Einleitung
Dem pädagogischen Denken und der Erziehungspraxis in West und Ost unserer Gegenwart stellt sich ein grundlegendes Problem. Es fordert die Anpassung der Erziehungsinstitutionen an die veränderten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Solche Anpassungsprozesse hat es immer gegeben. Nach dem II. Weltkrieg jedoch fordert die ungestüme Umwälzung der Lebensverhältnisse besonders dringliche Maßnahmen heraus, wenn das Erziehungswesen seinen Aufgaben für die Zukunft gewachsen bleiben soll.
Karl Mannheim brachte den Gedanken zum Ausdruck, daß viele Einzelheiten in den Methoden und Maßnahmen unserer Gegner nichts anderes sind als seine spezifische „Reaktion auf eine veränderte Situation, die uns ebenfalls betrifft, während andere einfach Ausfluß ihrer Lebensphilosophie sind, die wir ablehnen, weil sie nicht die unsere ist“
Der sich ständig vergrößernde „Abstand zwischen der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklung und der pädagogischen Ideenbewegung“
ist jene Situation, von der Mannheim spricht. Es ist irrig, diesen Abstand nur im sowjetischen Machtbereich zu vermuten. Auch die westliche Welt steht vor einem ähnlichen Dilemma und die pädagogische Neuorientierung ist ein notwendiges Erfordernis in beiden politischen Machtbereichen der Welt.
Mit dem Begriff der „polytechnischen Bildung“ wird die Reaktion der sowjetischen Erziehungspolitik auf die umrissene Problematik gekennzeichnet, die auch von der „Education in a Tedtnological Society“ 3) Lösungen fordert. Soziologisch ist die Problematik verwurzelt in den Veränderungen des sozialen und ökonomischen Status-Systems unserer gewandelten Produktionsstruktur der gegenwärtigen Gesellschaftsverfassung und Arbeitswelt. Veränderte Berufsstrukturen und eine neue Arbeitswelt stellen unser Erziehungswesen vor eminente Aufgaben, die sich vielleicht nur durch die Schaffung bestimmter Übergangsinstitutionen meistern lassen, wie sie Helmut Schelsky andeutete, die durch ihren „Quasi-Arbeitscharakter“ eine wirksamere Erfüllung ihrer „menschlich-erzieherischen wie ausbilderischen Aufgabe“ erwarten lassen dürfte als die den traditionellen Schulbetrieb fortsetzenden Einrichtungen
Hier nun ist die Nahtstelle, an der sich die Problematik zwischen der westlichen und östlichen Erziehungswelt begegnet. Diese Notlage könnte die östliche Erziehungswissenschaft auch dazu zwingen, jenseits aller Ideologie, die „Besinnung auf die spezifisclten Eigenarten dei Bildung, Erziehung und Unterweisung" in Theorie und Praxis durchzuführen, wie es Leonhard Froese unter Hinweis auf das ursprüngliche Arbeitsschulprojekt der frühen sowjetischen Reformpädagogik und durch Erinnerung an Direktive und Reglement vom 16. X. 1918 vorschlug
Die westliche Welt und die Bundesrepublik insbesondere bieten vielseitige Beispiele zur Lösung der genannten Problematik
I. Die Produktion des neuen „Sowjetmenschen”
Die vorstehend umrissene Problematik der westlichen Erziehungswelt gleicht „auf der Basis“ der pädagogischen Situation des sowjetischen Erziehungswesens. Der grundlegende Unterschied besteht jedoch darin, daß der Erziehungsauftrag in der westlichen Welt aus der autonomen Verantwortung des Erziehers stammt, der in freier demokratischer Selbstbestimmung seiner politischen Position im Spannungsfeld der staatlichen Ordnung lebt, zu deren Mitgestaltung auch er aufgerufen ist. Die Kriterien der politischen Ordnung des Gemeinwesens, in dem der Erzieher wirkt, teilt er der heranwachsenden Generation im gleichen Maße mit, wie er diesen jungen Menschen zur aktiven Teilhabe am öffentlichen Geschehen seines politischen Gemeinwesens erzieht. Dieses bipolare Verhältnis von bewußter Mitgestaltung des politischen Lebens und kritischer Durchdenkung seiner Erscheinungen ist das höchste Maß an Schwierigkeit im Zusammenhang mit dem pädagogischen Vollzug, es bietet dem in der politischen Erziehung wirkenden Lehrer wie dem begreifenden Zögling jedoch das höchste Maß der politischen Freiheit, die den Sinn unseres politischen Gemeinwesens ausmacht und aus der ein bestimmter Erziehungsauftrag ergeht, dargestellt in der pädagogischen Verantwortung jedes einzelnen Erziehers, der den Grundlagen seiner politischen Ordnung verbunden ist.
Die Sowjeterziehung schöpft dagegen ihre Kraft aus entgegengesetzen Prinzipien. Sie ist streng orientiert am Dogma einer orthodoxen und — (teilweise) überholten Ideologie. Durch eine totalitäre, uniformierte Staatspartei wird diese Ideologie bis ins Detail interpretiert und dogmatisiert, allen Lebensbereichen, besonders dem Erziehungswesen zur absoluten Richtschnur mitgeteilt. Das so profilierte Staatsmonopol der Bewußtseinslenkung nimmt der Schule jede Möglichkeit, stabile Formen zu entwickeln; denn die „sowjetisclre Sdtule, der Prozeß des Unterrichts ist an die Politik, bzw. an die Generallinie der Partei organisch gebunden“
Politik allmählich eine Entwicklung ein, die im Terminus der „Polytechnisierung" an die frühsowjetische Reformpädagogik erinnerte. Diese pädagogisch fruchtbare Phase, die als „erste Polytechnisierung der Sowjetschule“ bezeichnet werden könnte, wird nachstehend nur kurz erwähnt, da sie in einer umfassenderen Darstellung analysiert werden soll
Das Bemühen der frühsowjetischen Reformpädagogik um die erste „Polytechnisierung“ der Sowjetschule und die Diskussion der Theorie einer „Arbeitsschule" fand in N. K. Krupskaja, der Gattin Lenins, und A. V. Lunacarskij volle Protektion. Beide verkörperten neben ihrer sozialistischen und leninistischen Grundhaltung in ihren pädagogischen Intensionen als Vertreter der „freien Erziehung“ die Idee der Schule L. N. Tolstojs und das Erbe der „Russischen Bewegung“ (Froese). Neben gleichgesinnten Mitstreitern trat vor allem der schon vor der bolschewistischen Revolution bekannte Pädagoge P. P. Blonskij in seinem Hauptwerk „Die Arbeitsschule" mit einer einfallsreichen Interpretation des polytechnischen Bildungsideals für die produktive Arbeit der heranwachsenden Generation ein. „In der Fabrik, die zugleidi Schule ist, wird der wissenschaftlich gebildete Arbeiter erzogen werden“
Die von Stalin eingeleitete „Stabilisierung“ des sowjetischen Schulwesens, die Wiedereinführung der Lernschule und Tabuierung der früh-sowjetischen Reformpädagogik wurde durch den XIX. Parteitag der KPdSU im Oktober 1952 in eine neue Entwicklungsphase eingeleitet
Im Herbst 195 5 und teilweise schon früher wurden dann neue Lehrpläne eingeführt, die eine Verminderung des sogenannten „gumanitarnyj zikl“ brachten, dessen Jahresstunden von 5 214 auf 4 653 vermindert wurden. Diese Veränderung des Lehrplanes ging parallel mit der Umstrukturierung der „desjatiletka“ vor sich, von der es nach Angaben des damaligen Volksbildungsministers der RSFSR und Präsidenten der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften J. A. Kairov in der RSFSR bis Anfang 1956 etwa 9 000 geben sollte
Diese erziehungspolitischen Maßnahmen verlangten eine Umstrukturierung des Lehrplanes des „desjatiletka“, die neben der Verminderung des „gumanitarnyje zikl“ auf 47°/» der Gesamtstundenzahl (9 8 57) eine Verstärkung der naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer brachte, die 37% der Gesamtstundenzahl verlangten
Schuljahres, d. h. praktische Arbeit in Schulgarten, Feld und Schullaboratorien, -Werkstätten; 3) jährlich sechs Tage „proisvodstvennyje exkursii“ im 4. bis 9. Schuljahr, d. h. Exkursionen in die Produktion; 4) zwei Wochenstunden „praktikum“ im 8. bis 10. Schuljahr, d. h. praktische Arbeit in Landwirtschaft, Elektrotechnik, Maschinenkunde u. a.
