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Die Bedeutung der Kultur für die weltpolitische Entwicklung | APuZ 6/1959 | bpb.de

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APuZ 6/1959 Die Bedeutung der Kultur für die weltpolitische Entwicklung

Die Bedeutung der Kultur für die weltpolitische Entwicklung

Als Vortrag gehalten im Rahmen der Societ Dante Alighieri in Bonn an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität am 13. Januar 1959.

Die allgemeine Verwirrung der Ideen unserer Epoche wird ohne Zweifel durch die Tatsache vermehrt, daß wir die gleichen Wörter benützen, die verschiedene, wenn nicht gar gegensätzliche Bedeutungen haben. Es sei an die Bedeutung erinnert, die diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs den Wörtern wie Demokratie und Freiheit gegeben wird. Auch dies ist nicht eine neue Erscheinung. Schon zu seiner Zeit beklagte sich Thukydides, daß die gleichen Wörter ine ganz verschiedene Bedeutung in Athen oder in Sparta hätten. Wahrscheinlich ist das eine Erscheinung aller Epochen, die wir heute optimistischerweise Übergangsepochen nennen: es wäre wahrscheinlich exakter, für uns, die wir sehen was es heißt in einer solchen Epoche zu leben, sie Epochen der Verwirrung zu nennen. Ein Wort kann überall dieselbe Bedeutung haben, wenn in der Welt oder wenigstens in dem Teil der Welt, der einen Zeitraum prägt, eine Einheitlichkeit im Denken herrscht.

Gewiß, auch im vorigen Jahrhundert konnte die Bedeutung gewisser Wörter in London oder in Peking nicht dieselbe sein. Aber die Bedeutung, die ein Wort in London hatte, wurde von der ganzen Welt akzeptiert und die Vorherrschaft Europas über die übrige Welt war unbestritten. Darum hatte die Interpretation eines Wortes in China praktisch keine Bedeutung: heute wäre es unangebracht, von der chinesischen Interpretation keine Notiz zu nehmen.

Ich möchte damit vor allem ganz klarstellen, was für mich das Wort Kultur bedeutet. Ich weiß nicht, ob man sich je in der Vergangenheit so viel mit der Verbreitung der Kultur — wenigstens in Worten — beschäftigt hat: in allen Außenministerien, die etwas auf sich halten, gibt es einen Generaldirektor für kulturelle Beziehungen. Verträge zur Förderung der kulturellen Beziehungen werden beinahe jeden Tag unterzeichnet. In Paris, unter dem Patronat der Vereinten Nationen, gibt es eine große Organisation, die UNESCO, die eigens geschaffen wurde, um die kulturellen Beziehungen zu fördern.

Ein Freund von mir, etwas boshaft, hat einmal zu mir gesagt, daß alle diese Anstrengungen, um die Kultur zu verbreiten, dazu da sind, um zu beweisen, daß es keine wahre Kultur gibt, denn, wenn es eine wahre Kultur gäbe, so würde sich diese von selbst verbreiten. Idi möchte hervorheben, daß es sich wirklich um einen Freund von mir handelt und nicht etwa um mich selbst, auch wenn ich nicht ganz davon überzeugt bin, daß mein Freund so vollkommen unrecht hat. Im übrigen kann ich midi nicht mehr erinnern, über wie viele kulturelle Verträge auch ich im Laufe meiner Karriere verhandelt habe. Aber ich habe nie gelesen, daß in der Zeit der italienischen Frührenaissance ein Netz von Kultur-Attaches nötig war, um die italienische Kultur der damaligen Zeit zu verbreiten.

Wenn wir mit Kultur die künstlerische oder philosophische Tätigkeit meinen, so glaube ich nicht, daß es möglich ist zu sagen, daß unsere Epoche — ich spreche natürlich nicht von den letzten Jahren, sondern, um eine Grenze zu ziehen, von der Epoche, in der sich mein Leben entwickelt hat — schlechter sei als manche andere. Es ist für einen Zeitgenossen immer schwierig zu sagen, welcher Künstler oder Denker seine Epoche überleben wird. Haben Sie jemals versucht, die Reihe der Mitglieder der Französischen Akademie zu überschauen, angefangen von der Zeit des Kardinals von Richelieu bis heute? Ohne Zweifel mußten alle diese Leute, um in die Akademie ausgenommen zu werden, zu ihrer Zeit mehr oder weniger berühmt gewesen sein: heute ist es unmöglich, irgendeine Spur von der Mehrzahl dieser Leute — nicht einmal im Großen Larousse — zu finden; und umgekehrt, wieviele Personen, deren Ruhm heute unbestritten ist, sind nicht Mitglieder der Akademie gewesen! Großartige Dichter wie Dante, Shakespeare oder Goethe tauchen hier und da auf der Straße der Menschheit auf: und niemand wird je die Möglichkeit haben, die rationalen Gesetze zu bestimmen, die ihr Erscheinen festsetzen. Aber, um auf einer niedrigeren Ebene, einer — sagen wir — normalen Ebene zu bleiben, ich glaube — und wiederhole es — daß auch meine Epoche ihren würdigen Platz in der Geschichte der menschlichen Kultur hat. Es mag sein, zum Beispiel, daß man in unserer Epoche zu viel geschrieben hat, aber das will nicht heißen, daß von dieser ungeheueren Masse nicht irgend etwas Interessantes übrig bleiben kann für die künftigen Jahrhunderte.

Wenn wir übrigens die Wissenschaft und die Technik im weiten Sinne des Wortes nehmen, so können wir ohne Zögern sagen, daß gerade meine Epoche zu den schöpferischsten der Geschichte der Menschheit zählt.

Aber wenn in einem gewissen Zeitalter einige gute Schriftsteller, Maler, Architekten oder Wissenschaftler gelebt haben, so genügt das nicht, um eine Kultur zu schaffen: Kultur ist für mich etwas mehr; Es ist ein Lebensstil, eine Weltanschauung, ein ethischer und politischer Begriff, der wenigstens ein ganzes Volk, wenn nicht eine ganze Epoche umfaßt. Eine wahre Kultur ist eine Kultur, die einen menschlichen Typus formen kann, individuell und kollektiv, mit eigenen, ausgeprägten Charakterzügen. Ohne Zweifel, um diesen menschlichen Typus, um diese Lebenshaltung und Lebensauffassung zu schaffen, tragen Kunst, Wissenschaft, Glauben und Denken bei: Glauben und Denken wahrscheinlich mehr als irgend etwas anderes. Aber nicht jedem Ausdruck der Kunst oder des Gedankens gelingt es, einen entsprechenden menschlichen Typus zu formen. Gelingt es nicht, so kann man diese Erscheinung nicht wirklich Kultur nennen.

Der Italiener der Renaissance war ein leicht zu bezeichnender menschlicher Typus, klar zu unterscheiden von dem menschlichen Typus — auch ein Italiener —, der vor ihm oder nach ihm existierte. Eine Auffassung des Lebens, der Ethik, des Rechtes und der Politik, nicht nur ein ästhetischer Begriff, obwohl auch dieser ganz deutlich definiert war.

Vom bloßen Standpunkt des künstlerischen Schaffens gesehen, wäre es schwierig, das 19. Jahrhundert, das letzte große Jahrhundert Europas, mit dem grandiosen und grenzenlosen Aufblühen der Renaissance zu vergleichen. Aber dieses gleiche Jahrhundert hat einen menschlichen Typus, eine ethische, juristische, philosophische und politische Auffassung geschaffen, eine gut definierte, die sich damals in der ganzen Welt durchsetzte, auch wenn sie nicht von allen angenommen wurde. Wahrscheinlich könnte man sagen, daß die Essenz der Kultur des 19. Jahrhunderts die liberale Auffassung war — im wahrsten Sinne des Wortes nun wurde diese liberale Auffassung in Europa zum Beispiel von Rußland nicht angenommen und, außerhalb Europas, nicht von China. Aber es war ein defensives Nichtannehmen Rußland und China fürchteten sich vor dieser liberalen Auffassung des Staates und des Lebens: diese Furcht war in Wirklichkeit eine Anerkennung der Überlegenheit der inneren Kraft dieser Kultur.

