Wie erfahren es im täglichen Leben, auch des Unterrichtes und der Erziehung, oft genug, daß sich bei uns im Westen eine gewisse Resig-nation breit macht. Man blickt oft mit einem gewissen „Neid" auf die Verhältnisse im Osten, wenigstens soweit hier einheitlich-geschlossene Leitbilder in Erscheinung zu treten scheinen, die der Jugend zum Vorbild werden können, nach denen sie sich richten, die für sie verbindlich sind. Wie oft hört man, es müßte eigentlich auch bei uns so eine verbindliche klare Ideologie bestehen, die uns über alle noch so entscheidenden Gegensätze hinweg doch im Tiefsten eint. Wir wissen genau, daß eine uniforme Ideologie nicht mit dem Wesen einer demokratischen Lebensordnung zu verbinden ist. Man mag darin natürlich eine gewisse Schwäche sehen, una ich werde auch noch bei der Gegenüberstellung gewisser Begriffe darauf eingehen müssen; aber es liegt im Wesen der Freiheit und der pluralistisch zu sehenden Gesellschaft, daß man nicht mit einem uniformen ideologischen Weltbild aufwarten darf, zu dem man gleichsam alle Staatsbürger und besonders auch die Jugend verpflichten kann Gleichwohl scheint mir aber die allzu auffällige Zersplitterung und das Auseinanderleben und die daraus folgende Resignation gerade bei uns höchst verderblich, auch für die Erziehung zu einem staatsbürgerlichen Denken und einer staatsbürgerlichen Haltung. Ich glaube, wir sollten hier mit einer wichtigen Unterscheidung uns einen Weg suchen, der trotz aller Verschiedenheit der politischen Anschauungen und Bekenntnisse das Gemeinsame und auch das gemeinsam Verbindliche herausstellt.
Das ist mit ein Ziel der Darlegungen, die ich hier zu machen habe. Dazu möchte ich unterscheiden; zunächst einmal rein begrifflich und dann in der Sache: Eine „Ideologie“ setzt eigentlich eine gewisse Uniformität der Anschauung voraus. Im Bereich der östlichen Denkungsweise, besonders soweit sie durch den dialektischen Materialismus und seine Gesellschaftsauffassung bestimmt ist, bedeutet Ideologie ohnehin nicht einfach eine Ansammlung von Ideen zu einem bestimmten Leitbild, sondern Ideologie heißt dort eine zugleich als „Waffe der Auseinandersetzung, der Dialektik, gebrauchte Ideensammlung“. Darum, glaube ich, sollten wir den Begriff Ideologie auf das, was u n s gemeinsam ist, nicht anwenden, sondern wir sollten dafür lieber den Terminus „Leitbild“ benutzen oder auch Leitbilder, weil sich in der Einheit trotzdem wieder eine Mannigfaltigkeit von Nuancen, von besonderen Standpunkten, durchaus miteinander vertreten läßt.
Das Entscheidende, und das kann erst im Verlauf meines Themas deutlicher werden, ist aber dies; es liegt im Wesen einer auf der Freiheit der Person begründeten demokratischen Rechts-und Lebensordnung, daß es eine so uniforme und allverbindliche Ideologie gar nicht geben kann. Andererseits aber, so scheint mir, geht unsere Bemühung nicht genügend darauf hin, herauszufinden oder erst „auszugraben", was an wirklich gemeinsam Verbindlichem trotz aller Verschiedenheit der Bekenntnisse, der Parteien, der weltanschaulichen Standpunkte tatsächlich vorhanden ist. Es ist Aufgabe dieser Darlegung, daß sich die entscheidenden Begriffe doch in einem Leitbild verbinden oder wenigstens mit vertreten sind, das uns trotz aller Verschiedenheit gemeinsam zu eigen ist oder wenigstens zu eigen sein könnte.
Um das deutlicher machen zu können, darf ich zunächst einen zweiten Gedanken und damit meine Auffassung über die gemeinsamen Wurzeln des Bereiches, den wir Europa nennen oder, etwas erweitert, auch die „westliche Welt“ bezeichnen können, kurz entwickeln. -Man könnte sagen, die gemeinsame Wurzel sei in dem zu erblicken, was oft in den leicht romantischen Vorstellungen über das „Abendland“ angesprochen werde. Ich persönlich ziehe es vor, den Begriff Abendland nicht immer und 7u jeder Stunde zu verwenden, und betone lieber die „europäische“ oder „westliche“ Welt, auch im Begriff, obwohl der Inhalt dessen, was nicht nur geographisch, sondern gesellschaftlich und in letzter plihosophischer Sicht, Europa und der westlichen Welt eigen ist, doch im Ideenbild des wirklichen und nicht romantisierten Abendlandes umfaßt ist. Unsere Gegenwart steht geistig und politisch auf einem Boden, in dem ganz verschiedene Elemente und Schichten zu einer fruchtbaren Mischung gekommen sind. Wenn wir einen anderen Vergleich wählen wollen, dann können wir uns das Gemeinsame als einen Baum vorstellen, der wächst und sich ständig entwickelt und der geschichtlich drei Wurzeln hat, die „Europa“ und der „westlichen Welt" oder (ohne romantische Verklärung gemeint) dem „Abendland" ihr Gepräge gegeben haben.
Das sind, kurz gesagt: die Antike, das Christentum und die Gesamtheit der in der Völkerwanderungin Bewegung geratenen Völker des Nordens. Diese drei Momente, die natürlich historisch nicht einfach auf derselben Ebene liegen, haben sich aber in einem langwierigen und oft sehr gegensätzlichen Geschichtsprozeß s o miteinander verbunden und ineinander verschlungen, so sich wechselseitig gestärkt oder abschattiert, daß daraus eine ganz bestimmte geistige, philosophische Haltung geworden ist, die ihren Niederschlag in den geschichtlichen Formen und Bildungen gefunden hat, die wir jetzt im einzelnen und mit Hilfe begrifflicher Gegenüberstellungen nachzeichen können. Ich betone, daß diese Darstellung nur eine abgekürzte und nur andeu-tungsweise Erklärung unserer eigenen Prägung erhalten kann. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß diese Elemente aus der Antike, sowohl aus dem griechischen wie aus dem römischen Denken, aus der allgemeinen Philosophie des Griechentums und aus der besonderen Rechts-und Staatsphilosophie des Römertums und seiner Haltungen eine glückliche historische Verbindung eingingen, zusammen mit den sittlichen und religiösen Vorstellungen und Realitäten des Christentums und der Dynamik dieser genannten jungen Völker. Diese waren ja zunächst aufgebrochen, um die letzten Reste der Antike zu erobern bzw zu vernichten, haben aber dann trotzdem das, was sie dort äußerlich vernichtet haben, innerlich in sich aufgesogen und sich in ihrer Form „assimiliert". Mir ist dafür das deutlichste Beispiel der Tod Augustins. Persönlich war Augustinus noch von einer positiv gefühlsbetonten Vorstellung über den Wert des römischen Reiches erfüllt er sah seinen „Gottes-Staat“ als eine übernatürliche Fortsetzung dieses Staats-gebildes. Christ geworden, hatte er eine blühende Gemeinde in Nord afrika sich entfalten lassen, um dann am Abend seines Lebens und seiner großen Wirksamkeit es erleben zu müssen, wie gleichsam alles, an das er glaubte und worauf er gebaut hatte, vor seinen Augen vernichtet und zertrampelt wurde. Nach menschlichem Ermessen mußte er annehmen: alles, was ich in meinem Leben getan, wofür ich mich eingesetzt, woran ich geglaubt habe, das ist durch die von Norden kommenden Vandalen zerstört. Was geschieht aber tatsächlich? — Das, was dieser Mann in sich konzipiert, das was er verarbeitet, was er niedergelegt hat.
wird die Leitlinie auch des staatlichen Neuaufbaues, der sich aus dieser Welt-Verdüsterung der Völkerwanderungszeit im mittelalterlichen Reich ergibt. — Dieses Beispiel sollte nur als ein „Blitzlicht“ gelten, um den Gedanken der Verschmelzung zu erhellen. Die geistig tragenden Faktoren dieser Verschmelzung: Antike, Christentum, Völker des Nordens, scheinen mir unser historisch bedeutungsvolles „Gepräge“, den Charakter des wirklichen (und nicht romantisch verzerrten) Abendlandes zu bestimmen. Wenn wir diese Wurzeln abschneiden wollten, dann, das ist meine persönliche Auffassung, hätten wir auch keine Zukunft mehr.
