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Polen in der Geschichte Europas | APuZ 46/1958 | bpb.de

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APuZ 46/1958 Polen in der Geschichte Europas

Polen in der Geschichte Europas

PERCY ERNST SCHRAMM

Wir setzen heute den Abdruck einer Reihe von Artikeln fort, die sich mit dem Polen von heute und mit der durch die Abtrennung der deutschen Ostgebiete geschaffenen Problematik auseinandersetzen. Der vorliegende Aufsatz gibt einen Vortrag des bekannten Göttinger Historikers wieder, den er in verschiedenen Städten gehalten hat. — Die an dieser Stelle veröffentlichten Auffassungen zum Problem Polen stellen jeweils die Meinung ihres Verfassers, nicht aber die der herausgebenden Stelle dar.

Mein Thema lautet: „Polen in der Geschichte Europas“. Es handelt sich also nicht nur um Polen allein, sondern um die Stellung, die Polen unter den Völkern Europas einnahm und heute einnimmt. Ergriffe ein Politiker das Wort, dann könnte er zu diesem Thema wohl mancherlei sagen — aber die Frage ist, ob das in vier Wochen, ob das in einem halben Jahr noch richtig ist. Denn die Verhältnisse wandeln sich bei allen beteiligten Völkern — sowohl innen-als auch außenpolitisch — ständig, so daß morgen falsch sein kann, was heute richtig ist.

Ich, von Beruf Geschichtsprofessor, gehe behutsamer an das Thema heran, indem ich es von der historischen Seite aus, n u r von der historischen Seite aus betrachte. Wie verlief die polnische Geschichte? Wieweit erklärt sich dadurch das heutige Polen? Welche Tatsachen verbinden unsere Geschichte mit der polnischen, welche trennen sie? Das sind die Grundfragen, die ich an die tausend Jahre zu richten habe, die seit der Gründung des polnischen Staates verflossen sind.

Ich bin mir bewußt, daß das ein heikles Unterfangen ist; denn jeder, der sich als Wissenschaftler in diesem Bereich einmal umgesehen hat. weiß, wieviele strittige Punkte es zwischen der deutschen und der polnischen Wissenschaft gibt. Ihre Reihe beginnt bereits im 10. Jahrhundert, ja für manche schon in der Vorgeschichte, obwohl in so frühen Zeiten Rückschlüsse aus Bodenfunden möglich sind, Gewißheit also nur selten zu erlangen ist. Damit nicht genug: die sachliche Auseinandersetzung ist seit dem 19. Jahrhundert in steigendem Maße dadurch erschwert worden, daß der Nationalismus sich eindrängte, dieser Nationalismus, der auch die Erörterung der deutsch-französischen und der deutsch-englischen Beziehungen mit Einnebelung bedrohte, sich aber in dem Verhältnis zwischen den Deutschen und den Polen noch stärker geltend machte, weil die zunehmende Verschärfung im Volkstumskampf die nüchterne Sicht behinderte und jede Zustimmung zu einer These der Gegenseite sich leicht als „Prestigeverlust“ und Beweis für mangelnde „nationale Würde“ brandmarken ließ.

In unserer Zeit ist dieser umstrittene Problemkreis abermals belastet worden — so stark, daß man den Schluß ziehen könnte, das Thema sei zur Zeit so heikel, daß wir es lieber auf Eis legen und abwarten sollten. Denn die Polen haben uns vorzuwerfen, was in der Zeit der deutschen Besetzung geschah, und wir ihnen die Abtrennung der deutschen Ost-gebiete und die damit gekoppelte Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Daher ist es im Augenblick noch so, daß in manchem Deutschen die Wut hochsteigt, wenn er das Wort „Polen“ hört, weil er furchtbar behandelt wurde oder doch alles verloren hat, was er ererbt oder in lebenslanger Arbeit erworben hatte. Leider müssen wir, wenn wir diese Feststellung machen, im gleichen Atemzuge hinzufügen, daß es unzähligen Polen ebenso geht, wenn das Wort „die Deutschen“ fällt, weil sie selbst oder ihre Verwandten Schreckliches erlitten.

Die Frage ist nun: sollen wir warten, bis diese Wunden vernarbt sind, bis eine neue Generation heranwächst, die das, was auf beiden Seiten die Erinnerung belastet, nur noch vom Hörensagen kennt? Dies scheint mir eine Vogel-Strauß-Politik zu sein, ein Kopf-in-den-Sand-stecken. Denn das Problem „Polen“ bestand, besteht und wird für uns weiter bestehen, weil nun einmal Polen unser Nachbarland ist und bleibt, genau so wie wir dem Problem „Frankreich“ und dem Problem „England“ nicht auszuweichen vermögen, weil diese Länder da sind und wir so oder so mit ihnen Zusammenleben müssen. Wir dürfen hinzufügen: wie sich gezeigt hat, auch zusammenleben und -wirken können trotz all dem, was einstmals gleichfalls trennend zwischen uns und unsern westlichen Nachbarn stand. Nun ist es im Augenblick offensichtlich so, daß auf beiden Seiten die offiziellen Stellen keine sowohl für Polen als auch für Deutschland annehmbare Lösung wissen und daher praktisch garnichts geschieht Wir stehen an einem toten Punkt, über den wir hinweg müssen. Das „Wie“ zu finden, ist Sache der Politiker; aber vielleicht darf, ja soll hier einmal die Wissenschaft — unabhängig davon und auf sich gestellt — vorangehen, indem sie auf den alten, oft in Frage gestellten, aber doch richtigen Satz pocht, daß man aus der Geschichte lernen könne und müsse. Ich meine, daß es unsere — der Historiker — Aufgabe ist, der deutschen Öffentlichkeit darzulegen, wie es denn eigentlich zwischen Deutschland und Polen zugegangen ist.

Kommt es dann einmal -was ich persönlich mir wünsche — zu Verhandlungen, dann liegt wenigstens mehr Licht über einem Thema, dessen Erörterung heute erschwert ist durch Unkenntnis einerseits, schiefe und einseitige Vorstellungen anderseits — bei uns und wohl nicht viel anders bei den Polen. Damit ist auch die Tendenz gekennzeichnet, die diese Ausführungen beherrschen wird: Ausfüllen von Wissenslücken, Zurechtrücken der Fakten, wo das durch die Forschung geboten ist — und nicht mehr.

Die tausendjährige Geschichte Polens verlangte viel Raum-aber sie muß hier so weit zusammengepreßt werden, wie ich es eben noch mit meinem Gewissen als Historiker vereinbaren kann. Doch bleibt auch dann noch genug zu sagen Um den Überblick zu erleichtern, werde ich nacheinander acht Feststellungen treffen und diese dann jeweils erläutern.

Bastion des Abendlandes

Die erste Feststellung, die ich zu machen habe, lautet: Polen hat seit seinem Beginn zu Europa gehört, hat an allen Phasen der abendländischen Kulturentwicklung teilgenommen und hat das Seine zu ihr beigetragen. Polen hat vor allem Europa als Bastion gedient und es gegen Osten und Südosten verteidigt Genauer: Im Gegensatz zu Bulgarien, Rumänien, Serbien und Ruß-land, die von der Orthodoxen Kirche missioniert wurden, entschloß sich Polen von Anfang an für die katholische Kirche, und das heißt, für die lateinische Schrift und Sprache. Es öffnete sich daher für die romanische und die gotische Kunst, für Scholastik, Renaissance und Humanismus und stattete dem Abendland seinen Dank für das Erhaltene dadurch ab, daß es die Verteidigung gegen den Osten übernahm. Die Mongolen drangen nicht mehr wie die Ungarn nach Deutschland hinein, sondern wurden bereits auf schlesischem Boden von einem Herzog polnischer Abstammung aufgehalten.

Was die Neuzeit betrifft, so könnte man hier viele Namen mit europäischem Klang aufzählen, die den Beitrag Polens zur Kunst, zur Literatur, zur Wissenschaft belegen könnten. Ich beschränke mich auf drei uns allen vertraute: den Musiker Chopin, der trotz des in Frankreich geborenen Vaters ein Vollpole war, den Schriftsteller Theodor Josef Konrad Korzeniowski, allbekannt unter dem Namen Josef Conrad, und die große Forscherin Marie Sklodowska, verheiratete Curie, die Entdeckerin des Radiums.

Wer will, mag darauf hinweisen, was italienische, was deutsche Künstler wie der Nürnberger Veit Stoß und Andreas Schlüter, der Baumeister des Großen Kurfürsten, auf polnischem Boden geleistet haben, kann also versuchen, diese Feststellung wieder einzuschränken. Aber das würde dann bedingen, daß wir auch andere Zugeständnisse machen: Ludwig van Beethoven stammte aus einer niederländischen Familie, Tiepolo, der die Würzburger Residenz ausmalte, war Italiener und so fort — mit den französischen Baumeistern und Malern, die auf deutschem Boden tätig waren, sei gar nicht erst angefangen.

Und Copemicus? Der Frauenburger Domherr und Verweser des Bistums Ermland, der als erster feststellte, daß die Sonne sich nicht um die Erde dreht, sondern die Erde um die Sonne, und um den das Tauziehen zwischen Deutschen und Polen geht, seitdem der Nationalismus den nüchternen Blick verdunkelt. Wohin gehört er denn nun? Nikolaus Koppernigk stammte von Vater-und Mutterseite von deutschen Eltern und bediente sich der deutschen und der lateinischen Sprache. Insofern war er ein Deutscher. Aber er hatte in Krakau studiert und etwas vom Humanismus in seiner polnischen, der deutschen gleichwertigen Ausprägung in sich ausgenommen und wirkte politisch in einem Raum, der vom polnischen König abhängig geworden war. Insofern haben auch die Polen ein Recht, ihn für sich zu reklamieren. Copemicus gehört also zu den vielen Großen, auf die zwei Länder zugleich stolz sein können Lind wie Beethoven, wie der im westfälischen Siegen geborene aber den Flamen zuzurechnende Male Peter Paul Rubens sollte auch die Gestalt des Mannes, der die „kopernikanische Wendung" in unserm Weltbild herbeiführte, die beiden Völker nicht auseinandertreiben, sondern in gemeinsamer Verehrung zusammenführen. Das gilt gerade heute: in einer Zeit, in der es um Europa geht, müssen wir uns von den einseitigen, engstirnigen Wertungen des 19. Jahrhunderts frei machen.