Es gibt keine Definition, die nicht diskutierbar ist. So ist meine Auffassung der Kultur ohne Zweifel sehr diskutierbar. Ich wurde hier eingeladen, um über das Thema „Kultur und Politik" zu sprechen. Nun kann ein Roman, eine Dichtung, ein Bild an sich keinen wirklich dauerhaften politischen Einfluß haben. Eine politische Rolle kann die Kultur nur dann spielen, wenn sie als ein Ganzes erscheint, ein Ganzes, wie ich zu erklären mein Bestes versucht habe.

Aber als solche ist die Rolle der Kultur in der Politik nicht nur wichtig, sondern entscheidend. Was die Politik allein schafft — der Krieg, darf man nicht vergessen, ist auch Politik — kann nur vorübergehend sein: was die Kultur mit und nach der Politik schafft, das allein kann von Dauer sein.

Die Waffen Alexanders des Großen haben eine Welt erobert, sein Reich hat nur kurze Zeit gedauert: aber die hellenische Kultur, die auf den Spuren der makedonischen Soldaten gefolgt ist, hat dieser Welt ein Gepräge gegeben, das für Jahrhunderte gedauert hat, auch wenn die hellenische politische Macht lange nur eine Sache der Vergangenheit war. Die Waffen der Legionäre haben das Römische Reich erobert, aber es ist nur die römische Kultur, die diesem Reich ein dauerndes Rückgrat gegeben hat. Ludwig der XIV. wollte Europa der französischen Macht unterwerfen: das ist ihm nicht gelungen. Nichtsdestoweniger hat die französische Kultur ganz Europa ein paar Jahrhunderte lang fast unbestritten beherrscht. .

Ohne Kultur keine politischen Et folge von Dauer

Ohne Kultur gibt es keine Politik: ohne Kultur sind keine politischen Erfolge von Dauer. Aber die Eroberungen einer Kultur sind eine sich ständig erneuernde Eroberung: eine Kultur ist eine beständige Schöpfung: ohne diese beständige Schöpfung ist eine Kultur keine lebendige Sache mehr. Eine lebendige Kultur muß immer die Zukunft verkörpern: eine Kultur, die mehr nach der Vergangenheit als nach der Zukunft strebt, ist eine Kultur im Absterben: eine nicht lebendige oder nicht genügend lebendige Kultur kann nicht von der Welt anerkannt und angenommen werden.

Heute wird die europäische, die westliche Kultur, nicht mehr von der ganzen Welt angenommen, und was noch wichtiger ist, dieses Nicht-annehmen ist nicht mehr defensiv, sondern offensiv. Große, sehr große Teile der Menschheit verwerfen heute diese Kultur, nicht weil sie revolutionär wirkt, wie früher in Rußland oder China, sondern weil sie ihnen überholt, konservativ, wenn nicht gar reaktionär erscheint.

Wenn man die Sache ein bißchen vereinfachen will, könnte man auch sagen, daß man dieses Nichtannehmen in zwei Kategorien aufteilen kann: die kommunistische Welt wirft der westlichen Kultur vor, eine Klassenerscheinung geworden zu sein, die Erscheinung einer sozial jetzt überholten Klasse, der bürgerlichen Klasse, und daß sie sich in den Dienst eines unmöglichen Versuches gestellt hat, den Lauf der Geschichte aufzuhalten. Die kommunistische Welt lehnt die westliche Kultur nicht als Ganzes ab — und das könnte sie auch nicht tun, denn im Grunde genommen ist der Marxismus eine Theorie europäischer Herkunft. Sie weist sicher viele ihrer Jetzigen Erscheinungen zurück, ihre jetzige Entartung, aber zu gleicher Zeit wird in der ganzen kommunistischen Welt der klassische Reichtum der westlichen Kultur sehr hoch geschätzt, in gewissen Fällen sogar mehr als bei uns. Diese Vergangenheit ist nicht in die politische Auseinandersetzung von heute verwickelt.

Die Welt aber, die wir je nach verschiedenen Standpunkten mit ex-kolonial, farbig, unterentwickelt oder in Entwicklung stehend bezeichnen, ist viel negativer in ihrer Haltung der westlichen Kultur gegenüber. Diese Welt akzeptiert nur die technischen und wissenschaftlichen Erscheinungen dieser Kultur: sie lehnt jedoch schroff ihre ethische Seite ab. Im Gegenteil: diese Welt fühlt sich vom ethischen Standpunkt aus in ihren Grundlagen und in ihrer Entwicklungsmöglichkeit uns überlegen.

Wenn wir noch exakter sein wollen, so müßten wir sagen, daß sie uns vorwerfen, daß wir nicht im Einklang leben mit den religiösen, ethischen und politischen Prinzipien, die wir als Grundsätze unserer Kultur aufstellen. Sind sie übrigens so völlig im Unrecht?

Eine Kultur ist und muß ein Ganzes sein. 'Sie reicht vom Bild zum Menschen, vom Gedicht zur chirurgischen Operation. Man kann sie nicht aufteilen. Und ihr Produkt, wenn sie wirklich eine Kultur ist, ist ein menschlicher, klar definierter und definierbarer Typus.

Können wir das heute von unserer westlichen Kultur sagen? Wie vergleicht man unsere heutige Kultur mit der westlichen Kultur des vorigen Jahrhunderts? Es ist nicht leicht, eine globale Antwort zu geben. Man muß unterscheiden, es gibt Licht und Schatten: die europäische Kultur des 19. Jahrhunderts entwickelte sich auf einem nationalistischen Hintergrund. Es gab damals eine deutsche Geschichte, eine deutsche Philosophie oder Wissenschaft im Kontrast zu ähnlichen, zum Beispiel französischen, ebenso nationalistischen Erscheinungen * Heute haben wir glücklicherweie diese chauvinistischen Auffassungen überwunden. Es gibt, gewiß, Charakterzüge des deutschen, französischen oder italienischen Geistes, die auf die verschiedenen Schattierungen der westlichen Kultur ihren Einfluß haben. Aber diese nationalen Charakterzüge hält man heute für das, was sie wirklich sind, für eine zusätzliche Erscheinung, mehr Integration als Gegensatz. Auf diesem Gebiet hat die Europa-Idee, die Idee der Einigkeit der westlichen Welt, wichtige substantielle Fortschritte gemacht. Ich erinnere mich noch an mein Erstaunen — beim Übergang von einer italienischen zu einer deutschen Schule — als ich die deutsche Darstellung der geschichtlichen Figur von Friedrich Barbarossa kennenlernte. Die Geschichte ist ein Gebiet, an dem noch viel zu arbeiten bleibt. Ich meine nicht die wissenschaftliche Geschichte, sondern die Geschichte, wie sie in den Grundschulen oder Mittelschulen gelehrt wird. Es ist doch politisch und ethisch ein sehr wichtiger Aspekt der Geschichte, weil die Mehrheit der Menschen in ihrem Begriff der Geschichte nicht viel weiter geht von dem, was man auf der Schulbank gelernt hat, und die Geschichte, die auf unser politisches und nationales Denken Einfluß hat, ist leider gerade die, und nur die, welche wir in den ersten Jahren unserer Bildung angenommen haben. In diesem Sinne sind die nationalen und nationalistischen Mythen der Geschichte viel wichtiger als die wissenschaftliche, historische Realität. Wie dein auch sei, wir erkennen heute alle und klar die grundsätzliche Einheit der westlichen Kultur; diese Überwindung des nationalen Komplexes ist ohne Zweifel ein sehr positives Element.

Was die Wissenschaft betrifft — in sehr weitem Sinn gemeint, von der nuklearen Physik bis zur Medizin und den plastischen Materien — kann man ohne Arroganz und ohne die Fortschritte der Sowjetunion und anderer kommunistischer Länder herabzusetzen wohl sagen, daß die westliche Welt noch weitgehend führend ist. Und dieses Aufblühen der wissenschaftlichen Tätigkeit könnte der beste Beweis ihrer grundsätzlichen Lebensfähigkeit sein.

