1. Kurzer Rückblick auf die Vorkriegssituation
„Es gibt keine begeisterungsfähigere, keine patriotisdtere und keine zu größeren Opfern bereite Jugend als die polnische. Sicher ist das kein besonderes Verdienst, denn die Gesdüdtte — die Geschichte Europas und die Geschichte Polens während der letzten beiden Jahrhunderte hat zu dieser Einstellung geführt. Aber es ist nun einntal so, und die nichtpolnisdten Freunde aus unserer engeren Nadibarsdtaft werden es bestätigen . . — Diese Worte sprach ein Angehöriger des Hauptquartiers der Polnischen Pfadfinderschaft, Zbigniew Zarzycki, am Lager-INHALT:
5. Die Auflösung der ZMP-Staatsjugend 6. Die nichtkommunistischen Jugendverbände 7. Die Einstellung zu den Oder-Neiße-Provinze 8. Kontaktsuche im Westen 9. Die Haltung der Studentenschaft 10. Das Verhältnis zur Emigration 11. Wie sieht man in Polen die westdeutsche Jugend?
12. Das Fühlen der jungen Generation in dichterischer Aussage.
feuer eines internationalen Jambores, das im Juli 193 5 in Spala, der Sommerresidenz des polnischen Staatspräsidenten, durchgeführt worden war 1), Die angesprochenen Freunde aus Kreisen der ukrainischen und der deutschen Minderheit in Polen — sie saßen übrigens in nur geringer Zahl und zum letztenmal vor dem zweiten Weltkrieg gemeinsam mit Pfadfinder-Delegationen aus aller Herren Länder um den von ihren polnischen Gastgebern errichteten flammenden Holzstoß — sie hatten keinen Grund, die Worte des Scout-Führers Zarzycki in Zweifel zu ziehen. Wenn sie ihrerseits Begriffe wie Begeisterungsfähigkeit, Patriotismus und Opferbereitschaft auch für die Gesamtheit der ukrainischen und der deutschen Jugendbewegung in Polen in Anspruch nahmen, so wußten sie doch oder ahnten es zumindest, was in dem — für ein Pfadfinder-Lagerfeuer an sich schon ungewöhnlichen — Bekenntnis des polnischen Sprechers alles mitschwang. Dieses Bekenntnis war in vollem Umfange nur zu ermessen aus der Kenntnis der Geschichte des Landes und aus der Problematik seiner geographischen, politischen und menschlichen Gegebenheiten.
In lern 1949 erschienenen Buche eines nach England emigrierten polnischen Politikers, das der polnischen Jugend gewidmet ist, „die in fremden Uniformen auf den Schlachtfeldern zweier Kriege für Polens Freiheit fiel", wird festgestellt, daß das Denken und Handeln der Besten dieser Jugend „stets unter dem Vorzeidten einer tragischen Verstrickung zwisdten zwei einander entgegengesetzten Welten und unter der Vorahnung kommenden Unheils gestanden“ habe. Das Unvermögen, sich aus dieser Verstrickung zu lösen, sei bestimmend gewesen für viele Maßnahmen und Vorgänge, die „anders gar nicht verstanden werden können“. Wir müssen es uns versagen, hier den exilpolnischen Argumentaiionen im einzelnen zu folgen, fest steht jedenfalls: daß es die Polen tatsächlich auch in Zeiten einer relativen Freiheit und äußeren Machtentfaltung (z. B. in den zwanziger und dreißiger Jahren) niemals vermocht haben, Ihr Tun und Handeln von dem — sei es berechtigten, sei es unberechtigten — Gefühl einer Bedrohung von zwei Seiten zu lösen. Die von ihnen ab schicksalhaft empfundene Rolle eines „Prellbocks zwischen Ost und West", das Hin-und Hergerissensein zwischen dem Bev/ußtsein einer zeitweisen politischen Vereinsamung ohnegleichen u 1d de; tief im polnischen Nationalcharakter verankerten Wundergläubigkeit und Überschätzung der eigenen Kraft — all das bestimmte und bestimmt noch heute entscheidend auch das Empfinden und den Weg der jungen polnischen Generation und ihrer Organisationen.
2. Der Zweite Weltkrieg und der Warschauer Aufstand
Wenn es eines Beweises für die Gültigkeit jenes Spalaer Wortes von der unüberbietbaren Opferbereitschaft and dem Patriotismus der polnischen Jugend bedurfte, so hat ihn in eindringlicher Weise die Zeit des zweiten Weltkriege, erbracht. Allerdings offenbarten die Jahre von 1939 bis 1945 auch eine Vielzahl von Trugschlüssen, Fehlentscheidungen und Fällen überheblicher Selbsteinschätzung. Es ist in den Nachkriegsjahren oft die rag: gestellt worden, wie es zu dem Warschauer Aufstand im Herbst 1944 kommen konnte — jenem Musterexemplar vernunftwidriger Widerstand-Aktionen und sinnlosen Aufopferns hunderttausender von Menschen. Adam Borkiewicz, der in Polen lebende Autor einer der gründlichsten und umfass., dsten Darstellungen dieses Aufstandes läßt keinen Zweifel daren, daß es nicht etwa die von Moskau vielpropagierte „Ruhmessucht und Maditbesessenheit einer kleinen nationalen Offiziers
Clique“ war, die angesichts des nahenden Zusammenbruchs der deutschen Fronten diese Aktion auslöste und damit die Katastrophe der polnischen Hauptstadt herbeiführte, sondern „die hemmungslose, spontane Einsatzbereitschaft weiter Bevölkerungskreise, darunter vor allem die Jugend, die einmal mehr in der Geschidrte Polenalle Vorstellungen von der eigenen Position und der Position der Gegner über Bord geworfen hatten“ 2).