Auch die andere Funktion, die Polen im Mittelalter übernommen hatte, nämlich Bastion Europas gegen Osten zu sein, hat es bis in die Neuzeit festgehalten.

Als 1 5 58 die Russen die bisherige Ordnung in den Ostseeprovinzen — d. h. in dem heute gemeinhin „Baltikum“ genannten Raum — über den Haufen warfen, wurden sie und die dort beheimateten Deutschen gerettet durch das Eingreifen Schwedens und Polens, denen es noch einmal gelang, die Russen von der Ostsee abzuriegeln. Estland nahmen sich die Schweden; Livland trat unter litauische Verwaltung, Kurland wurde ein polnisches Lehnsherzogtum unter einem deutschen Fürsten. Diese Ordnung hat nördlich der Düna im schwedischen Teil anderthalb Jahrhunderte südlich des Flusses im polnischen mehr als zwei Bestand gehabt, daner blieb dort nicht nur das Deutschtum bis in unsere Tage bewahrt, sondern es wurden auch die Esten und Letten beim Abendland festgehalten.

Diesen Erfolg der Polen muß man mit dem zusammensehen, was sie im Südosten gegen die Türken leisteten, die den ganzen Balkan erobert hatten und seit dem 16. Jahrhundert das Abendland selbst bedrohten. Gegen sie bauten die Polen im Südosten ihres Reiches an einem Nebenfluß des Dnjestr die Festung Kamenez-Podolsk aus, die noch jetzt als riesige, eindrucksvolle Ruine über das Flachland hinausragt: ein Wellen-brecher gegen die türkische Flut. Für ganz Europa sichtbar wurde die Funktion der Polen, Mitkämpfer gegen die Osmanen zu sein, als sie 1683 unter ihrem König Johann Sobieski gemeinsam mit einem Reichs-heer das von den Türken belagerte Wien befreiten — eine Rettung im letzten Augenblick, auf die sich noch die Kaiserin Maria Theresia dankbar besann, als ihr die Teilung Polens angeraten wurde.

Das bisher Angeführte zusammenfassend, können wir nunmehr feststellen, daß Polen immer zu Europa gehörte und Angriffe gegen Europa im Nordosten, Osten und Südosten auffing, also in eine Reihe mit Schweden, Böhmen, Österreich und Ungarn gehört. Die polnische Ostgrenze bedeutete für Europa einen Festungswall mit einem tiefen Kultur-graben davor, jenseits dessen die Welt der muslimischen Osmanen und der orthodoxen Ukrainer, Groß-und Weißrussen mit ihren Kuppel-kirchen und Zwiebeltürmen, ihren bärtigen Popen, silberbeschlagenen Ikonen und kyrillischer Schrift begann.

Keine natürlichen Grenzen

Wir ergänzen die Ausgangsfeststellung durch eine zweite: M i t d e r deutschen Geschichte hat die polnische gemeinsam, daß sie nichtdurch natürliche Grenzen festgelegt ist Unsere Geschichte besitzt immerhin noch feste Anhalte durch Nord-und Ostsee einerseits, das Alpenmassiv anderseits. Nur im Westen und im Osten besaß Deutschland keine natürliche Grenze. Die Polen waren insofern noch ungünstiger daran, als nur das paßarme, daher scharf trennende Gebirge der Karpaten im Süden eine klare Grenzlinie zwischen ihnen und den in das Königreich Ungarn einbezogenen Slowaken zog Ein letzter Ausläufer der Karpaten ist ein Krakau überhöhender Hügel: wenn man von der bis 600 m aufsteigenden Lysa Gora und dem einen oder anderen Plateau absieht, die letzte nennenswerte Erhebung sowohl bis zur Ostsee als auch bis zum Ural. Wer einmal von diesem beliebten Ausflugsort aus den Blick hat schweifen lassen, dem ist klar-geworden, daß Polens Front nach Osten zu allen Zeiten offen war und bleiben mußte, weil die Natur sich nirgends gebieterisch in die Grenzziehung zwischen den Völkern einmischte. Gegeben war statt dessen einerseits die Versuchung, daß die Polen sich über ihr Kerngebiet hinaus nach Osten auszudehnen trachteten, anderseits, daß — wenn im Osten ein mächtiger Nachbar saß — dieser sich auf Kosten Polens vor-

schob.

Wie stand es im Westen? Gegenüber den Deutschen hat die Oder eine Rolle gespielt, aber nicht als Grenzscheide. Denn Flüsse verbinden ja die Gebiete am rechten und linken Ufer. Richteten also die Polen ihr Augenmerk auf die Oder, so wollten sie hinüber, und ebenso war es mit den Deutschen. Diese saßen von Anfang an am Meer und schoben sich im Zuge der Kolonisation am Meer entlang über Mecklenburg nach Pommern vor. Aber die Polen, die bereits um 1000 einmal vorübergehend den Zugang zum Meere gewonnen hatten, sahen sich von ihm abgesperrt durch die — ihnen zwar verwandten, aber eine Eigenexistenz führenden — Pommern und durch den im 13. Jahrhundert entstandenen Ordens-staat in Qst-, dann auch in Westpreußen. Die Hauptschlagader Polens, die Süd-, Mittel-und Nordpolen in Kontakt setzte, die Weichsel, war also an ihrer Mündung in fremden Händen! Daß Polen eines Tages danach streben würde, um auch sie in die Hand zu bekommen — und das heißt konkret gesprochen, die an der Mündung emporgeblühte, von deutschen Einwanderern bewohnte Stadt Danzig —, das war seit dem ausgehenden Mittelalter so gut wie zwangsläufig.

Die zweite Zwischenbilanz, die wir zu ziehen haben, lautet demnach: Polen entbehrte von jeher der natürlichen Grenzen, war daher in allen vier Himmelsrichtungen in günstigen Zeiten versucht, sich auszudehnen, wurde andrerseits in schlechten Zeiten auf allen vier Seiten von der Gefahr bedroht, daß stärkere Nachbarn sich auf Kosten Polens bereicherten.

Ausdehnung der Herrschaft nicht von Dauer

Wir schließen eine dritte Feststellung an:

Mit der deutschen Geschichte hat die unserer Nachbarn gemeinsam, daß die Polen ihre Herrschaft über nichtpolnische Gebiete ausdehnten, die auf die Dauer nicht gehalten werden konnten.

Die Polen gehören zur Gruppe der slawischen Völker, die sich sprachlich weniger untereinander als die germanischen und die romanischen Völker unterscheiden und trotz mancher Gegensätze ein Gemeinschaftsgefühl besessen haben Slawische Nachbarn der Polen waren und sind die Tschechen im Westen, die Weiß-und Großrussen sowie die Ukrainer im Osten. Slawische Nachbarn waren die Westslawen, die sich mit deutschen Kolonisten vermischten und germanisiert wurden: nämlich die Pommern, die Mecklenburger und Brandenburger, die Schlesier, ferner die Kaschuben in Westpreußen, deren Eindeutschung nicht zu Ende geführt wurde Die deutsche Forschung hat unterstrichen, daß es sich bei allen diesen Völkerschaften nicht um Polen im eigentlichen Wortsinne handelt. die polnische hat sich auf den Standpunkt gestellt, die Verwandt schaff sei so eng, daß Polen einen Anspruch auf die Eingliederung der von diesen Völkerschaften einst bewohnten Gebiete gehabt habe und noch besitze. Wir lassen diese Streitfrage in der Schwebe und betrachten die Nordost-und die Ostgrenze.

Im Nordosten grenzte Polen an das Reich der Litauer Diese selbst gehören zur baltischen Sprachengruppe, die innerhalb der Indogermanen eine ebenso selbständige Einheit bildet wie die slawische, die germa nische und die romanische Die Litauer hatten ihre eigene Sprache, ihre eigene Geschichte, ihre eigene Dynastie und ihre eigenen Aspirationen: und da sie nach Südosten auf keinen Widerstand stießen, hatten sie ihre Herrschaft dorthin, d h auf weißrussisches, dann auch ukrainisches, also orthodoxes Gebiet ausgedehnt. Diese beiden von Haus völlig getrennten Länder Polen und Litauen wurden 1 386 durch Personalunion vereint, indem der noch heidnische Erbe Litauens die letzte Erbin aus der polnischen Königsfamilie heiratete. Dafür machte er das Zugeständnis, daß er und seine Untertanen zum Christentum übertraten, genauer: zum katholischen Christentum Denn die andere Möglichkeit wäre gewesen, daß er sich Rußland, d. h.der orthodoxen Kirche anschloß.

Dieser Zusammenschluß der beiden Reiche ist eines jener Ereignisse, bei denen die Wertung schwankt. Gesehen im Rahmen der europäischen Geschichte war es ein Vorteil, weil dadurch die Grenze Europas noch weiter nach Osten vorverlegt wurde. Gesehen vom deutschen Standpunkt war es eine Katastrophe, weil der zusammengeschlossenen Macht Polens und Litauens, das sogar von Tataren unterstützt wurde, der Deutsche Orden nicht gewachsen war: die Folge waren die Niederlage von Tannenberg (1410) und der 2. Friede von Thorn (1466), der Polen den Weg über Danzig zum Meer freigab, das Ordensland lehnsabhängig machte und Polen-Litauen nun auch zwischen Weichsel und Memel das Über-gewicht gab.