Da diese neuen Maßnahmen als nicht ausreichend betrachtet wurden, sollten sie ergänzt werden durch Arbeitsgemeinschaften und Zirkel außerhalb der normalen Schulzeit
Die Strukturveränderungen der sowjetischen Mittelschule unter dem Begriff der „Polytechnisierung“ nach einem Beschluß des XIX. Partei-tages suchte die Berufsorientierung des gesamten Unterrichts noch ausschließlicher durchzuführen als es bisher in der Sowjetschule schon üblich war. Damit sollte gewährleistet sein, daß die Schüler mit den wissenschaftlichen Grundsätzen der wichtigsten Industriezweige und landwirtschaftlichen Methoden vertraut werden und allgemeine technische Praktiken kennen lernen. Sie sollten auf diesem Weg mit Elektrotechnik, Elektronik, Radiophysik, Energetik, physikalischer Technologie und anderen Gebieten der Technik, mit Agrikultur, Prinzipien der Viehzucht und weiteren Gebieten der Landwirtschaft vertraut werden. Neue technische Unterrichtsfächer wurden bestimmt, den Stundenplan zu „polytechnisieren“: handwerkliche Arbeit in der Schule, in Praktiken, Studium der Maschinenkunde, Grundlagen der Wirtschaftsgeographie des Auslandes u. a. m. Neben dieser theoretischen Fundierung sollte die systematische Teilnahme der Schüler am Produktionsprozeß erfolgen, jedoch nur im Zusammenhang mit den Zielsetzungen des polytechnischen Unterrichtsprinzips.
Es muß in Frage gestellt werden, ob der für die modernen Erfordernisse der gewandelten ökonomischen Grundlage notwendige Spezialisten-typ durch die in diesem Sinne polytechnisierte Schule erzogen werden kann. Dieser Spezialist wird nicht allein durch verbesserte fachliche Qualifikation zu den erhöhten Berufsaufgaben befähigt. Das neu strukturierte Bildungswesen wird in der Lage sein, gut funktionierende Techniker heranzubilden. Diese Funktionsglieder im Planungszusammenhang werden befähigt sein, nach Direktiven des Partei-und Wirtschaftsapparates die vorgeschriebenen Aufgaben zu erfüllen. Mit der „Polytechnisierung im Massenmaßstab“ soll aber ein Mensch „neuen Typs geschaffen werden, der auch über die eigentlichen Planaufgaben hinaus befähigt ist, in eigenschöpferischer Initiative die wirtschaftliche und technische Entwicklung voranzutreiben, als „Udarnik" oder „Novator in Eigeninitiative den fixierten Wirtschaftsplan überbieten und neue Wege auf das Ziel der Erreichung des Kommunismus zu weisen. Die gewünschte Qualität dieses „neuen Menschen“ vermag der einzelne Sowjetbürger jedoch nicht durch die spezialisierte Fachausbildung zu er-B ziele zu erreichen und technische Errungenschaften solcher Art wie Sputniks oder etwa auch Leistungen auf sportlichem und wissenschaftlichem Gebiet auszuführen. Von solchen einmaligen und bewundernswerten Leistungen abgesehen, die bei näherer Untersuchung erkennen lassen, daß sich hinter ihnen der gewaltige Apparat der Partei und des Staates mit seinen materiellen Potenzen verbirgt, kann der von der KPdSU geforderte „neue Sowjetmensch“ nur über eine breit fundierte Allgemeinbildung geschaffen werden, an die sich dann eine Spezialbildung anschließen mag. Die schöpferische Souveränität, von der allein die notwendige Eigeninitiative erwartet werden kann, ist nur vom breiten Fundament einer harmonischen und vielseitigen Allgemeinbildung denkbar. Der „Sowjetmensch“ (als von der Ideologie forcierter Prototyp der „fortschrittlichsten Gesellschaftsordnung“) ist ein Begriff, der von seiner „formalen politischen zu einer material-ideologischen Bedeutung"
modifiziert wurde. Er kann nur das Ergebnis des Erziehungsprozesses auf einer breiten Allgemeinbildung sein.
Die mit dem Begriff der “ Polytechnisierung“ verbundene Umstrukturierung der sowjetischen Mittelschule wurde 195 5 zwar noch als unvollkommen kritisiert, aber von der stellvertretenden Ministerien für Volksbildung der RSFSR L. Dubrovina als „unerläßliche Voraussetzung für die ersten und grundlegenden, durchaus realen und sehr wichtigen Schritte zur Polytechnisierung der Schule im Massenmaßstab" bezeichnet
Da es der Sowjeterziehung bis in die Gegenwart nicht gelang, den „neuen Menschen“ zu produzieren, stellt sich die Frage nach dem ideologischen Hintergrund. Es muß dem anthropologischen Ansatz nachgegangen werden, der in das Frühwerk des jungen Marx verweist, das zwar in der Sowjet-Union tabuiert und als „idealistischer Ansatz“ der Marxschen Philosophie übergangen wird — da es Marx selbst durch sein Spätwerk überboten habe — aber gerade darum den Schlüssel zu dem Problem bieten dürfte, das die Sowjetpädagogik bis heute nicht lösen konnte. Die „europäische Wirkung der von Karl Marx ausgesprochenen Gedanken"
Nach der Aufweisung der beiden Kerngedanken der Marxschen Bildungsvorstellung sollen die Entwicklungslinien der Sowjetpädagogik nach dem XX. Parteitag der KPdSU dargestellt werden.