Man kann nicht eine Zukunft mit dem Tage Null beginnen wollen. Wir mögen über die verflossene Geschichte im ganzen und im einzelnen denken, wie wir wollen, genau wie wir eine Familie haben, über die wir denken mögen, wie wir wollen. Ihr Blut, ihre Lebenssubstanz, das alles lebt in uns weiter. Wir können nicht einfach unsere Geschichte abstreifen und erklären, das ist heute nicht mehr relevant; sondern wir müssen fragen: was ist aus diesem Angebinde, aus diesem Erbe, für unsere Gegenwart und für die Zukunft unter ganz anderen geschicht-lichen Gegebenheiten nutzbar zu machen? Hier liegt auch der Ansatz für ein echtes Leitbild; für ein zu klärendes und uns immer wieder zur Konfrontation mit der Wirklichkeit von heute zwingendes Leitbild Das steht im Grunde auch hinter unseren Verfassungen. Das steht hinter unseren Lebensformen, die wir lieben, für die wir kämpfen, für die wir uns einsetzen. Das ist unsere Lebensart, die sich in Einklang zu setzen hat mit diesen Grundvoraussetzungen unseres Lebens Es wäre wohl vermessen von mir, wollte ich hier ein vollständiges Bild dieser unserer Prägung, dieses unseres Leitbildes geben Das ist einfach ausgeschlossen. Man kann nur in Andeutungen, in einer gewissen schematischen Verkürzung, das darstellen, was sich als gemeinsamer Grund und Boden, aus dem unsere Kräfte auch der Gegenwart und der Zukunft wachsen können, als „selbstverständlich“ ergeben sollte. Es ist uns leider oft nicht selbstverständlich
Der überwiegende Teil der heute Lebenden und auch ein großer Teil derjenigen, die ein geschichtliches Verständnis haben oder die tiefer in diese Dinge einzudringen vermögen, sind sich dieses Erbes nicht mehr genügend bewußt. Weil es ein so weites und diffiziles Thema ist, mußte ich mich dazu entschließen, an Hand mehrerer Begriffe, die im Wort oft gleichlautend sind, einen Vergleich durchzuführen, bzw. in einer Skizze zu entwerfen: Es sind wichtige Begriffe, an deren inhaltlicher Begründung und an deren Realisation sich die Verschiedenartigkeit hier eines wirklichen Leitbildes, dort einer uniformen Ideologie zeigt. Natürlich lassen solche Vergleiche in begrifflich-schematischer Form immer sehr vieles weg. Man wird sicherlich da wie dort Beispiel finden können, in denen das, was ich hier sage, und als Wesensvergleich einander gegenüber stelle, nicht stimmt. — Die Frage ist nur, ist es ein typisches, ein durchschnittlich gültiges Bild, das in diesem Vergleich einander gegenüber gesetzt wird? Aus unserer eigenen Kenntnis, aus unserer eigenen Erfahrung, müssen wir dann diesem starren Vergleich, diesem bloßen Schema Leben einhauchen, müssen ihm noch neue Züge einprägen, die ebenfalls dazu gehören.
Zwischen pluraler und totaler Gesellschaft
Es sind einmal drei Begriffe, die man in einem engeren Sinne zusammenstellen kann, nämlich erstens der Begriff der Freiheit, der auch als Wort sowohl im westlichen Sinne wie im östlichen Sinne, wenn ich so abgekürzt spreche, genau in der gleichen Weise, wenn auch mit einem völlig verschiedenen Sinngehalt zur Anwendung kommt. Der zweite Begriff ist der der Toleranz, für den dem Worte nach ein anderer Begriff als Entgegensetzung besteht, nämlich der der Koexistenz. Der dritte Begriff ist der des Rechtsstaates, dem man nur die Gegenüberstellung des Gewaltstaates opponieren kann. Diese drei Begriffe und Gegenbegriffe hängen aufs engste miteinander zusammen. Dann kommt ein weiteres Begriffspaar, das nun weniger die Gesellschaft im ganzen und den einzelnen meint, sondern gerade den Einzelnen im Leben der Gesellschaft und im Leben der Gesellschaften, der Gemeinschaften prägt: hier stelle ich einander gegenüber den Begriff der Person und den Begriff des Individuums. Wir verwenden zwar diese beiden Begriffe und Worte durchaus synonym, aber bei genauerem Hinsehen läßt sich doch an Hand dieser geschiedenen Begriffe: Person und Individuum, die Stellung des einzelnen in einer freiheitlich demokratischen Lebensordnung und in einer dialektisch notwendig bestimmten Gesellschaftsordnung sehr klar deuten. Dann käme als dritte Gegenüberstellung, wenn ich die drei ersten Begriffe zu einer Gruppe zusammenfasse, die Frage des Verhältnisses Gesellschaft und Staat, wobei man schlagwortartig sagen kann, soweit es auf die westliche Welt ankommt, das Verhältnis von Gesellschaft und Staat im Westen ist das des Staates in einer pluralen Gesellschaft; dagegen das Verhältnis von Gesellschaft und Staat in der östlichen Ideologie ist das eines Totums, eines praktischen Zusammenfalls von Staat und Gesellschaft, einer Aufhebung aller Gesellschaften im Plural i n einer einzigen Totalgesellschaft, die alles umfaßt und alles organisiert, die allem Sinn und Leben zu geben behauptet. — Schließlich könnte man in einer vierten Gegenüberstellung gerade mit Rücksicht auf die historische Entwicklung, die im Osten besteht, auch das Verhältnis anderer Gesellschaftsformen zu der Gesamtgesellschaft und auch zum Staat besprechen und einander gegenüberstellen, besonders auch das Verhältnis von Kirche und Staat im westlichen wie im östlichen Sinne. An Hand dieses Schemas werde ich also einen solchen Vergleich durchführen und abschließend dann noch wenigstens in einigen Grundlinien anzudeuten versuchen, wie wir ein solches Leitbild, das hier eine mehr philosophische Klärung hat finden sollen, nun in eine konkrete, ansprechende, anziehende Prägung und Haltung umsetzen können, die sich der lugend fast selbstverständlich mitteilt. —
Freiheit — wovon und wofür?