So verbluteten kurz vor Kriegsende beste, junge Kräfte der Nation, wie sie heute an allen Edeen und Enden fehlen; und der Warschauer Aufstand in all seinen schrecklichen Begleiterscheinungen bietet ehrlichen polnischen Publizisten nur gerade noch die Möglichkeit, den Krieg in seinen schwärzesten, trostlosesten Phasen darzustellen 3).
3. Die Nachkriegsentwicklung bis 1956
Es ist ein sehr schwacher Trost, dem polnische Fmigranten-Blätter in der ersten Nachkriegszeit Ausdruck gaben, wenn sie feststellten, daß „wertvollste und sclwpferische Kräfte des polnisclren Volkes, darunter auch viele Angehörige der ehern. Anders-Armee wenigstens im west-lichen Exil befriedigende Betätigungsmöglichkeiten gefunden" hätten
Als die zunächst in Lublin zusammengerufenen Mitglieder der neuen polnischen Regierung — darunter hauptsächlich Ost-Emigranten mit Boleslaw Bierut an der Spitze — später in Warschau die Richtlinien für die Erziehung und die Organisationsformen der polnischen Jugend absteckten, erwies es sich bald, daß von einem Anknüpfen an traditionelle, freiheitliche Schulungs-und Erziehungsformen für die junge Generation nicht mehr die Rede sein sollte und konnte. Lind noch bevor die letzten Demokraten aus der Warschauer Regierung austraten und entweder nach dem Westen emigrierten oder in der Versenkung verschwanden, standen die sowjetischen Erziehungstheorien und der Einheitsverband nach dem Muster der „Komsomol“ -Jugend als unverrückbare Ideale der kommunistischen Staatsführung fest.
In der Struktur des kommunistischen Herrschafts-Systems kommt logischerweise der Ausrichtung und Schulung der Jugend eine besondere Bedeutung zu. Zunächst gilt es, die heranwachsende Generation überhaupt für die Ziele des Regimes zu gewinnen, sodann muß sie natürlich die Staats-und Parteifunktionäre von morgen stellen. Dies erst recht in einem Lande, dessen Abneigung und Mißtrauen gegenüber dem östlichen Nadibarn geradezu von Generation zu Generation vererbt ist und dessen bürgerliche Kreise aus ihrer politischen Einstellung und ihrem Bekenntnis zum Westen gar kein Hehl machen.
Die Gründung des polnischen ZMP-Staatsjugend-Verbandes war also von vornherein nur eine Frage der Zeit
Unter Hinzuziehung sowjetischer Berater ebenso wie einer großen Zahl von Instrukteuren aus den Reihen der KP entstand schon innerhalb weniger Jahre „die größte polnische Jugend-Organisation aller Zeiten mit mehr als 2 Millionen Mitgliedern auf dem Papier. Und angelehnt an die Tätigkeit der „Arbeiterpartei“ entsprach der ZMP auch in seinem äußeren Auftreten bald völlig dem Bilde der sowjetischen Staatsjugend. Seine rein politische Zweckbestimmung prägte sich in der gesamten — sehr schematischen — Arbeit aus, wobei auf die Durchführung und Ausgestaltung von Kundgebungen und Demonstrationen aller Art in der Öffentlichkeit größter Wert gelegt wurde.
4. Vom Posener Aufstand bis zum „Polnischen Oktober"
Ungeachtet seiner äußeren Machtentfaltung, die bis in die Klassenzimmer, die Betriebe und Ferienheime reichte, konnte der polnische Staatsjagendverband jedoch nicht verhindern, daß sich hinter den farbenprächtigen Fassaden und geräuschvollen Aufmärschen in zunehmendem Maße Unruhe verbreitete. Nach der Zertrümmerung des Stalin-Mythos und der Auflockerung des ideologischen Parteigefüges griff diese Unruhe immer spürbarer auf weite Mitläufer-Kreise und endlich sogar auf die kleine Kerngruppe überzeugter junger Kommunisten über, die bis dahin ohne die Notwendigkeit selbständigen Denkens im Nachkriegspolen groß geworden waren und die sich plötzlich zum Umlernen, zum Nachdenken gezwungen sahen.
Zum Schrittmacher einer sich schon im Sommer 195 5 abzeichnenden revolutionären Entwicklung wurde vor allem die Warschauer Studentenzeitschrift „Po prostu“
Trotz einer relativ hohen Auflage von 150 000 Exemplaren war „Po prostu“ stets im Handumdrehen vergriffen; kein anderes Blatt konnte sich rühmen, so oft in der Tagespresse und von Radio Warschau zitiert zu werden.