II. Der Begriff vom „wahren Menschen"
Zu Beginn des XIX. Jahrhunderts zeichneten sich zwei Strömungen ab, die „das allgemeine Bewußtsein und die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen der letzten fünfzig Jahre mit einer Gewalt durchdrungen und bestimmt haben, gegen die alle Kriege und Staatsaktionen gleidtsam nur als begleitende Umstände erschienen“
Karl Marx erstrebte damit in seiner frühen Philosophie die Synthese, in der die beiden Positionen der geschichtlichen Welt zu neuer Wirklichkeit aufgehoben werden sollten. Er setzte die „Selbstbestimmung des Menschen in einen inneren Zusammenhang mit der industriellen Entwicklung“ und vereinte sie auf einen Generalnenner, der aus den Widersprüchen und Spannungen der Zeit „die welthistorische Aufgabe“ entnahm, die Menschheit aus dem Zustand der „Entfremdung“ zu befreien und in die geschichtslose Zeit der Etablierung einer „klassenlosen Gesellschaft" zu führen. Hier soll, nach der Hypothese des jungen Marx, jedem Menschen Gelegenheit gegeben sein, „sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden" zu können, da „die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nad'imittags zu fisd^en, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe" 28).
Bei seiner philosophischen „Selbstverständigung“ wirkte im Denken des jungen Marx als Moment der Erb-und Fremdbildung die jüdische Vorstellung vom „Eschaton“ aus der Überlieferung seiner Ahnen in dem jungen Denker fort. Aber auch das Christentum hinterläßt im Marxschen Denken deutliche Spuren, trotz aller Kritik an der Religion und Überwindung ihrer Transzendenz. Beide Konfessionen mühen sich um diesen Zusammenhang und bedeutsame Beiträge der Gegenwart zur Marxforschung erhellen von diesem Aspekt das Marxsche Denken
In dem so beschriebenen künftigen klassenlosen Gemeinwesen mit der Identität privater und öffentlicher Existenz, soll der Mensch sein „wahres Wesen“ wiederfinden, damit in einer von der Arbeitsteilung befreiten Welt die Verwirklichung des Menschen als Menschen erleben. Das so formulierte Bild findet seine Analogie in den anthropologischen Vorstellungen des Neuhumanismus, die Marx durch seinen Begriff vom „wahren Menschen“ bereichert, und durch den Begriff vom Menschen als „Gattungswesen“ modifiziert, ein Individuum, in dem der Unterschied zwischen Staat und Individuum aufgehoben sein sollte. Hier liegt der Keim des Dilemmas, das im heutigen Erziehungswesen der SowjetUnion offen zutage tritt, dessen „innere Problematik . . . in der Einseitigkeit und Dogmatik von Bildungsideal und Erziehungsziel“ besteht
Auf dem Zuge dieser Gedanken findet die Marxsche Auseinandersetzung mit Hegel statt. Dieser war bestrebt, „in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen“. (Hegel) Als Aufgabe der Philosophie wurde gesehen, das was ist als die Vernunft zu betrachten. Die bestehende „Wirklichkeit“ jedoch als vernünftig anzusehen, das ist für Marx Grund zur Auseinandersetzung mit Hegel. Marx sträubt sich dagegen, den bestehenden Staat als die Idee des Sittlichen zu verstehen und so wird bei Kritik des bestehenden Staates im Denken von Marx die Vernunft „etwas zu Verwirklichendes, ihre Wirklidtkeit steht im Dasein der Menschheit noch aus. Lim die sittliche Idee zu verwirklichen, dazu muß die bestehende Welt sich verändern“
Die durch „bewußte Aktion" des Proletariats vom Standpunkt der Theorie (des Marxismus) vollzogene Emanzipation des entfremdeten Menschen und die damit verbundene Umwandlung der ökonomischen Wirklichkeit in eine künftige Welt ohne Arbeitsteilung, ist eine neue und die eigentlich genuine „Pädagogik“ des jungen Marx, seine primäre Bildungskonzeption. Sie dient dem totalen Ziel der Verwirklichung einer universalen Wesensgestalt des Menschen, schließt aber gleichzeitig im Begriff des „Gattungswesens“ die Ver-gattung des Menschen in sich ein, die Entleerung des Menschen zu einem bloßen Planmechanismus, zu einem Funktionsglied im Planzusammenhang. Marx sah diese Aufgabe seiner „Pädagogik“ (die er als solche zwar niemals bezeichnet, die aber dennoch eine pädagogische Aufgabenstellung erhält) nur durch Negation der traditionellen „Klassenpädagogik" erfüllbar, die im Bewußtsein des Proletariats ersetzt werden soll durch die Marxsche Philosophie als „Pädagogik“. Hat diese Marxsche „Pädagogik“ (oder die Theorie Marxens) die Massen erfaßt und dem Proletariat das notwendige „Bewußtsein“ vermittelt, so wird der Umschlag erfolgen und nach vollbrachter Weltrevolution im zukünftigen idealen und klassenlosen Gemeinwesen die Erziehung überflüssig: denn der vollkommen gebildete, all-und tiefsinnige „wahre Mensch“ bedarf der Erziehung nicht mehr, da er sie in sich verwirklichte. Dieser Zustand, in dem die Idee mit der Wirklichkeit versöhnt ist, vermittelt dem Menschen nach der Marx-sehen Hypothese sein wahres, menschliches Wesen und die totale Aneignung aller vorhandenen Produktionskräfte. Im „wahren Menschen"
fallen individuelle Vernunft mit der gesellschaftlichen Vernunft zusammen und bilden die allen Individuen gemeinsame Gattungsvemunft.
Diese Daseinsform ist nach Marx die „wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durdt und für den Mensdien; darum als vollständige, bewußte und innerhalb des ganzen Reichtums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Mensdien für sidt als eines gesellschaftlichen, das heißt mensdtlidten Mensdien“
Es war notwendig, in wenigen Zügen die Idealgestalt der genuinen Marxschen Bildungskonzeption aus der frühen Philosophie des jungen Marx herauszustellen. Im Machtbereich der Sowjet-Union sind die Marxschen Frühschriften und diesem dem deutschen Idealismus sehr nahe Bildungskonzeption tabuiert, weil aus dem universalen und humanistischen Ansatz der Frühschriften ein Kritiker jener Verhältnisse erwächst, die sich im Namen von Karl Marx etablierte, sein Denken jedoch aushöhlten und an die Stelle seines im Frühwerk konzipierten philosophischen Standpunktes die Menschheitsmission Rußlands setzten. Die aus dem Geiste Marxens geborene „Pädagogik“ als Negation der traditionellen Pädagogik mündet jedoch durch das seines eigentlichen menschlichen Gehaltes entleerten Gattungswesen in ein Dilemma, dem Marx auch nicht begegnen konnte, in dem er aus seinem Spätwerk einen anderen Bildungsbegriff entließ, der als „polytechnische Erziehung" in unserer Gegenwart besondere Aktualität gewann.