Ich sagte, das Wert Freiheit wird hüben wie drüben genauso verwendet und darin besteht auch die Gefahr und die Versuchung, mit den Worten zu spielen und so zu tun, als ob der Inhalt der gleiche wäre. Was ist, philosophisch gesehen, Freiheit im Sinne unserer Lebens-und Rechtsordnung? Ich beziehe mich dabei auf die sehr einleuchtende und richtige Gegenüberstellung, die schon Nietzsche in der Formulierung: „Freiheit wovon“ und „Freiheit wofür“ gemacht hat. Die „Freiheit wovon", das Freisein von irgend-einem Zwang, von irgendwelchen äußeren Vorschriften oder von Gesetzmäßigkeiten, das ist erst die halbe Freiheit. Denn die Freiheit, etwas nicht zu tun, die Freiheit, einfach sich loszusagen, die Freiheit der „Willkür“, wie man auch sagen kann, die ist mit unserem Menschsein einfach mitgegeben. Sie wird in jeder Form, im Rechttun wie im LInrechttun, betätigt und bestätigt. Sie braucht also keines besonderen Schutzes. Wenn dagegen die Freiheit unter den Rechtsschutz gestellt wird, so kann es sich, philosophisch gesehen ben nur um die „Freiheit wofür“ handeln, nämlich um diejenige Freiheit „das Vernünftige zu tun“, wie Goethe sagt; diejenige Freiheit, die ein Gegenüber, ein Pendant hat, die sich einer Aufforderung gegenüber sieht, das tun und jenes nicht tun zu sollen. — Die Freiheit. z B. bei einem Vortrag als Zuhörer oder sogar als Vortragender aufzustehen und den Saal zu verlassen, hat jeder von uns; wir betätigen diese Freiheit im allgemeinen nicht; aus den verschiedensten Motiven heraus, weil wir das z. B. für unanständig halten oder weil wir tiefere Gründe dafür haben, eine solche Rücksichtslosigkeit dem anderen gegenüber nicht zu begehen. Diese Freiheit der Entscheidung ist nun einmal mit dem Menschen verbunden, und sie erstreckt sich auf alle möglichen Bereiche, nicht nur auf den sittlichen und den sozialen Bereich; sie ist keine absolute Freiheit, sie ist eine relative Freiheit, nämlich begrenzt auf den Rahmen unserer physischen Möglichkeiten. Wir können nicht alles, was wir wollen; aber im Bereich unserer Möglichkeit können wir die unsinnigsten und sinnvollsten Dinge vollziehen — aus Willkür. -
Das Problem der Freiheit beginnt erst da, wo wir uns einer Pflicht, einem Sollen, einem Anspruch gegenüber befinden. Hier stehen wir in der Tat in einer Deliberatio, in einer Überlegung von einer Entschei-düng. Hier wägen wir ab, was sollen wir tun. was dürfen wir tun. Da bedeutet nun die eigentliche Freiheit die Entscheidung, die das, was in der Natur gesetzmäßig geregelt ist, spontan tut. — Jedes Tier, jede Pflanze entwickelt sich ohne sein willentliches Zutun. Es läuft einfach ein inneres Gesetz ab, nach dem sich das Tier, die Pflanze richtet. Auch beim Menschen läuft ein solches Gesetz ab; auch der Mensch ist besonders in seiner biologischen Entwicklung Naturgesetzlichkeiten unterworfen, an denen er nicht herummanipulieren kann, die seinem Zugriff entzogen sind — Aber schon im Bereich der reinen Physis ergibt sich ein sehr weiter Spieliaum, w i e sich jemand entwickelt, und erst recht im Bereich seiner inneren, seiner geistigen und seiner sozialen Wirklichkeit weitet sich dieser Spielraum. Das könnte man nun im einzelnen weiter verfolgen, angefangen von der körperlichen Vernachlässigung oder der körperlichen Förderung, die in unsere Hand gelegt ist, bis hin zu allen jenen Taten, die der Mensch vollziehen kann, die er aber nicht vollziehen muß, die er so und anders vollziehen kann, bis hin schließlich zu seiner Gesamtentfaltung als geistiger Mensch. Jeder weiß, daß er mit bestimmten Anlagen begabt ist, die er schon mit auf die Welt gebracht hat, aber jeder weiß ebenso genau, daß die Entfaltung dieser Anlagen großenteils in unsere eigene Hand gelegt ist; und wir alle müssen uns immer wieder fragen und schließlich vor uns selbst bekennen, daß wir vieles von dem, was wir eigentlich anlagemäßig hätten tun können, versäumt haben. Nur so sind Phänomene, wie die der Reue etwa, erklärlich. Also die „Freiheit wofür“, die Freiheit angesichts eines Sollens, das ist die entscheidende, und nicht schon die „Freiheit wovon".
Wenn ich einmal versuche, bei diesem nur sehr kurzen Ausweis, eine Definition unseres Freiheitsbegriffes zu geben, so könnte man sagen: Die Freiheit des Menschen besteht in der Möglichkeit das Gesellte oder das Rechte, oder, wie Goethe sagt, das „Vernünftige“ s u a s p o n t e zu tun. —
Nicht durch einen Zwang, nicht durch die gesetzliche Notwendigkeit, sondern das Rechte aus eigenem Antrieb, aus eigener selbst verantwortlicher Tätigkeit her zu tun, das ist „Freiheit wofür“. Selbstverständlich kann der Mensch sich in jedem Moment auch gegen das Rechte, gegen das Gesellte wenden. Die reine Willkür-Freiheit, die gerade die echte Freiheit bedroht, ist nur „abwehrend“ unter das Gesetz zu stellen. Daß der Mensch alles mögliche tun kann, das ist unbezweifelt, daß er aber nicht alles tun darf, das ist der eigentliche Sinn des Schutzes der Freiheit. Jeder von uns kann verbrecherisch handeln, wenn er will, aber er darf es nicht. So kann der Schutz der Freiheit sich nur auf diese Möglichkeit, das Rechte zu tun und das Gesellte zu wollen, beziehen. Es ist völlig falsch und absurd, einen Freiheitsbegriff lehren zu wollen, ohne zugleich die Verbindlichkeit einer mit Anspruch auftretenden Wertordnung einzuschließen. Da sitzt, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein giftiger Keim in der modernen geistigen Entwicklung; denn seit der Aufklärungsphilosophie ist einem Teil dieser zentralen Begriffe (Freiheit, Toleranz usw.) eine Begründung zuteil geworden, die eine Selbstauslösung in der Wirklichkeit zur Folge hatte. Wenn man einen „absoluten“ Freiheitsbegriff oder einen Freiheitsbegriff ohne das Pendant einer verbindlichen Wertordnung lehrt, dann entfesselt man die völlige Willkür. Bis an diesen Punkt sind wir ja, mindestens literarisch, gediehen. Der Freiheitsbegriff beispielsweise eines Sartre ist ein solcher absoluter Freiheitsbegriff, der ganz klipp und klar sagt, daß das gut ist, was ich völlig frei aus mir selbst tue; ohne ein objektives Gesetz (dessen Gültigkeit Sartre ebenso absolut ablehnt), schützt diese „Freiheit“ auch das Verbrechen. Wie will man einem Verbrecher von Staats und Rechts wegen in die Parade fahren, wenn. man erklärt: alles ist gut, was in Freiheit geschieht? — Es gibt, das sagt Sartre wörtlich, keine verbindliche Ordnung, es gibt keinen verbindlichen Wertanspruch. Wie will man dann eine Lebensordnung aufrecht erhalten? Dann schützen die Gesetze zum „Schutz der Freiheit“ nur die Willkür.
Tatsächlich tun das unsere Gesetze und Verfassungen nicht; sie schützen in der Tat nur die sittliche Freiheit, nur die Freiheit, das Rechte zu tun. Aber wir zerstreiten uns oft darüber, ob es etwas für alle Verbindliches gibt, ob es ein gemeinsames Recht gibt; und die Relativismen, die so „modisch“ umlaufen, lösen dauernd, mindestens literarisch, diese gemeinsame Verbindlichkeit auf. Schließlich wundert man sich in praxi, wenn eine unerbittliche Konsequenz dann auch im Leben mit dem Relativismus Ernst macht
Nun die Gegenüberstellung mit dem Freiheitsbegriff in der Ideologie des Ostens, die wir kumulativ zusammengreifen. Beginnen wir mit der Definition, deren Richtigkeit in offiziösen Äußerungen des Systems und der gesellschaftsphilosophischen Darstellung nachgeschlagen und nachgeprüft werden können. Während für uns Freiheit die Möglichkeit ist, aus eigenem Antrieb das Gesellte zu tun, ist Freiheit in diesem System die „Möglichkeit“ Ja zu sagen zu dem, was kommen m u ß. Das ganze System baut auf einer gesetzlichen Notwendigkeit der Gesellschaft und der Geschichte auf. Genau wie die Natur vollzieht sich auch die Geschichte in unabänderlichen Gesetzen, den Gesetzen der Dialektik. Freiheit bedeutet demnach nichts anderes, als die Einstimmung mit dieser geschichtlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeit. Aus dem Wesen des Menschen und seiner Stellung zum Gesellschafts-Ganzen, wie auch der Stellung der Geschichte zu dem Natur-Ganzen, ergibt sich, daß eine eigentliche Freiheit, nämlich mit einer spontanen Alternative, einer So u n d so-Verhaltensweise nicht mehr existiert. Freiheit ist nichts anderes als die Zustimmung zu dem, was notwendig im ehernen Schritt der Geschichte und im Fortschritt der Gesellschaft begründet ist. Alles andere ist „Reaktion“, Verrat und Versagen gegenüber den Forderungen.