Im gleichen Maße jedoch, in dem die Beliebtheit von „Po prostu“ bei weiten Kreisen der Bevölkerung und innerhalb der studierenden Jugend zunahm, verstärkte sich das Mißtrauen leitender Parteikreise gegenüber den liberalen Tendenzen des Blattes. Mehrfach wurde die Redaktion ermahnt, „konstruktivere Kritik“ zu üben; ohne Erfolg. Typisch für die klarsichtige Haltung der Zeitschrift zu Fragen der „sozialistischen Gesellschaft ist ein am 11. Dezember 195 5 von „Po prostu“ veröffentlichter Aufsatz, der KP-Beschwerden zur „überhandnehmenden Gleidrgültigkeit und Heuchelei der Jugend" zum Thema hatte. Es hieß darin unter anderem: „Gewiß hat sid'i die Jugend angewöhnt, schematischen Fragen mit schematisch ridttigen Antworten zu begegnen, schon um zu beweisen, daß sie die Spielregeln kennt . . . Wenn Erwachsene sdtroff Erklärungen fordern, darf man sich nicht wundern, daß die Jugend leicht ungeduldig wird. Auf. verfänglidre und spitzfindige Fragen aber wird sie lakonische Antworten finden, die bei aller Korrektheit wahrscheinlich der eigentlichen Fragestellung ausweidten. Man soll sidt darüber nicht wundern . . . Die Jugend hat gelernt, wie man Mensdren gegenüber Dritten anschwärzt . . . Unser mangelhaftes Erziehungssystem hatte eine tiefgreifende moralische Ersdtütterung zur zwangsläufigen Folge. Es ist hauptsdiuldig daran, wenn innerhalb der jungen Generation neue, instinktive und bewußte Formen des Widerstandes erwuchsen, die alle möglichen Schattierungen zwisdien Passivität und Halbstarkentum aufweisen. Als das alte moralische System zusammenbradn, verlor audr die ältere Generation ihre moralische und intellektuelle Autorität ..." Die parteiamtlichen Entgegnungen auf solche und ähnliche Stellungnahmen druckte „Po prostu" zwar im Wortlaut ab, nicht ohne jedoch auf der anderen Seite die Diskussionen rund um alle möglichen Mißstände fertzuführen. „Po prostu“ scheute sich auch nicht, den Forderungen nach weitgehenden Reformen innerhalb des ZMP-Verbandes und erstmalio auch im Frühjahr 1956 dem Verlangen nach einer neuen Jugendorganisation Raum zu geben: „Die Auswirkungen der ZMP-Tätigkeit . . . fördern die Intelhg - und das gegenwärtige Unterriditsprogramm nicht etwa, sondern Se hemmen nur und isolieren die Jugend vom praktischen Leben . . Der ZMP ist eine lose zusammengewürfelte Gesellschaft, die Menschen der Form nach, nicht jedoch ideologisch bindet. Sehr viele gehören dem ZMP nur aus einem einzigen Grunde an: sie redtnen auf gute Stellungen und andere persönliche Vorteile . . . Auf diese Weise aber verdirbt der ZMP die Charaktere und wacht aus den Studenten Konjunkturritter und Speidiellecker. Zur Zeit befindet sich der ZMP in völligem Stillstand. Die Möglichkeiten, die sich zur Überwindung des toten Punktes anbieten, werden bereits vielfach erörtert, so z. B. die Bildung eines National-Verbandes der jungen Intelligenzler, d. h. einer neuen revolutionären nur nidu Studenten audr Aka Organisation, die umfassen soll, sondern auch Akademiker, die der Universität bereits den Rücken gekehrt haben. Unserer Meinung nach wäre es am sinnvollsten und praktischsten, die jeder Sdrule angegliederte ZMP-Organisation in einen autonomen Studenten-verband umzugestalten . .
Doch noch war der Zeitpunkt für die Verwirklichung einer solchen Anregung nicht gekommen; noch widersetzte sich das Regime entschieden jeder Lockerung der Monopolstellung des Staats-Verbandes, und die Journalisten Felicja Rapaport, die einst selbst dem Zentralausschuß des ZMP angehörte, warnte in der „Trybuna ludu" wiederholt vor dem „ständigen Schwanken der Jugend zwisdien unvernünftigen, extremen Anschauungen“. Die Bestrebungen zur Bildung verschiedenartiger neuer Jugendorganisationen wurden als „reiner Unfug“ bezeichnet. Und noch im Mai umriß Parteisekretär Szydlak auf einer Plenarsitzung der War-schauer Parteiorganisation den kommunistischen Standpunkt zur Jugend-frage dahingehend, aaß sich „Volkspolen ein Eingehen auf die rückschrittlichen Sonderbestrebungen bestimmter kleiner Kreise gar nicht leisten“ könne.
5. Die Auflösung der ZMP-Staatsjugend
Schon wenige Wochen später aber zertrümmerte der Aufstand von Posen endgültig die große Einheits-Schaubude, die man mühsam genug vor der polnischen Jugend errichtet hatte. Die bitterste Selbstkritik erhob sich in den Reihen der führenden ZMP-Funktionäre, und auf der Sitzung des III. ZMP-Plenums faßte Helena Jaworska, Vorsitzende des Einheitsverbandes, die von verschiedenster Seite erhobenen Vorwürfe wie folgt zusammen:
„Gleich einer Nebelwand haben wir immer ein Schlagwort benutzt:
, Die Jugend ist unser“ . . . Jetzt wendet sich dieses Wort gegen uns, indem die vielen bedenklidien Ersdreinungen offenbar werden, die sich innerhalb unserer Jugend zeigen. . . Wir sehen mit großer Sorge, wie weite Kreise der jungen Generation unter dem Einfluß einer fremden Ideologie verharren. Das Halbstarkentum und die Jugend-Kriminalität, die Nichtachtung der einfadtsten Gesetze des gesellsdiaftlichen Lebens, Trunksucht und Unmoral breiten sich aus. . . Weiterhin beunruhigen uns die häufigen Anzeidren von Passivität. . . Auch die Neigung einzelner Kreise jugendlidier Intellektueller, sich vom Rest der Jugend abzusondern und beiseite zu stehen, . . . das Gift des Nationalismus, nidtt zuletzt auch antisemitische und antisowjetisdie Gefühle mad^en sich breit. . 9).
Doch das Rad des politischen Geschehens rollte über diese beschwörende Anklage ebenso wie über alle daraus erhobenen Forderungen zum „verstärkten Einsatz“ und zur „Sammlung der aufrechten, aufbau-willigen Kräfte“ im Rahmen der ZMP-Organisation. Der hervorragende Anteil an der Posener Volkserhebung war niemandem verborgen geblieben. Die Oktober-Ereignisse und der Machtantritt Gomulkas taten ein übriges, den ZMP-Einheitsverband hinwegzufegen, als sei er niemals die allmächtige und autorisierte Staats-Organisation der polnischen Jugend gewesen. In seiner Ausgabe vom 10. Dezember 1956 blieb dem ZMP-Organ — „Sztandar Mlodych“ — nicht anderes übrig, als festzustellen, daß es eine Einheits-Organisation der polnischen Jugend faktisch nicht mehr gebe 8 ). Einen Monat später beschloß der ZMP-Zentral-Ausschuß seine Selbstauslösung. Den Mitgliedern wurde empfohlen, entweder dem Verband der Sozialistischen Jugend oder dem Verband der Landjugend beizutreten.
