Vortrag des italienischen Botschafters in Bonn, Dr. Pietro Quaroni, im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin am 14. Juli 1958.
Ich möchte vor allem Ihnen, Magnifizenz, meinen herzlichen Dank sagen für die Ehre, die Sie mir durch Ihre Einladung erwiesen haben, in der Freien Universität Berlin zu sprechen. Die Freie Universität Berlin ist nicht eine Universität wie andere: sie ist zur Zeit der Berliner Blockade entstanden, in einem Moment, da der Widerstandswille der Bevölkerung Berlins die Bewunderung der ganzen Welt erweckt hat. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mir einige Ungenauigkeiten mit der Sprache Goethes erlaube: ich habe es vorgezogen, deutsch zu sprechen, in der Hoffnung, daß Sie mich besser verstehen werden. Ich sage Hoffnung, weil es manchmal vorkommt, daß, wenn ein Fremder unsere eigene Sprache spricht, wir denken müssen: warum spricht er nicht in seiner eigenen Sprache, es wäre so viel leichter zu verstehen
Die hervorragendste Persönlichkeit des westlichen diplomatischen Korps während meines ersten Aufenthaltes in Moskau war ohne Zweifel der deutsche Botschafter Graf Brockdorff-Rantzau. Obwohl er als eine sehr stolze Persönlichkeit galt, zeigte er mir — damals noch ein junger Sekretär — immer ein gewisses herablassendes Wohlwollen. Wir kommentierten einmal das Buch eines deutschen Journalisten, der ungefähr zwei Monate in Moskau blieb und dann ein ganzes Buch über Ruß-land schrieb. Graf Brockdorfs sagte lächelnd zu mir: „Mein junger Freund, Sie werden selbst die Erfahrung machen. Nach ein paar Monaten kann man sehr leicht ein Buch über Rußland schreiben, nach einem Jahr wird es schon schwieriger, nach zwei Jahren ist es unmöglich.“ Ich will damit nur sagen, daß die sogenannten Rußland-Experten — ich meine die echten Experten — Leute sind, die in ihren Urteilen über Ereignisse in Rußland sehr vorsichtig und sehr bescheiden sind: Leute, die immer bereit sind zu erkennen, wie wenig man eigentlich über Rußland weiß.
Aber es gibt doch einige feste Stützpunkte, auf die man sich — wenigstens meiner Meinung nach — immer zurückziehen kann. Lind eben einige von diesen Punkten möchte ich berühren.
Erstens: wenn man über Rußland denkt oder spricht, muß man nie vergessen, daß die Führer Rußlands Kommunisten sind, das heißt, sie denken als Kommunisten, ihre Logik ist immer nur die Logik des dialektischen Materialismus.
Dies ist für mich wesentlich, fundamental. Es gibt zwei Schulen des Denkens über Rußland, einige Leute denken — vielleicht die meisten, möchte ich sagen —, daß die Russen besonders in ihrer äußeren Politik bloße Pragmatiker sind, das heißt, mehr oder weniger wie alle anderen Großmächte. Ich bin dagegen der festen Meinung, daß die Russen erst Kommunisten sind, dann Politiker; das ist für die innere wie für die äußere Politik wahr: nicht weniger für die äußere als für die innere Politik. Lind ich bin auch überzeugt, daß, wenn man dies nicht versteht und einschätzt, es unmöglich ist, die Grundlinien der russischen Politik zu verstehen.
Natürlich sind die Dinge nicht immer so klar weiß und schwarz. Einer der festen Punkte der kommunistischen Politik ist, daß das Bestehen, die Entwicklung und daher die Macht des sowjetischen Staates als Stützpunkt für die Weltrevolution wesentlich für die Zukunft des Kommunismus sind. Wenn dieser Punkt einmal zum Glaubensartikel geworden ist, ist es nicht immer so leicht, die Scheidelinie zwischen der Politik Rußlands als Rußland und der kommunistischen Politik scharf zu unterscheiden.
Wenn man versucht, die Politik Philips II. von Spanien zu analysieren, sieht man eine ganze Menge von verschiedenen Elementen: die Macht Spaniens, den Ruhm des Hauses Habsburg, die Idee der königlichen Vollmacht und so weiter. Aber sollte man bei den verschiedenen Elementen dieses eigenartigen Cocktails die Idee einer Mission zum Schutze und der Verbreitung des katholischen Glaubens, als erstrangiges, entscheidendes Element, vergessen, so versteht man nicht viel von der Politik des spanischen Königs. So ist es mit der Politik Moskaus. Es gibt immer verschiedene Elemente in dieser Politik. Aber das ausschlaggebende Element bleibt immer der Kommunismus. Die Kommunisten, und besonders die russischen Kommunisten, haben eine ihnen eigene Form der Logik entwickelt. Wenn Staatsmänner eine Entscheidung treffen müssen, was machen sie? Sie überlegen sich die allgemeine politische Lage, sie-berechnen sich die vermutliche Stellungnahme der verschiedenen Mächte und damit die möglichen Entwicklungen ihrer Politik. Aber dies alles ist „feine Nase“: Fingerspitzengefühl. Ein guter Politiker bei uns ist ein Mann, der dieses Fingerspitzengefühl, diesen Instinkt für die Zukunft, mehr hat als seine Kollegen. Auch die russischen Staatsmänner gründen ihre Entscheidungen auf eine Analyse der Situation, aber das machen sie immer als Kommunisten, und es ist dieses Kommunist-Sein, was die Essenz ihrer Politik ausmacht. Unsere Analyse der Situation ist amateurisch, pragmatisch; die ihrige ist wissenschaftlich durch die marxistische Dialektik begründet. Ein westlicher Staatsmann, der sich irrt, ist bloß jemand, der keinen guten politischen Instinkt hat. Ein Kommunist, der sich irrt, ist ein Mann, der die Dialektik schlecht studiert hat oder nicht korrekt angewendet hat, ein Mathematiker, der einen Rechenfehler gemacht hat; denn derjenige, der die Dialektik gut kennt und korrekt anwendet, kann sich nicht irren. So kann der kommunistische Staatsmann pragmatisch, kommunistisch-pragmatisch, aber doch pragmatisch in seinen Entscheidungen sein. Aber er ist ein Dialektiker, ein Kommunist, in der Analyse der Lage, die seine Entscheidungen bestimmt.
Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, es Ihnen klar zu erörtern. Ich glaube, es ist besser, ein paar Beispiele hinzuzufügen:
Wenn ich, ein westlicher Diplomat, erörtern will, was eine italienische Partei unter gewissen Umständen tun wird, was mache ich? Ich nehme die Meinungen der hervorragendsten Persönlichkeiten dieser Partei, ihr Gewicht in der Partei, und ich vermute, daß die Entscheidungen der Partei ein Durchschnitt dieser Meinungen sein werden.
Aber ein Dialektiker wird mir sagen: Nein, das geht nicht. Sie müssen erst sehen, welche soziale Klasse von dieser Partei vertreten wird, es sind die Interessen dieser Klasse, die die Parteilinie entscheiden werden.
Was die äußere Politik näher betrifft: da gibt es ein kleines Buch von Lenin, das noch heute ausschlaggebend ist, „Imperialismus als letztes Stadium des Kapitalismus“. Die Grundidee dieses Buches ist die folgende: wenn in einem Staat die inneren Kontraste der Klassen einen gewissen Höhepunkt erreicht haben, dann versucht die regierende Klasse, die auf ihre Privilegien nicht verzichten will, eine Befestigung ihrer inneren Stellung in der äußeren Expansion zu finden. Darum ist eine kapitalistische Gesellschaft, wenn sie am Anfang ihres Unterganges steht — wie wir alle heute, auch die Vereinigten Staaten —, zum Kriege geneigt, besser vielleicht: gezwungen.