Ich bin nicht sicher, ob man dasselbe auch vom künstlerischen Aspekt unserer Kultur sagen kann. Die kommunistische Welt bezeichnet unsere zeitgenössische Kunst als die Kunst der sich zersetzenden Bourgeoisie. Es liegt in der Gewohnheit der kommunistischen Welt, der Kunst einer gewissen Periode Klassen-Bezeichnungen zu geben. Aber wahrscheinlich ist in diesem Fall und im gewissen Sinne etwas Wahres daran. Die zeitgenössische Kunst ist in sich selbst geschlossen. In den schönen Zeiten der Renaissance war das Erscheinen eines Bildes von Botticelli für die ganze florentinische Welt, und nicht nur für eine beschränkte Klasse, ein Ereignis. Fleute malt oder schreibt oder meißelt man nur für eine kleine Gruppe von Kollegen und Kritikern. Ich möchte nicht mißverstanden werden: die Kunst soll nicht Sklavin des Geschmacks der Masse sein: sie hat im Gegenteil auch eine erzieherische Rolle zu spielen. Aber ein hochmütiges Verachten der Meinung und der Reaktionen der Leute, die nicht zu einem sehr begrenzten Kreis von Eingeweihten gehören, kann diese erzieherische Rolle nicht spielen. Man kann nicht jemand erziehen, von dem man denkt, daß er grundsätzlich unfähig ist, etwas zu verstehen, und es auch ganz egal ist, ob er versteht oder nicht. Die Kunst hat, wie jede andere menschliche Offenbarung, ihre Wurzeln in der Erde, im Volke, und es ist dieser intime Kontakt, der ihr ihre Lebenskraft und ihre bezeichnenden Charakterzüge schenkt. Ich weiß nicht, bis zu welchem Punkt eine Kunst, der diese lebensverleihenden Kontakte, fehlen, es vermeiden kann, zu einem abstrakten, intellektuellen Exerzieren zu werden und somit ihre Mission zu verfehlen, zur geistigen Bildung beizutragen.

Aber vielleicht tritt auf politischer und ethischer Ebene der Unterschied zwischen dem vorigen Jahrhundert und der jetzigen Epoche am deutlichsten hervor. Das Europa des 19. Jahrhunderts hatte ein Ganzes an politischen und ethischen Auffassungen entwickelt, ethische und politische Systeme, die sich als Muster für Fortschritts-und Entwicklungsideale für die gesamte Menschheit durchgesetzt haben: und die Europäer waren davon zutiefst und völlig überzeugt. Es gab, gewiß, auch damals Rebellen, Unzufriedene. Die Bewegung zur Selbständigkeit der farbigen Völker hat ihren, wenn auch nur bescheidenen Anfang schon im vergangenen Jahrhundert genommen. Aber wovon träumte denn der Chinese, der Russe, der Inder, der mit seinem materiellen und politischen Los unzufrieden war? Von einer sozialen und politischen Umbildung im Sinne jener Gesellschaft, wie sie in den leitenden Ländern der westlichen Welt existierte. Der Rechtsstaat, die liberale Gesellschaft, schien die ideale, die vollkommene Gesellschaft zu sein. Der heutige Kommunismus hat inmitten der Gesellschaft des vorigen Jahrhunderts angefangen. Schon damals warf der Kommunismus der liberalen Gesellschaft vor, daß sie nicht verstehen wolle, daß politische Freiheit ohne ökonomische Gleichheit nur eine Scheinfreiheit ist; daß sie in einem Wort eine politische Gesellschaftsform war, die nur den Interessen einer einzigen Klasse, der Bourgeoisie, entsprach. Aber der Glaube an die Überlegenheit der damaligen politischen und sozialen Formen war so tief überall eingewurzelt, daß auch der Sozialismus, insofern als er sich in eine Partei verwandelte, mit konkreter politischer Wirkung zu derselben Zeit sich in Richtung des Reformismus entwikkelte. Was bedeutet Reformismus? Die Überzeugung, daß die innere Entwicklungsmöglichkeit des politischen Mechanismus einer Gesellschaft imstande ist, wenn auch nur allmählich, die Übel dieser selben Gesellschaft zu heilen. Die hauptsächlichen Mängel der Gesellschaft hatte man schon damals erkannt: ein ungenügendes Sichanpassen des sozialen Gefüges an die inneren Entwicklungen einer Gesellschaft, die die industrielle Revolution verdauen muß. Aber man glaubte auch fest, daß es möglich war, die soziale Struktur zu verbessern ohne die ganze Gesellschaft mit revolutionären Methoden zu zerstören. Mit anderen Worten: die Leute des 19. Jahrhundert glaubten fest an die Überlegenheit und an die Immanenz der Werte ihrer Kultur.

Die gegenwärtige Krise

Wie steht es eigentlich jetzt?

Unsere Kultur hat ihren Glauben an sich selbst verloren. Unsere Kultur hat ihre Universalität verloren.

Unsere Kultur hat ihren inneren ethischen Antrieb verloren.

Eine Gesellschaft, die sich mit leichtem Herzen in eine Reihe von Kriegen hineingestürzt hat, die die materielle Grundlage ihrer Kultur zerstört haben, eine Gesellschaft, die in diesen und durch diese Kriege ihre ethischen Grundlagen verneint hat, die allgemein, wenn auch gewissermaßen etwas heuchlerisch, angenommen waren, konnte nicht vermeiden, das Vertrauen in sich selbst zu verlieren.

Heute lebt noch ein großer Teil der Menschheit in den Fesseln der unfreien Welt. Aber haben wir nicht mit dieser unfreien Welt im selben Mittelpunkt unserer Kultur experimentiert? Die unfreie Welt hat eigentlich keine Achtung vor der menschlichen Person, kein Mitleid für die menschlichen Leiden. Aber können wir vergessen, daß es unser hoch-zivilisiertes Europa von 1914 war, das der Welt durch die Fehler und Schrecken des ersten Weltkriegs das erste Beispiel der Vergeudung des menschlichen Lebens ohne Grund und ohne Zweck gegeben hat? Wenn wir das auch vergessen haben oder vergessen wollten, andere haben es nicht vergessen.

Wir haben keinen genügenden Glauben mehr an unsere Kultur: aber es gibt keine Kultur ohne Glauben an sich selbst Nun kann die Haltung unserer Väter oder Großväter, mit ihrem etwas naiven blinden Glauben an die Vernunft oder den Fortschritt, an die Güte der menschlichen Natur und ihrer Vervollkommnungsmöglichkeit, uns nach so Vielen Jahrzehnten kindlich erscheinen. Aber dies war ihre Stärke.

Die Menschheit ist der Vernunft müde: der Mensch von heute ist es müde, mit seinen Kräften, seinem Gehirn über alle Probleme des täglichen Lebens zu entscheiden. Diese Müdigkeit der Vernunft ist der Anfang des Erfolgs des Kommunismus in der Welt.

Kommunismus an sich ist alt wie die Welt: auch die Gracchen waren seinerzeit Kommunisten. Aber Jahrhunderte hindurch war Kommunismus eine etwas utopische Lehre, die das beste Mittel zu finden versuchte, die Ungerechtigkeiten, die Ungleichheiten der Gesellschaft abzuschaffen. Aber die Anziehungskraft des heutigen wissenschaftlichen Kommunismus, besonders gewissen Kategorien von Intellektuellen gegenüber, ist eher die eiserne Parteiorganisation. Ein Mitglied einer Organisation zu werden, die uns sagt, was wir denken müssen, die für uns entscheidet, was gut oder schlecht ist, scheint heute der Zufluchtsort unserer müden Vernunft zu sein. Die Parteiorganisation ist wichtig; was für einen Zweck diese Parteiorganisation verfolgt, ist nur nebensächlich.