6. Die nichtkommunistischen Jugendverbände
Kennzeichnend für die Überreife dieses Prozesses war die Tatsache, daß sich bereits im Herbst 1956 in verschiedenen Teilen des Landes neue Jugendorganisationen konstituiert hatten: außer dem genannten Verband der Landjugend (ZMW) ein Revolutionärer Jugendverband (RZM), ein Arbeiter-Jugendverband (ZMR), ein Verband Junger Demokraten (ZMD) und die Polnische Pfadfinderschaft (ZHP).
Den Jungen Demokraten war allerdings keine lange Lebensdauer beschieden; ihre Organisation, die auf dem Programm der ursprünglich bürgerlich-liberalen Partei und jetzigen „Demokratischen Partei“ fußte, wurde nach kaum einjährigem Bestehen aufgelöst. Der Arbeiter-Jugendverband und der Revolutionäre Jugendverband schlossen sich im Januar 1957 zu einem Verband der Sozialistischen Jugend (ZMS) zusammen.
Während die letztere Organisation nolens volens — hauptsächlich im Verlaufe des Jahres 19 58 — auf die nationalkommunistische Linie Gomulkas eingeschwenkt ist und trotz noch immer vorhandener interner Widerstände der „Vereinigten Arbeiterpartei“ nahesteht, haben die beiden anderen großen Jugend-Verbände, d. h. die Landjugend und die Pfadfinderschaft, eine betont eigene Zielrichtung. Das bedeutet zwar keine offizielle und zugegebene Gegnerschaft zur KP oder zum ZMS, jedoch sind beide Organisationen bestrebt, an die traditionelle Vor-kriegs-Entwicklung anzuknüpfen, eigene Organisationsformen beizubehalten und ihre besonderen Ziele zu verfolgen. Der Landjugend-Verband tritt dementsprechend — ähnlich wie vor dem Kriege Wici-Bauernjugend — in erster Linie für kulturelle und agrartechnische Fortbildung sowie für die Pflege polnischer Volkstums-Traditionen ein 11). Die Pfadfinderschaft ist bemüht, die bekannten Scouting-Gesetze — allerdings auf betont nationaler Grundlage — wieder zu beleben und den Kontakt zu den internationalen Pfadfinderverbänden aufrecht zu erhalten 12).
7. Die Einstellung zu den Oder-Neiße-Provinzen
Es verdient hervorgehoben zu werden, daß sich allerdings auf einem Gebiete alle drei Organisationen mehr oder weniger einig sind: auf dem Gebiete der vielfältigen Bemühungen um eine kulturelle und wirtschaftliche „Durchdringung" der Oder-Neiße-Provinzen und der möglichst lückenlosen, schnellen Zusammenführung der ehemaligen ostdeutschen Provinzen mit Zentralpolen zu einem einheitlichen Ganzen. Diesem Ziele dienen Fahrten, Schulungslager und Jugend-Tagungen in den polnisch verwalteten Wojewodschaften ebenso wie „missionarische Sonder-Aktionen“ größerer Gruppen, die hauptsächlich in abgelegenen Landstrichen durchgeführt werden 13). Hier stehen dann Ernte-Einsätze und sonstige praktische Hilfsmaßnahmen für die Bevölkerung auf dem Programm. Die „Erkundung der Landschaft", Kundgebungen und sonstige Propaganda-Aktionen werden dabei nicht vernachlässigt.
Sehr stark eingespannt sind auch die nicht-kommunistischen polnischen Jugendverbände in die Vorbereitung zum sog. „Millenium“, d. h. zu den Tausendjahrfeiern des polnischen Staates 14).
Bezeichnend für die bewußt nationale Haltung sowohl der Landjugend-Organisation als auch der Pfadfinderschaft ist die Tatsache, daß man sich in ihren Führungskreisen — denen bewiesenermaßen weit mehr an Kontakten mit Jugendverbänden der freien Welt, als an gemeinsamen Aktionen mit Staatsjugend-Gruppen liegt — nicht scheut, in Fragen der Oder-Neiße-Gebiete eng mit der FDJ-Führung der deutschen Sowjetzone zusammenzuarbeiten. So wurden z. B. mehrfach mit Dele-gationen des Ostberliner FDJ-Zentralrats — auf dessen Betreiben hin noch im Dezember 19 56 heftige Presse-Polemiken in SED-Blättern gegen die Vorgänge innerhalb der polnischen Jugend geführt worden waren 15) — gemeinsame Resolutionen zum Thema „Deutsch-polnische Friedensgrenze“ ausgearbeitet. In einer am 16. Juli 1957 in Warschau von Vertretern beider Seiten unterzeichneten gemeinsamen Erklärung heißt es in diesem Zusammenhang u. a.:
„Die Jugend der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen ist eng verbunden durch ihre Entschlossenheit, die gemeinsame Friedensgrenze an der Oder und Neiße vor allen Anschlägen der westdeutsd'ien Revanchisten zu schützen. . . Die weitere Entwiddung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der deutschen und der polnisdien Jugend wird zweifellos zur besseren Verwirklidmng der gemeinsamen Bestrebungen und Ziele beitragen.“ 16).
