Entstehung einer „sowjetischen” Nation
Wird einem die Aufgabe gestellt, für einen breiteren Leserkreis über die sowjetische Erziehungstheorie und -praxis unter deutschem Blickpunkt zu berichten, so kann man nicht umhin, von der besonderen Situation unseres Landes im Kräftespiel von Ost und West auszugehen. Das dreizehnte Jahr erlebt Deutschland an einem Teil seines Volkskörpers das Experiment sowjetrussischer Umerziehung. Wie stark man als westdeutscher Erzieher die Auswirkungen dessen, was in dem sonst schwer zugänglichen Gebiet geschieht, täglich unmittelbar vor Augen hat, mögen einige statistische Daten illustrieren: Im letzten Schuljahr sind rund 2500 Ost-Abiturienten nach Westdeutschland geflüchtet, die hier in Sonderkursen schulisch betreut werden müssen. Das sind 2 5 °/o der höheren Schulabgänger Mitteldeutschlands. Allein an der West-Berliner Universität sind im laufenden Semester 3228 aus der „Deutschen Demokratischen Republik“ kommende Studenten immatrikuliert. 124 Professoren und Assistenten kamen im ersten Halbjahr 1958 herüber. Mehr als 70 000 mitteldeutsche Lehrer haben sich im verflossenen Jahrzwölft in die Bundesrepublik abgesetzt, d. h. in absoluter Schätzung, daß der gesamte Lehrerbestand der „DDR“ allein auf Grund der Flucht einmal ausgewechselt werden mußte.
Erfreulicherweise darf festgestellt werden, daß das Ergebnis jenes Erziehungs-Versuches in einem starken Mißverhältnis zum erstrebten Ziel steht. Das „Soll“ konnte in dieser Hinsicht hier so wenig erreicht werden, wie überall im sowjetischen Herrschaftsbereich sonst. Was in vierzigjährigem Bemühen in der Sowjetunion nicht erziehlt wurde, vermochte man erst recht nicht unter den weit ungünstigeren Verhältnissen auf ost-und mitteleuropäischem Boden im Schnellverfahren zu erreichen.
Es hieße den Wirkungsradius der sowjetischen Erziehung arg unterschätzen, wollte man sich mit einer solchen allgemeinen Auskunft zufriedengeben. Wohl irrten Stalin wie B e r d j a e v , wenn sie glaubten, unter dem sowjetischen System würde ein „Mensch neuen Typs“
heranwachsen. Das bleibt ein Wunschtraum für eine kommunistische Utopia. Aber Stalin irrte nicht, wenn er behauptete, daß unter seinen Augen eine sowjetische Nation mit arteigenem Patriotismus erwachsen sei. Das sowjetische Nationalempfinden und Vaterlandsbewußtsein ist nur die psychologische Spiegelung des soziologischen Strukturwandels: der Entstehung einer neuen, sowjetsozialistischen Gesellschaft. Diese wiederum ist nicht einfach das Produkt der politisch-ökonomischen „Verhältnisse“, wie es die Sowjetführer gerne hinstellen. Sie ist weitgehend das Ergebnis geplanten sowjeterzieherischen Bemühens.
Das gilt nicht allein für die Sowjetunion. Auch in den sogenannten Volksdemokratien zeichnen sich bereits die Konturen eines entsprechenden Wandels nach sowjetischem Modell ab. Sie erhalten hier, wie in den nationalen Republiken der UdSSR, neben dem hervorstechenden Kennzeichen politischer Uniformität die besondere Note kultureller Russifizierung. Dieses Merkmal nimmt sich in Mittel-deutschland, einem nichtslawischen Land des osteuropäischen Blocks, umso eigenartiger aus, als seine sowjetdeutschen Machthaber — im Gegensatz insbesondere zu Polen — die weitestgehende Angleichung an das sowjetrussische „Vorbild“ mit allen Mitteln anstreben. An den Sowjetisierungsintentionen der „DDR“ ist bis zur Stunde das geheime Ziel stalinistischer Politik transparent, diese pervertierten National-gebilde zu gegebener Zeit als Sowjetrepubliken zu annektieren. Unabhängig davon, ob man hüben wie drüben dem stalinistischen Idol noch anhängt oder nicht: auch als sonderstaatliche Sozietäten nähern sie sich mehr und mehr der sowjetischen Gesellschaftsstruktur, gliedern sich ihr ein und ordnen sich ihr unter. In dieser Beziehung arbeitet die Zeit eindeutig gegen den Westen!