Wie sieht sich dagegen die Heirat des Stammvaters der litauischen Jagellonen mit der polnischen Erbprinzessin Jadwiga vom Standpunkt derer an, die diese Ehe am meisten anging, der Polen selbst? Am sicht-barsten ist das Faktum, daß der polnische Staat im 16. Jahrhundert eine Ausdehnung erreichte, die die kühnsten Erwartungen übertraf. Von der Angliederung Livlands war bereits die Rede, und da Weißrußland und die Ukraine gleichfalls keine natürlichen Grenzen aufwiesen, konnte Polen-Litauen seine Einflußsphäre bis zum Schwarzen Meer ausdehnen. Es reichte also als ein breiter Riegel von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer, dessen Nordrand die Türkei mit Hilfe der Tataren festhielt. Eine Grenze war erst durch den Rand der Steppe gezogen, in der man nur zu existieren vermochte, wenn man seine Lebensweise ihr anpaßte. Das taten berittene Wehrbauern, die vor den Ansprüchen des litauisch-polnischen Adels auswichen: die Kosaken, deren Kern aus slawischen Flüchtlingen bestand. Die Frage an die Zukunft lautete also; Wurde Polen mit den Kosaken fertig? Die Antwort lautet: Nein. Vielmehr gelang es den Russen im 17. Jahrhundert, die Kosaken auf ihre Seite zu ziehen. Im 18. Jahrhundert machten sie dem Tatarenreich ein Ende; d. h. sie öffneten sich den Weg zum Schwarzen Meer und gewannen an der polnischen Südostflanke das Übergewicht, wodurch sie für Polen noch gefährlicher als die Türken und Tataren wurden.

Noch hatten ja die Polen ihre nach Osten vorgeschobenen Bastionen; aber sie konnten sie nicht polonisieren — so wie die Deutschen nach Osten hin germanisierten —, weil die Bewohner dort ja dem orthodoxen Glauben zugefallen waren. Nur der litauische Adel wechselte in das polnische Lager hinüber, und zwar sowohl große Familien wie die Radziwill als auch kleine wie die Pilsudski. Die polnischen Könige versuchten, durch die Kirchenunion von Brest (1596) den ihr Reich zerteilenden Kulturgraben zuzuschütten; aber das gelang nur zum Teil.

Von den späteren Ereignissen aus gesehen bedeutet also die Erweiterung des polnischen Reiches bis nach Litauen und in die Ukraine hinein einen fragwürdigen Gewinn. Die durch die Natur nicht geschützte Ostgrenze wird noch ungünstiger, und eine geeignete Verteidigung aufzubauen gelang nicht. Polen übernahm sich also durch zu hoch gesteckte Ziele, schuf sich dadurch Feinde und mußte — trotz seiner kolonisatorischen Leistungen — dafür schwer zahlen.

Wer so weit geht und folgert, die Polen hätten eine angeborene Neigung, ihre Macht zu überschätzen, sollte sich vorher kritisch nicht nur die Italien-Politik der Deutschen ansehen, sondern auch die Frankreich-Politik der Engländer, die Italien-Politik der Franzosen die Norwegen-Politik der Dänen und Schweden und so fort. Solche Überanspruchungen der Energien, aus denen auf die Dauer genau so wenig übriggeblieben ist wie im Falle Deutschlands, liegen im Wesen Europas. Die Polen stellen in dieser Hinsicht also keinen Sonderfall dar.

Polnische Geschichte —ein Leidensweg

Wir kommen zu einer vierten Feststellung:

Mehrere Verhängnisse, die sich aus den Besonderheiten der polnischen Geschichte ergaben, haben diese zu einem Leidensweg gemacht.

Vergleichen wir die deutsche Geschichte mit der englischen und französischen Geschichte, so ist es schwer, sich des Gefühls des Neides zu erwehren.

In Frankreich blieb es 861 Jahre lang bei ein und derselben Dynastie; in England wechselten die Dynastien zwar vielfach, aber nur vorübergehend kam es zur Rivalität zweier Geschlechter, und stets blieb die Kontinuität bewahrt. Damit verglichen ist unsere Geschichte vom Unglück verfolgt, vom Verhängnis gezeichnet, weil eine Dynastie nach der anderen ausstarb, meist Streit zwischen Nord und Süd oder zwischen Ost und West, in jedem Fall aber Machteinbuße die Folge war. Die Polen haben Anlaß, ihre Geschichte als noch verhängnisvoller abgelaufen anzusehen und — das Geschick anklagend — in ihre Vergangenheit zurückzublicken.

Drei Phasen, die Polens Konsolidierung nach Art der von den westeuropäischen Völkern erreichten aufhielten, sind in unserm Zusammenhang von Belang:

In bezug auf das erste Verhängnis begnügen wir uns mit kurzen Feststellungen. Das auch bei den germanischen Völkern zunächst übliche Teilungsprinzip erhielt sich bei den slawischen Völkern länger. Das erste russische Reich zersplitterte deshalb vom 11. Jahrhundert an; Böhmen überwand es um 1200, Polen jedoch erst um 1300. Zeitweise war Polen in ein Dutzend Teilfürstentümer aufgelöst, die nur noch locker zusammenhingen.

Daher konnten von Polen abgelöst werden: im Westen das ursprünglich von den Tschechen beherrschte, vom 12. Jahrhundert an germanisierte Schlesien, im Norden ein Teil von M a s o w i e n, der dem Deutschen Orden als Brückenkopf bei der Eroberung Ostpreußens diente und von dem aus slawische Bewohner in die menschenleeren Gebiete im Süden O: tpreußens abflossen — das sind die Masuren, die in diese Gebiete also erst in der Zeit nach Errichtung der Ordensherrschaft kamen, nicht völlig germanisiert wurden, aber schließlich wegen ihres evangelischen Bekenntnisses für Deutschland stimmten.

Wir stehen auf dem Standpunkt, daß — von dem Willen der Bewohner hier einmal abgesehen — das in diesen Gegenden von den Deutschen Geleistete entscheidend sei; die Polen haben sich auf den Standpunkt gestellt, daß es ich um ursprünglich polnische, einstmals entfremdete Gebiete handele. Das ist wieder eines der umstrittenen, zwischen Deutschen und Polen stehenden Probleme, bei denen die Wissenschaft durch gemeinsame. nüchterne Erörterung den Weg zur Verständigung ebnen könnte, jedoch Problem, das aus der politischen Erörterung ganz verschwinden sollte. Wo käme die Welt hin, wenn für sie Grenzen maßgeblich sein sollten, die einmal vor einem halben Jahrtausend oder noch früher bestanden!

Das zweite Verhängnis der polnischen Geschichte ist darin zu sehen, daß die Herrschergeschlechter mehrmals aus-starben: 1370 das Stammgeschlecht, die Piasten, 1382 die aus Ungarn gekommenen Anjous, 1572 die aus Litauen stammenden Jagel

Ionen, 1668 die schwedischen Wasas. Jeder Dynastiewechsel bedingte Konzessionen an die Polen, und das heißt an den Adel Denn in diesem bis in die Neuzeit durch die Landwirtschaft bestimmten Lande haben die Bauern nichts zu sagen gehabt, und die Städte sind nicht wie in Deutschland zu einem mitsprechenden Faktor geworden. Eine bürgerliche Schicht, die am politischen Leben Anteil verlangte, hat sich erst im 19. Jahrhundert herausgebildet.

Zwar haben noch die Jagelionen und Wasas — wie die übrigen Fürsten Europas — versucht, auch in Polen das Prinzip des Absolutismus zur Geltung zu bringen, und 1569 gelang es, auf dem Reichstag von Lublin, die bisherige Personalunion Polen-Litauen in eine Real-union umzuwandeln. Aber die Bemühungen der Könige hatten auf die Dauer keinen Erfolg. So blieb Polen in dem Zustand des späten Mittelalters stecken, in dem der Fürst nur mit den Ständen zusammen etwas beschließen konnte. Der Unterschied bestand nur darin, daß in Polen die andern Stände hinter dem Adel verschwanden.

Die Mitwirkung des Adels ging so weit, daß von der Thronbesteigung der landfremden Jagelionen an, der Adel aus der auch in andern Ländern üblichen Zustimmung zur Thronbesteigung ein richtiges Wahlrecht zu gestalten verstand: er kürte 1572 einen französischen Prinzen, 1575 einen ungarischen Großen, Stephan Bathory, 1674 einen einheimischen Magnaten, Jan Sobieski, und 1697 einen Deutschen, den Kurfürsten August den Starken von Sachsen. Die Krone Polens wurde dem zugeschlagen, der am meisten bewilligte oder am sichersten erwarten ließ, daß er sich dem Willen des. Adels fügen werde — es gibt in der ganzen europäischen Geschichte keine zweite, so vielscheckig zusammengesetzte Herrscherliste!

Das Spiegelbild dieser unheilvollen Entwicklung gewahrt man, wenn man sich die Geschichte des Adels ansieht. Es gab viele große Herren mit riesigen Besitzungen und einen ungemein zahlreichen Kleinadel, der sich in seiner Lebensführung nicht weit vom Bauern absetzte oder womöglich noch ärmer war, so daß er trachten mußte, sich den großen Herren gefällig zu machen. Polens Geschicke wurden daher nicht wie die anderer Länder durch einen auf Heer und Bürokratie gestützten Herrscher und rivalisierende Stände, Klassen, Parteien bestimmt, sondern durch große Adelscliquen, angeführt von den mächtigsten Magnaten, gestützt auf willige Parteigänger aus dem Kleinadel, ausgerichtet auf den Vorteil der Parteigänger, oft nicht staatstragend, also nicht zu Opfern bereit wie der preußische Adel, sondern vielfach das Wohl Gesamtpolens vergessend, wenn eine auswärtige Macht dadurch auf die polnischen Angelegenheiten Einfluß zu gewinnen suchte, indem sie sich einer Adels-clique bediente und dafür Vorteile in Aussicht stellte Das war um so leichter, als der Landadel zwar wie die Gentry in England zu den Reichstagen Vertreter entsandte, aber bei den Königswahlen jeder Adlige seine eigene Stimme führte — diese gestalteten sich daher mehr wie ein Heerlager als ein Parlament. Gelegentlich wurden die Reichstage durch „Konföderationen“ des Adels ersetzt, die sich gegen den König wandten oder ihn zwangen, sich diesen Bünden anzuschließen. Ja, im 17. Jahrhundert, als Ludwig XIV. das Zeitalter des Absolutismus auf die Höhe führte, setzte sich in Polen der Grundsatz durch, daß jeder Be-Sucher des Reichstages das „liberum veto“ besitze, daß also — wenigstens in der Theorie — ein Einzelner durch sein „Nein“ einen Beschluß verhindern konnte.