8. Kontaktsuche im Westen
Vorerst ist allerdings von einer Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen zumindest zwischen den Jugendorganisationen Polens und der deutschen Sowjetzone noch wenig zu spüren. Und das kann bei Lage der Dinge auch nicht viel anders sein. Denn abgesehen von gemeinsamen Erklärungen zur Oder-Neiße-Grenze war in den letzten beiden Jahren auf polnischer Seite nicht mehr das geringste Bedürfnis zu verspüren, Kontakte zu einem Staatsjugend-Verband zu suchen, der zwar das Wort „Frei“ in seinem Schilde führt, dessen Anlehnung an das Vorbild der sowjetischen Komsomol-und Pionier-Organisation jedoch eine viel strengere ist, als man sie selbst während der Hochkonjunktur der stalinistischen Ära in „Volkspolen“ gekannt hat.
Dagegen wird besonders in Kreisen der Polnischen Pfadfinderschaft und der Studenten ein verstärktes Bemühen spürbar, an Diskussionen mit westlichen Gesprächspartnern anzuknüpfen, die nach dem „Polnischen Oktober“ in brieflicher und mündlicher Form lebhaft in Gang gekommen waren. Die seit Ende 19 57 wieder verschärften polnischen Reise-Betimmungen haben zwar die Durchführung zahlreicher, bereits ins Auge gefaßter Tagungen und Besuche verhindert, ungeachtet dessen kam eine Anzahl von Kontakten über die Grenzen hinweg in Gang, deren Initiatoren fast durchweg jenseits der Oder-Neiße beheimatet sind.
Nicht zuletzt findet diese Kontaktsuche ihren Ausdruck in mehreren Umfragen, die von der Jugendzeitung „Sztandar Modych“ sowohl 1957 als auch 195 8 durchgeführt worden sind.
„Für ein gutes Verhältnis und freundschaftliche Beziehungen zu allen Ländern“ sprachen sich 95 v. H.der befragten Jugendlichen — und zwar Schüler und Studenten ebenso wie Soldaten und Handwerker — aus. Auf die Frage „Was ist dein schönster Traum?“ antworteten 80 v. H., daß sie „endlich reisen, etwas von der Welt sehen und mit anderen Mensdten spredten“ möchten und ähnliches.
Doch auch in anderer Beziehung ergaben die Rundfragen aufschlußreiche Ergebnisse. 72 v. H.der Befragten drückten die Auffassung aus, sie würden, wenn es ihnen freistünde, ihre Lebenszeit noch einmal zu wählen, auf das Dasein in der Gegenwart gern verzichten. Diese ablehnende Einstellung zur Wirklichkeit verbindet sich — wie es in den Antworten heißt — mit „großen Enttäuschungen“ hauptsächlich ideologischer und politischer, dann erst menschlicher Art. Zu einer „Idee, an die man mit ganzer Überzeugungskraft glauben“ könne, bekannte sich nur jeder zweite Pole. Und von den Gläubigen wiederum war es nur jeder zehnte, der seinen Glauben mit Kommunismus und Sozialismus volksdemokratischer Prägung identifizierte. Dabei nahm die sozialistisch-kommunistische Überzeugung umso mehr ab, je jünger die Befragten waren. Mit 26 v. H. waren unter den Gläubigen jene in der Mehrheit, die sich zur Religion und zu religiösen Vorstellungen bekannten.
Auf die Frage, ob die Politik sie interessiere, fanden fast alle Befragten ein klares Ja; aber auf der anderen Seite wollen sie sich in übergroßer Mehrheit auf das „politische Beobachten“ beschränken und nicht etwa aktiv in die Politik einschalten. Denner 'sprechend liegen auch die Interessen der polnischen Jugend — „Sztandar Modych“ zufolge — in recht weitem Abstand von allem, was nach Politik riecht. Unterhaltende Bücher, Sport, Kino, Jazz-und Tanzmusik sind — zumindest als Wunschbilder — ihre eigentlichen Steckenpferde.
9. Die Haltung der Studentenschaft
Über die Haltung der polnischen Studenten informiert uns eine nicht weniger aufschlußreiche Repräsentativ-Befragung, die in der Zeit zwischen Oktober 19 57 und Juli 19 58 seitens der Soziologischen Abteilung der Warschauer Universität durchgeführt wurde 17).
Die erste Frage betraf die religiöse Einstellung. Rund zwei Drittel der befragten Studenten aller Fakultäten gaben die Zugehörigkeit zu einer Konfession an; beinahe die Hälfte jedoch vertritt zwar religiöse Überzeugungen, hält sich aber gleichzeitig von kirchlichen Gemeinschaften fern und betrachtet Religion als „Privatsache“. Noch deutlicher wird der ausgesprochen individualistische Zug in den Antworten auf die Frage, was man als höchste moralische Autorität anerkenne. Die meisten Studierenden nannten „das eigene Gewissen“; nahestehende Menschen, Familienangehörige und Freunde spielten in den Antworten hier und da auch noch eine Rolle; jedoch nur ganz selten eine politische Persönlichkeit. Im wirtschaftlichen Bereich sprachen sich 95 v. H. für die volle oder zumindest teilweise Zulassung der privaten Initiative im Handwerk und Gewerbe, 63 v. H. für die ungehinderte Entwicklung der privaten Klein-Industrie aus. Bezüglich der mittleren und der Groß-Industrie kehrte sich das Verhältnis der positiven und negativen Antworten ziemlich genau um.
Interessant ist endlich auch das Urteil über die Auswirkungen des Oktober-Umsturzes: 8 8 v. H. glauben, daß sich dadurch die internationale Geltung Polens verbessert habe; aber nur knapp die Hälfte der Befragten kann eine Verbesserung des Lebensstandards feststellen.