Die Grenze zwischen dieser und jener Freiheit scheint nur sehr schmal zu sein; in Wirklichkeit trennt uns ein Abgrund. Daraus erklärt sich dann auch, daß die personale Freiheit „drüben“ praktisch aufgehoben wird und daß es so etwas wie eine „Gewissensfreiheit“ natürlich nicht mehr geben darf. Worin sollte sie auch bestehen? — Während unsere Welt auf dieser Gewissensfreiheit aufbaut, dieser ganz persönlichen und intimen Entscheidung, die niemandem abgenommen werden kann, wird sie dort völlig zerblasen durch die Definition der Freiheit als Zustimmung zu dem, was kommen muß, was gesellschaftlich notwendig ist; genau so determiniert wie die Natur gesetzlich notwendig sich entfaltet.
Hat die Toleranz ihre Begründung verloren?
Bei dem zweiten Begriffspaar innerhalb der ersten Gruppe wird es vielleicht noch einen Grad deutlicher als bei dem ersten, daß wir in unserer Vorstellung von der Toleranz von sehr vielen Mißverständnissen geplagt sind. — Was heißt Toleranz? Duldung, so übersetzen wir. Wir meinen mit Toleranz das Dulden einer fremden Auffassung, einer anderen Religion, einer anderen politischen Anschauung, Betätigung, einer anderen Lebens-und Geschmacksform, eines anderen politischen Stils, eines anderen politischen Systems und so weiter. Darin sind wir uns wohl einig; aber, um gleich auf den Kern zuzustoßen, wir sind uns nicht einig in der Begründung der Toleranz. Da liegen die Wurzeln des Mißverständnisses, so scheint mir, wiederum in der Aufklärungsphilosophie. Ich gehe ohne Verweilen auf die uns allen bekannte Fabel in „Nathan dem Weisen“ zu: Hier wird in einer tiefen und ansprechenden Weise, um für die Toleranz Beispiel und Zeugnis zu geben, eine Parabel erzählt, nach der ein Vater, der drei Söhne hatte und sie alle mit dem gleichen Ring beschenken wollte, nun zwei Nachbildungen herstellen läßt, um jeden seiner gleich geliebten Söhne in den Besitz des Ringes kommen zu lassen. An diesem Beispiel soll gezeigt werden: die wirkliche, letzte Wahrheit ist unerfindlich; wir sind verschieden in unseren Auffassungen, so wie die drei Brüder verschieden sind; wir streiten uns wie die drei Brüder um den „echten“ Ring; aber auch dem Richter ist es nicht möglich, den echten Ring von den Nachbildungen zu unterscheiden. So bleibt nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden.
Keiner von uns kann mit Sicherheit sagen, daß er im Besitz einer letzten Wahrheit sei; glauben und wähnen, im Besitz der Wahrheit zu sein, das ist menschenmöglich, so bleibe jeder bei dem „Seinen“; aber zugleich in dem Bewußtsein, daß auch der andere der Besitzer des wahren Ringes sein kann. Wetteifern wir so untereinander in Liebe, in Toleranz, dann werden wir das Glück, das persönliche Glück, wie auch das soziale Glück des Zusammenlebens erfahren. — Wie gesagt, eine edle, eine sympathische Haltung, aber eine Haltung, der in der Grundlage die philosophische Konsequenz fehlt, und die sich darum auch in den kritischen Zeiten, in denen die Intoleranz bewußt und die Inhumanität sich brutal durchsetzen, die Segel streicht. — Warum? Lassen wir dies ganz unabhängig von Lessing und unabhängig von den anderen hochzuschätzenden Initiatoren der modernen Toleranz begründen.
Wenn man von allen Menschen und innerhalb eines Gesellschaftsund Staatsgebildes fordert: seid tolerant, schlagt euch nicht den Schädel ein, laßt die Gewissensmeinungen, die politischen Auffassungen der anderen gelten, laßt ihnen Raum, — dann erklärt man doch für alle verbindlich, daß die Toleranz ein Wert ist; daß die Toleranz und Harmonie höhere Werte darstellen als Intoleranz, Krieg und Mißhandlung. Man will ja alle zur Anerkennung dieses höherwertigen, dieses wahrhaft humanen Lebens bewegen, denn sonst hätte der Appell an alle „seid tolerant“, ob Mohammedaner, ob Juden oder Christen, keinen Sinn. Der Appell an die Menschen, tolerant zu sein, stützt sich also auf die Wahrheit, daß die Toleranz höherwertig ist als die Intoleranz; ja, daß die Intoleranz ein „Unwert“ ist. Wenn ich nun im gleichen Atemzuge sage: es gibt aber keine verbindliche Wahrheit für alle, dann lauge ich den ersten Appell zur Toleranz völlig aus. Entweder ist die Toleranz ein sehr hoher Wert und auf alle Fälle ein höherer Wert als die Intoleranz, dann können das Juden und Heiden und Christen und Mohammedaner und wer immer einsehen und realisieren, und zwar unbeschadet ihrer sonstigen Auffassungen. Wenn ich ihnen aber gleichzeitig immer wieder einrede: wir alle sind gleich weit von der wirklichen Wahrheit entfernt, „tun wir so als ob“, — dann habe ich keine die Menschen ergreifende und verbindliche Möglichkeit, die Toleranz zu begründen und durchzusetzen. Dann kommt ein anderer und sagt: bitte, meine Wahrheit ist „homo homini lupus“, einer frißt den anderen auf; am Anfang steht das Raubtier Mensch, oder der Lebenshärtere setzt sich durch, die starke Rasse ist der höchste Wert. Was will man dann mit einem noch so glühenden Appell für die Toleranz ausrichten, wenn man gleichzeitig sagt, deine Wahrheit (also auch die Rassen-theorie) ist genau so viel wert wie die meine. Da ist die ganz furchtbare und tragische Inkonsequenz eines Toleranzbegriffes, wie er in der Aufklärung „grundgelegt“ wurde; an diesem „laborieren“ wir noch heute herum. Wir müssen Klarheit und eine wirkliche Begründung gewinnen. Entweder gibt es, ich drücke es gern so aus, eine mindestens minimale verbindliche Weltanschauung oder sittliche Anschauung, die von allen anerkannt werden kann und muß, dann ist auch die praktische Möglichkeit vorhanden, Toleranz, durchzusetzen; oder man löst alles auf und sagt: es gibt keine verbindliche Wahrheit; dann hat aber auch die Toleranz ihre Begründung verloren. Entweder gibt es ein verbindliches, freilich sehr schmales Wertfeld, das für alle erkennbar und für alle realisierbar ist, dann können wir eine Welt-gerechtigkeit und praktisch durchsetzbare Toleranz aufbauen. Im anderen Falle sind das hilflose Versuche, die in den Zeiten der Bewährung, in den Zeiten der eigentlichen kritischen Auseinandersetzung, versagen; so wohlgemeint, so glühend sie geglaubt und für sie eingetreten wird, die Toleranz hat dann keine Durchstehkraft und keine überzeugende Durchsetzkraft, die man braucht, um ihr einen rechtlich verankerten machtvollen Schutz zu geben.