III. Polytechnische Erziehung —ein Zentralbegriff bei Marx
Im kommunistischen Manifest (1848) stellen Marx und Engels für „die fortgeschrittensten Länder" unter anderem auch „Maßregeln“ für die Erziehung auf. Diese waren jedoch nur für einen befristeten Zeitraum gedacht, für das Übergangsstadium zur „klassenlosen Gesellschaft“, in dem das Proletariat erst die politische Macht aus den Händen der Bourgeoisie genommen, das Endstadium der klassenlosen Ge-Seilschaft jedoch noch nicht herbeigeführt hat. Neben öffentlicher und unentgeldlicher Erziehung aller Kinder, Beseitigung der Fabrikarbeit der Kinder in ihrer damaligen Form wird die „Vereinigung der Erziehung mit der materiellen Produktion“ postuliert
Nun formulierte Marx seinen sogenannten zweiten Bildungsbegriff, den der „polytechnischen Bildung“, von dem jedoch nur eine befristete Wirksamkeit erwartete, da er nur für die beschriebene Übergangszeit des „Reiches der Notwendigkeit“ gedacht war, die sich bald in einem „Gewitter“ (der proletarischen Revolution) entladen sollte. Damit sah Marx die Übergangszeit als beendet an, nach der durch die Weltrevolution „das Reich der Freiheit“ und die Existenz des „wahren Menschen-und Gattungswesens“ realisiert werden sollten. Damit war die Erziehung aufgehoben. In dem von Marx nur kurz fixierten Übergangszustand sollte die Verbindung von produktiver Arbeit mit Bildung erlaubt sein, jedoch nur unter der Bedingung, daß diese „Bildung“ drei Bestimmungen enthalten müsse: „ 1. Geistige Bildung;
2. Körperliche Ausbildung, wie sie in den gymnastischen Schulen und durdt militärische Übungen gegeben wird;
3. Polytedmische Erziehung, weldte die allgemeinen wissensdiaftlidten Grundsätze aller Produktionsprozesse mitteilt, und die gleid^zeitig das Kind und die junge Person einweiht in den praktischen Gebraudt und in die Handhabung der elementarisdien Instrumente aller Geschäfte"
Mit dieser Definition der „Bildung“ ist der Begriff der „polytechnischen Erziehung“ geboren, der von diesem Marxschen Ausgangspunkt bis in unsere Gegenwart in vielfältigen Modifikationen überkommen ist, bald aber nur noch den Namen nach Marxens Denken ausdrückte, während dem innerlich gewandelten Begriff eine neue Wesensgestalt zufiel, die ihn nicht für den „kurzen Übergangszustand des Reiches der Notwendigkeit", sondern für die Stabilisierung der Verhältnisse des Staates bestimmte, der nach Marx durch die Revolution beseitigt werden sollte.
Nach der Marxschen Definition seines Systems der „polytechnischen Erziehung“ seien die Zöglinge in drei Klassen zu formieren. Die schulpflichtigen Kinder der Altersstufen von neun bis zwölf Jahren sollten die erste Klasse bilden. Ihnen war aufgegeben, zwei Stunden ihrer täglichen Unterrichtszeit mit Arbeit in Werkstätten und Hausarbeit zu verbringen. In der zweiten Klasse sollten die Kinder von dreizehn bis fünfzehn Jahren vier Stunden täglich produktive Arbeit in Verbindung mit geistiger, körperlicher und polytechnischer Unterweisung leisten. In der dritten und letzten Klasse wären die Jünglinge und Mädchen von sechzehn bis siebzehn Jahren täglich bei sechs Stunden produktiver Arbeit vereinigt, mit einstündiger Unterbrechung der Arbeit zu gemeinsamer Mahlzeit und Erholung. Die so strukturierten „Polytechnischen
Schulen“ sollten sich durch Verkauf ihrer Arbeitsprodukte selbst erhalten, „mit Ausnahme vielleicht der ersten Klasse“
Ein Jahr später bezeichnete Marx im ersten Band des „Kapital“ (1867) die Verbindung der produktiven Arbeit mit Unterricht und Gymnastik nicht nur als eine Methode zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktion, sondern als „die einzige Methode zur Produktion vollseitig entwidtelter Mensdien“
Die Internationale Arbeiter Association (I. A. A.) schloß sich der Marxschen Definition an und erklärte den „theoretisdten und praktischen — wissenschaftlichen und industriellen Unterricht als das ridttige Mittel der Emanzipation der Arbeiterklasse“
Die Gedanken Marxens zum Prinzip der „polytechnischen Erziehung" stellen insofern einen Gegensatz zu den pädagogischen Intensionen seiner Frühzeit dar, als sie nur für einen Übergangszustand gelten sollten, für die kurze Zeit bis zum letzten Schritt in das Reich der Freiheit. Dieses Ziel bleibt für Marx trotz der Zwischenlösung des Reiches der Notwendigkeit immer noch relevant. Seine „polytechnische Erziehung" soll mit Auflösung der Arbeitsteilung und bei der Neugestaltung der geschichtlichen Produktionsform seine Verwirklichung finden in der neuen Welt, die von Gattungswesen belebt ist, denen verschiedene Sozial-funktionen nur als verschiedene, aufeinanderfolgende Phasen ihrer Tätigkeit erscheinen sollen.