Das katholische Wochenblatt „Tygodnik Powszechny“ faßt das Ergebnis der Meinungs-Umfrage in dem Satz zusammen: „Es erweits sich, daß Polens Studenten . . . weder zynisch noch nihilistisdt sind, denn sie haben ihre Ideale und ihre Ansiditen, sie träumen von der Notwendigkeit einer sozialen Betätigung, glauben nur nidu an die Möglidtkeit, ihre Ideale in der heutigen Situation verwirklichen zu können.“
10. Das Verhältnis zur Emigration
Das Mühen der polnischen Jugend um Kontakte zur freien Welt wird in keinem anderen Bereich so deutlich, als im Verhältnis zur Emigration. Es gibt heute keinen anderen Staat im sowjetischen Machtbereich, in dem die Probleme der Emigration im allgemeinen und die Beziehungen zu den Auswanderern so lebhaft diskutiert würden wie im Lande Gomulkas. Nicht als ob dieser Fragenkomplex in „Volkspolen“ jeden bitteren Beigeschmacks entbehrte; eher das Gegenteil ist der Fall; denn kaum eine andere osteuropäische Nation weiß so viele Glieder ihres Volkes im Ausland wie die polnische. Und die Hoffnungen des Regimes auf eine Rückkehr größerer Emigranten-Gruppen haben sich weder in den ersten Nachkriegsjahren noch im Zeichen der polnischen Tauwetterperiode erfüllt. Ungeachtet dessen ist das Verhältnis gerade zwischen der polnischen Jugend und ihren Organisationen im Mutterland und dem Polentum im Ausland ein viel engeres und besseres, als man es in Westeuropa weiß und annimmt.
Wenn man heute eine in Warschau oder in Krakau erscheinende Jugendzeitschrift aufschlägt, kann man gewiß sein, an irgendeiner Stelle wenigstens ein paar Zeilen über Ereignisse im Leben des Polentums im Auslahd informiert zu werden. Sei es, daß man auf eine ständige Rubrik unter einer bestimmten Schlagzeile stößt, sei es, daß die „Gesellschaft für Kontakte mit der Emigration“ 18) einen neuen Veranstaltungs-Kalender bekanntgibt, sei es, daß über Inserate Verbindungen aller Art gesucht und angeknüpft werden. Dabei stehen wirtschaftliche und Geschäfts-Interessen keineswegs im Vordergrund.
Daß der Strom der geistigen Anregungen und der kulturellen Betreuung nicht mehr so eindeutig in zwei Richtungen verläuft wie vor dem Kriege (von Westen nach Osten und umgekehrt) und auf einen wirklich lebendigen „Austausch“ abzielen kann, wird bei Lage der Dinge niemanden verwundern. Gewiß, die Pariser Exilzeitschrift „Kultura“ hat ihre interessiertesten Leser nicht etwa in Frankreich und England, sondern an den Universitäten von Posen und Lodz, von Posen und Breslau; und Marek Hlaskos in Paris erschienenen Novellen-Sammlung wandert gerade dort, wo diese Geschichten spielen — nämlich in der polnischen Hauptstadt — von Hand zu Hand
Als gute Illustration des Verhältnisses zwischen polnischer Emigration und ihrem volksdemokratisierten Mutterland kann endlich auch die steigende Zahl von Touristen aus westlichen Ländern angeführt werden, die „Volkspolen“ seit dem Sommer 1956 aufsuchten. Unter diesen Touristen waren jeweils 80 v. H. Emigranten, darunter besonders viele Jugendliche und Angehörige der Anders-Armee
11. Wie sieht man in Polen die westdeutsche Jugend?
Umgekehrt sind die Ausreise-Möglichkeiten aus Polen nach Ländern der westlichen Welt noch immer sehr begrenzt. Die seitens des Warschauer Regimes immer wieder angeführte „schwierige Devisenlage Volkspolens“ spielt dabei zweifellos eine weit geringere Rolle als die Befürchtungen, daß besonders jugendliche Westreisende eventuell die Rückkehr „vergessen“ und auf solche Art die ohnehin oft genug bewiesene Anziehungskraft der freien Welt neu demonstrieren, könnten.
Nicht gering war das Echo, das die Berichte polnischer Journalisten und Studenten über ihre Reise-Erlebnisse und -Erfahrungen in der Bundesrepublik auslösten. Die meisten dieser uns vorliegenden polnischen Presseberichte datieren aus dem Jahr 1957, jenem Zeitabschnitt also, in dem noch verhältnismäßig großzügig bei der Ausgabe von Auslandspässen verfahren wurde. Seiner Anschaulichkeit wegen sei hier nur einer dieser Berichte zitiert. Er stammt aus der Feder des Schriftstellers Leopold Tyrmand, der im eigenen Kraftwagen kreuz und quer durch Westdeutschland reiste und seine Eindrücke von den Menschen, die ihm begegneten, wie folgt umriß
„Das grollpreußische Deutschland ist im Versdiwinden. . . Das gilt für die Landschaft, die Städte und ebenso für die Menschen. . . Ich meine, daß man als ein Kriterium für die weltanschauliche, ideenmäßige und politische Orientierung die Altersgrenze ansehen kann. Die Jun-gen in Deutschland sagen: Keinerlei Krieg mehr! Davon hatten wir genug.
Es hat sich gezeigt, daß wir arbeiten können, das reicht uns. Die ältere Generation ist geteilt; ein großer Teil denkt ebenso, die übrigen jedodt, die anders denken, schweigen zumeist. Idi sah geradezu eine geistige Demarkationslinie, die etwa entlang des 40. Lebensjahres verläuft.
Alles, was unter 40 ist, bietet ein überraschendes Bild. . . Wenn man einst die Straßen deutsdter Städte entlangging, konnte man sich leicht jeden vorübergehenden Deutsdien in einer Uniform vorstellen.