Und nun die Koexistenz. Das ist in der Tat etwas völlig anderes als Toleranz. Wir müssen das ganz unabhängig von Tagesströmungen oder Affekten, die sich hier natürlich leicht einstellen, nüchtern betrachten. — Was heißt der Begriff der Koexistenz im Sinne des Gesellschaftsbildes des dialektischen Materialismus? Lim dieses deutlich zu machen, muß ich auf den Gesellschaftsbegriff vorgreifen. Aus einer dumpfen Anfangsphase der Gesellschaft entwickelt sich (nach dieser Theorie) in einem dialektischen Hin-und-Her (These, Antithese, Synthese) eine immer stärker und schließlich voll bewußt entfaltete Gesellschaft. Ein Zustand, eine Epoche, eine Typisierung löst die andere im Widerstreit ab. Das Proletariat z. B. und die Revolution des Proletariats konnten erst kommen, nachdem die Bourgeoisie und die kapitalistische Gesellschaft sich selber ad absurdum geführt hatten. Der Industriestaat, die Industriegesellschaft ist die Voraussetzung für das Entstehen des Proletariates. (Darum ja auch in Rußland diese parallel zur Revolution einhergehende Bemühung, aus dem agrarischen Staat der Vorkriegszeit und der Kriegszeit möglichst rasch einen Industriestaat zu machen und dadurch gleichsam eine Epoche, die für die Entwicklung des Proletariates und seines Aufstandes unentbehrlich ist, nachzuholen; denn Lenin war noch der Auffassung, daß diese große Revolution eigentlich nur in England oder Deutschland hätte geschehen können.) Kurzum, solange ein wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Zustand noch nicht reif ist, um durch seine Antithese abgelöst zu werden, muß man diese geschichtlich und gesellschaftlich retardierende („reaktionäre ) Tatsache hinnehmen. Koexistenz heißt also praktisch: die anderen sind noch nicht reif für die proletarische Revolution, für den anbrechenden Sozialismus; ihre Stunde wird aber kommen. Auch innerhalb des ideologisch verbundenen Lagers (der „sozialistischen“ Staaten) bestehen verschiedene innere Entwicklungsphasen des Sozialismus. Sie sind noch nicht alle gleich weit; der Zustand jedoch, der von dem „Vorreiter , dem Pionier der gesellschaftlichen Entwicklung bereits erreicht ist, der wird notwendigerweise auch für die anderen alle einmal kommen. Koexistenz bedeutet also, diesen anderen gesellschaftlichen und ideologischen Zustand bis zu seiner Reife hinnehmen, das heißt bis zu dem Augenblick, wo er durch seine Antithese notwendigerweise abgelöst wird.
Wahrheit ist nur eine, nämlich daß dieser gesellschaftliche Prozeß bis an sein Ende mit Notwendigkeit durchlaufen wird Das wollen nur die Kapitalisten nicht einsehen. Sie können es auch nicht einsehen, weil sie noch in den ökonomisch und gesellschaftlich reaktionären Bedingungen leben. Wenn sie bzw. die Opfer dieser Gesellschaftsstufe aber mit inneren und äußeren Mitteln (z. B.der Proletarisierung) einmal so weit gebracht sind, dann werden sie es auch einsehen, dann werden sie diesen ehernen Schritt der gesellschaftlichen Entwicklung auch mitmachen und ihn als den einzigen Fortschritt anerkennen. Koexistenz ist nicht Anerkennung einer anderen im Gewissen vertretenen Wahrheit, sondern ist das äußere Gewährenlassen eines anderen ideologischen und gesellschaftlichen Zustandes, der noch nicht die Reife seiner antithetischen Ablösung gefunden hat, der aber im Sinne des Fortschrittes und mit den Mitteln des Fortschrittes dahin getrieben werden soll.
Ein für alle verbindliches und gleiches Recht
Immanuel Kant gibt in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden" unter dem Merkmal „republikanisch“ die Charakteristik, die für den Rechtsstaat gültig ist. Was ist ein Rechtsstaat? — Ein Rechtsstaat ist dasjenige Staatsgebilde, das die Gültigkeit des Rechtes für den Staat wie für den einzelnen vor und über dem Staat als gegeben und verbindlich anerkennt. Ein vorstaatliches, ein vorgesellschaftliches Recht, das als Sollen, als Anspruch zum Wohl für den einzelnen wie für die Gesellschaft gilt, ist die Grundlage seines Lebens. — Der Gewaltstaat ist dagegen derjenige Staat, der sich selbst als Schöpfer des Rechts betrachtet. Es gibt kein anderes Recht als das, das erst durch den Staat gesetzt ist. Im Gewaltstaat kann sich keine einzelne Person auf ein überstaatliches und übergesellschaftliches Recht gegenüber dem Staat berufen. Das wirkt sich bis ins Verfahren hinein aus. — Wo gibt es eine Berufungsinstanz gegen den Staat? Die gibt es nur in einem Rechtsstaat, der dabei nicht an die jeweilige Form seiner Organisation gebunden ist. Ich sehe beispielsweise ein rechtsstaatliches Handeln etwa im Verhalten und in der Anerkennung des Müllers von Sanssouci gegenüber dem Alten Fritz, obwohl wir es da mit einer absoluten Monarchie zu tun hatten, aber eben doch mit einem Rechtsstaat, in dem sich der Müller gegen den einzigen Repräsentanten des Staates gleichwohl auf ein überstaatliches und vorstaatliches Recht berufen konnte. Das ist das Entscheidende. Nehmen wir demgegenüber ein Beispiel, das in diesem Zusammenhang den Gewaltstaat charakterisiert: In der Auseinandersetzung, die nach diesem Kriege zwischen den Franzosen und den Russen bzgl.der Freigabe von Franzosen und deren Frauen, geborenen Russinnen, entstand, entspann sich ein hartnäckiger Kampf zwischen dem französischen Beauftragten General Catrou und (damals) Wyschinsky. In dieser Auseinandersetzung, in der es nicht nur um die Repatriierung der Franzosen, sondern der inzwischen französischen Soldaten angetrauten Russinnen ging, brachte (nach dem im „Figaro“ original abgedruckten Bericht des französischen Generals) Wyschinsky das klassische und konsequente Argument: „Das Recht und Gesetz des Staates ist nicht dazu da, den einzelnen gegenüber dem Staat zu schützen, sondern den Staat gegenüber dem einzelnen zu schützen“. Das Recht ist nur eine Funktion des Staates; das ist Gewaltstaat.
Sicher, der Staat hat auch in unserer Auffassung die Pflicht, Gesetze zu machen, und wir alle haben die Verpflichtung, den staatlichen Gesetzen zu gehorchen; aber die Gesetze müssen in letzter Instanz für den Staat, für die Gesellschaft und auch für den Einzelnen, auf ein für alle verbindliches und gleiches Recht rückführbar sein. Unsere Verfassung, unsere Grundgesetze, respektieren die Rechtsstaatlichkeit. Auch unsere Lebensformen, etwa in der Trennung von Legislative und Exekutive, vor allem der Rechtsprechung, tragen diesem Gesichtspunkt Rechnung. Wir haben oberste Gerichtshöfe, die von jedem und von den gesellschaftlichen Institutionen auch gegen den staatlichen Machthaber angerufen werden können. Das alles ist klar. Aber trotzdem lebt in den Staatsbürgern oft nicht das Bewußtsein, daß der Staat nicht Schöpfer des Rechtes ist; er ist Schöpfer der Gesetze. — Dieser uralte geistige Kampf, wenigstens im Abendland, der sich schon zwischen Plato und Sokrates einerseits und den Sophisten andererseits abgespielt hat, ist immer noch nicht zu Ende ausgetragen bzw. durch eine neue positivistische und relativistische Auffassung vom Recht haben wir z. T.selbst wieder die Fruchtbarkeit und Wirksamkeit eines rechtsstaatlichen Lebens unterminiert. Wir haben zwar Formen, die die Rechtsstaatlichkeit garantieren; wir haben Grundgesetze, die diese Rechtsstaatlichkeit proklamieren, wir haben Institutionen, die auf der Rechtsstaatlichkeit aufbauen, aber wir haben nicht genügend breit und tief, so scheint mir, das Wertbewußtsein von der einzelnen menschlichen Person, die als Staatsbürger wie der Staat selbst aus dem gleichen rechtlichen Ursprung ihre Bedeutung hat, so daß sich beide (Person und Staat) dem Recht zu beugen haben.