Doch wenn auf der einen Seite konstatiert werden kann, daß der Mensch im sowjetischen Lebensbereich personal nicht „umstrukturiert“ worden ist, auf der anderen Seite aber eingeräumt werden muß, daß ein grundlegender sozialer Wandel stattgefunden hat und weiterhin erfolgt, wie steht es dann um das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft? An dieser Stelle stoßen wir auf die Kernproblematik sowjetischer Pädagogik, die uns in dem Begriffspaar „Individuum undKollekt i v “ gegenübertritt. Bedeutet die Aussage über die neue Sowjetgesellschäft, daß diese ein Lebenskollektiv darstellt, wie es die „Klassiker“ der Sowjetideologie forderten? Wie verhalten sich gegebenenfalls Erziehungs-und Lebenskollektiv zueinander? Ist das pädagogische Kollektiv die Vorwegnahme des gesellschaftlichen Kollektivs, wie es Makar e n k o vertrat? Und welcher Raum bleibt dann noch dem Einzelnen als Objekt dieser Einwirkung? Ist er wirklich ein gleichsam organisches Glied einer Korporation, wie es Krupskaja vorschwebte? Oder nur ein Funktionsdetail des Sozialapparates, wie es die Stalinisten wollten? Oder führt er zwangsläufig — bewußt oder unbewußt — ein Doppelleben?
Wir möchten die letzte Frage bejahen. Der einzelne Sowjetbürger gebärdet sich in der Öffentlichkeit, vor allem bei den obligatorischen Massenversammlungen und -demonstrationen, durchaus kollektivhaft; weniger zwar als selbstbewußter Bürger, eher als „unterbewußter“ Untertan. Er spielt dabei im Durchschnitt allerdings nicht die Rolle eines passiven Dulders. Er beteiligt sich an dem offiziellen Zeremoniell als dem Ausdruck eines sogenannten Volkswillens, ohne nach dem Sinn des Ganzen zu fragen. Was im Erziehungskollektiv formal eingeübt wurde, wird hier zur äußeren Gewohnheit. Der Einzelne empfindet sich dabei weder als organisches Glied noch als Funktionselement, sondern einfach als Angehöriger eines Lebenskreises und Teilnehmer eines Vorganges, dem man schicksalhaft einverwoben ist. Dieses Zugehörigkeitsgefühl ist — zumal beim Russen — historisch verankert und übersetzt sich heute, etwa angesichts des grandiosen technisch-wirtschaftlichen Fortschritts, in sowjetpatriotischen Nationalstolz.
In der Privatsphäre ist man demgegenüber der „alte Adam“ geblieben. Hier interessiert sich der „sowjetische“ Mensch weniger für politisch-ideologische Konformität, sondern in erster Linie für persönlichen Erwerb und eigene Freizeitgestaltung. Die Familie ist alles andere als ein Kollektiv; sie ist auch, wie das Individuum, nicht sowjetisch; sie ist einfach russisch, ukrainisch, usbekisch usw. Wie ihrerseits die Freundschaft, insbesondere zwischen den Geschlechtern, sich nicht „gesellschaftlich“ ausrichtet — aller Traktorenromantik zum Trotz!
Revolution der Bildung?
Wie ist es zu diesem nicht beabsichtigten Ergebnis gekommen? Was ist konkret erstrebt und erreicht worden? In welcher Form ist die von der Partei ausgegebene politisch-ideologische Erziehungsdirektive von der sowjetischen Pädagogik übernommen und interpretiert worden? Verfolgen wir die sowjetpädagogische Entwicklung exemplarisch anhand der Aussagen der Klassiker der Sowjetpädagogik.
Der bedeutendste Theoretiker der frühsowjetischen Pädagogik war P. P. Blonskij. Blonskij, bereits vor der Revolution Dozent an der Moskauer Staatsuniversität, ein Tolstoj-Verehrer und Nicht-Bolschewik, gewann im wesentlichen durch die Vermittlung Krupskajas maßgeblichen Einfluß bei den Gründungsversuchen der sowjetischen Erziehung. •In dem Hauptwerk „Die Arbeitsschule“ entwickelt er eine eigene pädagogische Konzeption, die ausdrücklich an die klassische Tradition anknüpfen und die reformpädagogischen Intentionen des Westens verwerten möchte. Pestalozzi und Fröbel, Dewey und S c harre 1 m a n n werden im Vorwort namentlich neben Marx aufgeführt.