Dieser innere Antrieb zum Krieg kann in zwei Richtungen seine Entwicklung finden: Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten oder Koalition aller kapitalistischen Staaten gegen die kommunistische Welt, die bloß durch ihre materielle Anwesenheit eine Bedrohung für den Kapitalismus darstellt, indem sie den Exploitierten unserer Welt eine andere Lösung ihrer Probleme bietet. Die Politik der Sowjetunion muß dann logischerweise alles Mögliche tun, um den interkapitalistischen Krieg zu fördern und die anti-kommunistische Koalition zu vermeiden. Das heißt, die Sowjetunion muß mit allen Mitteln die Gegensätze der Klassen und der kapitalistischen Staaten verschärfen.
Im dritten Band seiner „Geschichte der Diplomatie“ erklärt uns Potemkin, wie die sowjetische Diplomatie vor dem zweiten Weltkrieg geschickt die unterschiedlichen Interessen der kapitalistischen Länder benützt hat, um immer eine anti-russische Koalition zu vermeiden. Und im Grunde genommen kann man auch nicht sagen, daß das, was uns Herr Potemkin erzählt, nicht wahr sei.
Eine Art von Belagerungskomplex . . .
Daß die Russen eine Koalition fürchten, daß sie an einer Art von Belagerungskomplex leiden, hat man auch von unserer Seite ziemlich gut verstanden. Darum gibt es Leute in allen Ländern des Westens, die glauben, daß wir die Russen davon überzeugen müssen, daß wir sie nicht angreifen wollen, daß wir wirklich nur friedlich sind. Man könnte vielleicht genauer sagen, daß die meisten von uns nur wünschen, daß man uns den Frieden läßt. Wenn wir die Russen nicht überzeugen können, daß wir keine aggressiven Ideen haben, dann ist keine Entspannung möglich, so sagt man. Theoretisch kann es auch wahr sein, aber faktisch vergißt man — meiner Meinung nach — ein winziges Element: daß die Russen dort drüben Kommunisten sind und daß sie als Kommunisten nicht glauben können, daß Kapitalisten wirklich friedlich sein können. Ich möchte hier nur so ganz nebenbei andeuten, daß für die Russen alle Nicht-Kommunisten Kapitalisten sind; um mich richtiger auszudrücken, sollte ich vielleicht eher sagen, daß alle, die nicht Kommunisten sind, eigentlich Faschisten sind. Auch der Herr Bevan ist für Moskau ein Faschist.
Die Russen waren seinerzeit bereit zu glauben, daß ein Mann wie Roosevelt wirklich friedliche Absichten Rußland gegenüber hatte, weil er nicht klassenbewußt war. Nur darum konnte er ehrlich glauben, daß eine fridliche Zusammenarbeit zwischen Amerika und Rußland möglich sei. Aber — sagen die russischen Kommunisten — das ist und kann nur eine vorübergehende Erscheinung sein, denn entweder wird Roosevelt selbst klassenbewußt — und dann wird er die grundsätzliche, biologische antikommunistische Politik des Kapitalisten betreiben —, oder seine Klasse wird ihn absetzen und einen anderen Präsidenten wählen, der klassenbewußter ist. Die Kapitalisten sind, ihrer Natur nach, aggressiv, besonders der Sowjetunion gegenüber. Darum muß ein Volk, das wirkich friedlich leben will, sich vor allem von seinen kapitalistischen Elementen befreien: es muß wirklich demokratisch werden. Wenn es das nicht tut, kann ihm leider ein guter Kommunist nicht glauben.
Den Russen Vertrauen in uns und in unsere Politik einzuflößen, ist unmöglich, eben weil die Russen, als Kommunisten, in uns Kapitalisten kein Vertrauen haben können. Die Kommunisten sind überzeugt — wissenschaftlich überzeugt —, daß sie uns, unsere inneren Reaktionen viel besser kennen als wir selbst; daß wir uns täuschen können, aber daß wir sie nicht täuschen können und daß sie sich als Kommunisten nicht in uns täuschen dürfen. Eigentlich muß ich hinzufügen: ich verstehe nicht, warum man heutzutage so viel über Vertrauen in der Außenpolitik spricht. Man hat Außenpolitik jahrhundertelang ohne Vertrauen getrieben; im letzten Jahrhundert haben die Großmächte Europas ungefähr hundert Jahre lang in Frieden leben können. Idi meine Frieden wenigstens in dem Sinn, daß man alle Kriege, die in diesen hundert Jahren stattgefunden haben, geographisch und historisch lokalisieren konnte. Und doch herrschte zwischen ihnen das herzlichste Mißtrauen. Ich fürchte, daß diese Idee des Vertrauens ein ziemlich unnötiges Element in die heutige Diplomatie einführt.
Sie können mich fragen: Wenn es wirklich so ist, warum reden die Russen selbst so viel von Koexistenz? Eine der Schwierigkeiten unserer Zeit ist, daß man Wörter benützt, von beiden Seiten, wie Frieden, Demokratie, Freiheit, und daß man mit denselben Wörtern verschiedene, manchmal gegensätzliche Ideen meint. Das Wort Koexistenz ist russischer Herkunft. Was heißt nun eigentlich Koexistenz für die Russen?
Am Anfang der russischen Revolution haben die Russen, die damals echtere, klassischere Marxisten waren, noch geglaubt, daß eine kommunistische Revolution in einem kapitalistisch nicht genug entwickelten Land unmöglich sei; daß die Machtergreifung der Kommunisten in Rußland nur ein Zufall war, ein glücklicher Zufall, aber immerhin nur ein Zufall. Die Weltrevolution, die Revolution des europäischen Westens, mußte folgen. Lind diese Revolution haben die Russen, hat Lenin, vom ersten Tag an erwartet, vor allem wenigstens die deutsche Revolution. Lenin ist noch mit der Idee gestorben, daß die europäische kommunistische Revolution vor der Tür stehe. Aber das Abendland, Europa, hat die russischen Genossen enttäuscht: die Revolution ist noch nicht gekommen.
Natürlich haben die Russen und die Kommunisten nicht daraus den Schluß gezogen, daß die ganze Theorie von Marx falsch war. Sie glauben fest wie früher daran, daß der revolutionäre Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus unvermeidlich ist. Noch einmal: es handelt sich nicht um eine Sache des Willens, es ist ein innerer biologischer Prozeß, so wie aus der Puppe unbedingt der Schmetterling kommen muß. Daß die kommunistische Gesellschaft besser als die kapitalistische ist, ist beinahe nebensächlich. Die kapitalistische Gesellschaft trägt in sich die Keime der kommunistischen Gesellschaft, und diese müssen sich, ob man will oder nicht, entwickeln. Chruschtschow hat uns dies in seiner eigenartigen malerischen Redeweise sehr gut erklärt: „Mau fragt nicht eine schwangere Frau, ob sie ein Kind gebären will oder nicht. Wenn der Tag kommt, ist das Kind geboren.“
So müssen alle Staaten der Welt, inklusive die Vereinigten Staaten von Amerika, eines Tages kommunistis chwerden. Aber das soll nicht heißen, daß dieser Übergang zu gleicher Zeit stattfindet. Wir wissen zum Beispiel, daß wir alle sterben müssen, auch wenn wir — wie Bossuet sagt — es nicht immer glauben. Aber das will nicht heißen, daß alle Personen, die an dem gleichen Tag geboren Sind, auch am gleichen Tag sterben müssen. So ist es mit dem Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus. Es gibt eine gewisse Periode, in der kapitalistische Staaten und kommunistische Staaten auf der Erde nebeneinander leben müssen. Es ist eine Übergangsperiode, wahrscheinlich auch eine verhältnismäßig lange, in der die kommunistischen Staaten die kräftige, muntere Zukunft vorstellen, und die kapitalistischen Staaten ihr tragisches Dasein als Überbleibsel einer Vergangenheit, die von der Geschichte verurteilt ist, dahinschleppen, aber nur eine Übergangszeit.