Zu Grunde lag ein fest geprägter, in der ganzen Oberschicht verwurzelter, auch den abendländischen Völkern, jedoch nicht den Russen vertrauter Freiheitsbegriff, der in so ausgesprochener Weise ein Kennzeichen Polens geblieben ist. Aber wenn er auch später in der Zeit der Teilung den Polen das Rückgrat gestärkt hat, so erwies sich seine Anwendung im 17., vollends im 18. Jahrhundert als verhängnisvoll. Denn ein Land mit nur einer an der Herrschaft beteiligten Schicht, die den König von sich abhängig gemacht hatte, aber durch das „liberum veto“ regierungsunfähig wurde und vielfach ein Drohnendasein führte kam aus den inneren und äußeren Schwierigkeiten überhaupt nicht mehr heraus und stand vor einer die Existenz des Staates gefährdenden Krise, wenn es durch einen stärkeren Nachbar bedroht wurde. Denn der Adel hatte es nicht einmal zugelassen, daß der König wie andere Herrscher ein stehendes Heer aufbaute.

Polens drittes Verhängnis bestand darin, daß es im 18. Jahrhundert nicht nur mit einem, sondern gleich mit drei stärkeren Nachbarn zu tun bekam: mit Rußland, mit Österreich und mit Preußen.

Wir vergegenwärtigen uns kurz, was jenseits der polnischen Grenzen vor sich gegangen war.

Bis in das 15. Jahrhundert hatten die Polen keine Sorgen wegen Rußland zu hegen brauchen, weil es — ähnlich wie Polen — durch Teilungen in zahlreiche Teilfürstentümer zerfallen war, die — das unterschied Rußland von Polen — mit tatarischer Oberherrschaft sich abfinden mußten. Vom Zaren Iwan III. (1469 — 1505) wurde jedoch um Moskau herum ein neuer Gesamtstaat aufgebaut und das Tatarenjoch abgeschüttelt. Daher hatte Polen seit dem 16. Jahrhundert im Osten einen Nachbarn, mit dem es rechnen mußte und manchen Krieg führte, seit dem 17. Jahrhundert einen Gegner, dem der alte Transithandel über Riga nicht mehr genügte und der deshalb energischer als bisher Zugang sowohl zur Ostsee als auch zum Schwarzen Meer erstrebte. In beiden Richtungen sah sich Rußland durch Polen, zur Ostsee hin auch noch durch Schweden abgeriegelt. So war eine Rivalität unausweichlich, bei der Polen infolge seiner inneren Schwäche mehr und mehr der Unterlegene wurde. Peter der Große führte die Russen an die Ostsee, indem er von Schweden die Abtretung von Livund Estland erzwang. Katharina führte sie — davon war bereits die Rede — zum Schwarzen Meer. An einer Grenze von weit über 1000 km war Polen nunmehr dem Druck einer Großmacht ausgesetzt, die nicht gewillt war, sich mit dem bisher Erreichten zu begnügen.

Nun Österreich. Zwischen den habsburgischen Kaisern und den polnischen Königen bestanden keine ungelösten Streitfragen. Dagegen wurde Wien mehr und mehr besorgt, weil die Russen ihren Einfluß auf dem Balkan zu erweitern trachteten, wodurch sie den habsburgischen Interessen in den Weg traten. So lange diese Rivalität bestand, war Polen dagegen gesichert, daß beide Mächte sich gegen Warschau zusammenschlossen Schließlich Preußen. Wegen Brandenburg brauchte Prolen im 17 Jahrhundert auch nicht besorgt zu sein, obwohl jetzt schon Ostpreußen das alte Ordensland, zu Brandenburg gehörte — wir denken daran, daß erst der Große Kurfürst die zwar nur eine Rechtsformalität bedeutende, aber doch noch bestehende Lehnsabhängigkeit seiner östlichen Gebiete abstreifte. Aber seit 1701 trug sein Sohn die preußische Königs-krone, unc sein Llrenkel setzte den Eintritt Preußens in die Reihe der Großmächte durch. 1742 nahm er Österreich Schlesien weg und behauptete es im Siebenjährigen Krieg. Seither gab es eine lange, im Dreieck weit nach Westen vorspringende polnisch-preußische Grenze von Oberschlesien bis hinauf nach Lauenburg in Ostpommern. Diese Lage beengte Preußen, weil im Falle der Gefahr Ostpreußen nur über See Hilfe gebracht werden konnte. Sie war andererseits bedrohlich für die Polen:

denn ein Blick auf die Landkarte genügte, um zu erkennen, daß Preußen danach streben mußte, das dazwischen liegende, einst zum Deutschen Orden gehörende Westpreußen — modern gesprochen: das Korridorgebiet — zu gewinnen. Solange jedoch der preußisch-habsburgische Gegensatz bestand, war auch diese Gefahr vertagt.

Polens Unglück wollte, daß die bisher brennenden Rivalitäten sich 1772 nicht mehr auswirkten — damit sind wir bei den unseligen polnischen Teilungen angelangt, deren Wunden in der Seele des polnischen Volke« bis heute nicht vernarbt sind, die also noch heute ein Politi-cum darstellen. Es handelt sich mithin um eine Frage, zu der wir so oder so Stellung nehmen müssen: „so" heißt: sie machtpolitisch erklärend, „oder so“ heißt: das Faktum moralisch wertend. In beiden Fällen ist es erforderlich, die Konsequenzen der Teilungen in die Beurteilung einzubeziehen. Den Anstoß zur 1. Teilung, die auf die Abtrennung der Grenzprovinzen hinauslief, gab Rußland. Es nahm sich zwar nur Weißrußland und die Gebiete rechts der Düna, aber es hatte den damaligen, auf Katharinas Betreiben gewählten König Stanislaus Poniatowski und große Teile des Adels in der Hand, sodaß die beiden anderen Mächte besorgen mußten, daß die Macht des Zarenreiches sich in verdeckter Form bis an ihre Grenzen heranschob. Dadurch ergab sich für Österreich der Gedanke, den russischen Vormarsch in Richtung Krakau auf halbem Wege aufzufangen, indem es sich Galizien angliederte; ein schönes Bauernland, das sich jedoch schwer verteidigen ließ — das zeigte sich im I. Weltkrieg: ein rein slawisch besiedeltes Gebiet, das die Nationalitäten-frage der Doppelmonarchie noch komplizierter machte, als sie sowieso schon war — insofern hat die 1. Teilung Polens für Österreich schließlich Schwierigkeiten und Gefahren heraufbeschworen.

Die Kaiserin Maria Theresia, die in menschlichen Dingen ein unfehlbares Urteil besaß, gab ihre Zustimmung nur, weil ihr die Staatsmänner zusetzten, es handle sich um ein unausweichliches Gebot der Staatsraison; denn sie spürte, daß hier im Völkerleben ein Unrecht geschehe, das eines Tages sich rächen werde wie Unrecht, das der einzelne begeht.

Sie schämte sich, sich sehen zu lassen: „Treu und Glauben ist für allezeit verloren, so doch das größte Kleinod und die wahre Stärke eines Monarchen gegen die andern ist."

Anders Voltaire, der Katharina II. beglückwünschte; denn wegen der durch die Aufklärung bestimmten Religionspolitik der Zarin, die auch die Nicht-Orthodoxen gewähren ließ, glaubte er das Vorrücken der russischen Grenzpfähle als eine Chance für das Vordringen der Aufklärung deuten zu können — Platos Wort, die Philosophen sollten Könige sein, erweist sich hier als sehr fragwürdig.

Daß Preußen auch mit von der Partie war, versteht sich nach dem schon Gesagten von selbst: es mußte darauf bedacht sein, stärker zu werden, wenn Rußland stärker wurde, und brauchte ja außerdem Westpreußen als Landbrücke zwischen Pommern und Ostpreußen, um die Landfetzen der Monarchie zusammenzuschließen und eine kürzere Grenze zu erlangen. Deshalb fand Rußland zunächst bei Preußen, dann erst bei Österreich Zustimmung.

Europa atmete nach Abschluß dieser ersten Teilung auf, da ein russisch-österreichischer Krieg vermieden war. In Polen kam es unter dem Eindruck des dreifachen Verlustes zu einer Verfassungsreform, die u. a. das verhängnisvolle „liberum veto“ beseitigte, einsichtigen Reformern die Oberhand gab und das Nationalgefühl aufflammen ließ — eine moralische und geistige Regeneration, die mit der Preußens nach der Katastrophe von Jena verglichen werden kann.

ber an einer Konsolidierung des Nachbarreiches lag Rußland natürlich nichts. So führte die Kaiserin Katharina 1793 eine 2. Teilung herbei, in der Rußland sich bis zu einer Grenzlinie vorschob, die ungefähr der 1939 ültigen entsprach. Damit hatte es sich jetzt etwa ein Drittel des bisherigen polnischen Staatsgebiets angeeignet, aber im Gegensatz zu Österreich und Preußen noch keine polnischen Kemgebiete. Denn was Polen im Osten verlor, war das Vorgelände das ihm die Linien mit Litauen und die nachfolgenden Eroberungen seiner Könige eingetragen hatte. Österreich beteiligte sich an der zweiten Teilung nicht; Preußen verschaffte sich eine abermalige Grenzverkürzung, indem es sich das Dreieck zwischen Schlesien und Pommern-Westpreußen nahm. Es erhielt also nicht nur die spätere Provinz Posen, sondern auch noch einen breiten Streifen davor, der sich bis auf etwa 50 km an Warschau heranschob. Preußen riß also von Polen nicht nur die Gebiete ab, in denen sich vor 800 Jahren der polnische Staat geformt hatte, sondern erhielt so viele rein polnische Untertanen, daß es sie gar nicht in sein Staatsgefüge einzugliedern vermochte. Der außenpolitische Vorteil wurde also durch eklatante Nachteile im Innern erkauft, und man konnte nicht einmal sagen, daß diese wirtschaftlich ausgewogen wurden; denn es handelte sich um ein reines, zum Teil noch heute zurückgebliebenes Agrarland. Im Falle Preußens hat sich diese Politik gleich anschließend gerächt. Denn im Osten festgelegt, verabsäumte es Preußen, im Westen den Gefahren der Revolution — so lange das noch Aussicht hatte — entgegenzutreten. Wer die These aufstellt, die Niederlage bei Jena und Auerstädt sei die Strafe für Preußens ohne Schwertstreich gewonnenen Beutezüge im Osten gewesen, moralisiert die Geschichte und verein-

facht sie natürlich über Gebühr — aber etwas von ihr läßt sich doch halten.