Die Umsetzung der Marxschen pädagogischen Konzeption in die Sowjetpädagogik stellte diese vor unlösbare Probleme. Wenn der Einfluß dieser pädagogischen Gedanken Marxens auch im Vordergrund steht, so wirken in der Sowjetpädagogik doch auch noch andere Triebkräfte, die dem marxistischen Gedankengut entgegengesetzt angesehen werden können. Es würde den Rahmen dieser Darstellung überschreiten, sollten diese Triebkräfte im einzelnen analysiert werden
IV. Diskrepanz zwischen Allgemeinbildung und polytechnischer Erziehung seit dem XX. Parteitag
Mit der bolschewistischen Oktoberrevolution und Konstituierung des Sowjetstaates wird im sowjetischen Erziehungswesen der polytechnische Bildungsbegriff diskutiert. „Der Einfluß von Marx in Blonskijs Vorstellung von der Arbeitsschule ist unverkennbar“
Chruev führte nach dieser Kritik weiter aus: „Viele Mitarbeiter des Volksbildungswesens und der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften führen nodt immer allgemeine Ausspradien über den Nutzen des polytedtnisdien Unterrichts, ohne etwas für seine praktische Verwirklichung zu tun. Man muß sdtneller von Worten zu Taten übergehen“
Danach forderte Chruscev eine Umgestaltung des Unterrichtsprogrammes der Schulen mit der problematischen Begründung: „damit die Jungen und Mäddten bei Absdduß der Zehnklassenschule eine gute Allgemeinbildung besitzen, die ihnen den Weg zur Hochsdiule öffnet und damit sie außerdem auch für eine praktisd-ie Tätigkeit ausgebildet sind, da der größte Teil der Schüler nach Verlassen der Sdmle sofort eine Arbeit in den versdtiedenen Wirtschaftszweigen aufnehmen wird“
entsprechen, auch das sowjetische nicht! Es beweist diese Behauptung durch seine Erziehungswirklichkeit von 1917 bis zur Gegenwart.
Aber seit der Kritik Chruevs hat die Diskussion nicht aufgehört und es werden immer noch Worte gebraucht ohne Taten zu zeitigen. In einer Erklärung zum neuen Schuljahr am 1. September 195 8 heißt es: „Gegenwärtig wird eine breite Diskussion über die Fragen der polyted-inisdien Ausbildung geführt. Die bevorstehende Umgestaltung des Volksbildungssystems wird sich auf dem Wege der weiteren Entfaltung der Mittelschulbildung, der Entwiddung des polytechnischen Unterrichts, der Kombination des Schulunterrichts mit der produktiven Arbeit der Schüler vollziehen“
Aus den Studienprogrammen der sowjetischen Mittelschulen, in der die Kinder vom 7. bis 17. Lebensjahr in zehn Klassen unterrichtet werden, geht eindeutig das Primat der naturwissenschaftlichen Fächer vor. Der technische Fortschritt in der Sowjetunion, den kein objektiver Betrachter bezweifeln wird — der hier in seinen Wurzeln nicht untersucht werden kann, aber in einem totalitären Staat eine andere Fundierung findet als in den staatlichen Ordnungen der westlichen Welt! — verlangt eine verstärkte naturwissenschaftliche Schulung der Jugend. Aus diesem Grund vermitteln die Studienprogramme in Mathematik, Physik, Chemie und Biologie einen großen Umfang spezifischer Kenntnisse Die Abschnitte des Physik-Unterrichts schließen je nach dem Inhalt der theoretischen Arbeit ein Praktikum in Laboratorien und Betriebsbesichtigungen ein. Die Schüler sollen sich außerdem mit der Anwendung der physikalischen Gesetze in der modernen Produktion vertraut machen Ebenfalls in der Chemie werden solche praktischen Übungen an die betreffenden Abschnitte des Unterrichts angeschlossen, die der Erschließung der Rolle der Chemie in der Volkswirtschaft dienen sollen. Auch das Unterrichtsprogramm in der Biologie verlangt praktische Übungen auf Versuchsparzellen für Botanik und Zoologie und andere Praktika. Diese vielfältige Arbeit zwischen Theorie und Praxis im Sinne einer polytechnischen Berufsvorbildung kann während der reinen Schulzeit nicht geschafft werden. Aus diesem Grund wurden im letzten Sommer die Schüler der oberen Klassen dazu verpflichtet, „ihre Erholung mit der Teilnahme an gesellschaftlich niitzlid'ier Arbeit“ zu verbinden 55). Rund zwei Millionen Schüler wurden als Mitglieder der „Arbeitsgemeinschaften junger Naturfreunde“ in den Ferien zur Einbringung der Ernte in den „schuleigenen Versuchsparzellen“ eingesetzt, „sie brachten eine gute Ernte ein, stellten interessante Versuche an, haben Dutzende neue Pflanzensorten gezüditet, eine Menge wirtschaftlich hodtwertiger Kulturen heimisdr gemadit, Parks, Grünanlagen und Blumengärten angelegt und großgezogen“ 56). Die älteren Schüler nahmen in den Ferien zusammen mit Erwachsenen an der Arbeit auf Kolchosfeldem teil, in mehreren Schulen „wurden einige Produktionsbrigaden zusammengestellt sowie Baubrigaden, die sich an der Erriduung, bzw. Instandsetzung von Schulgebäuden beteiligten“
Diese Ferienarbeit der Kinder aller Altersstufen weist eindeutig in das Gebiet der Landwirtschaft, wo die Kinder kaum zu „interessanten Versuchen“, sondern zur Einbringung der Ernte verwendet werden. Es mehren sich die Publikationen, in denen davon gesprochen wird, daß die während der Schulzeit theoretisch erworbenen Kenntnisse keinen Bezug zur Praxis hätten — damit wird aber die Aufgabenstellung des polytechnischen Unterrichts hinfällig. Die Massen der Schulkinder sind zweifellos ein willkommenes Arbeitsreservoir, sofern es solche Arbeitsvorhaben zu bewältigen gilt, die von ungelernten und kaum vorgebildeten Arbeitern verrichtet werden können Damit fällt aber der eigentliche Gedanke der polytechnischen Erziehung in sich zusammen; denn wenn dabei auch die produktive Arbeit als solche gewertet wird, so muß auf der anderen Seite aber die theoretische Fundierung und die Nachbesin-nung eine Synthese zwischen Praxis und Unterricht herstellen. Dies wird in der Industrie möglich sein, wenn den Kindern durch Exkursionen und Produktionstage bestimmte Industriegebiete vorgeführt werden. Aber das ist keine neue Errungenschaft und dürfte von jedem Klassenlehrer der Abgangsklassen an westdeutschen Schulen seit je beachtet worden sein, in Verbindung mit bestimmten naturwissenschaftlichen Fächern Exkursionen in entsprechende Industriebetriebe durchzuführen.
Aber dieses Arbeitsreservoir der Schuljugend dürfte nur in bestimmten Gebieten, z. B. in der Landwirtschaft während der Ernte und in der Industrie für bestimmte Arbeitsgänge, die keine Vorkenntnisse erfordern u. a., vom Nutzen sein. Im Vordergrund der Umstrukturierung des sowjetischen Schulwesens nach dem Prinzip der Polytechnisierung steht zweifellos die Vorbildung für bestimmte Berufsgruppen, da nach den Worten Chruevs die meisten Absolventen des „desjatiletka" dazu bestimmt werden, „nach Verlassen der Schule sofort eine Arbeit in den verschiedenen Wirtschaftszweigen aufzunehnten"
Diese „Errungenschaften“ der Sowjetpädagogik sind dem westdeutschen Pädagogen geläufige Unterrichtspraktiken, zu deren Erfüllung jede Volksschule in der Bundesrepublik geeignete Möglichkeiten hat.