Das heißt — ich weiß nicht, ob ich klar genug gewesen bin —, daß für die Russen die Koexistenz bloß die Feststellung einer Tatsache, einer Tatlage, ist. Das will nicht heißen, daß die Kommunisten das Vorhandensein der kapitalistischen Gesellschaft als endgültig akzeptieren. Und natürlich will das auch nicht heißen, daß die kommunistische Welt auf ihre heilige Pflicht verzichtet, alles zu tun, um diesen Entwicklungsprozeß zu erleichtern und zu beschleunigen. Auch das hat uns ganz offen der gute Freund Chruschtschow gesagt. Er hat einmal zu einer Gruppe von fremden Diplomaten in Moskau gesagt: „Meine kleinen Täubchen, Sie müssen alle Kommunisten werden, und wir werden Ihnen dabei helfen.“ Und noch vor einigen Wochen hat er auch ganz ehrlich gesagt: „Die Sowjetunion ist immer bereit, jeden Krieg einzustellen, aber natürlich nicht den Klassenkrieg.“
Wir hingegen geben diesem Wort Koexistenz eine ganz andere Bedeutung. Für uns bedeutet Koexistenz, daß die Russen sich damit abfinden könnten, daß ein Teil der Welt kapitalistisch oder demokratisch bleiben kann und mit ihnen mehr oder weniger freundlich weiterlebt. Wenn wir von Koexistenz sprechen, meinen wir, daß die Russen sich endlich mehr oder weniger mit dem, was sie haben, zufriedengeben und uns in Frieden zu Hause lassen könnten.
Diese Art von Koexistenz werden wir leider — wenigstens während unseres Lebens — nie finden. Die Russen sind nicht geneigt, uns in Frieden zu lassen. Das ist es, was ich meine, wenn ich sage, daß man nie vergessen darf, daß die regierenden Leute Rußlands Kommunisten sind. Die Grundsätze ihrer Weltanschauung — und ich habe nur ein paar berührt, es gibt noch viele andere — sind von dem Kommunist-Sein untrennbar und bedingen den ganzen Kurs der russischen Politik.
Eine Änderung der russischen Politik dem Westen gegenüber ist nur dann möglich, wenn jemand in Rußland an die Macht gelangt, der nicht mehr Kommunist ist oder wenigstens nicht ganz so Kommunist ist. Lind das gilt nicht für morgen.
In diesem Sinn ist Chruschtschow ein ebenso guter Kommunist wie Stalin. Seine Freunde wie seine Gegner sind ebenso gute Kommunisten.
Ist Chruschtschow wirklich der Nachfolger von Stalin? Kann er die Stellung Stalins erreichen? Das können wir nicht sagen; wir müssen noch abwarten und sehen. Alle die Leute, die um die Macht kämpfen, die, die wir schon kennen, auch die möglichen von morgen, die wir nur weit hinten am Horizont auftauchen sehen, sind alle Kommunisten. Daß der eine kommt und der andere geht, ist eine rein innere russische Angelegenheit.
Für die äußere Politik Rußlands, und das ist es, was uns interessiert, macht das keinen Unterschied: ob der Führer Rußlands eine Person oder ein Kollektivum ist, ob er Chruschtschow oder Molotow oder Suslow oder sonstwie heißt, für uns ist das ein und dasselbe.
Soll das heißen, daß es nichts Neues in der Sowjetunion gibt 7 Natürlich nicht: es gibt kein Land, wo nicht etwas passiert.
Rußland verdaut den Kommunismus. Es ist Rußland schon manchmal passiert, daß es eine fremde Zivilisation verdauen mußte. Das ist auch zur Zeit Peters des Großen geschehen. Auch Peter der Große hat die russische Gesellschaft durcheinandergeworfen, um ein neues Ruß-land nach seinem eigenen Geschmack zu schaffen, und mit wenig Rücksicht auf Menschenleben, Menschenwürde und Menschenleiden Peter der Große wollte aus Rußland ein Land von Offizieren und Ingenieuren machen. Nach seinem Tode haben seine Nachfolger endlos um die Macht gestritten, aber die Grundlinien der petrinischen Reform hat man doch nicht berührt. Dies hat beinahe ein Jahrhundert gedauert, und während dieser Zeit hat Rußland die neuen Ideen verdaut, auf seine eigene Weise. Am Ende dieser Verdauungsperiode haben wir die Hof-leute von Alexander L, die gewiß nicht die Offiziere und Ingenieure waren, die Peter der Große wollte, aber auch nichts mit den Bojaren von Alexej Michailowitsch zu tun hatten. Ich stelle mir vor, daß etwas Ähnliches auch mit dem Kommunismus passieren wird: Rußland wird diese neue Staats-und Lebensform seinem Geiste und seinen Lebens-umständen anpassen, und das Resultat wird eine Gesellschaft sein, die nicht viel zu tun haben wird mit den Träumen von Stalin, aber wahrscheinlich noch weniger zu tun haben wird mit unserer Gesellschaft. Aber das sind Spekulationen der Zukunft, der fernen Zukunft. In Rußland dauert alles lange, und alles wird lange dauern. Ich glaube, wir dürften uns nicht irren. In unserer Epoche bewegen sich die Personen mit Über-schall-Geschwindigkeit. Die Ideen aber, die gehen langsam vorwärts, zu Fuß, wie vor tausend Jahren. Es geht in Rußland zu wie in zwei Stufen: oben kämpft man um die Macht; dieser Kampf um die bloße Macht ist oft mit den verschiedenen Interpretationen der kommunistischen Theorie verkleidet: aber es handelt sich meistens um theologische Haarspaltereien; im stillen verdaut Rußland den Kommunismus, bereitet es die neue Gesellschaft vor.
Was in Rußland in der Tiefe vor sich geht, wie die neuen Klassen sich hinter dem Vorhang der klassenlosen Gesellschaft organisieren, das kann höchst interessant sein. Aber es ist wahrscheinlich nur für unsere Enkelkinder interessant. Was uns angeht und interessiert, sind die außenpolitischen Beziehungen zwischen West und Ost. Lind in diesem Sinn wird sich nichts ändern, bevor nicht ein Nicht-Kommunist an die Spitze der Regierung kommt: solange wir an der Spitze der Regierung Kommunisten haben, bleibt alles beim alten. Wieviel Russen Mitglieder der kommunistischen Partei sind, wieviel von diesen Parteimitgliedern wirkliche, überzeugte Kommunisten sind, darüber kann man viel diskutieren.
Aber die Parteiorganisation ist so geschaffen, daß nur die Leute, die wirkliche, echte, unerbittliche, starrköpfige Kommunisten sind, an die Spitze, an die Führung kommen können, so daß die Reaktion der einzelnen Leute und auch der einzelnen Gruppen, so interessiert sie auch für die Zukunft sein mag, keinen wirklichen Einfluß auf die Gegenwart hat.
Gleichgewicht der Macht
Soll man dann zu der Folgerung kommen, daß es absolut nichts Neues gibt auf dem Gebiet der Außenpolitik? Dies auch nicht, aber das hat nichts zu tun mit den Leuten in Rußland oder auch bei uns. Wir sind jetzt in einer Lage des Gleichgewichts der Macht zwischen Amerika und Rußland. Das hat seit langem angefangen; aber es ist nur verhältnismäßig kurze Zeit her, daß man angefangen hat, sich darüber Rechenschaft zu geben.
Früher war die Lage anders. Die Amerikaner hatten ein absolutes Übergewicht in der atomaren Macht, oder glaubten es zu haben. Die Russen hatten ein absolutes Übergewicht in der konventionellen Bewaffnung, oder glaubten es zu haben. Konventionelle Bewaffnung heißt mehr oder weniger: die Waffen, mit denen im zweiten Weltkrieg gekämpft wurde. Dieser eigenartige Zustand gab den beiden Seiten die Möglichkeit, zu glauben, einen Krieg leicht und rasch gewinnen zu können. Jetzt beginnen beide, davon überzeugt zu sein, daß eventuell ein Krieg nicht leicht und nur mit ungeheuren Verlusten möglich ist.