Im Gewaltstaat geht (angeblich) oder soll (angeblich) das Recht vom Staate ausgehen. Er sei der Schöpfer des Rechts. Alles Recht und alle Gesetzgebung dienen daher seinem Schutze. So wie er dekretiert, so st es „recht“. Es gibt keine unabhängigen und über den Staat erhabenen Existenzen, an die man appellieren könnte, wenn der Staat selbst ein Unrecht begeht; er kann überhaupt kein Unrecht begehen. Nach dieser gesellschafts-theoretisdien Auffassung ist es nicht der Staat, sondern der einzelne, der geirrt oder sich verfehlt hat; der Staat als solcher tut kein Unrecht, er bringt ja erst das Recht hervor.
Wenn wir heute, wie aus Berichten bekannt wird, in der Sowjetunion eine stärkere „Legalisierung“, einen Zug zum Legalismus verspüren, so war der in einem gewissen Umfang schon immer vorhanden. Legalismus ist aber noch nicht Rechtsstaatlichkeit. Jede Maßnahme, auch die staatliche und parteiliche Willkürmaßnahme soll möglichst mit einem positiven Gesetz in Verbindung gebracht werden; niemand soll verurteilt werden, der sich nicht, wenn man keine anderen Mittel hatte, ihn zu „überführen“, selbst als schuldig bekannt hatte. Diesen äußeren Legalismus hält man hoch, und es „scheinen“ auch gewisse Neuerungen eingeführt zu sein, bei denen es legalistische Berufungsformen gibt. Aber damit ist nicht die grundsätzliche Rechtsstaatlichkeit hergestellt. Im Grunde sind es doch nur Formen, die einen gewissen Anschein der Legalität geben, aber den tiefen, von Kant immer wieder betonten Unterschied zwischen „Legalität“ und „Moralität“ verwischen. Der Rechtsstaat muß ein moralischer Staat sein. Recht ist etwas nicht erst darum, weil es legal ist; sondern etwas kann nur legal sein, weil es Recht ist. Das ist schließlich die entscheidende Sache: Das Recht ist ppgs (physei), von Natur aus, vor dem Menschen und vor dem Staat, und nicht nur Vegs (thesei), keine bloße Setzung. Die Sophisten behaupten, das Recht sei eine Setzung, Plato und Sokrates hingegen sagten: (und das ist unser abendländisch-europäisches Erbe) das Recht Ist ppge (von Natur).
Es geht um die Würde der Person
Wir gebrauchen das Wort Individua m , das nichts anderes besagt als das Wort Atom, nämlich: das letzte-nicht-mehr-Teilbare. ziemlich gleichbedeutend mit Person. Das hat sogar eine gewisse Berechtigung. Aber trotzdem sollten wir uns des Unterschiedes zwischen Individuum und Person bewußt sein Denn, und damit komme ich auf die Gegenüberstellung, das Gesellschaftsbild und das Menschenbild des dialektischen Materialismus kennen den Personbegriff nicht, selbst wenn er „verbal“ vorkommt. Der einzelne in der dialektisch determinierten Gesellschaft ist eben nur Individuum und nicht Person, während unser Menschenbild und, wie ich annehme, unser gemeinschaftlich • s behauptet: der Mensch ist Individuum und Person. Lassen Sie es mich klarmachen: Ein Blatt am Baum, ein Tier, ein Mensch, sie stimmen alle darin überein, daß sie Individuen sind Ein Blatt ist deswegen ein Individuum, ein letzt-Unteilbares, weil, wenn man es zerschneidet, sein Wesen zerstört wird. Man behält dann eine Menge anderer Individualitäten, z. B. Zellen, zurück; wenn man die Zellen spaltet, dann verbleiben wieder andere (gleichsam darunter liegende) Individualitäten die Zelle als solche ist aufgelöst. So gehen wir hinab bis zum Atom und bis zu den Elementarteilchen, und wer weiß, in einiger Zeit vielleicht noch zu einer Art „Unterelementarteilchen", die dann als die eigentlichen Individuen der materiellen Natur angesehen werden. Individuum besagt, und so definiert bereits Boethius, das „letzte Unteilbare im Bereich der Materie“. Unteilbar, „cum grano salis", insoweit es sich nämlich um das Wesen des betreffenden Dinges handelt. Wir Menschen sind als physische Wesen natürlich auch Individuen
Aber wir kommen nicht auf den Gedanken, einen Hund oder einen Baum als Person anzusprechen, außer etwa im Reineke-Fuchs und anderen Tier-und Pflanzensagen, wo es allegorisch geschieht. — Was gehört zum Wesen der Person? — Sie ist das gleiche im Bereich des Geistes, was das Individuum im Bereich der Materie ist, nämlich die letzte unteilbare Einheit. Im Bereich des Geistes jedoch gibt es in der Tat, wie schon Leibnitz zeigt, keine Teilbarkeit. (Das Wort „Individuum" oder „Atom“ ist dort eigentlich richtig angebracht). Leibnitz sagt darum in seiner Monadologie: die wahren Elementarteilchen der Welt sind die Monaden, sind geistige Wesen; denn solange man im Bereich der Materie ist, kann man immer noch teilen. Grundsätzlich ist Teilbarkeit gegeben, solange Ausdehnung besteht. Darum kann das unverletzlich Einmalige nicht materiell sein, sondern es muß die einmalige substanziale Einheit eines geistigen Wesens, einer monadischen immateriellen Wirklichkeit sein. Der Mensch ist nun Person und Individuum in einem. Wir sind physische Wesen, wir sind geistige Wesen. Der dialektische Materialismus nimmt in dieser menschlichen Wirklichkeit unsere Personalität nicht ernst, wenn er sie nicht überhaupt leugnet Der einzelne Mensch ist ihm (auch wenn von Person die Rede ist) nichts anderes als ein Blatt am Baum, aber keine eigenständige Personalität mit eigenem Gewissen, mit eigener Auffassung, mit eigener Erlösungsbedürftigkeit, mit eigenem Anspruch, als ein Geschöpf Gottes jedem anderen als Mensch gleichgestellt zu werden.