Unsere Kultur krankt an dem Mißverhältnis zwischen einem wissenschaftlichen Fortschritt, der sich schon außerhalb der Grenzen unserer Einbildungskraft bewegt, und einer Auffassung des Lebens, die sich mehr und mehr dem Genuß eines materialistischen und individualistischen Hedonismus zuwendet, den dieser Fortschritt in immer größerem Maßstab möglich macht und man kümmert sich nicht darum, seine ethischen Werte diesem Fortschritt anzupassen. In der atomaren Epoche wollen wir ein Kleid anziehen, das noch im Anfang des vorigen Jahrhunderts zugeschnitten wurde. Wenn aber das Ideal unseres Lebens nur darin besteht, daß ein jeder ein Auto, eine Elektroküche und einen Fernseher hat, dann ist das Ideal, sind die Charakterzüge unserer Kul-tur gefährlich begrenzt. Heute scheint unsere westliche Welt mit ihrer erhabenen technischen Organisation besser als ihr großer Gegner — die kommunistische Gesellschaft — imstande zu sein, in den entwickelten Ländern ihren Mitgliedern diese materielle Seligkeit zu sichern. Aber passen wir auf: Technik kann man erlernen, und der Tag kann vielleicht nicht sehr fern sein, wo sie — als Resultat eines tollen Investierungstempos, wie es sich seit Jahrzehnten die kommunistische Gesellschaft auferlegt — imstande sein wird, ihren Mitgliedern dieselben materiellen Güter zu sichern, die unsere Gesellschaft uns bietet. Was bleibt dann übrig, um einen für uns noch günstigen Vergleich aufstellen zu können?

o Die politische Regierungsform, die wir frei und demokratisch nennen und die charakteristisch für die westliche Welt ist, unterscheidet sich von allen anderen Regierungsformen insoweit, als sie unbegrenzte Möglichkeiten der Reform und der Entwicklung in sich zu haben scheint.

Was ist die Essenz der demokratischen Regierungsform? Die Regierung ist der Kontrolle des Parlaments unterstellt; das Parlament seinerseits sollte, durch seine Gliederung in verschiedene Parteien, die öffentliche Meinung vertreten und wird somit von der öffentlichen Meinung kontrolliert und sollte im Namen und als Vertreter der öffentlichen Meinung die Regierung kontrollieren. Der Rechtsstaat ist eigentlich das harmonische Funktionieren dieser gegenseitigen Kontrolle. Theoretisch, wenn ein Teil der öffentlichen Meinung in einem gewissen Moment bestimmte Reformen für angebracht hält, wird er für diese oder jene Partei seine Stimme abgeben, die die betreffenden Reformen in ihrem Programm haben. Wenn einst diese Partei oder diese Parteien die Mehrheit des Parlaments erhalten, bedeutet das, daß die Mehrheit der Bevölkerung diese Reformen wünscht. Diese Mehrheit im Parlament wird die Regierung bezeichnen und die Reform wird eine Tatsache werden. So gesehen, spielt der ganze Mechanismus des demokratischen Systems eher die Rolle einer Bremse, einer Denk-Pause, die Reformen nur dann realisierend, wenn sie wirklich reif waren und in der Form, in welcher sie heranreiften. Das demokratische System sollte auch radikale Reformen verwirklichen, ohne durch eine Revolution zu gehen; es sollte die Möglichkeit geben, eine Regierung zu wechseln, ohne gezwungenermaßen die Mitglieder der vorherigen Regierung zu hängen.

Und in der Tat hat mehr als ein Jahrhundert lang das demokratische Regime mehr oder weniger diese Erwartungen erfüllt.

Demokratie — ein Selbstzweck?

Heute ist leider zu befürchten, daß man zu dem Schluß kommen muß, daß das demokratische Regime dabei ist, zum Selbstzweck zu werden, daß es nicht mehr imstande zu sein scheint, seine echte Mission zu erfüllen, der Gesellschaft freie Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Es gibt eine gewisse Tendenz, die Demokratie eher als Form zu betrachten denn als Substanz.

Eine politische und soziale Mechanik, die erdacht war, um die innere Entwicklung einer Gesellschaft zu erleichtern, scheint ein statisches Mittel zu ihrer Erhaltung in ihrer jetzigen Form geworden zu sein. Ein Mittel der Reform wird jetzt zu einem Werkzeug der Konservation.

Mit anderen Worten: unsere politische und soziale Gliederung, unsere ethische Entwicklung, haben nicht mit dem Tempo der wissenschaftlichen Fortschritte-Schritt gehalten und scheinen manchmal nicht imstande zu sein, dem Schock der materiellen Folgen dieser wissenschaftlichen Fortschritte standzuhalten.

Mehr als ein Jahrhundert lang war unsere westliche Kultur unbestrittene Herrin der Welt. Niemand stellte das in Abrede. Heute wird sie in Frage gestellt. Aber diese Herausforderung, anstatt uns, wie sie sollte, zu überzeugen, eine kritische Gewissensprüfung zu machen, wenn nötig auch die Grundlage unserer Kultur zu revidieren, um sie den neuen Bedingungen unserer Epoche anzupassen, scheint uns im Gegenteil zu einer statischen Bewunderung unserer Vergangenheit zu veranlassen. Wenn eine Kultur lebendig und lebensfähig ist, schaut sie vor sich, nicht hinter sich. Die Kultur ist wie ein Konto bei einer Bank. Wenn weiterhin Schecks ausgestellt werden, ohne von Zeit zu Zeit das Konto mit neuen und wichtigen Fonds aufzufüllen, so ist es bald überzogen.

Die kommunistische Welt hat unsere Kultur, unsere Zivilisation zu einer vergleichenden Kompetition gerufen. Sind wir uns dieser Kompetition bewußt? Ich bin nicht vollkommen sicher. Wir sagen wohl, daß unsere Kultur die beste ist, daß es nur der politische Zwang oder die Tücke der feindlichen Propaganda ist, die unsere Kultur in Frage stellt. Glauben wir das wirklich, oder ist es nur angenehm so zu denken, um schwierige Gewissensprüfungen zu vermeiden? Und ist es wirklich wahr, daß die ganze Welt, sollte sie frei sein, unsere Kultur, so wie sie ist, annehmen würde? Die Hunderttausende von Leuten, die alles tun, um der Konzentrationswelt zu entfliehen, dürfen uns nicht irreführen. Wer aus der totalitären Welt entflieht, akzeptiert darum nicht unbedingt unsere Gesellschaft, unsere Kultur.

Wir haben mit den ungarischen Flüchtlingen nach der Oktoberrevolution von 19 56 interessante Erfahrungen gemacht, auch wenn nicht immer ermutigende.