Man hat für diesen heutigen Zustand ein neues Wort gefunden, ein englisches natürlich „nuclear stalemate". Ich weiß nicht, wie man dies am besten wortgetreu ins Deutsche übersetzen kann, aber ich kann Ihnen dies politisch übersetzen in einen guten, altbewährten Satz. Es heißt: das Gleichgewicht der Macht. Eine Zeit wird kommen — wir hoffen das alle —, da in den internationalen Beziehungen das Recht anstelle der Kraft entscheiden wird; aber das ist nur eine Hoffnung. Lind es ist sehr, aber sehr gefährlich, die Hoffnungen einer möglichen Zukunft als politische Realität von heutzutage anzusehen. Heutzutage, ebenso wie in den letzten Jahrtausenden der Geschichte, die wir kennen, ist die Macht noch entscheidend. In einem solchen Zustand ist das einzige Mittel, das die Menschheit sich für die Beibehaltung des Friedens erdacht hat, eben das Gleichgewicht der Macht.
Ich möchte noch etwas hinzufügen. Daß die Amerikaner den Krieg, das heißt den präventiven Krieg, nie gewollt haben, ist eine Tatsache, die nicht diskutiert zu werden braucht. Daß ein paar Theoretiker davon gesprochen oder geschrieben haben, das hat keine Bedeutung: die Aggressivität der Vereinigten Staaten und der NATO ist etwas, was nur im Rundfunk von Moskau existiert. Aber ich glaube auch nicht, daß die Russen wirklich den Krieg wollen oder gewollt haben. Ich glaube nicht, daß die Russen den Kommunismus mit den Waffen verbreiten wollen. Es gab Momente in der Geschichte Sowjetrußlands, die jetzt schon 41 Jahre alt ist, da man annehmen konnte, daß die Russen eine solche Idee hatten: zum Beispiel der Feldzug gegen Polen im Jahre 1920. Es ist nicht abzuleugnen, daß damals die Russen glaubten, durch die Rote Armee Polen kommunisieren zu können und durch Polen die Revolution in Deutschland, die damals hier und da aufloderte, unterstützen zu können. Aber mehr nicht. Auch kritische Momente, wie zum Beispiel die Blockade von Berlin und der Angriff gegen Südkorea, bedeuten das nicht. Die Russen haben gedacht, beide Operationen ohne schwere Konsequenzen durchführen zu können. Als sie gesehen haben, daß sie sich geirrt hatten, haben sie sowieso einen Ausweg gefunden, um die Operation zu liquidieren. Das heißt: in der russischen Politik gibt es immer ein gewisses Risiko-Element. Es gibt immer ein Risiko-Element in jeder Politik; aber sie haben nie die Bremsen aus der Hand gelassen, und sie zeigen keine Tendenz, die Bremsen aus der Hand zu lassen.
Rußland ist eine Diktatur, daran besteht kein Zweifel, aber es ist nicht wahr, daß alle Diktaturen aggressiv sind, wenigstens nicht bis zur äußersten Konsequenz. Ein Vergleich zwischen Stalin und Hitler oder Mussolini ist nicht treffend: beide unserer Diktatoren waren fest überzeugt, daß sie eine momentane Machtüberlegenheit hatten, die nur vorübergehend war: es war eine Frage des Jetzt oder Nimmermehr. Mit den Russen und den Kommunisten ist es das Gegenteil: sie sind überzeugt, daß die Zeit für sie arbeitet. Sie können warten: der Übergang der ganzen kapitalistischen Gesellschaft zum Kommunismus ist eine historisch, biologisch unvermeidliche Entwicklung. Ob dies zehn Jahre früher oder zehn Jahre später geschieht, das macht keinen großen Unterschied.
Die Russen glauben an den Kalten Krieg; sie glauben nicht, daß der Übergang zum Heißen Krieg für ihre Zwecke nötig ist oder auch nur nützlich ist. Ich bin fest überzeugt, daß Chruschtschow die Wahrheit sprach, als er in einem seiner zahlreichen Gespräche zu uns sagte:
„Um den Erfolg des Koinntunisnins in der Welt zu sichern, braucht tnan nicht den Krieg: die friedlidte Koiupetition genügt."
Ich möchte hier nur nebenbei noch etwas betonen. Man muß sehr darauf aufpassen, was die russischen Führer sagen: sie haben die gute oder schlechte Gewohnheit, uns immer die Wahrheit zu sagen. Wenn ich „die Wahrheit“ meine, so heißt es, daß wir gut verstehen müssen, was verschiedene Wörter, wie Frieden, Freiheit und so weiter, im kommunistischen Jargon bedeuten. Aber dies zu verstehen, ist nicht schwer; es genügt, wenn man nur die heiligen Bücher des Kommunismus ein bißchen studiert: sie stehen alle da zu unserer Verfügung.
So, meine ich, sagen die Russen uns ganz klar und ganz offen, was sie denken, was sie tun, was sie tun werden. Aber wir wollen es nicht glauben, besonders, wenn es unsere eigenen Ideen stört. Wir geben den Äußerungen der Russen eine Interpretation, die für uns bequem sein kann, aber die nicht die Interpretation der Russen ist. Das kommt immer vor und ist die Ursache vieler Mißverständnisse. Ich habe gesagt, daß die Russen den Krieg nicht wollen. Ich muß hinzufügen, daß die Russen auch den Frieden nicht wollen, wenigstens nicht den Frieden, wie wir ihn verstehen. Unsere Großväter waren in diesem Sinne viel einfacher und viel vernünftiger als wir. Für sie gab es, wenn es keinen Krieg gab, Frieden. Eine solche klare und einfache Vorstellung der Dinge der Welt wollen wir nicht akzeptieren. Wir sind nicht zufrieden mit dieser Idee des Friedens, die bloß Nicht-Krieg ist. Wir wollen einen Frieden, der gesetzmäßig organisiert ist, einen Frieden mit Verträgen, die alle Einzelheiten bestimmen, einen Frieden mit Richtern und Gerichtsvollziehern. Nur das ist es, was wir Frieden nennen. Das könnte man auch den „totalen Frieden“ nennen. Das ist leider das, was wir nicht haben können und was wir nicht haben werden. Wenn wir uns mit einem Frieden begnügen, der bloß Nicht-Krieg ist und der sich auf das Gleichgewicht der Macht stützt, so können wir ihn haben; ihn haben wir auch schon seit 15 Jahren, weiter nichts. Idi habe Ihnen gesagt, und ich betone es nochmals, daß ich glaube, daß die Russen eigentlich den Krieg nicht wollen oder nicht suchen. Aber man sollte das nicht in dem Sinn interpretieren, daß wir uns die Freude einer totalen oder auch relativen Abrüstung leisten können. Wenn wir das Vaterunser sagen, sagen wir: „Und führe uns nicltt in Versuchung." Das gilt für die Menschen, aber das gilt wahrscheinlich noch mehr für die Nationen und für die Weltmächte. Man muß Rußland nicht in Versuchung führen. Man spricht viel von der Aggressivität der NATO. Darf ich Sie daran erinnern, daß im Jahre 1950, als die NATO-Organisation wirklich ihre Arbeit begann, die Russen in Deutschland allein ungefähr 28 vollständig kriegsbereite Divisionen besaßen, Divisionen, die augenblicklich, auf einen telefonischen Befehl Moskaus hin, losgehen konnten. Gegen diese sowjetischen Divisionen bestanden die Kräfte des Westens — wenn man als Kräfte die wirklich kampffähigen Divisionen versteht, nicht natürlich die Papierdivisonen (es gibt immer viele Papierdivisionen) — aus keinen zwei vollständigen Divisionen. Das ist Versuchung. Man erzählte damals, daß jemand den Feldmarschall Montgomery fragte, ob er glaube, daß die Russen die Atombombe hätten. Und Montgomery soll geantwortet haben: „Ich weiß nicht, ob die Russen die Atombombe haben, aber ich bin sicher, daß sie keine Fahrräder haben, denn wenn sie Fahrräder hätten, wären sie schon lange in Bordeaux."