Daher verzeichnen wir umgekehrt in der dialektischen Gesellschattstheorie auch die Tatsache, daß jemand, der seine Funktion im Rahmen des einen Ganzen verliert, sich selbst ausschaltet. Der Mensch wird nur auf der Grundlage seiner Funktion, die er als Individuum in einem größeren Ganzen hat, geachtet; jedoch nicht auf der Grundlage seiner Personalität. Das System, das alle angeblich gleich behandelt, macht die (wörtlich) furchtbarsten Unterschiede zwischen den Individuen, ohne Rücksicht auf die grundsätzlich gleiche Menschenwürde der Person. Sicher, als Individuum sind wir sehr verschieden; oder, sagen wir lieber, als Individualitäten und Personalitäten. Goethe ist nicht mit „quiconque“ zu vergleichen; er ist eben Goethe. Aber sofern er menschliche Person ist, sofern es um sein Recht und seine Würde geht, ist ein Säugling genauso Person wie Goethe. Das ist eine entscheidende Grundlage in unserer Überzeugung, daß jeder vor dem Rechte gleich ist. daß nicht gemessen und gefragt wird: was hast du für den Staat getan oder was hast du nicht getan; bist du krank oder bist du gesund, bist du reich oder arm, gehörst du dieser oder jener Klasse an; bist du Kind oder Greis, Mann oder Frau. Die wirkliche Einmaligkeit und grundsätzlich gleiche Würde der Person ist es, um die es geht. — Dieses andere System, das gerade behauptet, alles gleich zu machen, schafft durch die reine Anerkenntnis des Individuums und die Vernachlässigung der Personalität die z. T. gräßlichsten Ungleichartigkeiten und Ungleich-wertigkeiten. Für uns ist daraus die Lehre zu ziehen, daß wir etwa bei der Erörterung der Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht miteinander verwechseln: „gleiche Wertigkeit" und „gleiche Art“. Die Gleichheit des Rechtes basiert auf der Gleichheit des Wertes der Person und auf der Ungleichartigkeit der durch die Individualität mitgegebenen Einzelwertigkeit des Menschen. Wir sind alle verschieden, verschiedenartig in der Leistung, in Charakter, in Geschlecht, im Alter, in unserem sozialen Habitus, in hundert und tausend Vielfältigkeiten Aber wir sind alle gleich wert. Wir stehen alle (wenn ein solcher Ausdruck als Vergleich erlaubt ist) Gott „reichsunmittelbar“ als Person gegenüber und daher in unserer persönlichen Dignität auch neben dem Staat und nicht unter ihm. Das ist die eigentliche Personenlehre im Unterschied zu einer bloß individuellen Betrachtungsweise, die im Verhältnis des einzelnen zur Gesellschaft ihren Ausdruck findet. Die Person als Person hat ihre gleichen unverkürzbaren Rechte, gleich in welcher Rasse, in welcher Konfession, gleich nach welchen LImständen der Zeit. Darauf beruht die wahre Humanität. Wenn man aber diese Personalität nicht sieht, dann verkrampft man sich allzu sehr auf die Individualität, und dann kommt schließlich die Gleichmacherei heraus, die zu den schrecklichsten Gegensätzen und Ungerechtigkeiten führt, die sich überhaupt denken lassen; die neue soziale Spannungen begründet, die mit dem angeblichen Recht des Staates und der Gesellschaft geschützt werden.
Der Staat ist Ausdruck der Gesellschaft
Das Thema klang schon mit an, als ich die gesellschaftliche Entwicklung, wie sie nach der dialektischen Theorie vor sich gehen soll, schilderte. Wir können es relativ kurz halten. Idi führte eingangs aus, daß wir eine pluralistische Gesellschaft als gegeben betrachten. Der Staat ist eine unter mehreren gesellschaftlichen Formen, die es gibt. Er ist freilich eine bevorzugte Form innerhalb der menschlichen Gesellschaft, nämlich derjenige, die den Ausgleich herzustellen hat, die gleichsam „arbiter“ (Schiedsrichter) zwischen den Gesellschaften ist, die die Funktion hat, das Gemeinwohl zu etablieren, es zu schützen und für alle fruktifizierbar zu machen. Das ist seine besondere Aufgabe als Gesellschaft: Schöpfung und Schutz des Gemeinwohls. Aber er steht in einem Verband von Gesellschaften, angefangen von der Ehe und Familie bis zu den Kulturkörperschaften verschiedenster Art, die z. B. das moderne Gesellschaftsgefüge kennt.
Ganz anders die Auffassung innerhalb der dialektisch-sozialistischen Gesellschaftstheorie: Es gibt nur eine menschliche Gesellschaft, von der alle anderen Subdivisionen sind. Familie hat nur Sinn im Verband der ganzen menschlichen Gesellschaft, und der Staat ist nichts anderes als der Ausdruck und Machtfaktor dieser Gesellschaft. Seine geistige Führungsspitze und gleichzeitig die Machtinhaber des Staates, das sind die Mitglieder der einen Partei; als Elite der Gesellschaft. Sie (die Einheitspartei) muß daher die Führungsmacht des Staates besitzen: in der Identität zwischen parteilichen und staatlichen Ämtern, damit dieser unerbittlich notwendige Fortschritt der menschlichen Gesellschaft vor sich geht. Nichts von Pluralität; nur Uniformität der einen Gesellschaft, staatlich machtmäßig gestützt und geführt von der damit verbundenen Einheits-Partei. Ich glaube, man kann nicht leugnen, daß auch das äußere Erscheinungsbild in Sowjetrußland und in seinen politischen Satelliten ganz konsequent einer solchen gesellschaftlichen Theorie entspricht.
Machen wir ebenso ernst mit unserem Pluralismus. Wehren wir uns gegenüber allen totalitären Erscheinungsformen, die jedoch nicht zu ver-wechseln sind mit den rechtmäßigen Machtäußerungen des Staates.
Unser Staat soll ein machtvoller Staat sein. Aber er soll nicht alle Gebilde gesellschaftlicher Art in sich aufsaugen oder alle Funktionen, Jie das gesellschaftliche Leben aus sich erfüllen kann in sich selbst allein realisieren. Dieser totalisierende Zug ist ja leider auch in der modernen Demokratie vorhanden, daß dem Staat nicht nur, weil er etwa selbst solche Funktionen an sich zöge, sondern weil sie ihm von außen her, von seinen Bürgern und von seinen gesellschaftlichen Gebilden, gleichsam ausgenötigt werden, die Ganzheit der gesellschaftlichen Aufgabe zugeeignet wird. Man könnte das im einzelnen ausführen, wozu die grundsätzliche Erörterung nicht Raum gibt Das Entscheidende haben wir in der freiheitlichen Welt in der gemeinsamen Auffassung vom Wesen des Staates als Schöpfer, Hüter und Beschützer des Gemeinwohls in einer Vielheit von Gesellschaften, zu denen er selber gehört, zu sehen und praktisch zu vertreten Der demokratische Staat ist von Rechts wegen und in der Tat der Machtausübende, der sich davor zu hüten hat, in einem „totum", in einem einzigen allumfassenden Vorgang, alle Funktionen der Gesellschaft in sich hineinzuziehen. — Das ist gerade der Grundzug der staatlichen Gesellschaft oder der „verstaatlichten Gesellschaft" der östlichen Systeme. Alle Lebensvorgänge gesellschaftlicher Art werden in dieses eine totum hineingenommen und von ihm allein legalisiert. Alles, was nicht in diesem Ganzen lebt, ist nicht.
Noch ein kurzes Wort zu dem Verhältnis besonderer Gesellschaften, zumal der Kirche zu dieser staatlichen Gesellschaft oder zu dem Staat in der Gesellschaft. So sehr man die dialektisch-sozialistische Gesellschaftstheorie aus den verschiedenen Wurzeln geistiger Art, die aus dem Westen gekommen sind, ableiten kann, so sehr verbindet sich mit der östlichen Ideologie doch auch eine geschichtliche Entwicklung, die durch das Verhältnis Staat und Kirche im Orient und im Unterschied zu den Verhältnissen des Abendlandes sich herausgebildet hat. Ich brauche nur an das Stichwort des Cäsaropapismus und an das Faktum zu erinnern, daß in dem zweiten und dritten Rom, wie man es nennen will, der Versuch nicht nur unternommen wurde, Staat und Kirche zu einer Einheit zu verschmelzen, sondern daß die Grenzen zwischen ihnen oft gar nicht mehr bestanden haben und daß insbesondere eine Unterordnung der kirchlichen Gesellschaft unter die staatliche Gesellschaft sich ereignete. Wir kennen in der abendländischen Geschichte die großen Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat auch in politischer Hinsicht, aber sie bleiben in ihrem Endresultat als echte Gegenüberstellungen der politisch staatlichen Wirklichkeit und der kirchlichen Wirklichkeit. Es kommt nicht zu einer Unterwerfung des einen unter den anderen.