Nehmen wir einmal das Wunder als möglich an, daß man in Mittel-deutschland, in Polen oder Ungarn wirklich freie Wahlen erlauben würde: es gibt keinen Zweifel darüber, daß eine absolute Mehrheit gegen die kommunistische Partei stimmen würde. Aber das würde nicht heißen, daß am andern Morgen alle diese Länder uns plötzlich ähnlich sein würden. Niemand denkt daran, daß es möglich wäre, zum Beispiel dem vorigen Besitzer die enteigneten Länder zurückzugeben. Ich persönlich bin nicht ganz sicher, daß es so leicht wäre, auch die Betriebe, die Banken, alles was man verstaatlicht oder mit staatlichem Kapital errichtet hat, der freien Wirtschaft zurückzugeben: die Erfahrung von vielen Ländern zeigt uns, wie schwierig es ist, mehr oder weniger offene Prozesse der Verstaatlichung rückgängig zu machen. Lind können wir jetzt sagen, wie sich die Presse und die politischen Parteien entwickeln würden in einer Gesellschaft, die wohl politisch frei, aber wo das große Eigentum staatlicher Besitz ist? Glauben wir, daß wir wirklich vorbereitet sind für einen Vergleich mit einer kommunistischen Welt, die sich in dieser oder jener Form von ihrer totalitären und unmensch-liehen Erscheinung befreit hätte; oder riskieren wir nicht, uns vor einem Problem zu befinden, das schwieriger ist als die gegenwärtigen Probleme? Was ist dieser politische Wettbewerb im Weltraum, wenn wir — um klarer zu sein — ihn auf seine wesentlichen-Elemente reduzieren? Es ist ein Wettbewerb, ein Kampf, aber auf Leben und Tod, zwischen zwei entgegengesetzten Auffassungen der Gesellschaft: unserer demokratischen Gesellschaft und der kommunistischen Gesellschaft. Ich habe von Vereinfachung gesprochen. Man kann nicht leugnen, daß auch materielle, imperialistische Interessen mitspielen. Aber diese'Interessen-gegensätze haben immer existiert. Das Neue, das Charakteristische an dem politischen Kampf unserer Epoche ist eigentlich das Zusammenprallen von zwei Lebensauffassungen, von zwei Kulturen. Ein ernster und schwieriger Kampf für die moralische Eroberung der Welt, die wir „in Entwicklung“ nennen; eine Welt, die auf ihre Weise und in verschiedenen Formen versucht, ihre schwierigen Probleme zu lösen, sich aus dem Konflikt heraushaltend, weder die eine noch die andere Lebensauffassung annehmend. Es ist schon sehr traurig für uns — nicht nur verletzend sondern auch traurig — mit anzusehen, wie unsere Welt, unsere Lebensauffassung, unsere Kultur auf dieselbe Stufe gestellt werden wie die unserer Gegner. In diesem politischen Kampf im Weltraum hat die Kultur eine enorme Wichtigkeit: sie könnte eine Waffe sein — und sie ist es auch — von außerordentlicher Tragweite. Der politische Kampf, wie er sich heute abwickelt, findet keine wirklichen Analogien in der Geschichte. Aber wir sind so von der Vergangenheit besessen, daß wir uns schwerlich vorstellen können, daß dieser Kampf sich auch anders abwickeln könnte als in der traditionellen Form des Kriegskampfes. Heute, wo sich das Gleichgewicht der Vernichtungsmittel auf einem so fürchterlichen Niveau stabilisiert hat, kann man vernünftigerweise nur hoffen, daß man zögern wird, einen Krieg zu entfesseln. Andererseits, wenn es zu diesem Krieg kommen sollte — quod deus avertat — müssen wir nicht vergessen, daß dieser Krieg von Anfang an zum großen Teil schon gewonnen oder verloren sein wird auf der psychologischen und ethischen Ebene. In anderen Worten: wenn es uns gelingt einen Krieg zu vermeiden, entscheidend ist und bleibt der Kulturkampf: aber der Kulturkampf ist entscheidend auch im Falle eines Krieges. Siegreich wird die Gesellschaft, die Kultur sein, die den Forderungen des Krieges und der Epoche besser angepaßt ist.

Ich bin nicht sicher, ob wir uns dieser Wichtigkeit der Kultur völlig bewußt sind, so wie wir uns meiner Meinung nach nicht genügend einiger wichtiger Unzulänglichkeiten unserer Kultur bewußt sind.

Ich glaube, es gab keine andere Epoche, in der die Mittel für die freie Ausbreitung der Kulturerscheinungen im Rahmen unserer westlichen Welt jemals so entwickelt waren wie heute. Das ist ohne Zweifel ein positives Element: man hat viel geleistet und es wird noch mehr zu leisten sein. Unsere westliche Welt braucht, so wie sie von allen Seiten bedrängt wird, Einheit. Diese Einheit zu fördern und zu konsolidieren, kann nie genug betont werden.

Kulturelle Ausstrahlung in die Entwicklungsländer

Jetzt haben wir angefangen, ernstlich die Geschichte dieser langen und traurigen Periode niederzuschreiben, die zu dem ersten Weltkrieg geführt hat. Wenn wir über die Anlässe hinaus zu den tieferen Ursachen des Krieges dringen, beginnen wir uns Rechenschaft zu geben von der großen Verantwortung der Kulturwelt, der Welt, deren Aufgabe es ist, die Ideen zu schaffen. Diese Entartung des patriotischen Nationalgefühls, dem man den Namen Nationalismus gegeben hat — ich weiß nicht, wie zutreffend — wurde geboren und hat sich entwickelt in der Kultur-welt. Andererseits glaube ich, daß man nie genug die Anstrengungen der Kulturwelt in dieser Nachkriegszeit bewundern kann, um die Verständigung zwischen den europäischen Nationen zu fördern, die noch heute so stark unter dem Einfluß der Ideen der Vergangenheit stehen.

Was aber unsere kulturelle Ausstrahlung in die Entwicklungsländer anbelangt, so stehen die Dinge etwas anders. Es ist bekannt, zum Beispiel, daß die Zahl der östlichen Studenten an den deutschen Universitäten weit in die Tausende geht. Aber wenn wir die Verteilung dieser Studenten an den verschiedenen Fakultäten genauer anschauen, so sehen wir, daß die große Mehrheit dieser Studenten die naturwissenschaftlichen Fakultäten belegt. Dies ist ein neuer Beweis für die Tatsache, von der ich vorhin schon gesprochen habe, daß man in allen diesen Ländern unsere naturwissenschaftliche und materielle Überlegenheit anerkennt und man entschlossen ist, alles zu tun, um uns unsere Technik zu nehmen und sich auf unsere Hohe zu stellen. Aber man gesteht uns nicht auch eine moralische Überlegenheit zu. Es ist zweifellos sehr gut, daß die Studenten dieser Länder auf unsere westlichen Universitäten studieren kommen. Aber solange sie nur kommen, um die Geheimnisse unserer Technik zu erlernen, ist unsere kulturelle Ausstrahlung nicht befriedigend. Wir können der Zukunft nur dann sicher sein, wenn sie unsere Universitäten besuchen werden, um auch unsere ganze Lebensauffassung zu erlernen. Es nützt nicht viel, wenn sie unsere Maschinen kaufen und sie nicht gleichzeitig auch bereit sind, unsere Institutionen, unsere politische und wirtschaftliche Struktur, unsere Weltanschauung zu erwerben.

Ich möchte nicht mißverstanden werden. Idi bin kein Pazifist in dem Sinn, dem man oft diesem Wort gibt. Deshalb bin ich überzeugt, daß es sehr gut ist, wenn die Vereinigten Staaten große Summen ausgeben, um sich all die atomaren und Raketen-Waffen zu verschaffen, die nötig sind, um zwischen der westlichen und der kommunistischen Welt dieses Gleichgewicht der materiellen Kraft zu erhalten, das die einzig wirkliche Garantie für den Frieden ist, die die Menschheit gefunden hat, seit sie ihre Vernunft gebraucht. Im Gegenteil: wenn ich etwas bedauere, so ist es das, daß während einer gewissen Periode Amerika und Europa nicht genug ausgegeben haben.

Aber die Waffen, so vortrefflich sie auch sein mögen, sind ein Mittel, nicht ein Zweck. Wir brauchen sie, um zu verhindern, daß unsere Gesellschaft, unsere Kultur eine unnatürlichen Todes sterben. Aber wenn einmal die Voraussetzung für einen auch nur labilen Frieden durch das Gleichgewicht der Macht geschaffen ist, so ist der Kampf damit nicht beendet: man sollte sagen, daß der Kampf dann erst beginnt. Die Menschheit ist auf dem Marsch, die Welt steht in Entwicklung: die Welt war selten so wenig statisch wie heute. Kontinente öffnen sich dem Leben, der Entwicklung, den Ideen. Die modernsten Betriebe werden dort gebaut, wo noch vor wenigen Jahren die Steppe oder der Dschungel herrschte. Wird diese neue Welt kommunistisch sein, wird sie frei sein, so wie wir es verstehen, wird ein jeder seine eigenen Formen, seine eigene Kultur entwickeln? Wir träumen alle von einer Entspannung, was man auch darunter verstehen mag. Aber wenn wir auch die beste Entspannung bekommen sollten, so heißt das nicht, daß mit der Entspannung die ganze Welt in die alten Geleise zurückkehren würde: dieser Umwandlungsprozeß würde noch weitergehen, und das Problem wäre damit nicht gelöst, wohin die Welt, alle diese Welten gehen werden. Wenn das Gleichgewicht der Macht in diesem Kampf die Waffen ausschließt — und die Zerstörungskraft der modernen Waffen muß uns alle wünschen lassen, daß die Waffen ausgeschlossen bleiben — so geht der Kampf doch noch weiter, nur mit anderen Mitteln. LInter diesen Mitteln ist die Kultur — ich wiederhole: immer im weiten Sinne des Wortes verstanden — eine sehr wichtige Waffe, wahrscheinlich die wichtigste. Sind wir sicher, daß die Kultur-Waffe, die in unseren Händen ist, wirklic die beste ist? Sind wir sicher, der Waffe „Kultur“ so viel Aufmerksamkeit zu widmen wie wir sie anderen Waffen widmen? Nachdem was ich Ihnen bis jetzt versucht habe zu erklären, wenn auch in keiner vollkommenen Form, wird es für Sie keine Überraschung sein, wenn meine Antwort nicht ohne Zweifel ist: unsere Kultur ist krank, sie ist nicht gestorben. Ich bin überzeugt, daß wir sie noch retten können, retten für uns und retten als Waffe für den politischen Sieg in diesem planetaren Kampf, der sich vor unseren Augen abwickelt. Aber hierzu brauchen wir Mut — ein jeder von uns, denn die Kultur als Ganzes ist ja das Werk von uns allen — in uns zu gehen, in uns selbst einzudringen und eine strenge Gewissensprüfung vorzunehmen, individuell und kollektiv.