Es darf nicht verwundern, daß der so aus-und umgebaute Stundenplan bei anderen Fächergruppen starke Abstriche tun muß; denn auch in der Sowjetschule muß ein Maximum an Stunden gehalten werden, das nicht überzogen werden kann. Der sogenannte „gumanitamyje zikl“ büßt denn auch wie schon erwähnt viele Stundeneinheiten ein. Es heißt: Für alle Fächer des humanistischen Programms ist eine Anzahl Stunden vorgesehen, „die für ihre gründliche Erlernung absolut ausreichend
Alle diese Maßnahmen, über die ein abschließendes LIrteil im jetzigen Stadium noch nicht möglich ist, lassen jedoch ein eindeutiges Dominieren jener Fächer erkennen, die den jungen Menschen eine quasi vorberufliche Ausbildung ermöglichen. Es soll hier nicht darüber befunden werden, wie weit dieses Prinzip vertretbar ist und ob damit nicht eigentlich bestimmte schulische Formationen eingeführt worden sind, die im Erziehungswesen anderer Länder seit Jahren in dieser oder jener Form bestehen. Es soll nur herausgestellt werden, daß bei einer derartigen Strukturierung der Sowjetischen Mittelschule kaum eine Allgemeinbildung betrieben werden kann, wie sie Chruew neben der polytechnischen Erziehung forderte und wie sie allein in der Lage wäre, den von Marx erwarteten vollkommenen, all-und tiefsinnig gebildeten „wahren Menschen“ zu bilden. Der Marxschen Bildungskonzeption mit dem Begriff der „polytechnischen Erziehung“ konnte entnommen werden, daß damit nur ein Ülbergangsstadium mit einem entsprechenden Erziehungssystem gemeint war, zur baldigen Aufhebung bestimmt. Nach dieser Übergangszeit sollte nach der Marxschen Prognose das Reich der Freiheit anbrechen, in dem der „wahre Mensch“ als „Gattungswesen“ der Erziehung nicht mehr bedarf, da er sie in sich verwirklicht.
Der durch die polytechnisierte Sowjetschule erzogene Spezialist wird schnell in der Lage sein, bestimmte Detailfunktionen in der Wirtschaft auszuüben. Als Parteifunktionär besitzt er auch eine beschränkte Einsicht in die Praxis der Produktion, als Militär wird er in einigen technischen und handwerklichen Fähigkeiten aus-und vorgebildet sein.
Mehr jedoch kann diese Form der Bildung nicht erzielen. Pestalozzi sah 1815 für unseren „gesunkenen Weltteil“ einzig und allein die Rettung durch „Bildung zur Menschlichkeit“. Eine ähnliche Vorstellung war in Marx lebendig, da er das Proletariat ausersehen hatte, die Menschheit zu emanzipieren und den Menschen als Individuum zu seinem „wahren Wesen“ zu führen. Eine ähnliche Aufgabe stellt die kommunistische Partei der sowjetischen Pädagogik, einen Menschen zu bilden, aus dem Geiste Marxens, der die Interessen der Gesellschaft als seine eigenen Interessen empfindet und eben aus dieser Haltung befähigt ist, solche schöpferischen Leistungen in der Planwirtschaft zu vollbringen, daß diese in ihrem Fortgang von unten her, vom einzelnen in dieser Perfektion arbeitenden Menschen, vorangetrieben wird zu unbegrenzter Entfaltung. Aber diese von Marx in seinem Begriff vom „Gattungswesen“ gewünschte Ausschaltung des Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft führt zum Ideal selbstloser Handlungen, die im Menschen jedoch das Individuelle zum Stillstand bringen, womit eigentlich auch der gewünschte „Fortschritt“ ausbleiben muß
Das von der Sowjetpädagogik erwartete Ergebnis ihres Erziehungsprozesses, die Bildung „neuer Menschen“, setzt nicht allein die Polytechnisierung in dem hier beschriebenen Rahmen voraus, sondern auch eine vom polytechnischen Prinzip inspirierte Allgemeinbildung. AIs grundlegende Voraussetzung zur Verwirklichung dieses pädagogischen telos ist jedoch eine freiheitliche Grundhaltung der Pädagogik notwendig, für die entscheidend zu sein hat, „was im Inneren gesdrieht, nicht was mit dem Äußeren angefangen wird“ 63).
Diese Voraussetzung ist aber dort nicht gegeben, wo von der Ideologie die unfehlbare Vernunft einer totalitären Partei bewiesen wird und jede selbständige Regelung als eine Gefährdung der allgemeinen Ordnung ist. Dann ist diese allgemeine Ordnung, der Staat, nichts anderes als das Instrument einer herrschenden Klasse zur Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse, das heißt der Herrschaft der Partei, die zudem Besitzer der Produktionsmittel ist
Die in der Einleitung aufgeworfene Frage nach der Stellung des Personlebens im pädagogischen Prozeß darf für das oben umrissene System der polytechnisierten Sowjetschule unserer Gegenwart damit beantwortet werden, daß der Mensch nur dort sein „wahres Wesen“ und die Bildung zum Menschen erfährt, wo er nicht unter einen kollektiven Anspruch subsummiert wird. Das Erziehungsziel des „wahren Menschen“ im Sinne der abendländischen humanistischen Tradition läßt sich auch in unserer industriellen Sozialstruktur und angesichts der anonymen Welt der Sachen und Apparaturen nur dort erreichen, wo die kollektiven Gewalten im pädagogischen Prozeß ausgeschaltet werden und der individuelle Erziehungsakt in der sittlichen Selbstwahl persönlicher Existenz stattfindet. Das wird aber dort nicht möglich, wo die Forderung zur Erziehung eines „neuen Menschen" (der den Ehrentitel des „Sowjetmenschen“ trägt) das Erziehungsgeschehen vor unlösbare Aufgaben stellt, da die pädagogische Bedeutung eines Phänomens in dem Maße verloren geht, in welchen sie an politisch-ideologischer Bedeutung gewinnt
Ausblick
Die vorstehend angedeutete Entwicklung weist auf einen Abbau des allgemeinbildenden Charakters der sowjetischen Mittelschule, die sich beim Fortgang dieser Umstrukturierung zur fachschulähnlichen Erziehungsinstitution wandeln wird. Die Qualität der Schülerausbildung hängt von entsprechend ausgebildeten Lehrern ab. Lehrer für die polytechnischen Praktiken sind bis jetzt noch Nicht-Pädagogen; Ingenieure aus Industriebetrieben, Agronome, Industriearbeiter, Zoologen, Kolchosarbeiter und viele andere Berufszweige werden eingesetzt, um die in den außerschulischen Praktiken tätigen Schüler in dem gewünschten Sinne auszubilden. Aber das ist nur eine Übergangslösung. In die Pädagogischen Hochschulen sollen in Zukunft zur Ausbildung als Lehrer an allgemeinbildenden Schulen nur noch solche Bewerber ausgenommen werden, die vor Antritt ihres Studiums mindestens zwei Jahre im Berufsleben gestanden haben. 1958 soll z. B. die Zahl der Jugendlichen, die schon berufstätig waren, und an der Pädagogischen Krupskaja-Hochschule in Moskau ihr Studium ausgenommen haben, 50 Prozent aller Studenten des ersten Studienjahres betragen.