Was heißt das, wenn die Russen uns sagen, daß für den Enderfolg des Kommunismus die friedliche Kompetition genügt? Das heißt nur, daß sie glauben, daß unsere kapitalistische Gesellschaft nicht imstande ist, ihre inneren Gegensätze zu überwinden, daß sie nicht fähig ist, sich den neuen Umständen anzupassen.
Aber sie glauben, wie ich Ihnen schon sagte, an unsere Aggressivität; daß diese Aggressivität wächst mit der wachsenden Erschütterung unseres ökonomischen und sozialen Gefüges, daß die kommunistische Welt für ihre friedliche und ungestörte Entwicklung bis auf den Umsturz der letzten kapitalistischen Macht warten muß. Darum haben sie ein besonderes Interesse an unserer Nicht-Stabilisierung; darum müssen sie unsere inneren und äußeren Gegensätze womöglich verschärfen; darum müssen sie, soweit es möglich ist, die sogenannten nicht-entwickelten Länder dem politischen und ökonomischen Einfluß des Westens entziehen. Sie sind dialektisch davon überzeugt, daß, wenn wir, der Westen, die Ausnützungsmöglichkeit dieser Länder verlieren, wir auch die Grundlage unseres Wohlstandes verlieren — daß wir dann bereit sind für eine rasche innere Entwicklung ins Revolutionäre.
Anerkennung des Status quo?
Das heißt mit anderen Worten, sie müssen weiter tun, was sie jetzt machen, mit einer einzigen, wenn auch wichtigen Einschränkung. Das kann bis an den Rand des Krieges — ich meine des Heißen Krieges — führen, aber nur bis an den Rand, nicht weiter. Ein Krieg könnte, noch heute, die Existenz der Sowjetunion in Gefahr bringen; warum, wenn es eigentlich nicht nötig ist?
Wo steht der Rand des Krieges? Wenn ein Gleichgewicht der Macht besteht, muß man vorsichtiger sein, von beiden Seiten selbstverständlich. Wenn es kein Gleichgewicht gibt, dann kann man viel leichtsinniger darauf losgehen.
In diesem engen Rahmen bewegen sich die Möglichkeiten einer Verständigung zwischen Ost und West. Auf der einen Seite die Förderungen der friedlichen Kompetition, auf der anderen die Förderungen des Gleichgewichts der Macht; weiter nicht.
Was heißt das praktisch? Wir müssen auf jede Möglichkeit eines totalen Friedens verzichten. Totaler Frieden kann verschiedene Bedeutungen haben. Totaler Frieden kann bedeuten, daß wir unserem Gegner unsere Lösungen aller Probleme aufzwingen können. Ein solcher Frieden ist nur als Konsequenz eines totalen Sieges möglich: es ist die bedingungslose Kapitulation. Das ist an und für sich ausgeschlossen.
Aber totaler Frieden kann auch die Möglichkeit bedeuten, wenn nicht alle, so doch wenigstens die wichtigsten, die dringlichsten Fragen zu lösen. Das ist leider auch ausgeschlossen. Das Gleichgewicht der Macht kann auch für sehr lange Zeit vor dem Krieg bewahren, aber unter der Bedingung, daß man darauf verzichtet, viele wichtige Fragen zu lösen. Welche Fragen man nicht berühren darf und welche man berühren kann, das kann man nur durch eine lange und vorsichtige Erfahrung erkennen. Dies ist eigentlich die Krisis der heutigen außenpolitischen Lage: daß man den Krieg nicht machen kann oder muß, das haben beide Seiten gut verstanden. Daß man auch keinen Frieden haben kann, oder wenigstens nur einen sehr begrenzten, sehr unbefriedigenden Frieden haben kann, das haben beide Seiten noch nicht verstanden. In einer Lage wie der heutigen wäre die einzig mögliche Verständigung die Annahme des Status quo von beiden Seiten. Aber der Westen kann den Status quo nicht akzeptieren; der Osten kann es noch weniger. Was in der heutigen Lage der Beziehungen zwischen Ost und West möglich ist, ist dann nur eine kleine und zeitliche Entspannung, die mehr in der Atmosphäre als in den Tatsachen liegt, die man eigentlich nie ernst nehmen muß. Das heißt, man kann nicht auf dieser ätherischen Entspannung eine wirkliche Politik basieren. Es ist dasselbe. als wenn Sie Malaria haben. Sie haben einen Anfall, das Fieber steigt hoch, dann fällt es wieder, und der Anfall ist vorbei. Aber er kommt wieder: Sie sind nicht die Malaria los, bloß weil Sie keinen Fieberanfall haben. Spannung und Entspannung sind zyklische Erscheinungen des Kalten Krieges. Da man nicht zum Heißen Krieg übergehen will, ist hier und da eine gewisse Entspannung nötig. Aber dann kommt doch die Spannung zurück. Was in unserer Ära möglich ist, sind nur einige de-facto-Vereinbarungen. Aber auch solche Vereinbarungen sind für einige Fragen, wahrscheinlich die wichtigsten, nicht möglich.
Ich habe eben schon gesagt, daß man sich die Konsequenzen dieser Lage des Gleichgewichts noch nicht völlig angeeignet hat und das gilt besonders für die sowjetische Seite. Die Russen — ihrer Theorie nach als Kommunisten — sind tief überzeugt, daß unsere Gesellschaft an schweren inneren Gegensätzen leidet, und sie glauben noch fest, daß diese Gegensätze es ihnen möglich machen können, die Politik der Westmächte zu beeinflussen. Sie sind dialektisch überzeugt, daß im Westen die Arbeitermassen der Sowjetunion gegenüber friedlich und freundlich gestimmt sind, aber die herrschende kapitalistische Klasse nicht. Es sollte daher — theoretisch wenigstens möglich sein, durch die Arbeitermassen die Regierungen des Westens zu zwingen, die Bedingungen der Sowjetunion anzunehmen.
Es ist wahr, daß wir auch ein bißchen dasselbe denken. Man redet viel in diesen Tagen darüber, daß die Russen große innere, besonders ökonomische Schwierigkeiten haben: die Dezentralisierung der Industrie und die Reorganisation der Landwirtschaft zum Beispiel. Man glaubt, es gäbe auch schwere politische Schwierigkeiten. Das ist wahrscheinlich wahr, obwohl wir nicht ganz genau wissen, wo die größeren Schwierigkeiten liegen. Und man fügt hinzu, daß die Russen eine gewisse Abrüstung brauchen, um die Last der Bewaffnung auf ihren Finanzen zu erleichtern. Es mag sein — ich sage es nebenbei —, daß die Russen eine gewisse Abrüstung wirklich wünschen, aber sie sind sicher nicht bereit, für diese Abrüstung ihren Willen zur Macht zu opfern.
Bedeutung der Propaganda
Der Unterschied zwischen uns und den Russen liegt darin, daß unsere Propaganda die russischen Massen nicht erreichen kann und daß auf jeden Fall die russische öffentliche Meinung keinen Einfluß auf ihre Regierung, bis jetzt wenigstens, ausüben kann. Lind wir wissen das alles.
Die russische Propaganda dagegen erreicht unsere Massen. Lind die öffentliche Meinung läßt sich bei uns von der Regierung nicht beiseite-schieben. Das wissen die Russen auch, und sie versäumen ihre Möglichkeiten sicher auch nicht.
Selbstverständlich, wenn wir die Möglichkeit hätten, dann würden wir sie benützen.
In diesem Sinne kann man sagen, daß die Gipfelkonferenz nur eine Form der Propaganda-Diplomatie der Sowjets ist: eine Propaganda, die an unsere öffentliche Meinung gerichtet ist und an die der Länder, die, wie man sagt, außerhalb der zwei Blöcke stehen.