Gegen solche Verstümmelung bäumte sich das polnische Nationalgefühl auf. Polen erhielt im Mai 1791 eine Verfassung, und im Geiste der Pflicht scharten sich die Patrioten, jetzt zu Opfern bereit, um Polens Adler. Die Tatkräftigen griffen zu den Waffen und fanden im General Kosciuszko einen Führer, auf den die Polen zu Recht mit derselben Verehrung zurückblicken können wie wir auf Scharnhorst, Blücher und Gneisenau. Diesen gelang jedoch die Befreiung von der Fremdherrschaft;

Kosciuszko fiel dagegen verwundet in Gefangenschaft, und damit war „Polen verloren". Die 1797 gedichtete Nationalhymne: „Noch ist Polen nicht verloren“ (Jeszcze Polska nie zginela) wollte das nicht wahrhaben, aber in bezug auf den Staat war es doch so. Alle drei Nachbarn waren sich darin einig, daß der Unruheherd in der Mitte verschwinden müsse, und so kam es 1795 zur dritten, abschließenden Teilung, bei der auch nicht ein Quadratmeter selbständiges Polen übrig blieb. Preußen nahm sich das Vorgelände von Ostpreußen und nannte es Neuostpreußen, obwohl es mit Preußen der Bevölkerung nach, der Wirtschaft nach, der Geschichte nach, rein gar nichts zu tun hatte. Rußland verleibte sich die östlichen Gebiete bis Brest, dazu Litauen und Kurland ein Österreich sicherte sich das Vorgelände von Galizien bis hinauf nach Warschau. Die Hauptstadt selbst, jetzt zur Grenzstadt degradiert, wurde Preußen überlassen.

Wiederum lautete die Begründung der österreichischen und der preußischen Staatsmänner: wenn wir uns nicht möglichst viel aus dem polnischen Kuchen herausschneiden, dann ißt Rußland ihn ganz, und dann haben wir statt des ungefährlichen Polens die Russen als Nachbarn Es war also — so können wir den Polen entgegenhalten -die Staatsraison, die zu den Teilungen ihres Vaterlandes führte, nicht Feindschaft gegen Polen. Es war bei der expansiven Großmacht Rußland der Drang nach Westen, bei Österreich die Angst vor Rußland, bei Preußen außerdem noch das Bedürfnis, die Teile der Monarchie fester zusammenzuschließen. Daß Polen nicht imstande war, das zu verhindern, lag an der verhängnisvollen Entwicklung, die zu der im entscheidenden Augenblick wehrlosen „Adelsrepublik“ geführt hatte. Anderseits müssen wir verstehen, daß die Polen diese Teilungen als ein schreiendes Unrecht empfunden haben und noch empfinden. Und seitdem wir geteilt sind und wegen des Antagonismus stärkerer Mächte, die mitsprechen, uns noch nicht wieder zusammenzuschließen imstande sind, können wir diese Auffassung der Polen sogar besser als jedes andere Volk Europas nachempfinden.

Unvergleichlich hartes Schicksal

Ich komme zu einer fünften Feststellung:

Nach dem Abschluß der Teilungen war das Schicksal der Polen als Nation härter als das irgend eines anderen großen Volkes in Europa.

Die Zeit Napoleons braucht nur gestreift zu werden; denn sie blieb ohne Folgen. Nur das sei vermerkt, daß das von Napoleon aus dem preußischen und dem österreichischen Gewinn gebildete, von Frankreich abhängige „Großherzogtum Warschau" die Hoffnung wieder aufflammen ließ, daß „Polen noch nicht verloren“ sei. Aber sie wurde — als Napoleon verbannt war, 1815 durch den Wiener Kongreß geknickt — wie man annehmen mußte: für immer. Preußen behielt Westpreußen und Polen, Österreich Galizien. Der Großteil wurde als „Königreich Polen“ mit Rußland vereinigt — von „Kongreßpolen“ spricht man, weil diese neue Teilung Polens, die vierte, eben durch jenen Kongreß sanktioniert wurde.

In den voraufgehenden Teilungen hatte Rußland vom altpolnischen Gebiet ja am wenigsten genommen. Jetzt aber stand Kernpolen unter russischer Verwaltung. Von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zogen die Zaren die Zügel straffer an. Denn durch den polnischen Aufstand von 1830/1 verlor das anfangs noch mit Sonderrechten ausgestattete, mit Rußland zunächst nur durch Personalunion verbundene „Königreich“

seine Eigenexistenz, und den zweiten polnischen Aufstand von 1862/3 beantworteten die Zaren mit einer planmäßigen Russifizierungspolitik, die alle polnischen Bestrebungen — auch solche rein kultureller Art — zu ersticken trachtete. Kongreßpolen wurde nicht viel anders als die übrigen russischen Gouvernements verwaltet.

War das polnisch-russische Verhältnis bereits durch die Erinnerung an die Kriege der Vergangenheit, durch die von Rußland ausgelöste Vernichtung der polnischen Freiheit belastet, so kam jetzt als gewichtigster, noch heute wirksamer Faktor diese planmäßige Verrussung hinzu, die sich in unzähligen Nadelstichen auf drei Generationen ausgewirkt hat.

Viele Polen, besonders die Adligen zogen ein Leben in der Fremde einer solchen Existenz vor und warben mit Geschick um die Sympathien des Abendlandes. Der Hauptsitz der Emigranten wurde Paris, aber auch in Deutschland herrschte in der Zeit der Reaktion eine Vorliebe für die so schwerbetroffenen Polen. Von einer durchgehenden deutsch-polnischen Feindschaft kann also nicht die Rede sein.

Schauten die Bewohner Kongreßpolens im 19. Jahrhundert nach Österreichisch-Galizien hinüber, konnte sie der Neid erfassen. Denn die habsburgische Verwaltung machte zwar 1846 dem auf dem Wiener Kongreß geschaffenen „Freistaat“ Krakau ein Ende, weil sich dort die „Verschwörer" zusammenfanden, aber sie war doch großzügig, und in Galizien kam noch dazu, daß sie den Polen viele Konzessionen machte, um sich deren Stimmen im Reichsrat zu sichern. Krakau war also eine vornehmlich polnische Universität, und der Druck polnischer Literatur, die Aufführung von Theaterstücken in polnischer Sprache usw. waren erlaubt. Deshalb war dieser Zustand für die Bewohner Kongreßpolens auch der Anlaß zu der Hoffnung, daß ihr Volk trotz der Zerteilung doch nicht endgültig verloren sei, da es jenseits der russischen Grenze eine Provinz gab, in der polnische Kultur sich für den Tag der Befreiung entfalten und stählen konnte Jedoch wurde auch die Überlegung angestellt, Österreichs Polen-freundlichkeit sei nur ein Manöver, noch dazu ein sehr gefährliches, da es die galizischen Polen in eine Sonderexistenz führe. Roman Dmowski, der überzeugt war, daß ein freies Polen nur aus einem Kriege hervorgehen könne, proklamierte daher 1902 die „realistische Politik , nämlich Wendung gegen den Westen und Versöhnung mit Rußland auf Grund slawischer Bruderschaft. Um diese Wendung zu verstehen, muß man das alte Überlegenheitsgefühl in Rechnung stellen, das die Polen von jeher gegenüber den Russen hegten.