Neben dieser Berufsvoraussetzung wurde die polytechnische Ausbildung der Lehrer durch die im Studienjahr 1956/57 neu eingerichteten Lehrstühle für „Produktionsgrundlagen“ betrieben. Diese wurden im Rahmen der physikalisch-mathematischen Fakultät geschaffen, während in der naturwissenschaftlich-geographischen Fakultät ein Lehrstuhl für „Grundlagen der Landwirtschafb“ eingerichtet wurde. Aus den „Utschonyje sapiski" (Wissenschaftliche Schriften) der einzelnen Pädagogischen Hochschulen kann für das erste Studienjahr dieser neuen Lehrstühle ein bestimmtes Lehrpensum entnommen werden. So bietet z. B.der neu geschaffene Lehrstuhl „Produktionsgrundlagen“ den Zyklus polytechnischer Fächer, wie Technologie der Metalle und Stoffe, Praktika in Lehrwerkstätten, technische Mechanik, Maschinenkunde mit Praktikum im Automobil-und Traktorenwesen, Radiotechnik, praktische Lehrgänge in Betrieben der Industrie, Photokunde und andere Fächer, die der künftige Mittelschullehrer für den polytechnischen Unterricht benötigt.
Diese „Polytechnisierung“ der Lehrerbildung ist jedoch erst angelaufen und es wäre verfrüht, aus den ersten Ansätzen schon weitreichende Schlüsse zu ziehen, zudem solche Umstrukturierungen im Hochschulwesen erst stabilisiert werden müssen. Feststellbar ist gegenwärtig das ernsthafte Bemühen, den angehenden Lehrer in die weitläufige Materie der Produktionsgrundlagen in Industrie und Landwirtschaft einzuführen, durch Schaffung neuer Lehrstühle, Aufstellung besonderer Lehrpläne und Aufnahme entsprechender Stoffgebiete und analoger Praktika. Dem dynamischen Element dieser Polytechnisierung der Hochschulausbildung künftiger Lehrer wird eine LImstrukturierung der Pädagogischen Hochschulen folgen. Diese Entwicklung wird schließlich dazu führen, die sogenannten „allgemeinbildenden Schulen“ ihres allgemeinbildenden Charakters zu berauben und sie zur Vorberufsschule wandeln. In ihr soll die künftige „sozialistische Allgemeinbildung“ verwendet werden, ein Terminus, der heute schon vielfach verwendet wird. In der Ukrainischen SSR wurden schon 1957 mit den Schülern des zehnten Schuljahres normale Fachausbildungen in bestimmten Berufsprofilen durchgeführt. Den Absolventen der „desjatiletka" wurden danach neben dem Abitur (Atestat srelosti) normale Berufsausbildungen vermittelt, die sie in die Lage versetzten, entweder zur Hochschule zu gehen (wenn sie die dort verschärften Aufnahmebedingungen bestanden) oder sofort als Viehzüchter, Traktorist, Combineführer, Dreher, Gärtner o. a. tätig zu sein. Den besten Absolventen der Mittelschule steht nach wie vor der Weg zur Universität offen, die Mehrzahl der abgehenden Schüler wird aber sofort in den Wirtschaftsprozeß der Industrie und Landwirtschaft eingegliedert werden können, vornehmlich in solchen Arbeitsgebieten, die dringend Nachwuchs benötigen. Nach neuen Plänen soll dieses Projekt nicht mehr im letzten Schuljahr, sondern schon in der 8. Klasse beginnen, wodurch eine vertiefte Ausbildung in dem von Schüler aus 26 Profilen gewählten Beruf ermöglicht wird.
Alle diese Maßnahmen verschieben das Gewicht auf die Spezialbildung gegenüber der Allgemeinbildung. Diese wird jedoch weiterhin an bestimmten „Internaten“ vermittelt, die seit dem Referat Chruevs auf dem XX. Parteitag stark ausgebaut werden. In ihnen wird die künftige Elite erzogen. Die Entwicklung dieser Internatserziehung sollte gründlich untersucht und in einer besonderen Studie dargestellt werden. Die hier nach wie vor vermittelte Allgemeinbildung wird sich von der an den normalen Mittelschulen vermittelten „sozialistischen Allgemeinbildung in vieler Hinsicht unterscheiden.
So umwälzend für die Erziehungwirklichkeit diese Maßnahmen auch erscheinen mögen, sie offenbaren gleichzeitig das Eingeständnis der Sowjetführung, daß es mit den bisherigen Erziehungsmaßnahmen und -institutionell nicht gelungen ist, den „neuen sowjetischen Menschen zu erziehen. Wohl ungewollt wird dies in einer Dissertation der Humboldt-Universität Berlin zum Ausdruck gebracht: „Die Erziehungstheorie und -praxis der Arbeiterklasse ist vor die Aufgabe gestellt, die Fragen des Inhalts, der Methoden und der Organisation der polytedtnischen Bildung in allen Einzelheiten zu klären; eine Aufgabe, die äußerst schwierig ist, wie wir unter anderem daran sehen, daß ihre Lösung bei uns noch in den allerersten Anfängen steckt und in der wesentlidt weiterentwickelten Sowjetunion, die bereits den Übergang zum Kommunismus vorbereitet, zwar in einem reiferen Stadium steht, aber auch noch weit von einem Abschluß entfernt ist 66).