Der Mensch ist für Blonskij wesenhaft homo faber; er ist ein arbeitendes, ein werktätiges Wesen. Darin stimmt er sowohl mit Marx und Engels wie mit den Bolschewisten und auch mit der Sozialdemokratie seiner Zeit überein. Aber Blonskij faßt den Begriff „Arbeit“ nicht eng.
Arbeit ist für ihn: schöpferisch tätig sein. So kann er seine Auffassung von der Arbeitserziehung als „schaffende Erziehung“ charakterisieren.
Blonskij erstrebt den „gebildeten oder doch zum mindesten einen kulturellen Arbeiter“, der sich selber weiterbilden könne; einen „Bruder und Mitarbeiter“ aller Werktätigen, wie es heißt, „gegenwärtig . . . und gleichzeitig kindlich durch sein altruistisches Gemüt und poetisches Gefühl, in Technik, Wissensdiaft, Natur und Kunst lebend“.
In der maßgeblichen Verordnung über die „Einheitsarbeitsschule“ von 1918 und den Erläuterungen zu ihr finden wir eine Reihe sehr aufschlußreicher Anmerkungen genuinpädagogischen Charakters, die wohl im wesentlichen Blonskij zuzuschreiben sind. Dort heißt es: „Die Arbeit wird zum wirksamen pädagogischen Mittel, wenn sie schöpferisch und fröhlich, ohne gewaltsame Einwirkung auf die kindliche Persönlichkeit durchgeführt wird“. „Ein äußerst wesentlicl-ter Grundsatz der neuen Schule muß die möglichst weitgehende Individualisierung des Unterrichts sein. Hierunter ist eine Berüd^sichtigung der Neigungen und charakterlidten Eigenschaften jedes Sdtülers durch den Lehrer zu verstehen“.
Das sind ideologiefreie, spezifisch pädagogische Äußerungen, wie man sie in den bedeutendsten pädagogischen Werken der Welt findet.
Daß man daneben auch ein ausdrückliches Bekenntnis zur sozialen Erziehung findet, wird wohl weniger überraschen als die soeben angeführten Sätze. Wie Kerschensteiner, Dewey und andere westliche Pädagogen sehen auch Blonskij und die ersten Sowjetpädagogen in der Arbeitsgemeinschaft das ideale Instrument pädagogischer Selbstbetätigung. Doch man geht bereits einen starken Schritt weiter. Man spricht noch nicht von der Kollektiverziehung, aber schon vom „kollektiven Handeln" und „Schulkollektiv“. Das meint natürlich mehr, als die damals und heute im Westen vertretene Gemeinschaftserziehung. Es meint: „Kurz gesagt sollen die kollektive, produktive Arbeit und die Organisation des gesamten Sdtullebens die künftigen Bürger der sozialistischen Republik erziehen“. Lim Mißverständnissen vorzubeugen, wird dabei aber erklärt, die Individualisierung solle dadurch nicht „eingeengt“ werden: „Um keinen Preis werden wir die Persönlidikeit betrügen, in ihrer Entwicklung beschneiden oder sie gewaltsam in Formen zwängen; die Stabilität der sozialistischen Gesellschaft beruht nicht auf Gleidtmacherei oder auf unnatürlicher Dressur, sondern auf der wirklichen Solidarität der Interessen“. Welche Kluft besteht zwischen dieser Position in dem von Lunacarskij unterzeichneten Schuldokument und der von Stalin in den dreißiger Jahren durchgesetzten!
Der erste nachrevolutionäre Volksbildungskommissar A. V. Lunacarskij — wie Blonskij vor dem Oktobersieg der bolschewistischen Partei fernstehend — bemüht sich, wie dieser, um eine Verknüpfung von Tradition und Fortschritt der Erziehung. Er fühlt sich dem abendländisch-humanistischen Bildungsbegriff eng verbunden, will ihn auf die neusowjetischen Verhältnisse reproduzieren, vertritt das Bildungsideal eines „humanistisch-sozialistischen Harmonismus“.
Ein gebildeter Mensch ist nach Lunacarskij ein Mensch, in dem die menschliche Gestalt, das menschliche Bild dominiert. Die sozialistische Revolution ist für ihn eine „Revolution der Bildung“. Sozialistisches Kämpfertum bedeutet ihm das Eintreten für. die Erlangung der Menschenwürde in und durch Bildung.