Was empfanden die Polen gegenüber den Preußen? Auch diese kassierten nach dem 1. Aufstand die den Polen zunächst eingeräumten Sonderrechte und verwalteten fortan Posen als preußische Provinz. Es kann gar nicht in Zweifel gezogen werden und wird wohl auch von den Polen rückschauend eingeräumt, daß Preußen für die Hebung von Posen und Westpreußen sehr viel getan hat und der 1914 erreichte Zu-stand sich mit dem von 1815 überhaupt nicht vergleichen ließ. Dank der preußischen Bauernpolitik hob sich der Lebensstand auch der Bauern polnischer Abstammung: dank dem Anwachsen der Städte hob sich auch das Bürgertum polnischer Abstammung. Aber für die Polen bietet das Bild der Vergangenheit doch manche Schattenseiten. Hinter den von polnischer Seite vorgebrachten Klagen steht die Tatsache, daß jetzt die Wege der beiden Völker auseinanderliefen: wie in den anderen Ländern drängte sich in Deutschland die Tendenz vor, einen national geschlossenen Einheitsstaat zu schaffen und die Minoritäten möglichst schnell aufzusaugen; bei den Polen ergriff der nationale, bisher vor-nehmlich vom Adel aufrechterhaltene Gedanke eines wieder selbstständigen Polens jetzt auch Bürger-und Bauerntum. „Assimiliert Euch'Ihr steht Euch gut dabei!“, das wurde die Losung auf der einen Seite; „Wir wollen Polen bleiben!“ hieß es auf der anderen Seite Ich will nicht die Geschichte der sogenannten „Ostmarkenpolitik" aufrollen. Denn daß das ein unglückliches, durch viele verfehlte Maßnahmen gekennzeichnetes Kapital unserer Geschichte ist, darüber sind sich die Historiker, die sich auf deutscher Seite mit diesem Problem beschäftigt haben, sicherlich einig. Doch kann nicht übergangen werden, daß sich in den siebziger Jahren der unselige „Kulturkampf“ mit der deutsch-polnischen Frage verknüpfte, den latenten Gegensatz: deutsch-evangelisch und polnisch-katholisch ans Licht hob und die bisher getrennt lebenden polnischen Minoritäten in Schlesien, Posen und Westpreußen unter der Fahne des Zentrums zusammentrieb. Die Etappen der Verschärfung des Gegensatzes sind: Die Erhebung des Deutschen zur ausschließlichen Amtssprache im Jahre 1876, das Ansiedlungsgesetz von 1886. das den Ankauf von Großbesitz und Verteilung an deutsche Kolonisten ermöglichte, dann zu Anfang des neuen Jahrhunderts die Aufhebung des Religionsunterrichts in polnischer Sprache, die Schulstreiks auslöste, die wiederum mit Strafmaßnahmen gegen die Beteiligten beantwortet wurden, und schließlich das 1908 erlassene Enteignungsgesetz, das die Möglichkeit schuf, polnischen Großgrundbesitzern ihre Güter gegen Geldentschädigung zwangsweise wegzunehmen. Das war eine in einem Rechtsstaat grundsätzlich anfechtbare Maßnahme; angewandt wurde sie — Gott sei Dank — nur viermal. Pädagogen werden jedoch bestätigen, daß man die Rute möglichst gar nicht benutzen soll, da es bessere, humanere Erziehungsmittel gibt, daß es aber erst recht ein Fehler ist, sie drohend, aber nicht angewendet hinter dem Spiegel bereit zu halten. Ähnlich geht es auch in der Politik zu: Die Polen mußten sich als Staatsbürger minderen Rechts fühlen und machten Opposition, wo sie konnten. Sie bildeten im Reichstag eine Fraktion, die geschickt und rührig operierte, und sie verstärkten ihre seit langem angelaufenen Bemühungen, in den gemischten Gebieten polnische Riegel zu schaffen und diese durch Sparkassen, Banken, Aufkaufgesellschaften usw. abzustützen. Sie kompensierten dadurch zum größten Teil die Erfolge, die dem Deutschtum die Ostmarkenpolitik verschaffte. Schließlich drehten die Polen, als sie 1919 die Herren in Polen und Westpreußen wurden, das Gesetz einfach um und enteigneten — mit einer ihm genau entsprechenden, Jedoch jetzt polnisch-antipreußischen Neufassung — den deutschen Grundbesitz.

Ergebnis dieses Rundblicks ist: Die Polen betrachteten nach der Wiedererrichtung ihres Staates (1919) die Russen als alte Feinde, die zwar nach der Revolution von 1905 ihren Druck gemindert hatten, aber durch den expansiven Kommunismus von 1917 an wieder unheimlich wurden. Sie hatten rückschauend vieles gegen die Deutschen, kaum etwas gegen die Österreicher vorzubringen.

Was haben nun rückschauend die andern Völker über die Polen in der Zeit von 1795 bis 1919 zu sagen? Über diese Polen, die 124 Jahre lang, d. h. vom Urgroßvater bis zum Urenkel, mit drei verschiedenen Pässen auf ihre Wiedervereinigung warteten und mehr oder minder stark behindert waren, nach ihrem eigenen Willen zu leben? Ich glaube, da gibt es nur eine Antwort: größte Bewunderung! Man kann darauf hinweisen, wie die Iren durch Jahrhunderte am Ideal ihrer Selbständigkeit festhielten und sie schließlich ertrotzten; man mag hier auch die Einigung des jahrhundertelang zerrissenen, zu einem großen Teil von ausländischen Mächten beherrschten Italien anführen, aber — soviel die Iren oder die Italiener auch auszustehen gehabt haben -mit dem Leidensweg, den Polen durchmessen hat, läßt sich das doch nicht vergleichen. Vor allem muß man dies im Auge behalten: wirtschaftlich waren die Polen in Galizien und in Preußen vorangekommen, und sie durften annehmen, daß das in Zukunft noch mehr der Fall sein, daß also die Lage des Einzelnen sich weiter verbessern werde. Trotzdem haben auch diese Polen unentwegt an dem Ideal der nationalen Einheit festgehalten und es nicht gelten lassen, daß Polen endgültig verloren sei.

Wenn heute irgend ein anderes Volk für diese vier Generationen lang bewiesene innere Stärke Verständnis aufzubringen vermag, dann müßte das eigentlich in erster Linie bei uns Deutschen der Fall sein. Denn wir sind ja gleichfalls auseinandergerissen und wollen wieder zusammen. Das ist aber erst seit 13 Jahren so, und diese Zeitspanne dünkt uns bereits qualvoll lang Historische Parallelen werden immer schief, wenn man sie bis in die aktuelle Politik durchziehen will; aber im moralischen Bereich haben sie — wenn sie richtig ausgewählt sind — ihre volle Berechtigung. Deshalb dürfen wir fragen:

Wo gibt es in der Geschichte für uns einen Anhalt für Hoffnung auf die Wiedervereinigung, wenn das Herz ermattet?

Die Antwort lautet: in der polnischen Geschichte!

Wer in seinem Hirn der Überlegung Platz einräumt, wir sollten uns mit der Zweiteilung abfinden, dem kann man heute keine bessere, nachhaltigere Mahnung ins Ohr rufen als diese: Richte dich auf, indem du an die Polen denkst, die einen solchen Zustand zehnmal solange durchgestanden haben! Willst du weniger stark sein als die Polen, die sich 124 Jahre lang nicht haben beirren lassen, obwohl sie sogar dreigeteilt waren? Und wer einen Hoffnungsschimmer braucht, daß es doch zur deutschen Einigung kommt, auch wenn die Weltlage das jetzt verhindert, dem kann man gleichfalls zurufen: Schau auf Polen! Es hat furchtbar lange gedauert, aber es ist doch zur Wiedervereinigung gekommen, mußte zu ihr kommen, da die Polen sich nicht aufgaben und ihr „Noch ist Polen nicht verloren!“ weitersangen.

Ausdehnung nach dem Ersten Weltkrieg

Ich überspringe, wie die Mittelmächte, Deutschland und Österreich, im I. Weltkrieg versuchten, die Polen gegen das Zarenreich auszuspielen und 1916 als Pufferstaat gegen Rußland ein „Königreich Polen“ proklamierten, über dessen Struktur sie sich untereinander jedoch nicht einigen konnten und das deshalb in den Anfängen stecken blieb. Denn das ist ein trübes Kapitel in der Politik der zu Ende gehenden Wilhelminischen Zeit, bar nicht nur staatsmännischer Kraft, sondern auch — was uns als Mahnung dienen kann — bar des Vermögens, sich in die Ideen und Wünsche unserer Nachbarn hineinzudenken.

Polen war unter Pilsudski auf der Seite der Österreicher angetreten hatten sich aber mit ihnen entzweit. Andere kämpften unter dem General Haller bei den Franzosen mit. Beides fiel nicht in die Waagschale der Entscheidung. Vielmehr erlebten die Polen, daß alle drei Teilungsmächte sich gegenseitig den Untergang bereiteten: Österreich, Deutschland und Rußland. Jetzt war die Stunde Dmowskis gekommen, der auf der Pariser Friedenskonferenz durchsetzte, daß Polen eine möglichst große Ausdehnung erhielt. Da die habsburgische Monarchie zerbröckelte, fiel das sozusagen herrenlose Galizien an Polen als den einstigen Eigentümer zurück. Gegenüber dem bolschewistischen Rußland wurde von den Alliierten eine ungefähr der Volkstumsscheide entsprechende Grenze, die sogenannte Curzon-Linie, ins Auge gefaßt. Aber die Polen, in diesem Augenblick — so muß man sagen — verrannt in die Erinnerungen der großpolnisch-litauischen Zeit, wollten sich mit ihr nicht abfinden, soncern drangen unter Pilsudski bis Kiew vor, reizten dadurd die Bolschewiken zum Gegenschlag, sahen bereits Warschau bedroht und entgingen nur durch das „Wunder an der Weichsel“, d. h. durch eine gesshickte militärische Gegenbewegung, dem Versinken im Roten Meer. Sie konnten daher 1920 die Bolschewiken zu dem für sie günstigen Frieden von Riga zwingen und ihre rot-weißen Grenzpfähle wieder weit Östlich der Curzon-Linie in nicht-polnischen Gebieten einschlagen, also zur Politik von 13 86 zurücklenken.

Von Deutschland erhielten die Polen das zurück, was Preußen ihnen einst abgenommen hatte. Volksabstimmungen in den Regierungsbezirken Marienwerder und Allenstein fielen zugunsten von Deutschland aus. Von Oberschlesien, wo sich 40 Prozent für Polen entschieden, mußten die wertvollsten Teile abgetreten werden. Nur als Stichworte seien die Kämpfe um den Annaberg und die Aufstände Korfantys vermerkt; denn sie genügen, um festzustellen, daß diese Zeit für die Deutschen mit sehr schmerzlichen Erinnerungen belastet ist.

Seit Ende 1918 gab es also wieder ein selbständiges Polen, das von allen drei Nachbarn zurückgewonnen hatte, was es vor den Teilungen besaß, aber ein Polen mit starken Minderheiten, die sich gegen diese Lösung stemmten. Damit begann — das istdiesechsteFeststel1 u n g, die wir zu treffen haben — für Polen nicht die erhoffte Glücks-zeit, sondern ein Weg voller Gefahren, Rückschläge und Scheinerfolge, der durch innere und äußere Faktoren bestimmt und ebenso schwer war wie der nach 1918 von den Deutschen durchmessene.