LImgekehrt hat in der östlichen Entwicklung der Staat schon immer die Aura eines Heiligtums, in einer ganz anderen Weise als das etwa in unserer westlichen Welt der Fall war. Diese Tatsache wird nun oder wurde von den Machthabern der neuen Regime des Ostens übernommen, und die Ideologie selbst wurde mit den Zügen einer Prophetie, eines neuen Evangeliums, einer chiliastischen Weltdeutung, umgeben, so daß die religiöse Hoffnung sich auf dieses Evangelium des politischen Daseins wendet. Daraus erklärt sich z. T. die Emphase, auch bei jungen Menschen, sehr viel echte Anteilnahme und keine genügende Unterscheidung zwischen dem einen und dem anderen. Politik wird zur Religion. Bei uns dagegen erlebt man oft wieder das Gegenteil, nämlich eine unerbittliche Gegenüberstellung, eine Kälte und Schärfe in der Scheidung bis Trennung der beiden Bereiche, die weder dem einen noch dem anderen zuträglich ist. Das alles läßt sich nur andeuten, um deutlich zu machen, wie sich, durch die geschichtliche Entwicklung bedingt, eine Verschwisterung des chiliastisch-religiösen Moments mit dem politischen Machtmoment und dieser neuen konstruierten Ideologie ergibt, die uns oft geradezu frappiert.
Zum Abschluß noch ein paar Sätze zu der Frage der staatsbürgerlichen Erziehung. Es wäre ein großes Mißverständnis, wenn man mit den hier entwickelten Gedanken unmittelbar und ohne Umprägung in den Schulunterricht ginge, selbst in den Unterricht etwa einer Oberstufe. Wir müssen natürlich umsetzen, und zwar in einer doppelten Hinsicht. Der Bildner und Erzieher muß, und das zeigt sein Werdegang, selbstverständlich viel tiefer im Stoff stehen, er muß die wissenschaftlichen oder annähernd wissenschaftlichen Elemente seiner künftigen Lehre in sich ausgenommen haben, um sie in dem Augenblick der Darbietung als wissenschaftliche Mittel weithin zu vergessen und umzusetzen in eine künstlerisch oder didaktisch geeignete Form. So ist es selbstverständlich gerade bei diesem Stoffgebiet, bei diesem sozial-und rechts-philosophischen und allgemein anthropologischen Bereich. Der kann nur mittelbar mit den übrigen Belehrungen und Unterrichtungen des staatsbürgerlichen, des gemeinschaftskundlichen Unterrichts einfließen; er kann an diesem oder jenem Beispiel einmal in der Lehre ausdrücklich werden. Man wird abtasten, je nachdem wie weit die Schülerinnen und Schüler auch in einer Oberstufe vorbereitet sind, um solche Gedanken in sich aufzunehmen. Gewisse Grundelemente müssen natürlich in Beispielen deutlich werden. —
Demokratie — eine Verhaltensweise
Das Wichtigste scheint mir aber eine andere Umsetzung zu sein, daß wir das, was ich hier „dürr“ und begriffs-schematisch als Leitbild hinsetze, Lebenshaltung werden lassen und diese einüben. Man müßte zu all diesen Begriffen förmlich Beispiele bilden (wie bei Friedrich dem Großen und dem Müller von Sanssouci). Dann sollte aber darüber hinaus im Klassenverhältnis die über uns allen stehende Wirklichkeit des Rechtes etwas selbstverständlich Gelebtes werden, dem sich der Schüler und der Lehrer, dem sich jeder zu beugen hat, gleich in welcher Stellung er ist. An einem solchen, die einzelne Rechtsperson des Schülers und des kleinen Kindes bereits achtenden Verhalten kann man viel mehr demokratische Einübung schaffen als bloß durch die Belehrung oder durch ein Anbieten philosophischer Gehalte, die zudem nicht verstanden werden. Es kommt sehr darauf an, daß wir das Prinzip des staatsbürgerlichen und gemeinschaftskundlichen Unterrichtes einfach als Haltung vermitteln und einüben. Natürlich werden wir sehr viel in diesen Bemühungen gekontert durch Haltungen, die in der Welt der Erwachsenen und im politischen Dasein unseres Staates sich ereignen. Da können wir, glaube ich, nur als Einzelpersonen und als Mitglieder von Parteien, als Menschen, die eine Verantwortung tragen, immer wieder an diejenigen appellieren, die öffentliche Wirkung erzeugen, daß man gerade diese Rückwirkung auf die heranwachsende Generation bedenken muß.
Wenn wir unsere geistige Grundlage, um wieder ein Beispiel zu nehmen, zerreden, wenn wir unsere sittlichen Begriffe, von denen wir ausgehen müssen, wenn wir eine Lebensform finden wollen, in Dubiosa auflösen und relativieren oder gar karikaturistisch herabziehen in der Öffentlichkeit, so bedeutet das eine Destruktion aller Erziehung. In einem totalitären System werden alle sogenannten „destruktiven" Äußerungen natürlich gleich von vornherein abgeschnitten oder totgeschlagen. Bei uns beruft man sich auf den Begriff der Freiheit, meint aber dann den der Willkür und sieht nicht genügend, daß es um die Freiheit im sittlichen Sinne geht, die zu schützen ist. Ein deutliches Beispiel dafür ist mir die Begleitmusik etwa zu der Jugendschutzgesetzgebung und auch zu der Novelle zum Jugendschutz, wie sie am ersten Oktober des vorigen Jahres in Kraft getreten ist. Wo man hinschaute — und ich habe das auch vor Publizisten vor einigen Monaten so formuliert —, überall entbrannte die Diskussion um die bedrohte oder beschränkte Freiheit der Meinungsäußerung, der Ausdrucksgebung, der künstlerischen Darstellung usw. Keine Stimme oder kaum eine war dagegen zugunsten der wirklich bedrohten Freiheit der Entwicklung des Kindes und des Jugendlichen zu hören. Man sieht allzu leicht nur einseitig Freiheit im Sinne eines Tun-Könnens und Lassen-Könnens, nicht aber im Sinne einer Aufgabe. Auch das müßte man weiter vertiefen. — Aber ich wollte mich hier darauf beschränken, daß in der Erziehung neben der „umgemünzten“ Belehrung, die solche grundphilosophischen Elemente in den Unterricht nur sehr sparsam und nur bei einer geeigneten Vorbereitung hineinträgt, vor allen Dingen Wert gelegt werden muß auf eine Vermittlung von Haltungselementen, die diesen Grund-begriffen entsprechen, und auf eine Einübung dieser Haltung in unserer Gesellschaft, der Schule, der Jugendwirklichkeit usw. Dazu gehört natürlich auch, daß wir alle die dämmenden, schädigenden, mißbildenden Einflüsse der Öffentlichkeit von uns aus bekämpfen und zurückdrängen, damit nicht der Grundbestand und das Fundament unserer Demokratie zerstört werden.
Wenn wir uns so wechselseitig bemühen, daß wir alle bei aller politischen Verschiedenheit das Gemeinsame dieses Fundamentes sehen und anerkennen, dann glaube ich, haben wir diesmal eine größere Chance als in den früheren Versuchen einer demokratischen Lebensgestaltung in Deutschland, weil heute die entsprechenden Ansätze vorhanden sind. Statt unsere eigenen Kräfte zu regen und uns endlich zu dem positiv zu bekennen, was uns gemeinsam verbindet, aber auch ohne jeden Abstrich, ohne jeden falschen Schnörkel und ohne jede falsche
Kritiksucht, glauben freilich noch viele, das Wesen der Demokratie erschöpfe sich in der Möglichkeit, alles und jedes zu kritisieren. Damit zerstören wir unsere Substanz. Wenn wir sie preisgeben, dann können wir uns auch politisch abschreiben. Dann sind wir ausgetilgt; dann spielen wir keine Rolle mehr. Daß wir rein machtpolitisch schon an den Rand gerückt sind, wissen wir. Aber wir können wenigstens, wie es den alten Griechen einmal beschieden war, doch durch die geistige Substanz, die sich bei uns verkörpert, an dem Bild mitprägen, das für eine freie Welt gültig werden könnte. In dieser Zuversicht sollten wir auch an unsere Arbeit gehen, so bescheiden und klein sie sein mag, den jungen Menschen zu einer solchen Zukunft zu erziehen. '