Lunacarskij ist, wie die gesamte sowjetische Pädagogik, bei diesem personalen Ausgangspunkt nicht stehengeblieben. Die Umstände zwangen ihn und andere, den Akzent mehr und mehr von der Individualität auf die Kollektivität zu verlagern. Lenins Frau N. K. Krupskaja, die große Idealistin in der Parteiführung und deren Expertin für Erziehungsfragen, hat von Anfang an sehr stark die sozialerzieherische Aufgabe herausgestellt. Das mag dem Einfluß Lenins zuzuschreiben sein. Sie hat aber auch die andere Komponente, die Idee freier Persönlichkeitsbildung, nie ganz aus dem Auge verloren. Darin zeigte sie sich Tolstoj und dessen Schülern — man darf sie in gewisser Hinsicht selbst dazuzählen — bis zu ihrem Tode persönlich verbunden.
Ihre Sprache ist schlicht, wie die der Partei, sie verrät aber Satz für Satz, daß hier ein Mensch von anderen Menschen nicht wie von Objekten spricht:
„Ein Kommunist ist in erster Linie ein gesellschaftlidier Mensdt mit einem gesellschaftlidien Instinkt“. „Von den ersten Jahren an muß das Kind gemeinsam mit anderen Kindern leben, spielen, arbeiten und seine Freuden und Leiden teilen können“. „Die Schule, deren Ziel die Entwicklung des gesellschaftlichen Instinkts in den Schülern ist, kann sich nicht absondern“ usw. Aber: „Das bedeutet nicht, daß die Persönlichkeit von der Gesellschaft unterdrückt werden wird . ... Es werden nicht nur der innere Streit und die innere Entzweiung aufhören, sondern im Gegenteil, die Persönlichkeit wird sich frei entfalten können und aus dem kollektiven Leben Kraft schöpfen.“
Auch der eigentliche Begründer der sowjetischen Kollektiv-Erziehung, A. S. Makarenko, wollte in Theorie und Praxis bis zu einem gewissen Grade am anderen Pol festhalten. Menschenbild und Erziehungszielsetzung hatten sich dem parteilosen ukrainischen Volksschullehrer und Sozialpädagogen aus der eigenen pädagogischen Erfahrung, der geistigen Welt Maxim Gorkijs und dem Revolutionserleben gebildet.
Er will die elementaren, selbstverständlichen Tugenden, wie Ehrlich-keit und Zuverlässigkeit, Sauberkeit und Anständigkeit, Selbstbeherrschung und Mäßigung, mit den sozial-ökonomischen, die in der Welt der Massenarbeit gelten, verschränken, ja aus ihnen gewinnen. Pflichtbewußtsein und Verantwortungsgefühl, Sachlichkeit und Leistungsfähigkeit, Hilfsbereitschaft und Kameradschaftlichkeit, Ordnungsliebe und Diszipliniertheit sind Werte, die nach Makarenko am besten im Arbeitskollektiv entfaltet werden können. Aber dieselben Zöglinge, die zuerst von Makarenko wirklich gerettet wurden, im Umgang mit ihm ihr Menschsein entdeckt hatten, wurden dann unmerklich einem politischen System und Dogma überantwortet, das die gewonnene Freiheit wieder aufhob. Es ist Makarenko wohl nie ganz bewußt geworden — auch nicht in den Jahren des tragischen Abganges Maxim Gorkijs — wie stark er sich selbst der politischen Ideologie des Bolschewismus auslieferte, als er von ihren Autoritäten nicht mehr bekämpft, sondern protegiert wurde. In den dreißiger Jahren erhalten seine pädagogischen Formen mehr und mehr das Vorzeichen sowjetsozialistischer Programmatik und parteilicher Dogmatik. Sie finden ihren Ausdruck in der nun wirklich für seine politisch-pädagogische Konzeption geltenden These von der „Dialektik“ kollektiver Erziehung: „zum (sowjetsozialistischen)
Kollektiv durch das (sozialpädagogische) Kollektiv.“
Sie macht deutlich, was für Makarenkos gesamte pädagogische Konzeption gilt: Je mehr er sich dem utilaristischen Bildungsideal eines politisierten und professionalisierten Sowjetmenschen äußerlich verschrieb, desto mehr rang er innerlich um die unmögliche Synthese zwischen kollektiver dogmatischer Unfreiheit und personaler humaner Würde. Der später gekoppelte Ehr-und Pflichtbegriff spiegelt diese Diskrepanz auf formaler Ebene wider. Er versuchte sich mit der Dialektik, nicht in der Extremität bolschewistischer Praxis, sondern im fruchtbaren Sinne philosophisch-methodischen Denkens, zu helfen. Aber wie sollte die Gleichung dort aufgehen, wo es nicht mehr um formal-begriffliche, sondern um grundsätzliche, existentielle Gegensätze geht, dort, wo die eine Lebenseinstellung von der Überzeugung inhaltlicher Ausschließlichkeit der anderen, entgegengesetzten lebt?