Zuerst muß man glauben, wirklich an die Lebenskraft unserer Kultur glauben. Haben wir diesen Glauben, glauben wir wirklich an die Freiheit, an die Demokratie? Setzen wir wirklich — ein jeder im Bereich seiner Kräfte — alles daran, damit diese Freiheit, diese Demokratie, wahre Freiheit und wahre Demokratie sind oder werden?

Es gibt viele Leute unter uns, die im Zweifel sind, ob der andere Gesellschaftstypus nicht die Gesetze der Geschichte auf seiner Seite hat. Sie kämpfen, oder sagen, daß sie kämpfen, ohne Vertrauen auf den Sieg, und kämpfen ohne Vertrauen, weil sie mehr oder weniger die Unzulänglichkeiten unserer Gesellschaft erkennen, und leiden darunter oder genießen das, aber haben nicht den Mut etwas zu unternehmen, um das alles zu ändern. Zugegeben oder nicht zugegeben, oberflächlich oder tief, ist dieser Zweifel ein Wurm, der an unserer Gesellschaft nagt.

Wenn jetzt die Religion an Ausbreitung nicht oder nur wenig zugenommen hat, so hat sie doch ohne Zweifel an Tiefe und Innigkeit gewonnen. Das kann ein Element der Hoffnung sein. Es gibt keine tadellose Kultur, alle Kulturen haben ihre helleren und dunkleren Seiten. Auch die glänzendste Kultur hat ihr negatives Element, schließt in sich Keime des Zerfalls: wenn diese Keime sich krebsartig entwickeln, dann geht es zu Ende. Wenn die Kultur des vorigen Jahrhunderts in der Katastrophe der zwei Weltkriege zugrunde gegangen ist, so ist das wahrscheinlich gewissermaßen geschehen, weil sie zu rationalisierend war. » Wenn die Entwicklung der Gesellschaft der Auflösung zutreibt, so rührt das meines Erachtens von der Tatsache her, daß man in der sozialen Entwicklung der christlichen Caritas nicht genügend Platz eingeräumt hat. Wo es keine echte Nächstenliebe gibt, kann es nur Haß geben: Haß baut nicht auf, er zerstört nur. Unsere Welt leidet heute an einem Man-gel an Gleichgewicht zwischen dein Materiellen und dem Geistigen. Wenn dieses religiöse Erwachen nicht nur das Ergebnis einer gewissen apokalyptischen Atmosphäre ist, die von der Atombombe geschaffen wurde, sondern eine wirkliche Reaktion gegen eine sich nur auf materielle Güter stützende Welt, so können wir hoffen, gefährliche Mängel unserer Kultur zu beseitigen.

Wenn die ehemals koloniale Welt heute unsere Kultur in ihrer . ethischen Erscheinung ablehnt, so geschieht das zum Teil wegen des Widerspruchs zwischen dem, was wir predigten und dem, was wir taten. Wir sind in alle diese Länder eingedrungen, in der einen Hand das Schwert, in der anderen das Kreuz. Wir haben die christliche Moral gepredigt, aber wir haben nicht nach der christlichen Ethik gehandelt.

Es ist möglich, daß viele Erscheinungen dieses Kampfes um Selbständigkeit, die wir an den vier Ecken der Erde aufflammen sehen und die uns sehr unangenehm sind, anders geartet wären, wenn die westliche Welt sich in einem wirklich christlichen Gewand vorgestellt hätte und sich noch vorstellen könnte: nicht christlich mit Worten oder in der Lithurgie, sondern wirklich und aufrichtig im Herzen, in den Taten.

Seit Jahrzehnten befindet sich unsere westliche Gesellschaft — aufgefaßt als Freiheit, Demokratie, Achtung vor der menschlichen Persönlichkeit, Ehrfurcht vor den menschlichen Leiden — im Kampf gegen ihre Antithese, die totalitäre Welt in den verschiedensten Formen, die diese Welt angenommen hat oder annehmen kann. Diesen Kampf haben wir in Westeuropa gewinnen können. Wir wissen jedoch nicht, ob es möglich ist, ihn auch in der übrigen Welt zu gewinnen. Aber in einem Kampf wie diesem, über Leben und Tod, sind wir immer von einer ernsten Gefahr bedroht: der Versuchung — um leichter zu gewinnen — die Methoden unserer Gegner anzunehmen.

Dem moralischen Imperativ Rechnung tragen

Es wäre noch viel zu sagen über den technischen Aspekt der diplomatischen Tätigkeit in der-westlichen Welt. Aber man könnte sich fragen, ob man ihr nicht mehr als einen gewissen Mangel an Geschicklichkeit, an Darstellungsart, eher vorwerfen sollte, daß sie nicht erkannt hat — wenigstens nicht in ausreichendem Maße — dem moralischen Imperativ Rechnung zu tragen, dem moralischen Gewissen der Menschheit. Denn ob wir wollen oder nicht, es gibt ein moralisches Gewissen der Welt. Zur Zeit der Eroberung Äthiopiens und vor Entfachung der Pressekampagne gegen Italien in allen Teilen der Welt, pflegte Mussolini zu sagen: Aber was macht Italien anders oder schlechter als so viele andere in der Welt, z. B. England oder Frankreich, zuvor schon getan haben? An sich hatte Mussolini recht. Aber er war auch im Unrecht, weil in dem Moment, in dem wir uns für den äthiopischen Feldzug vorbereiteten, das moralische Gewissen der Welt nicht mehr duldete, was es 20 oder 30 Jahre vorher zu dulden bereit war. Daß die fremden Politiker, die uns gegenüber mit diesem moralischen Gewissen operierten, zum großen Teil wenigstens ihm selbst nicht immer Rechnung trugen, das ändert nichts an der Tatsache, daß dieses moralische Gewissen'existierte, und auf lange Sicht ist es nie vorteilhaft — mit Absicht sage ich vorteilhaft und nicht nur recht — sich gegen dieses moralische Gewissen zu stellen.

Dieses moralische Gewissen entwickelt sich und ist nicht überall dasselbe. Wir Europäer zum Beispiel sind der Meinung, daß es immer schlecht ist, jemanden zu töten, aber daß es doch schlechter ist, einen Ungarn zu töten als einen Afrikaner, Die Nordamerikaner denken schon, daß es ebenso schlecht ist einen Ungarn wie einen Afrikaner zu töten. Aber es gibt Hunderte von Millionen von Menschen — die heute politisch wichtig sind und die gestern nicht wichtig waren — die denken, daß es viel schlimmer sei, einen Afrikaner zu töten als einen Ungarn. Es kann unangenehm sein für unser europäisches Bewußtsein, aber es ist so.

Ich fürchte, daß'wir diesen moralischen Imperativ, das Vorhandensein dieses moralischen Gewissens, nicht genug fühlen: einige unter den westlichen Völkern spüren das mehr, andere weniger. Die westliche Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit spürt das nicht genug, wenigstens nicht so stark wie es nötig wäre. Ich ziehe vor — und Sie verstehen warum — nicht von diesen oder jenen Ereignissen, die sich jüngst ereignet haben, zu sprechen: ich werde nur im allgemeinen sagen, daß es Dinge gibt, die wir Westler gemacht haben und die vom Standpunkt der praktischen Nützlichkeit kritisiert worden sind. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, sie auch vom Standpunkt des moralischen Gewissens zu kritisieren.