Heute passen die Mensdien irgendwie in keine Uniform mehr.“
Der polnische Schriftsteller fand besonders schnellen Kontakt zu den jugendlichen Besuchern eines Existentialisten-Lokals. Er schildert sie folgendermaßen: „Sie sind geprägt durch gesunde Skepsis und Intelligenz. . . Sie lieben die französische Tradition, den italienischen gesellschaftlichen Schwung, die idealisierte Freiheit, sie lieben Wolfgang Koeppen und Czeslaw Milosz. Auf einen neugierigen Polen, der von ihnen wissen will, ob sie nidit Lust zu einem neuen kleinen Revandtekrieg, zu einem Marsch auf Stettin hätten, blidzen sie wie auf einen Irren. . .“ Wenig später sprach Tyrmand mit einem 17jährigen Jungen vom Esso-Kundendienst, der an der Tankstelle seinen Wagen säuberte: „Der Junge fragte midi nadi Gomulka, und er fragte so, daß ich staunte. Man spürte sofort, daß er außer dem Auto-Waschen auch noch anderes tat, daß er Zeitungen liest, und zwar nicht nur den lokalen Teil und Kino-Anzeigen. Demselben Typ begegnete ich auch in den Jazz-Kellern: jungen Arbeitern, Technikern, Handwerkern, Studenten. Es verbindet sie das gemeinsame Verständnis für den Blues, der Schnitt des Kragens und der Skeptizismus gegenüber dem , Ruhm der Vergangenheit'. Man kann mit ihnen über alles mögliche reden, z. B. über das wiedervereinigte Europa, über soziale Reformen, über die Amerikaner, aber auch über die Freundschaft mit Polen. . .“ Der Besucher aus Warschau faßt seine Eindrücke wie folgt zusammen: „Es bietet sich heute eine große Chance, die jahrhundertelange Periode der Feindschaft und des Mißverstehens zwischen unseren Völkern zu beenden. Ich sehe diese Chance . . . nicht zuletzt im wachsenden Verantwortungsgefühl der Jugend sowie in ihrer bewußten Abwendung von den politischen Traditionen des Deutschlands von gestern. . . Die Einsicht und Forderung, daß es auf etwas grundlegend Anderes und Neues a tkommt, gibt natürlich noch kein Rezept dafür, wie man es besser machen muß. Über dieses , Wie‘? werden Historiker und Staatsmänner, Gesetzgeber und Volkswirtschaftler entscheiden. Ich bin lediglich der Sprecher jener Konzeption, daß man etwas ändern und umpflügen muß, und daß auch aus den beiderseitigen Erfahrungen etwas Neues reifen kann und soll. Ich weiß, daß wie ich selbst viele Menschen in Polen denken.“
12. Das Fühlen der jungen Generation in dichterischer Aussage
Ähnlichen Auffasungen gaben auch andere polnische Schriftsteller und Journalisten Ausdruck, so z. B.der katholische Publizist Stanislaw Stamma, der insbesondere für eine „Neuorientierung gegenüber der jungen Generation in Deutschland“ eintritt. Er sieht eine große Aufgabe für die verantwortlichen politischen Kreise auf beiden Seiten in der Ausarbeitung einer „Ideologie, die geeignet sein könnte den historischen Anachronismus einer praktisch nicht mehr vorhandenen und begründeten Gegnerschaft zu beenden“
Indessen sind die 19 57 sehr lebhaft geführten Diskussionen rund um das deutsch-polnische Verhältnis in der polnischen Presse auf Anweisung der staatlichen Zensurstellen wieder stark eingeschränkt worden. Das gleiche gilt für die schriftstellerische Aussagefreiheit ganz allgemein. Typisch für eine ganze Reihe von ähnlichen Fällen ist das Schicksal des jungen Dichters Marek Hlasko.
Noch im März 1958 veröffentlichte die im Warschauer „Polonia" -Staatsverlag in 5 Sprachen erscheinende und vor allem für das Ausland bestimmte repräsentative Zeitschrift „Polen“ eine großaufgemachte Erzählung, die kurz zuvor mit einigen anderen Novellen des gleichen Verfassers durch Zuerkennung des 1. Polnischen Verlegerpreises ausgezeichnet worden war
So unvermittelt und aus heiterem Himmel jedoch, wie die Absetzung dieser Film-Uraufführung und die Ächtung Marek Hlaskos für fernstehende Beobachter auch gekommen sein mochte — im Grunde genommen kennzeichnete sie nur den Markstein einer auf vielen Gebieten spürbar werdenden Entwicklung. Die straffere Zügelführung des Regimes kündigte sich sehr rasch auch in Reisebeschränkungen für Künstler und Intellektuelle nach dem Westen und deutlicher noch im Verbot einer Zeitschrift an, die unter dem Titel „Europa“ in der polnischen Hauptstadt herausgegeben und hauptsächlich von studentischen Kräften getragen werden sollte
Marek Hlasko, der 25jährige dichtende Automechaniker, der innerhalb kürzester Zeit zu einem der beliebtesten Autoren der jungen Generation avanciert war und den selbst Parteiblätter als „das große Talent unter dem polnischen Schriftsteller-Nachwuchs" bezeichnet hatten, er wurde zum Exponenten „hintergründigen“, ja „staatsgefährdenden“
Schaffens. Kommunistische Kritiker stellten auf einmal fest, daß er „Nihilismus“ predigte, daß seine Thematik dem Aufbau des Sozialismus schade und daß er „eine unwirkliche Traumwelt" realisiere. Sie spürten nicht oder wollten nicht mehr spüren, daß Hlaskos „Helden“
zu tausenden und hunderttausenden im ganzen Lande leben, daß gerade die rücksichtslose Offenheit und Ehrlichkeit, mit der dieser Dichter den ihn umgebenden Alltag in den Mittelpunkt seines Schaffens stellt, das Echo hervorrief, wie es bisher nur wenige andere der jungen polnischen Schriftsteller-Generation aufzuweisen haben.