Lind darin liegt ohne Zweifel eine gewisse Schwäche auf unserer Seite. Wir haben uns nicht — wir können das wahrscheinlich nicht — dieser neuen Propaganda-Diplomatie angepaßt. Wir glauben, daß der Zweck einer diplomatischen Verhandlung, so wie früher, ein strikt juridisch formuliertes Abkommen ist. Darum sind wir vorsichtig. Wenn wir einen Vorschlag machen, denken wir immer, daß es möglich ist, daß unsere Gegner ihn annehmen und daß er für uns damit verbindlich wird. Die Russen machen ihre Vorschläge in der Annahme, die oft psychologisch gut begründet ist, daß wir diesen Vorschlag nicht annehmen werden. Damit können sie sich der öffentlichen Meinung als friedliebende Menschen vorstellen. Aber sie halten diesen Vorschlag für sich nicht für verbindlich. Zum Beispiel mit der Londoner Abrüstungskonferenz: unter dem Druck von Stassen und Moch hatten wir praktisch alle Vorschläge und Bedingungen der Russen akzeptiert. Das war für sie eine bittere Enttäuschung, und darum haben sie die Karten vollständig durcheinandergebracht und schließlich ihre eigenen Vorschläge abgelehnt. Unsere öffentliche Meinung und auch unsere Diplomatie brauchen noch eine lange Erziehung, bis die Regeln der Propaganda-Diplomatie, der Massen-Diplomatie, wenn Sie wollen in einer Periode des Gleichgewichts besser verstanden werden.
Ich habe schon gesagt, daß die einzige Möglichkeit zwischen den Russen und uns einige streng begrenzte, tatsächliche Verabredungen sind. Welche Verabredungen möglich sind und welche nicht das werden wir nur dann wissen, wenn und wann die Russen sich überzeugen, daß ihre Propaganda-Diplomatie keinen wirklichen Erfolg haben kann. In diesem Sinn ist eigentlich diese Gipfelkonferenz an sich nur eine Phase, eine Erscheinung, eine Manövrierung im großen Maßstabe. Die Vorbereitungen für diese Konferenz sind meiner Meinung nach ebenso wichtig wie die Konferenz selbst. Wenn wir bereit sind, wie die Russen „nein“ zu sagen und auf diesem „Nein“ zu bestehen, ohne ungeduldig zu werden und ohne Wunder zu erwarten, wenn unsere öffentliche Meinung sich nicht zu nervös oder zu optimistisch zeigt, dann können wir vielleicht sehen, bis zu welchem Punkt die Russen bereit sind, uns entgegenzukommen. Lind dann werden auch die Russen schon sehen, wie weit wir gehen können oder wollen. Dann, und nur dann, wird es vielleicht möglich sein, etwas Nützliches zu machen; aber immer sehr bescheiden. Auf große Hoffnungen, auf große Träume, auf große Wunder muß man leider verzichten. Unsere Träume sind gefährlich. Sie fördern nicht den Frieden, sie können nur die Spannung noch verschärfen. Man muß bescheiden, sehr bescheiden sein: realistisch, sehr realistisch sein.
Vertrauen herstellen. Aber es ist unmöglich, Leute davon zu überzeugen, daß wir den Krieg nicht wollen, wenn diese Leute kraft ihrer Theorie denken, daß wir nur von dem Krieg gegen die Sowjetunion träumen, und das, weil wir Kapitalisten, krasse bürgerliche Schweine sind. Wir können nur hoffen, daß eines Tages die Russen sich davon überzeugen werden, daß wir den Krieg gegen sie nicht führen können, weil wir nicht die Möglichkeit haben, diesen Krieg wenigstens rasch und ohne große Verluste zu gewinnen, ebenso wie die Russen nicht imstande sind, einen Krieg gegen uns leicht und rasch zu gewinnen. Mit der Zeit kann das auch gelingen; aber das läßt sich diplomatisch nicht verhandeln.
Einschränkung der Rüstungen? Was ist eigentlich diese Einschränkung? Ein Versuch, das Gleichgewicht der Macht billig zu erhalten. Aber das haben wir schon lange Zeit hindurch probiert, und unter Umständen, die viel günstiger waren als die heutigen. Keine wirkliche Großmacht wird darauf verzichten, ihre eigenen Machtmöglichkeiten völlig zu entwickeln, um es ihren Gegnern leicht zu machen. Wirklich für die Einschränkung der Rüstung sind nur die Mächte, die kein Geld haben, um zu rüsten. Die Grenzen der Rüstung liegen in den Finanz-möglichkeiten eines Staates. Die Russen haben manchmal erklärt, daß sie Hunderttausende oder Millionen von Soldaten entlassen haben. Obwohl wir keine Kontrolle hierüber haben, bin ich überzeugt, daß es wahr ist. Aber es ist keine eigentliche Abrüstung, sondern nur: die Russen können nicht gleichzeitig ihre atomare Bewaffnung entwickeln und ihre konventionelle Bewaffnung bewahren. In bezug auf die Russen gibt es auch eine andere Schwierigkeit. Eine Einschränkung der Bewaff-nung ist ohne Kontrolle nicht denkbar. Die Russen können nun diese Kontrolle nicht annehmen, und zwar aus innerpolitischen Gründen.
Ich glaube, man versteht hier im Westen nicht ganz gut, daß die innere Kraft der Sowjetregierung auf der Überzeugung der sowjetischen Massen ruht, daß es keine Kraft auf der Welt gibt, die sich ihrer Regierung entgegenstellen kann. Sollte man einer Gruppe von Leuten mit irgendeiner offiziellen Mütze auf dem Kopf das Recht geben, überall in Rußland hinzugehen, ein Tor aufzumachen, das verschlossen ist, so könnten die einfachen Russen denken, daß es etwas in der Welt gibt, das mächtiger ist als ihre Regierung. Das könnte wohl der Anfang vom Ende sein.
So, von allem anderen abgesehen, stehen wir vor dieser Alternative: entweder Abrüstung ohne Kontrolle — eigentlich nur die allzusehr beschränkte Kontrolle, die die Russen annehmen wollen — oder keine Abrüstung.
Viele Leute sind doch der Meinung, daß die atomaren Waffen, die die Amerikaner und die Russen schon besitzen, eine derartige Zerstörungskraft darstellen, daß es wirklich ohne Bedeutung ist, wenn noch etwas hinzukommt. Ich weiß nicht, ob dies, nuklear-militärisch gesehen, hundertprozentig so ist. Wahrscheinlich sind wir davon nicht allzusehr entfernt, und wahrscheinlich liegt darin die einzige Möglichkeit einer reellen Einschränkung der Bewaffnung, wenn beide Gruppen sich überzeugen, daß es wirklich keinen Zweck hat, noch mehr atomare Waffen anzuhäufen, und daß die konventionellen Waffen den nuklearen Waffen aller Gattungen gegenüber wirklich nicht so wichtig sind. Aber auch das läßt sich nicht diplomatisch verhandeln! Das kann nur von selbst kommen, von der Realität der Tatsachen.
Bewahrung des Friedens
Was kann man sich von dieser Gipfelkonferenz denn wirklich erhoffen? Nur, daß die Russen sich von der Notwendigkeit überzeugen, die Anwesenheit des anderen als eine vielleicht unangenehme Tatsache, aber doch als eine Tatsache hinzunehmen, und aus dieser einfachen Bestätigung anfangen, die Konsequenzen zu ziehen. Es scheint sehr einfach, aber es ist nun einmal so: der Kalte Krieg ist Stoß und Gegenstoß zweier Ideologien: der kommunistischen Ideologie und der westlichen Ideologie, unter der wir Demokratie und Freiheit verstehen. Zwischen diesen beiden Ideologien gibt es einen wesentlichen Unterschied. Die westliche Ideologie besitzt einen Wert für sich selbst: die Leute, die an diese Ideologie glauben, hoffen, daß auch andere Völker — wahrscheinlich alle Völker — dieselbe politische und moralische Ideologie annehmen. Aber unsere Idee der Demokratie und Freiheit kann sich vollkommen rechtfertigen, auch wenn nur wenige Völker diese Ideologie annehmen.