Wenn wir diesen Kampf um die farbige Welt gewinnen wollen, diese Welt, die überzeugt ist, das Opfer einer jahrhundertelangen Ungerechtigkeit gewesen zu sein, und die sich vor allem nach Gerechtigkeit sehnt, so müssen wir uns von der politischen Nützlichkeit überzeugen, uns und allen klar zu machen, daß es Dinge gibt, die auch zu unserem Vorteil sein könnten, aber die wir nicht machen wollen, weil sie gegen unsere Vorstellung von Moral, gegen unser Gewissen und gegen as Gewissen der Welt sind. Daß wir uns nicht nur unseren Interessen bewußt sind, sondern daß wir uns auch unseres Gewissens bewußt werden.

Wenn unsere Gegner skrupellos sind, so dürfen wir nicht auch skrupellos sein. Keines von unseren Gerichten würde einen Diebstahl rechtfertigen, weil auch irgend ein anderer stiehlt. Wie dem auch sei, es genügt nicht, wenn wir überzeugt sind, daß unser Gegner die Verkörperung des Übels ist: wir müssen auch diejenigen davon überzeugen, die sich noch nicht völlig festgelegt haben, und, wer weiß, vielleicht auch die öffentliche Meinung unserer Gegner.

Das ist nicht immer leicht und erfordert so oder so eine radikale Revision vieler unserer Ideen. Es kann auch sein, daß die Einführung dieser etwas harten Moralität in unsere Politik bei großen und kleinen Dingen für uns zeitweilig einen Nachteil bedeuten kann: aber auf lange Sicht kann es nur eine Stärke sein, eine große, entscheidende Stärke.

Auch hier möchte ich nicht mißverstanden werden: ich bin nicht so naiv zu glauben, daß selbst auf lange Sicht auf dieser Erde die Gerechtigkeit an sich der Macht überlegen ist. Auch in der vollkommensten Gesellschaft fände ein Gericht ohne Polizei seine Grenzen. Wir brauchen Watfen, um uns nicht der Gewalt unterwerfen zu müssen. Aber es muß auch allen klar werden, daß unsere Stärke nicht im Dienst eines zynischen Machtwillens als Zweck für sich selbst steht, sondern im Dienst einer erhabenen moralischen Idee im eindeutigen Einklang mit dem Welt-gewissen unserer Zeit. Wenn Sie wollen, ein moralisches Ideal im Schatten des Schwertes.

Lim eine solche Politik betreiben zu können, muß man von ihr wirklich überzeugt sein, und ich bin nicht sicher,'daß wir davon überzeugt sind. Die Machtpolitik, die Politik der Staatsräson, diese Politik, die zu Recht oder zu Unrecht „machiavellisch" genannt wird, hat für zu lange Zeit schon unsere ganze Weltauffassung beherrscht, lind obwohl wir heute über Schutt und Asche klagen müssen, weil wir diese Politik der Staatsräson bis zu den äußersten Konsequenzen getrieben haben, so sind wir — fürchte ich — noch nicht von der Zweckmäßigkeit überzeugt, diese Methoden zu wechseln. Hm eine solche Auffassung der Politik annehmen zu können, muß man feste, eindeutige, allgemein erkannte ethische Grundsätze haben. Unsere Welt von heute, unsere Kultur, hat diese festen Grundsätze nicht.

Wir müssen uns davon überzeugen, daß so viele von unseren politischen, ökonomischen oder sozialen Auffassungen einer Revision bedürfen, daß sie nur dann annehmbar sein können, wenn sie der neuen Realität angepaßt sind. Wenn die ganze Welt in Aufruhr ist, so wie jetzt die unsrige, ist es nutzlos, die Verantwortung für diese Revolution der Propaganda des einen oder des anderen in die Schuhe zu schieben. In allen Ländern und in allen Epochen hat es subversive Propaganda gegeben. Warum ist diese Propaganda manchmal erfolgreich und manchmal nicht? Weil eine Propaganda, auch die diabolisch-gescheiteste, keinen Erfolg haben kann, wenn sie nicht auf einen fruchtbaren Boden fällt: und diesen fruchtbaren Boden hat man nur, wenn das Regime, daß in einem gewissen Land existiert, nicht mehr den Anforderungen entspricht. Wenn wir erstarren — und diese Tendenz zur Erstarrung existiert in unserer westlichen Welt: es wäre zwecklos die Augen vor den Tatsachen zu schließen — wenn wir darauf beharren, daß unser System auf allen sozialen, politischen und ökonomischen Gebieten das beste ist, was man erfinden kann, gehen wir einer sicheren Niederlage entgegen. Die Ablehnung, die unserem ganzen System von kommunistischer Seite und von Seiten der in Entwicklung stehenden Welt entgegengebracht wird, ist zweifellos übertrieben und falsch. Aber ein selbstzufriedener Konservatismus ist ebenso falsch. Wie üblich wird man das „punctum Optimum“ irgendwo in der Mitte finden.

In diesem Moment sind Zusammentreffen, gerade auf kultureller Ebene, sehr in Mode, um — so sagt man — Kontakt-und Verständigungspunkte zwischen den verschiedenen Welten zu finden. Das kann ohne Zweifel nicht viel schaden: aber wenn wir meinen, daß es uns gelingen wird, damit eine Brücke über den Abgrund werfen zu können, die jene Welten von der unsrigen trennt, mit einem vagen und vorsichtigen Austausch von Verallgemeinerungen von philosophischen, religiösen oder künstlerischen Ideen, so haben wir uns große Illusionen gemacht. Um zum End-Toast gelangen zu können, muß man die Differenzen in Watte packen: aber die Differenzen bleiben so wie sie waren Eine zweideutige Verständigung ist keine Verständigung, sie ist nur Heuchelei oder Feigheit. Es wird wahrscheinlich irgendwie möglich sein, eine Brücke über diesen Abgrund zu werfen, nur wenn wir uns gestehen, daß es heute keine westliche Kultur — unitär, vollkommen, selbstsicher — mehr gibt. Unsere Kultur war eineinhalb Jahrhunderte hindurch unbestrittene Herrin der Welt: heute wird sie in Frage gestellt. Sie wird in Frage gestellt außerhalb ihres Geburtsraums, sie ist in Frage gestellt auch innerhalb ihres Geburtsraums. Wir dürfen nicht vergessen, daß mehr oder weniger kommunistische Bewegungen oder negative Tendenzen unserer Kultur auch in unserer Mitte bestehen. Dieses in-Frage-gestellt-werden, diese Verneinung, bedeutet zumindesten, daß unsere Kultur nicht mehr den grundsätzlichen Anforderungen unserer Epoche entspricht. Sie war eine Weltkultur, sie ist nicht mehr eine Weltkultur und sie könnte allzuleicht zur Provinzialkultur verfallen. Hat sie di. Fähigkeit sich zu prüfen, sich anzupassen, ihre Vorkampfstellung unter neuen Formen wieder einzunehmen?

Das wird die Probe ihrer Lebensfähigkeit sein, dieser Ewigkeitsmission, die wir ihr zumuten. Wenn es ihr gelingt, sich geläutert zu neuem Leben aus ihrer jetzigen Krise herauszuheben, dann haben wir gewonnen. Wenn es nicht gelingt, so wird unsere Kultur dem Los so vieler anderer Kulturen verfallen, unter der Asche zu verschwinden, die sie sich selbst mit ihren eigenen Händen geschaffen hat.

Wir stehen in einer Epoche der Masse, ob wir es wollen oder nicht. Alles ist Masse heute, und politisch wichtig ist nur, was Masse ist. Unsere Kultur des 19. Jahrhunderts war keine Massen-Kultur. Es war eine Kultur der Elite. Damals war es gut, heute ist es nicht mehr genügend. Wenn wir nicht von Masse sprechen wollen, so können wir von neuen, breiten Eliten sprechen: im Grunde ist es ein und dasselbe.

