert. Denn der Glaube bedeutet für die meisten Inder einen unabtrennbaren Teil ihres Daseins. Die Religion stellt heute noch in Indien eine große Macht dar. Sie ist dort nicht nur eine private Angelegenheit, sondern sie wirkt auch tief in alle Bezirke des öffentlichen Lebens hinein. Die Religion bestimmt das Verhältnis zum Staat und zur Gesellschaft.
7. Errichtung von Dorträten
Die Entwicklung der Dörfer lag Gandhi am meisten am Herzen Um die Selbstverantwortlichkeit der Dorfbevölkerung zu stärken, wollte er die alten Dorfräte (Pantschajats, englisch: Panchayats), die „Räte der fünf Ältesten“, wieder aufleben lassen und sie mit Verwaltungs-und Satzungsgebungsbefugnissen ausstatten. Die Pantschajats hatten u a. schon immer als Schiedsgerichte über Streitigkeiten in Kastenfragen gewirkt. Nun sollten sie auch als weltliche Dorfgerichte fungieren Die Wiedergeburt des indischen Volkes und der Aufbau der Selbstverwaltung und der Demokratie sollte von unten her, von den Gemeinden und den Dorfräten aus, erfolgen.
8. Selbstherstellung lebenswichtiger Waren, Förderung von Heimindustrien und Handwerk
Das höchste wirtschaftliche Ziel war für Gandhi die Autarkie, die wirtschaftliche Unabhängigkeit seines Landes. Eine solche würde sich für Indien mit seinem riesigen Binnenmarkt schon rentieren. Da aber die Produktions-und Arbeitsverhältnisse Indiens noch sehr rückständig waren, mußte erst eine Erzeugung von lebenswichtigen Waren in Gang gebracht werden. Zu diesem Zweck sollten die alten indischen Heim-industrien, die der Konkurrenz der ausländischen Maschinenindustrien erlegen waren, wiederbelebt werden. Dies bedeutete den Aufbau vieler Kleinbetriebe. Auch das alte, künstlerisch hochstehende indische Handwerk sollte gefördert werden. Am wichtigsten war die Erzeugung von Textilien. Hierfür sollte die unausgeschöpfte Arbeitskraft der indischen Bevölkerung eingesetzt werden. In den langen Monaten der Untätigkeit, in denen die Bauern wegen der Dürre nicht auf dem Feld arbeiten konnten, sollten sie sich an Spinnrad und Handwebstuhl nützlich machen. Gandhi machte das Erlernen des Spinnens und Webens gewissermaßen jedem Inder zur nationalen Pflicht. Die große Bedeutung, die der Mahatma dem Spinnrad beimaß, geht daraus hervor, daß er es in die Fahne der Kongreßpartei einfügte. Heute, beim Aufbau großer Textil-industrien in Indien, haben Gandhis Ideen vom Selbstspinnen und -weben mehr romantische Bedeutung. Damals aber waren sie eine gefährliche Waffe gegen die Briten. Denn sie trafen England in sehr empfindlichen Wirtschaftsinteressen, in seiner Textilproduktion. Die britische Textilindustrie lebte nämlich zu einem beträchtlichen Teil von dem Absatz ihrer Erzeugnisse nach Indien. So verband Gandhi das Angenehme mit dem Nützlichen: die Selbstproduktion von Waren (Swadeschi) mit dem Boykott britischer Waren. Wenn die britische Regierung dem indischen Volk nicht die Freiheit'geben wollte, dann sollte England am eigenen Leib die Folgen spüren, nämlich Arbeitslosigkeit in den Textilzentren.
Gandhi erstrebte für Indien keine Rückkehr zur vorindustriellen Gesellschaft, aber er wünschte auch keine Versklavung der Menschen durch die Maschine. Eine eventuelle künftige Industrialisierung sollte organisch, ohne üble Begleitumstände, erfolgen.
9 Anerkennung des Privateigentums und Ablehnung des Sozialismus
Gandhi war als konservativ eingestellter Mensch der Auffassung, Eigentum sei von Gott anvertrautes Gut. Es sei daher anzuerkennen und zu schützen. Wie auf anderen Gebieten, so beharrte der Mahatma auch in der Frage der Bodenreform und der Enteignung auf Gewaltlosigkeit, Überredung und Freiwilligkeit. Er strebte an, daß die Grundbesitzer freiwillig einen Teil ihres Landes an Landlose abtreten. Diesen Gedanken propagiert übrigens jetzt Vinoba Bhave, ein geistiger Nachfolger Gandhis, in der sogenannten Bhudan-Bewegung (Landschenkungsbewegung). Wenn man nach der Meinung des Mahatma einmal anfange, sich über Rechte hinwegzusetzen, dann bleibe schließlich kein Recht mehr übrig. Den Sozialismus marxistischer Prägung lehnte er hauptsächlich wegen des von demselben geforderten Klassenkampfs und der Diktatur einer Klasse ab. Er fürchtete auch, daß bei einer sozialistischen, d. h. kollektiven Organisation des Wirtschaftslebens die individuellen Menschenrechte leiden würden. Schließlich war er der Ansicht, daß der Sozialismus als Importartikel aus dem Westen der indischen Geisteshaltung nicht entspreche und auch für die besonderen Verhältnisse Indiens nicht geeignet sei.
Bisherige Veröffentlichungen: „Die politischen Parteien in Verfassung und Wirklichkeit", Marburger Dissertation 1950; „Die Verfassung Rotchinas im Vergleich zu den Verfassungen der Sowjetunion und Nationalchinas", in der Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament", 19. 3. 1958; fünf juristische Auf-, sätze in der Zeitschrift „Das Recht im Amt" (RiA), Jahrgang 1957: „Die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit im Ausland", RiA 57, 17 ff., „Zum Begriff der öffentlichen Sicherheit und Ordnung", RiA 57, 161 ff., „Zur Rechtsnatur der Einbürgerung", RiA 57, 198 ff., „Die Organisation der Disziplinargerichtsbarkeit in den deutschen Ländern", RiA 57, 308 ff., „Die Organisation der Verfassungsgerichtsbarkeit in den deutschen Ländern", RiA 57, 369 ff.; „Der Widerruf einer erschlichenen Einbürgerung" in der Zeitschrift „Die Öffentliche Verwaltung" (DOV), Heft 35-36/58; „Deutsche Fremdwörter in der russischen Sprache" in der Zeitschrift „Osteuropa“, Januar 1957.