Mit dem Kommunismus ist es etwas anderes: Kommunismus kann auf die Dauer keine andere Ideologie dulden. Kommunismus ist nur gerechtfertigt, wenn er die einzig mögliche Lösung der Problematik unserer Gesellschaft ist: es gibt keine Rettung außerhalb des Kommunismus. Sollte man beweisen können, daß eine Rettung außerhalb des Kommunismus möglich ist, dann geht die ganze Theorie zugrunde. Das ist der eigentliche Grund, weswegen die Kommunisten so sehr gegen die Sozialisten sind; denn sollte man beweisen, daß eine bessere Gesellschaft, mehr oder weniger in ihrem Sinn, auch durch die Methoden des demokratischen Sozialismus möglich ist, was bleibt dann von dem Kommunismus?
Das ist auch der Grund, weshalb eine wirkliche Verständigung zwischen Moskau und Tito unmöglich ist. Tito ist ein Kommunist, der glaubt, daß man den Kommunismus errichten kann mit Methoden, die nicht ganz dieselben sind wie die der Sowjetunion. Wenn man diese Möglichkeit der individuellen Interpretation der Doktrin annimmt, dann geht die ganze Weltorganisation des Kommunismus zugrunde. Verstehen Sie nun, daß es nicht so leicht ist, die Russen mit der Existenz der kapitalistischen Welt auszusöhnen und mit den Grenzen die dieses Vorhandensein für ihre Expansion stellt? Es ist die psychologische Anpassung an eine vollkommen neue Lage, und das kann nur sehr langsam erreicht werden. Bestenfalls könnte nun die Gipfelkonferenz ein erster bescheidener Schritt in dieser Richtung sein.
Eine der häufigsten Kritiken, die man hier und da gegen die soge-nannte NATO-Politik hört, ist, daß sie keine konstruktive Politik ist, weil sie auf der Grundlinie bassiert ist, mit den Russen aus einer Machtposition heraus zu verhandeln; das heißt, durch die Häufung unserer Machtmittel die Russen zu einer Art von Kapitulation zwingen zu können.
Wenn die Politik der Atlantischen Allianz eine solche wäre, so würde man mich in der ersten Reihe der Kritiker dieser Politik finden. Tatsache aber ist, daß keiner jemals daran gedacht hat, mit den Russen aus einer Machtposition heraus zu verhandeln; man hat nur vermeiden wollen, mit den Russen aus einer Ohnmachtstellung heraus zu verhandeln. Lind das ist etwas ganz anderes. Aus einer Ohnmachtstellung verhandelt man nicht, man kapituliert. Niemand hofft, niemand macht sich Illusionen darüber, daß wir die Russen zur Kapitulation zwingen können. Aber die Russen müssen sich auch keine Illusionen darüber machen, daß sie uns in eine Stellung der Ohnmacht drängen können. So bin ich absolut überzeugt, daß wir alles tun müssen, alles, was in unseren Kräften steht, um ein vernünftiges Gleichgewicht der Macht zwischen uns und dem Ostblock zu bewahren, nicht, um die Russen zur Kapitulation oder zur Halbkapitulation zu zwingen, sondern nur, um den Frieden zu bewahren und um nicht selber zu einer Kapitulation gezwungen zu sein.
Meine Damen und Herren, es ist nicht wahr, daß die Rüstung zum Krieg führt. Die regierenden Leute sind nie vollkommen dumm und sind auch keine Narren. Krieg gibt es nur, wenn einer denken kann, daß seine Kräfte mächtiger als die seiner Gegner sind. Krieg gibt es nicht, solange es ein Gleichgewicht der Macht gibt, und wenn, um dieses Gleichgewicht der Macht zu erhalten, ein Wettrüsten nötig ist, so führt das auch nicht zum Krieg.
Wenn wir über unsere Beziehungen zu den Russen nachdenken, müssen wir nie vergessen, daß wir keinem gewöhnlichen Imperialismus gegenüberstehen. Das ideologische Element, das in der sowjetischen Politik noch immer ausschlaggebend ist, macht die Sache ganz anders. Solange dieses ideologische Element ein Grundsatz der sowjetischen Politik bleibt, gibt es scharf definierte Hindernisse irgendeiner Möglichkeit der Verständigung gegenüber. Eine Verständigung ist immer ein Kompromiß, und ein guter Kompromiß ist immer nur ein Kompromiß zu ungefähr fünfzig Prozent. Ein ideologischer Imperialismus kann gewisse Kompromisse nicht annehmen. Der Heilige König Ludwig IX. von Frankreich war ein sehr kluger Politiker, nicht nur ein Heiliger. Aber glauben Sie, daß er für irgendeinen außenpolitischen Vorteil Frankreichs ein Stück christliches Land dem Islam preisgegeben hätte? Unser gemeinsamer Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen war auch ein sehr kluger Politiker, aber er war kein Ideologe. Er hätte für seine eigenen außen-politischen Zwecke ohne Schwierigkeit ein Stück christliches Land den Muselmanen abgegeben. Ich möchte nun hiermit nicht Herrn Chruschtschow mit dem Heiligen König Ludwig vergleichen, aber ohne Zweifel ist er auch kein Kaiser Friedrich.
Die russischen Kommunisten haben den schrecklichsten von allen Glauben: den wissenschaftlichen Glauben. Entschuldigen Sie. wenn ich dies immer wiederhole, aber ich halte es für sehr wichtig. Sie glauben, einen wissenschaftlichen Schlüssel zu haben, um die Fragen der inneren und der äußeren Politik exakt zu interpretieren. Und kraft dieses wissenschaftlichen Glaubens glauben sie, daß unsere Welt zugrunde gehen muß, daß wir alle früher oder später Kommunisten werden müssen. Wenn Herr Chruschtschow zu den westlichen Diplomaten in Moskau sagt: „Ihre Kinder werden Kontwunisten sein", so ist das nicht die Äußerung eines gewissen Galgenhumors: er glaubt, was er sagt. In den Augen der Russen sind wir die Vergangenheit, eine anachronistische Vergangenheit, die sich umsonst verteidigt: die Geschichte hat uns zum Tode verurteilt. Die Kommunisten können sich nur damit abfinden, daß sie nicht weiter vorwärtsgehen, bloß weil es ihnen physisch nicht möglich ist vorwärtszugehen. Man hat dem ersten Islam unter den Mauern von Byzanz mit den Waffen Einhalt gebieten können. Es wäre unmöglich gewesen, mit einem einfachen Vertrag diese selben Araber zu verpflichten, keine Propaganda mehr für ihre Religion zu machen. Die Grenzen, die man diesem Vorwärtsgehen entgegenstecken kann, die Grenzen, die die Russen annehmen, sind nur zwei: 1. Die physische und militärische Unmöglichkeit, die Ausbreitung des Kommunismus durch einen Krieg zu fördern. Das — wiederhole ich — wollen die Russen nicht: sie wollen nicht die Existenz der sowjetischen Republik in Gefahr bringen. Darum muß der Westen das Gleichgewicht der Macht sorgfältig bewahren. 2. Die innere Unmöglichkeit, durch ihre kommunistische Propaganda die soziale Zersetzung eines Landes vorwärtszutreiben. Darum müssen wir alle, wir Länder des Westens, unsere innere soziale, politische, ökonomische Stabilität immer sorgfältig bewahren.
Diese beiden Grenzen lassen sich nicht durch diplomatische Verträge feststecken: sie können nur de-facto-Grenzen sein.
Werden wir diese Gipfelkonferenz haben oder nicht? Das ist noch schwer zu sagen. Meiner Meinung nach ist das eigentlich nicht von großer Wichtigkeit. Eine reale Entspannung ist nicht möglich, solange die Spaltung der zwei Welten ideologisch bleibt. Eine wirkliche Entspannung ist ohne Toleranz unmöglich, und die Toleranz ist die Tochter einer gewissen Skepsis. Wer wirklich glaubt, der kann nicht tolerant sein.