Es rächte sich, daß die Polen sich im Osten litauisch, weißrussisch und ukrainisch besiedelte Gebiete angeeignet hatten. Bei der Einnahme des von den Ukrainern verteidigten Lemberg verloren sie allein 5 000 Tote, und noch nach Jahrzehnten sah man Geschoßspuren an den Hauswänden der Stadt. Das Verhältnis zu Deutschland, durch die erzwungenen Abtretungen und die mehr oder minder freiwillige Abwanderung von Hunderttausenden dunkel beschattet, wurde durch die Handhabung des in Versailles den Polen auferlegten Minderheitenstatuts noch stärker belastet. Die Frage des zur „Freistadt" gemachten Danzig trug das ihre zur Vergiftung der Atmosphäre bei. Es war selbstverständlich, daß sich Polen an Deutschlands Gegner, vornehmlich also an Frankreich hielt.

Wie sah es im Innern aus? Wirtschaftlich machte die Vereinigung der bisher durch Zollmauern geteilten Gebiete große Schwierigkeiten. Zeitweise litt die Landwirtschaft selbst Galiziens schwere Not. Mit Deutschland wurde neun Jahre Handelskrieg geführt. Vor allem: die Parteien, die sich zusammenschlossen, waren ohne Erfahrung und spielten Demokratie in dem schlechten Sinne des Wortes, d. h. sie vergaßen das Gemeinwohl über ihren Rivalitäten und Ambitionen. Es gab nur einen starken Mann, nämlich den General Pilsudski, dem 1926 der Geduldsfaden riß. Aber die von ihm aufgerichtete, nur wenig verhüllte Militärdiktatur, die nach seinem Tode im Jahre 1935 von schwächeren Gefolgsleuten fortgesetzt wurde, war nicht in der Lage, in wenigen Jahren herbeizuführen, was Polen 124 Jahre versagt gewesen war, nämlich ein öffentliches Leben, in dem die inneren Gegensätze zu fairem Ausgleich gebracht wurden, Militär und Zivil sich ergänzten und eine von allgemeinem Vertrauen getragene Verwaltung amtierte.

Was Polen brauchte, waren Jahrzehnte der Ruhe, und die waren ihm nicht vergönnt. Diesmal erstarkten nicht alle drei Nachbarn, sondern nur einer, nämlich Deutschland, das sich Österreich angliederte und die Tschechoslowakei in Abhängigkeit von sich brachte. 1939 umfaßte daher Hitlers „Großdeutsches Reich" Polen wie ein Hufeisen; doch war dies im Norden durchbrochen durch den Korridor nach Danzig und Gdingen, den neugeschaffenen Ausfuhrhafen für die oberschlesische Kohle. Hier überschnitten sich also die Lebensnotwendigkeiten der beiden Völker in einer Weise, für die — selbst bei gutem Willen auf beiden Seiten — ein friedlicher Ausgleich kaum noch zu verwirklichen war.

Denn angesichts der auf beiden Seiten hochgepeitschten nationalen Leidenschaften wäre auch die einleuchtendste Konzession sofort als unentschuldbarer nationaler Prestigeverlust dargestellt worden.

Allerdings war es Anfang 1934 zu einer mehrere Jahre dauernden Phase der Beruhigung gekommen; denn Hitler hatte einen Ausgleich herbeigeführt, auf den Pilsudski — von Jugend auf ein Gegner Rußlands — eingegangen war. Die Forschung hat geklärt, daß es Hitler Ernst mit diesem Ausgleich war: er starrte auf den Bolschewismus als den Haupt-feind und suchte daher Polen als Bundesgenossen — der Ausdruck „Satellit" war damals noch nicht im Umlauf. Aber das 1939 entstandene Hufeisen machte die Warschauer Regierung so besorgt, daß sie sich wieder an England und Frankreich anlehnte. Hitler konnte das hinnehmen; denn er hielt bereits den Draht nach Moskau in der Hand, der im August dieses Jahres zum deutsch-russischen Vertrag führte — eine Vereinbarung, die im Geheimen auf eine fünfte Teilung Polens hinauslief.

Es kann nicht verschwiegen werden, daß die polnischen Politiker in dieser Krise die Macht ihres Landes völlig überschätzt haben und versuchten, gestützt auf Bündnisse ringsum, Großmachtpolitik wie einst zu treiben. Auf Hitlers Seite also eine macchiavellistische, auf Becks, des polnischen Außenministers, Seite eine unrealistische Politik.

Die Zeit von 1939 — 1945

Die siebte Festellung, die ich zu machen habe, lautet: Polen hat durch uns von 1939 bis 1945 Furchtbares durchgemacht. Ich fügehinzu: Dashatsich an unsbitter gerächt.

Im Vertrauen auf den Vertrag mit Rußland und in der falschen Annahme, daß England und Frankreich nur blufften, brach Hitler am 1. September 1939 den Krieg mit Polen vom Zaun, der binnen vier Wochen zur Vernichtung aller polnischen Streitkräfte und zur Flucht der Regierung ins Ausland führte. Gemäß dem Geheimvertrag überließ Deutschland den Russen die von ihnen beanspruchten Gebiete, darunter nun auch die Lemberger Ecke. Sie bekamen mehr als seinerzeit die Curzon-Linie ihnen zugedacht hatte. Deutschland unmittelbar angegliedert wurden wieder die Provinzen Posen und Westpreußen, jedoch in stark vergrößertem Umfang. Hitler, Jessen erste Erfolge durch die Berufung auf das Nationalitätenprinzip gestützt worden waren, schlug diesem also jetzt offen ins Gesicht. Er trat in die Fußstapfen Friedrich Wilhelms II. von Preußen, der ja schon einmal — jedoch in einer vom Nationalgedanken noch nicht bestimmten Zeit — rein-polnische Gebiete mit seiner Monarchie vereinigt hatte. Ein Rumpfpolen, kleiner als einst Kongreßpolen, wurde dem Dr Frank als „Generalgouvernement Polen" mit Sitz der Verwaltung in Krakau unterstellt.

Jetzt komme ich zu den Fakten, über die zu sprechen für einen Deutschen am allerschwersten ist, die aber nicht vertuscht werden dürfen.

Denn die fünf Jahre der Besetzung bedeuten in unserer Sicht eine Mischung von Verbohrtheit, Überheblichkeit, Dummheit und vor allem verbrecherischer Unmoral, in der Sicht der Polen die Zeit einer Schrekkensherrschaft, schlimmer als sie sie je unter den Russen erlebten.

Ich greife beliebig vermehrbare Zitate heraus, gestützt aut das viel-bändige Tagebuch des in Nürnberg zu Recht gehenkten Frank, das sieb erhalten hat und durch viele sonst noch vorhandene, den Alliierten in die Hände gefallene Dokumente abgestützt wird, so daß — leider, leider — gar nichts abgestritten werden kann. Die Tendenz dieses größenwahnsinnigen Unheilstifters, der einer der Hauptschänder des deutschen Namens ist, war nach seinen eigenen Worten diese:

„Kein Pole soll über den Rang eines Werkmeisters Itinauskommen, Kein Pole wird die Möglidtkeit erkalten können, an allgemeinen staatlichen Anstalten sich eine höhere Bildung anzueignen. Ich darf Sie bitten, diese klare Linie einzuhalten!“

Aber was mit der Intelligenzschicht, die es ja nun einmal gab? Als Weisung Hitlers verkündete Frank:

„Was wir jetzt an Führungsschicht in Polen festgestellt haben, das ist zu liquidieren; was wieder nachwächst, ist von nun an sidterzustellen und in einem entsprechenden Zeitraum wieder wegzusdtaffen. . . . Wir braudten diese Elemente nicht erst in die Konzentrationslager des Reiches abzuschleppen; denn dann hätten wir nur Sdterereien und einen unnötigen Briefwedtsel mit den Familienangehörigen, sondern wir liquidieren die Dinge im Lande.“

Daß Frank die ihm erteilte Weisung ausführte, zeigt die in die Hunderte gehende Liste der polnischen Universitätsdozenten, die Hitlers Regime zum Opfer gefallen sind Ziel der in Krakau eingesetzten Verwaltung war -auch dies sind Formulierungen Franks — „die vollkommene Beherrsdtitng des polnischen Volkes“ und die Ausnutzung des Landes als Arbeitsreservoir:

„Wir haben hier letztlich ein gigantisdtes Arbeitslager, wo alles, was Macht und Selbständigkeit bedeutet, in Händen der Deutsdten ist.“

Und wenn die Polen sich dies nicht gefallen ließen, wenn sie sich gegen eine solche Tatarenherrschaft auflehnten? Als Frank 1940 ein Interview gab, das von dem Faktum ausging, in Prag hätten Plakate verkündet, daß sieben Tschechen erschossen worden seien, erklärte er bramarbasierend:

„Wenn ich für je sieben erschossene Polen ein Plakat aushängen lassen wollte, dann würden die Wälder Polens nicht ausreidten, das Papier herzustellen für solche Plakate.“

1942 erklärte Frank:

„Bevor das deutsche Volk in eine Hungerkatastrophe kommt, sind die besetzten Gebiete und ihre Bevölkerung dem Hunger auszuliefern.“

Im Jahre 1943 verkündete Himmler in Franks Gegenwart:

„Ich bin fest davon überzeugt, daß unsere Arbeit in diesem Nebenland des Großdeutsdten Reiches in der Beherrschung von sechzehn Millionen Fremdvölkisdten durch eine haudtdünne Sdtidtt von Deutschen harmonisdt ablaufen wird.“

„Harmonisch" klingt geradezu infernalisch, denn gemeint war Friedhofsruhe. Ich breche ab mit drei Bemerkungen Franks, zunächst einer über das Verhalten der Wehrmacht zur polnischen Bevölkerung:

„Unsere Landser sind zu nett, unsere Offiziere zu milde“ (verbessert in „gebildet“).