In der traditionellen Elite ist unsere Kultur, unsere kulturelle Über-lieferung noch lebendig. Aber wenn wir aus dem begrenzten Kreis dieser Elite heraustreten, können wir dann mit dem, was wir finden, mit dem was wir sehen, zufrieden sein? Was liest, was sieht, was wünscht als Masse diese westliche Welt, die so stolz auf ihre Vergangenheit ist und noch jetzt als Leiter der Menschheit gelten möchte? Die Kultur ist und könnte ein entscheidendes Werkzeug der Politik sein: eine Politik, die nicht auf einen soliden kulturellen Grundsatz gestützt ist, ist eine falsche Politik, und ihre Erfolge können nicht von Dauer sein. Aber wenn es der Kultur nicht gelingt, aus dem Kreis der Elite herauszutreten, wenn unsere Massen-Kultur sich als Eisschrank-oder Strip-tease-Kultur vorstellt, welche Anziehungskraft kann sie dann wirklich haben?

Eine neue Mission Europas

Diese Wiedergeburt unserer westlichen Kultur kann nur das Werk von uns allen sein. Eine Kultur ist nur dann lebensfähig und vollkommen, wenn es ihr gelingt, einen gut definierbaren menschlichen Typus zu erzeugen, der sie gänzlich verkörpert. Als solche ist sie gewiß das Erzeugnis höherer Gestalten, die die Fähigkeit haben, das Weltall zu erfassen, die Grundsätze, die Kraft-und Marschlinien einer Kultur, einer Epoche zu definieren. Aber sie wird erst wirklich zur Kultur in dem Prozeß der individuellen und kollektiven Assimilierung dieser allgemeinen Ideen. Die Wiederbelebung unserer Kultur kann nicht oder kann nicht nur von ein paar großen Gestalten geschafft werden: sie ist auch die Arbeit von uns allen und von jedem einzelnen von uns. Nur daß ein jeder von uns, der die Möglichkeit dazu hat, sie zur allgemeinen Eigenschaft machen muß. Wir müssen den Mut haben, in unser Inneres hinabzusteigen, unsere guten und schlechten Eigenschaften abzuwägen, um einen neuen Glauben zu verwirklichen. Der kollektive Erfolg ist nur die Summe der individuellen Erfolge. Lüge, Heuchelei, Leichtsinnigkeit, starres Anhängen, überholte Zwecke und Ideen, sind alles individuelle und kollektive Fehler, die man wiedergutmachen muß. Aber um uns von der Unentbehrlichkeit dieser unangenehmen Gewissensprüfung zu überzeugen — alle Gewissensprüfungen sind unangenehm — müssen wir zuerst die Gefahr erkennen. Dies ist sowohl individuelle wie kollektive Pflicht.

e Als kollektives Erzeugnis kann diese Revision unserer Kultur wahrscheinlich mehr spezifisch europäisch sein. Es kann sein, daß mit dieser Aufgabe, unserer Kultur neues Leben zu geben, Europa in der Welt seine neue Mission, seine neue Rechtfertigung finden kann.

Die Kultur des 19. Jahrhunderts war eine europäische Kultur: Die Geschichte wird ihr keinen anderen Namen geben können. Aber europäisch ist auch die kollektive Schuld, wenn diese unsere westliche Kultur vor dem Ruin steht. Linser ist die Schuld zweier Kriege, in denen Europa seine Lebenskräfte vergeudet hat: unser ist die Verantwortlichkeit für gewisse Entartungen des Kolonial-Regimes, die zu den heutigen Empörungen geführt haben. Es ist unnütz, hier noch die Frage zu diskutieren, in welchem Maß diese Verantwortung zwischen den verschiedenen europäischen Nationen zu verteilen ist. Es gibt viele Historiker, die dieser Arbeit, dieser unangenehmen und wahrscheinlich auch unnützen Arbeit viel Zeit gewidmet haben. Wie dem auch sei, es gibt eine kollektive Verantwortung, -so wie die Konsequenzen kollektiv sind. Diese Verantwortung dem einen oder dem anderen Volke zuschieben zu wollen, ist nur ein Mittel, um diese unangenehme individuelle Gewissensprüfung zu vermeiden, ohne die eine Wiedergeburt unmöglich ist.

Mehr als eineinhalb Jahrhundert lang war Europa ein Kulturzentrum, aber noch mehr ein Machtzentrum. Es ist auch wahrscheinlich, daß Europa sich in den Abgrund gestürzt hat, weil es ein wenig vergessen hatte, daß es ein Kulturzentrum war und sich ein bißchen zu viel daran erinnerte, daß es ein Machtzentrum war. Dieses Machtzentrum gibt es heute nicht mehr und wird es nicht mehr geben. Die Macht an sich ist und wird immer wesentlich militärisch sein. Europa hat nicht mehr die Möglichkeit, eine Militärmacht im vollsten Sinne des Wortes zu werden. Das können nicht die europäischen Länder, die einstigen Großmächte als einzelne Staaten. Ob das ein integriertes Europa werden kann, ist noch eine Frage. Darum eine Frage, weil es noch fraglich ist, ob die Regierungen und die Völker Europas wirklich die Weisheit und die Willenskraft finden werden, die nötig sind, um alle diese Integrationsprogramme zu verwirklichen, von denen man so viel spricht aber für die man nicht immer ebensoviel tut. Ich hoffe, daß der Weg zu einem Europa nicht wie der Weg zur Hölle sein wird, der, wie ein deutsches und ein italienisches Sprichwort sagt, nur mit guten Vorsätzen gepflastert ist.

Aber wenn es uns auch gelingt, die politische Willenskraft zu finden, um alle die Hindernisse zu überbrücken, die wir auf dem Weg der Integration finden, so bleibt doch noch die Tatsache bestehen, daß von einem Tag zum anderen diese Nebenstellung von Ländern, die eine reale Militärkraft verloren haben, die sie individuell nicht mehr zurückerlangen können, an sich nicht ausreichen wird, um eine neue Großmacht zu schaffen. Hm diese Macht wieder herzustellen braucht man, wie dem auch sei, Jahrzehnte voll ernster, bewußter, hartnäckiger Arbeit. Aber wenn der Weg zur Macht verschlossen bleibt, so kann doch niemand Europa die Möglichkeit nehmen, in seinen jahrhundertelangen Überlieferungen, in der nationalen Gliederung seines doch einheitlichen Denkens, die innere Energie zu finden, einen neuen Inhalt, ein neues Leben, eine neue Realität der westlichen Kultur wieder zu geben. Lind in dieser neuen Erfüllung einen wahren, soliden, unitären Zweck, die Rechtfertigung seiner Existenz.

Auch das ist nicht leicht: aber wenn wir, die ehemaligen Großmächte Europas, unsere Größe, unsere Wichtigkeit, unsere Mission in Träumen von nationaler Größe finden wollen — ob wir diese nun in den Waffen oder in einer illusorischen diplomatischen Geschicklichkeit suchen — sind wir auf einem falschen Weg. Falsch, weil es ein Weg ist, der in der Tat nicht existiert, der nicht zu befahren ist: ein Weg, der nur zu neuen Demütigungen oder zu neuen Katastrophen führen kann. Wenn wir aber die Dinge klar sehen wie sie sind und uns der Mission widmen, der westlichen Kultur ein neues Leben, Wirken und Werden zu geben, so wäre das ein Weg des Gelingens. Lind im Grunde genommen wäre das auch eine politische Mission, weil — wie ich Ihnen schon am Anfang gesagt habe — die Kultur nur dann in der Politik eine wichtige Rolle spielen kann, wenn es ihr gelingt, nochmals eine wirkliche Kultur zu werden im wahrsten Sinne des Wortes. Lind die Nation oder die Nationen, die zur Schaffung einer gewissen Kultur oder wenigstens einer gewissen Erscheinung dieser Kultur am meisten beigetragen haben, werden nie eine Nation letzten Ranges sein, auch wenn auf anderen Gebieten ihr spezifisches Gewicht bescheiden bleibt.

Fussnoten

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