Um eine kleine, begrenzte Entspannung zu erreichen, eine Entspannung, die mehr in der Tatsache als in Verträgen besteht, brauchen wir viel Zeit, Geduld. Die Gipfelkonferenz könnte höchstens eine, kleine Etappe dieser Entwicklung sein. Aber wenn es keine Gipfelkonferenz gibt, ist das auch eine Etappe auf demselben Weg. Das könnte heißen, daß man angefangen hat, die Grenzen des Unmöglichen zu verstehen. Und das ist auch wichtig. Talleyrand, der kein schlechter Diplomat war, hat doch gesagt: „Die Diplomatie ist die Kirnst des Möglichen“. Das klingt ein bißchen pessimistisch, nicht wahr? Ich bin auch Pessimist: in dem Sinn nämlich, daß ich nicht an Wunder glaube. Was erwarten wir eigentlich von den Russen? Meine Generation hat in einem Menschen alter zwei Weltkriege miterlebt. Es ist selbstverständlich, daß wir es satt haben und daß wir nur einen Traum haben: einen Schlafrock anzulegen, Pantoffeln anzuziehen und ruhig in einem komfortablen Armsessel zu sitzen. Ein solcher Wunsch ist leicht verständlich, aber leider ist es nicht unser Los. Es gibt Generationen, die mit Pantoffeln geboren worden sind, es gibt Generationen, die mit Nagelschuhen geboren worden sind, und leider Gottes gehören wir zu den mit den Nagelschuhen Geborenen. So träumen wir immer davon, eines Morgens aufzuwachen und zu finden, daß die Russen plötzlich ganz nett und gemütlich geworden sind, daß ihnen Flügelchen auf den Schultern gewachsen und sie weiße, hübsche Engelchen geworden sind.
Solch ein Wunder werden wir leider nicht sehen. Und wenn wir denken, daß einige der Regierungschefs von heute in einem großartigen Treffen die Probleme unserer Welt, das Problem des Zusammenlebens des Kommunismus mit der Demokratie, lösen können, so ist das eine Illusion. Aber wenn wir denken, daß andere Regierungschefs von unserer Seite mit etwas anderen Ideen diese Probleme lösen könnten, dann ist das auch eine Illusion: diese Probleme kann man nur lösen, wenn auf der anderen Seite andere Personen mit neuen Ideen — mit nicht-ideologischen Brillen — an die Macht kommen. Sie werden meinen: auch in diesem Fall wird es nicht leicht sein, Rußland, auch ein nicht-kommunistisches Rußland, wird eine Großmacht bleiben, eine Großmacht in vollem Sinne des Wortes: ein neues Rußland, und mit der jugendlichen Kraft einer solchen Großmacht zu verhandeln, ist nicht leicht. Wenn wir von einem neuen Rußland träumen, träumen wir eigentlich von dem Rußland am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Dieses Rußland war auch eine Macht, eine Gefahr, aber — wenn ich so sagen darf — eine gemütliche Gefahr. Das alles ist vorbei und kann nicht zurückkommen. Auch mit einem nicht-kommunistischen Rußland wäre die Grundfrage, die Machtgrenzen zwischen Amerika und Rußland, nicht leicht zu definieren. Solange das nicht geschehen ist, müssen wir Geduld haben.
Es gibt keine Wunder
Herr Chruschtschow hat in einer seiner Reden die Lage, wie er sie sieht, meiner Meinung nach meisterhaft geschildert. Er hat gesagt: „Wir sind des Endsieges des Kommunismus sicher. Für diesen Sieg brauchen wir nicht den Krieg, die friedliche Kompetiton genügt.“ Das ist die Kernfrage: die friedliche Kompetition. Was heißt friedliche Kompetition? Beide Welten, die kommunistische wie die demokratische, haben ihre inneren Schwierigkeiten; es gibt immer Schwierigkeiten in der Welt. Eine Gesellschaft ohne Schwierigkeiten ist eine erstarrte Gesellschaft, und wir sind nicht in einer erstarrten Gesellschaft, im Gegenteil: die ganze Welt ist in Bewegung, und wir mit der Welt. Die Russen sind fest davon überzeugt, daß der Kommunismus die einzige Möglichkeit bietet, die Schwierigkeiten der historischen Weltkrise von heute zu überwinden. Dies ist ihre Stärke. Um diese friedliche Kompetition zu gewinnen, müssen wir beweisen, daß unsere demokratische, wenn Sie wollen, kapitalistische Gesellschaft ebenfalls die Möglichkeit hat, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Nicht nur das, aber wir müssen auch beweisen, daß unsere Gesellschaft, unser System, diese Schwierigkeiten besser und leichter überwinden kann als die kommunistische, das heißt: mit weniger Menschenleiden. Die Kommunisten verneinen nicht diese menschlichen Leiden, die ihre Geschichte begleiten. Sie sagen nur, daß es nicht anders geht: die Gegensätze der kapitalistischen Welt kann man nur chirurgisch und energisch, unbarmherzig kurieren. Wir müssen beweisen, daß das eigentlich nicht nötig ist. Wenn wir das tun, wenn uns das gelingt, dann haben wir gewonnen, dann haben wir den Kalten Krieg gewonnen Denn, meine Damen und Herren, wenn man von den Beziehungen zwischen Ost und West spricht, kann man diese eigenartigen Beziehungen nennen, wie man wünscht: Kalten Krieg, Koexistenz, friedliche Kompetition. Es ist immer ein und dasselbe. Jemand hat einmal gesagt: „Man kann eine Rose vielfach benennen, es bleibt immer eine Rose.“
Den Kalten Krieg zu gewinnen, das geht uns alle an: diesem Problem gegenüber kann man nicht neutral bleiben. Lim gewinnen zu können, muß man an die Möglichkeit des Sieges glauben. Wir müssen uns nicht nur formell vor den Ideen der Freiheit der Demokratie beugen. Wir müssen an das alles fest glauben, wie die Kommunisten auch alles glauben, mehr als die Kommunisten, wenn möglich. Die Überwindung der Berliner Blockade wäre nicht möglich gewesen ohne den Glauben an die Gerechtigkeit der Sache und an die Möglichkeit des Sieges. Die ganze westliche Welt ist in einem gewissen Sinn in einer Blockade-Stellung. Wir müssen volle Zuversicht in die Möglichkeit unseres Sieges haben, keine Kapitulationsstimmung. Man kann nicht einen Krieg gewinnen, wenn man von vornherein an seine Niederlage glaubt. Aber für den Sieg der Berliner wären der Mut und der Glaube nicht genug gewesen, dazu brauchte man auch die Luftbrücke. Und die Luftbrücke wäre nicht möglich gewesen ohne den Schild der Macht der Vereinigten Staaten. Die Russen haben die Luftbrücke geduldet, nur weil sie wußten, daß ein Angriff gegen die Luftbrücke den Krieg gegen die Vereinigten Staaten bedeuten konnte. Wir brauchen noch diesen Schild, um den Frieden zu behalten, um die Möglichkeit zu behalten, unsere Gesellschaft so zu entwickeln, daß sie sich den neuen Anforderungen unserer Zeit anpaßt, um, in einem Wort, die friedliche Kompetition zu gewinnen.
Dies alles, meine Damen und Herren, bedeutet eine lange Frist, Jahre zumindest, wahrscheinlich Jahrzehnte. Das alles ändert sich nicht von heute auf morgen. Es gibt keine Wunder; es gibt keine Hoffnung, unsere unfriedliche, unangenehme Lage mit einem neuen Plan, mit einem kühnen Vorschlag, mit einer schlauen Idee von einem Tag zum anderen zu ändern. Es ist eine langsame, langwierige Arbeit, einen Ziegelstein auf den anderen zu stellen.