Die nächste ist allgemein gehalten:

„Wir haben immer noch Reste von Humanitätsphantasten und soldten, die aus lauter edtt deutscher Gutmütigkeit die Weltgeschichte zu versddafen pflegen.“

Die dritte stammt aus einer am 30. Mai 1940 gehaltenen Rede:

„Für mich und für einen jeden von Ihnen war es in diesen Monaten furchtbar, immer wieder die Stimmen aus dem Propagandaministerium, aus dem Auswärtigen Amt, aus dem Innenministerium, ja sogar von der Wehrmacht vernehmen zu müssen, daß dies ein Mordregime wäre, daß wir mit diesen Greueln aufhören müßten.“

Es gibt noch mehr solcher Lichtpunkte in diesem düsteren Bilde, aber sie reichen nicht aus, um es aufzuhellen.

Ich ziehe hier — wohlgemerkt — nicht etwas ans Licht, was der Öffentlichkeit nicht bekannt ist, sondern stütze mich auf einen offiziellen Druck, der über die ganze Welt verbreitet ist und festhält, was es für Deutsche gegeben hat 1) Denn daß Frank und seine Helfershelfer daß die in Polen eingesetzten Schergen Himmlers Deutsche waren, das können wir ja nicht abstreiten Wir vermögen nicht -so gern wir’s täten -sie abzuschütteln Da bleibt uns nur dies: sich der Schamröte:

die jedem anständigen Menschen bei solchen Worten und Taten ins Gesicht steigen muß nicht zu schämen und ohne faule Einschränkungen zu sagen: Ja, das war gemein, was Deutsche -meinetwegen „falsche Deutsche“, ab" doch Deutsche -den Polen angetan haben — das war und bleibt gemein Schweigen wir hier von der Vernichtung der polnischen Juden, von den Kämpfei im Warschauer Ghetto der Vernichtung der Hauptstadt im Kampf von Hausblock zu Hausblock gegen die Nationalpolen unter Bor-Komorowski, die aur die bereits jenseits der Weichsel stehenden Russen hofften, aber im Stich gelassen wurden, weil die UdSSR nicht mit ihnen, sondern mit den kommunistischen Trabanten, dem Lubliner Komitee, in Werschau einziehen wollten Ihre Rolle war noch tragischer als die des Generals Kosciuszk und seiner Gefolgschaft. Wir überspringen das und halten gleich das Ergebnis fest.

Alles, was Hitler und seine Paladine für 1 000 Jahre gefestigt glaubten, brach nicht nur wie ein Kartenhaus zusammen, sondern machte das alte Schillerwort wieder wahr„Dasist der Fludi der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses nuß gebären.“

Ich will nicht mehr an schlecht vernarbte Wunden rühren als unbedingt nötig. Stichworte genügen, da uns die Fakten noch auf der Seele brennen: Vorschieben der russischen Grenze — wie kurz schon 1939 — nach Westen, ungefähr dorthin wo im 14. Jahrhundert Stammpolen endete, d. h. Abtretung von Gebieten, in denen es inzwischen zu gemischter Bevölkerung gekommen war; Ersatz für Polen nicht nur durch die 1919 an Deutschland abgetretenen Westgebiete, sondern Einsetzung einer polnischen Verwaltung in den seit dem 12. Jahrhundert mit Deutschland zusammengewachsenen Provinzen Schlesien und Ostpommern, im Ostteil der alten Mark Brandenburg sowie im südlichen Ostpreußen, wo die Eindeutschung im 13. Jahrhundert begonnen hatte: Oder und Neiße — bisher deutsche Binnenflüsse — jetzt Grenze; Vertreibung der zu besitzlosen Proletariern gemachten Deutschen aus jenen Gebieten, die durch die Arbeit ihrer Vorfahren in die Höhe gebracht worden waren; Abschub der Reste, der noch heute andauert — die schlimmsten Kapitel der deutschen Geschichte, die Pestplagen des Mittelalters, der Dreißigjährige Krieg, können sich an Umfang und Schrekken nicht mit dem messen, was sich in unsern Tagen ereignete.

Wen sollen wir anklagen? Die Polen, weil sie Gleiches mit Gleichem vergalten? Roosevelt und Churchill, weil sie im Glauben, die deutsche Gefahr müsse ein für allemal beseitigt werden, zustimmten, daß Polen für die Verluste im Osten sich im Westen schadlos halten durfte? Sag: wir uns doch lieber: wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre, dann wäre es zum Fluch der bösen Tat, die fortzeugend Böses gebiert, nie gekommen! Denn dann ergibt der Blick rückwärts einen Ausblick nach vorn.

Eine neue Lage

Damit komme ich zu meiner achten, abschließenden Feststellung:

Heute stehen wir vor einer neuen Lage, der wir Rechnung zu tragen haben.

Theoretisch wäre es denkbar, daß wir uns mit den Polen an einen Tisch setzten und eine große Aufrechnung begännen: „Ihr habt uns das getan! Wir haben Euch das getan!“ Die Liste würde, wie sich ergab, lang werden, und es’fragt sich, ob am Schlüsse dann die beiden Partner dahin Übereinkommen könnten, zu sagen: Wir sind quitt und beginnen jetzt ein neues, besseres Kapitel in der Geschichte unserer Nachbarschaft.

Daß diese Methode nicht zum Ziele führen würde, versteht sich von selbst. Es genügt, wenn sich beide Völker bewußt sind, nicht nur vom andern verwundet worden zu sein, sondern ihm auch Wunden zugefügt zu haben. Entscheidend dünkt mich heute etwas zu sein, womit man früher nicht rechnen konnte, was wir aber jetzt bei den Polen als ebenso stark wie bei uns voraussetzen dürfen: die Ablehnung nicht nur des Krieges als Mittel, um politische Ziele zu erreichen, sondern auch jeder Aktion, die eine solche Gefahr heraufbeschwören könnte. Wir, die Deutschen und die Polen, haben in zwei Kriegen dessen Schrecken so unmittelbar vor Augen gehabt, daß hier eine Basis zu finden sein muß, auf die wir beide treten können. Insofern dürfen wir sagen: beide Völker haben aus der Geschichte gelernt und dadurch die Chance erhalten, einen Neubeginn zu wagen Obwohl wir noch keine Gelegenheit hatten, durch Diskussionen ads zu überzeugen, darf auch das noch bei den Polen heute genau so wie bei uns vorausgesetzt werden: Hitler glaubte, den Polenfeldzug isoliert durchführen zu können und löste einen Weltkrieg aus. Nachdem der Friede nach Europa zurückgekehrt ist, haben wir schließlich erlebt, wie leicht durch Kämpfe in Korea oder Indochina alles wieder in Brand geraten kann — bis nach Europa hinein. Dadurch haben die Streitfragen, die früher Deutschland und Polen getrennt haben, eine andere Dimen-sion bekommen: sie sind einerseits kleiner geworden, weil es um Europa, um den Frieden der Welt geht, anderseits noch gefährlicher als früher, weil sich an ihnen ein neuer Weltbrand entzünden könnte.

Damit bin ich an die Schwelle der aktuellen Politik gekommen, an der der Historiker den Politikern das Wort zu überlassen hat. Ich hätte ihnen höchstens noch zwei Ratschläge mitzugeben, die ich aus der Geschichte ableite.

Wenn der Versuch, mit den Polen zu einem Ausgleich zu kommen, so angelegt wird, daß sie den Argwohn bekommen, wir wollten sie gegen die Russen ausspielen — was ja nicht das erste Mal wäre —, dann muß ein solcher Versuch scheitern. Nach meiner Meinung müßte vielmehr auf unserer Seite der Satz voranstehen: gute Beziehungen zu einem mit Rußland verfeindeten Polen wären eine solche Belastung unserer sowieso prekären Beziehungen zu der östlichen der beiden Weltmächte, daß es besser wäre, wir bekämen keinen Kontakt mit Polen.

Das wäre der eine Ratschlag; den andern stütze ich mit den Erfahrungen ab, die jeder im Leben sammeln kann:

Wenn zwei Menschen sich auseinandergelebt haben und man versucht, sie wieder zusammenzubringen, dann geht man vernünftigerweise so vor, daß man sie erst einmal zu einer Aussprache überdiePunkte bringt, üb e r d i e s ie si ch wahrscheinlich e r w e i s e verständigen können. Wenn dann eine Atmosphäre schwindenden Mißtrauens, womöglich wachsenden Zutrauens geschaffen ist, darf man es wagen, nach und nach auch die Punkte zur Erörterung zu stellen, von denen man weiß, daß die Kontrahenten sie verschieden werten. Vielleicht gelingt eine Verständigung über sie; vielleicht ist das nicht sogleich möglich. Dann kann man ja warten und einen psychologisch besser gewählten Augenblick abpassen. Dazu gehört aber auch, daß man die Gegenseite geduldig anhört und sich überlegt, was man tun kann, um das Mißtrauen auf der Gegenseite noch weiter auszuräumen.

In der Politik geht es — wenn man den Krieg als letztes Mittel ausschaltet -nicht anders zu. Dabei wird im Falle Polens zu beachten sein, daß wir -worüber wir nicht erstaunt zu sein brauchen — mit einem Berg des Mißtrauens zu rechnen haben werden, der mit der Zeit abgetragen werden muß.

Wenn ich als Historiker mich mit diesen beiden Ratschlägen begnügen muß, so lassen Sie mich doch schließen mit drei Behauptungen, zu denen ich nicht als solcher, sondern als Zeitgenosse komme, der den Lauf der Dinge zu beobachten trachtet:

1. Ein Ausgleich mit Polen ist nötig, dringend nötig.

2. Ein Ausgleich scheint mir erreichbar.

3. Ich halte den Augenblick für gekommen, den Ausgleich zu versuchen, d. h. auch im Verhältnis zwischen Deutschen und Polen eine „kopernikanische Wendung" anzustreben, im Zeichen jenes Mannes, auf den beide Völker gemeinsam stolz sein dürfen.

Anmerkung:

Percy Ernst Schramm, Dr. phil., o. Universitätsprofessor für Mittlere und Neuere Geschichte in Göttingen; geb. Hamburg 14. 10. 1894. Mitglied der Akad. Göttingen, Wien, Hist. Kommission, Bayr. Akad. d. Wissenschaften, Inhaber der Friedensklasse des Ordens Pour le Merite.

Fussnoten

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