Folgen wir Hlasko nur einmal kurz in seinen Beobachtungen. Er schildert in der Titelnovelle jenes ersten Bandes, für den ihm der polnische Verlegerpreis zuerkannt wurde, plastisch das Leben und 1 reiben seiner Nachbarn in einer Warschauer Vorstadt; er erzählte u. a.:
„Am Samstag verliert die Stadt ihr emsiges Antlitz. In der Stadtmitte gibt es kaum Menschen, die noch gerne das Leben beobachten: die in Haustüren stehen, durdi die Straßen schlendern, stundenlang auf einer Bank im Park sitzen, und dies nur, um vielleicht zwanzig Jahre später einmal zu erinnern, daß sie an einem ganz bestimmten Tage einen mehr oder weniger seltsamen Zufall des Lebens beobachten konnten. Diese Beobachter aber findet man noch am Stadtrand; in der Vorstadt tragen die Menschen jeden Samstag, sofern nur gutes Weter sie begünstigt, ihre Stühle vors Haus, setzen sich rittlings darauf und beobachten das Leben. Die Beharrlichkeit dieser Beobachter trägt manchmal geradezu die Zeichen einer genialen Tollheit; manchmal sitzen sie so ihr ganzes Leben da und sehen möglidterweise nichts als das Gesidit des Beobadtters von gegenüber. Und dann sterben sie, den tiefen Vorwurf gegen die Welt im Herzen, überzeugt davon, sie sei grau und langweilig. Denn selten nur kommt es ihnen in den Sinn, daß sie ja auch einmal aufstehen und in die Nadibarstraße gehen könnten. Auf ihre alten Tage erst werden diese Beobadtter des Lebens unruhig, sie laufen hin und her, schauen auf die Uhr — wollen die Zeit erhalten. Sie beginnen nach zudenken und zu schwatzen: ihre Gefühle sind vielfach wild und dann auch wieder stumpf. Auf dem Sterbebett wollen noch mache es uns sogar einreden, sie hätten das Leben ausgekostet ..."
Eine kleine Episode nur, doch typisch für Hlaskos Art, seine Umgebung zu schildern. Es ist verständlich, daß derartige Skizzen schlecht zum Bilde jenes fortschrittlichen, optimistischen Menschentyps passen, wie er nun einmal in die Klischee-Vorstellung vom sog. „sozialistischen Realismus“ gehört. Hlaskos Gegner übersehen auch geflissentlich, daß seine pessimistische Betrachtungsweise in Erkenntnissen und Erfahrungen wurzelt, die mit Ablehnung des Regimes im Grunde genau so wenig zu tun hat wie mit Kirchenfeindschaft oder mit dem Fehlen von Idealen schlechthin. Marek Hlasko registriert seine Eindrücke und er verdichtet sie; er macht allerdings auch keine Zugeständnisse, er weckt keine bestimmten Hoffnungen, er läßt lediglich alle Türen, die er auf-stößt, weit offen.
Das gilt für sein schriftstellerisches Schaffen ebenso wie für sein persönliches Tun. So kann auch nicht weiter verwundern, daß Hlasko — nachdem ihm zunächst die Genehmigung zu einer Studienreise nach Frankreich bewilligt worden war, dann jedoch die Verlängerung seines Visums abgelehnt wurde — jetzt vorzog, im Westen zu bleiben
sie verkümmerte deshalb in dem sie umgebenden grauen Einheitsalltag.
Für Hlasko gibt es im übrigen kein Generationsproblem wie für andere Schriftsteller seines Alters. „Eine Generation — so sagt er im Hinblick auf die polnische Lage wörtlich — „sie setzt Mensdien voraus, die eine gemeinsame Idee haben, etwas, für das es sidt lohnt, die Mühe des Handelns und Gefahren auf sich zu nehmen". Diese gemeinsame Idee fehle der polnischen Jugend.
Dieses harte Urteil wird verständlich aus den tiefen Enttäuschungen, die Hlasko gerade in den letzten Jahren erlebte und die auf ihm ebenso wie auf vielen jungen polnischen Intellektuellen lasten, die sich im Netz einer ihnen wesensfremden Ideologie gefangen sehen und deren Auf-begehren im Zuge der Ereignisse des Jahres 19 56 zwar zu einer Lockerung ihrer Fesseln führte, nicht jedoch zu einer wirklichen Befreiung aus den Bann der „unabänderlichen Tatsachen und Einsichten“, der sie gleich einem zähen Schlamm umgibt.
Tröstlich ist auf jeden Fall das Bewußtsein, daß — allem Pessimismus und aller bitteren Einsicht zum Trotz — die polnische Jugend in ihrer übergroßen Mehrheit nicht aufgehört hat, sich als Glied einer Welt zu fühlen, die nicht durch politische Schlagworte, Einheitsparolen und fragwürdige Errungenschaften begrenzt wird. Was alles sagt doch diese einzige Strophe einer Gedichtes aus der Feder eines Nachwuchs-Lyrikers aus, das die Warschauer Zeitung „Nowa Kultura" gewiß nicht zufällig am Jahrestag der Entsendung eines ersten sowjetischen „Sputniks“ in den Weltraum auf ihrer Titelseite veröffentlichte:
„Mond, du Freund aller Liebenden, Weggefährte der Dichter, Der du unsere Nächte seit Urzeiten erhellst — Das Recht, dich und das Sternenwunder zu schützen, Kann keine Gewalt und keine Macht uns rauben.
Ein Größerer hat euren Platz am Firmament bestimmt Laßt uns, o Freunde, den Himmel wenigstens nodr rein erhalten.“
Anmerkung:
Peter Nasarski, Angehöriger der deutschen Minderheit in Polen, nach dem Kriege freier Schriftsteller und Rundfunkautor in Westberlin; zahlreiche Hör-folgen zu deutsch-polnischen Themen.