Marx hatte die „polytechnische Erziehung“ nur für den seiner Meinung nach kurzfristigen Status einer politischen Ordnung konzipiert, in dem das Proletariat die politische Gewalt an sich gerissen hat. Dies nannte Karl Marx auch den übergangsstatus des „Reiches der Notwen-digkeit", ein Zustand der als „Diktatur des Proletariats“ in der Sowjetunion keineswegs als „Zwischenlösung“ besteht, bedenkt man dabei nur die faktischen Gegebenheiten und nicht die propagandistischen Prognosen vom „Übergang zum Kommunismus“, Diese „Zwischenlösung“ dauert nun schon über vierzig Jahre an. Der Fortschritt zum „Reich der Freiheit“ einer künftigen klassenlosen kommunistischen Ordnung wird jedoch erst dann möglich, wenn durch die Marxsche „Pädagogik“ (die Theorie des Karl Marx) das Bewußtsein des Proletariats so weit verändert ist, daß die Emanzipation der gesamten Menschheit durch ihren geknechteten und entrechteten Teil, das Proletariat, vollzogen wird. Dann ist „polytechnische Erziehung“ überflüssig, da der Mensch sein „wahres Wesen“ gefunden hat und „Gattungswesen“ geworden ist, eine Individualgestalt, in der die Identität öffentlicher und individueller Existenz erreicht ist. Ungeachtet der pädagogischen Problematik dieses Marxschen Begriffes vom „Gattungswesen“ — der hier nicht nachgegangen werden kann, die aber das Dilemma der Sowjetpädagogik besonders deutlich macht! — fordert die Existenz solcher totalen individuellen Verwirklichung die Auflösung des bestehenden Staates, in dem nach Marx das Allgemeine nur etwas Besonderes ist. Im „Reich der Freiheit“ jedoch, im „wahren Staat“ ist dann das Allgemeine „nicht etwas Besonderes jenseits des individuellen Lebens des Einzelnen“, das sich als Verfassung und als politischer Staat über dem wirklichen Leben der Menschen absondert, sondern dann „muß das Leben eines jeden Einzelnen selbst ein allgemeines sein, das individuelle Leben und das allgemeine mufl ein und dasselbe sein“
Karl Marx hatte das Proletariat darum angewiesen, über die „polytechnische Erziehung“ zum Zustand des „wahren Wesen“ zu finden. Polytechnisierung wurde nur als Zwischenglied und Übergangslösung betrachtet, dazu dienbar, die Erziehung als solche aufzuheben. Aber erst vier Jahrzehnte nach Anbruch des „kurzen Übergangsstadiums zum Kommunismus“ besinnt sich die Sowjetpädagogik (wieder) auf das pädagogische Prinzip des Karl Marx, das nach der Theorie eigentlich schon seit 1917 in der Sowjetunion verwirklicht sein sollte.
In der westlichen Welt, die sich auch ohne Revolution dem Zustand nähert, den Marx als „wahre Demokratie“ für die Zukunft voraussagte, ist das in der Sowjetunion als „Polytechnisierung“ terminierte Erziehungsproblem nicht gelöst. Aber dieses Problem wird eigentlich schon seit Beginn unseres Jahrhunderts im pädagogischen Denken bewegt und in zahlreichen differenzierten Versuchen praktisch aufgegriffen. In den letzten Jahren stürmt das Problem der Education in a Technological Society mit starker Aktualität in den Bereich unserer Erziehungsinstitutionen. Um nur eine der vielen Lösungsversuche als Beispiel anzuführen, sei auf die im schulpolitischen Ausschuß des niedersächsischen Philologenverbandes diskutierten Pläne verwiesen, die zwei „Züge“ mit verschiedenen Abschlußqualifikationen an den Gymnasien einführen wollen, wo neben dem Zug mit dem Ziel der „Hochschulreife“ ein zweiter „Zug mit dem Abschlußzeugnis des Gymnasiums“ eingeführt werden soll, das den erfolgreichen Besuch der Oberprima, der 13. Klasse, bestätigt, den Zugang zur Universität jedoch möglich macht. Die Über-prüfung der Zielsetzungen und Verfahren unserer Erziehungseinrichtungen will durchaus nicht von dem der sozialen Determination enthobenen Menschenbild als letztem Erziehungsziel abweichen, da dieses im Humanum verwurzelte Erziehungsleitbild den Bestand unserer gesellschaftlichen Ordnung zu garantieren imstande ist. Aber an die Pädagogik tritt wie zu allen Zeiten besonders in unserer Gegenwart der unüberhörbare Auftrag, das traditionelle Leitbild mit den sozialen Zeitstrukturen in Verbindung zu setzen. Bei diesem Anpassungsprozeß bleiben noch viele wesentliche Bestandteile des traditionellen humanistischen Bildungsideals zurück, da auch das Ziel der modernen erzieherischen Bemühungen immer noch die Freiheit der Person bleibt. Es sind also auf dem von Karl Marx in seinem Gesamtwerk nur kurz beschriebenen Gebiet der Erziehung einige seiner Grundgedanken und Anregungen in der westlichen Welt bereits verwirklicht worden, wobei auch hier das von Marx vorgestellte telos des pädagogischen Prozesses relevant bleibt.
Dort jedoch, wo im Namen von Marx die „proletarische Revolution" durchgeführt wurde (obwohl sie dort gerade die von Marx vorausgesetzten Bedingungen nicht vorfand!), blieb seinem Prinzip der „polytechnischen Bildung“ die Verwirklichung versagt, obwohl die wertvollen Ansätze der frühsowjetischen Reformpädagogik die Möglichkeit boten, das Ziel der pädagogischen Vorstellungen Marxens zur Leitidee zu nehmen. In dieser ersten Periode der Sowjetpädagogik war das Marxsche System der „Erziehung der Zukunft“ noch relevant und nicht die später dominierende sowjet-russische Provenienz. Aber das Ziel der frühen sowjetischen Reformpädagogik wurde tabuiert. Dafür trat in die Erziehungswirklichkeit der Sowjetunion ein Bildungssystem, das eigentlich der von Marx kritisierten „Klassenerziehung“ dient. Erst nach Stalins Tod geht die sowjetische Erziehungspolitik, unter dem Druck wirtschaftlicher Zwänge, auf die Position von 1917 zurück, obwohl der „Übergang zum Kommunismus“ schon vorbereitet sein soll. Aber die Menschen zur Realisierung des „Überganges“ müssen erst noch geschaffen werden!
Marx dachte auch bei seinem Begriff der „polytechnischen Erziehung“
an Menschenbildung im traditionellen, im humanistischen Sinne. In der modernen sowjetischen Entwicklung wird unter diesem Schlagwort jedoch nur an Ausbildung gedacht. Aber diese Berufserziehung kann niemals die Voraussetzung zu einer „Persönlichkeits-und höheren Menschenbildung“ sein, wie sie der Soziologe H. Schelsky für unsere Erziehungsauffassung pointiert zu formulieren suchte. Dieses an der Sachwelt neu orientierte pädagogische Bemühen unserer Erziehungswelt aus den Prinzipien der Freiheit will die Schule nicht zu einer wesensfremden Institution verändern, sondern in ihr nur die Stätte der Bildung fortentwickeln. Bei einer solchen Einordnung der Triebkräfte unserer Zeit in eine neue pädagogische Gesamtsicht wird der Mensch an den ihm gebührenden Platz oberhalb dieser Welt der Sachen gestellt. In diesem Punkt unterscheiden sich die Bemühungen um „Polytechnisierung“ der Erziehung in West und Ost