Man muß Makarenko zugute halten, daß er, wie auf höherer Ebene Gorkij, diese Divergenz tief und schmerzlich empfand, aber deren Problematik nicht, wie sein großer Lehrer, durchschaute, sondern in der Tat an die Auflösbarkeit einer Dissonanz glaubte. Diese tragisch-schicksalhafte, dem Sowjetmenschen überhaupt eigene Zwiespältigkeit überschattet das ganze pädagogische Werk Makarenkos wie die Pädagogik der Sowjetunion. Sie bleiben die Antwort auf die entscheidende pädagogische Frage schuldig: Wie kann man dem Kinde als solchem und dem Erwachsenen in ihm, seiner Gegenwart und Zukunft, Freiheit und Gebundenheit, der allgemeinen, humanitären Bildung und der speziellen, zweckhaften Ausbildung, der Individualität und Sozialität zugleich gerecht werden. Makarenko bemühte sich, wie vormals Krupskaja, ernsthaft um eine theoretische Lösung des Problems, zugespitzt auf das Verhältnis von Individuum und Kollektiv. Sie konnte ihm wie jener nicht gelingen, weil sie nach sowjetphilosophischer Version gar nicht als polare Größen — also gerade nicht dialektisch — gedacht werden können, sondern einseitig vom „zoon politikon" aus begriffen werden müssen. Es sind keine „interpersonalen“ Kategorien, zu denen er angeblich gelangt, sondern letztlich apersonale, kollektivistische Prinzipien.
Wir sehen bei Blonskij, Krupskaja, Lunacarskij und zunächst auch bei Makarenko: Man wollte nicht nur angeblich, man wollte tatsächlich durch die Kollektiverziehung zur Persönlichkeitsbildung kommen. Man glaubte ehrlich, ein pädagogisches Erbübel der Geschichte dadurch überwinden zu müssen, daß man die einseitige Individualerziehung ergänzt, ja überhöht in und mit der Gemeinschaftserziehung. Man wußte sich darin in bester Gesellschaft nicht allein mit den pädagogischen Ideen des 19. Jahrhunderts Rußlands. Auch im Westen wollte man in derselben Zeit, als die frühsowjetische Pädagogik vorbereitet wurde und zur Entfaltung kam, in dieser Hinsicht prinzipiell dasselbe. Ich erinnere an so unverdächtige Namen wie Kerschensteiner, Montessori, Dewey, Kilpatrick, Parkhurst, Ferrier e, D e c r o 1 y.
Später wurde deutlich, daß die bolschewistische Partei namentlich stalinscher Prägung unter Kollektiverziehung etwas grundsätzlich anderes verstand. Schule und Erziehung — der Begriff Bildung (obrazovanije) verschwand bezeichnenderweise mehr und mehr aus dem Sprachgebrauch — wurden als politicum schlechthin betrachtet und sollten ein bloßes Mittel, ein Werkzeug in der Hand der Parteipolitik sein. So verstanden, bedeutete Sozialerziehung etwas weit Radikaleres als gemeinschaftliche Erziehung im Sinne der Ergänzung der Individualerziehung. Sie bedeutete im Gegenteil die Annullierung der Individualität durch parteiische Erziehung, d. h. vermassende Typologisierung
Doch der Mensch ist nun einmal, wie die geschichtliche Erfahrung lehrt — immerhin eine Größe, die gerade von den Sowjets auf Grund der marxistischen Ideologie akzeptiert werden müßte — in der Hand des Menschen kein Lehmklumpen, wie in der Hand Gottes, nach dem Mosaischen Gleichnis. Der Mensch ist keine tabula rasa, aber auch keine „denkende Maschine“, eine Formulierung, wie sie in den dreißiger Jahren in der Sowjetunion tatsächlich gewagt wurde. (Sie vermochte sich freilich so wenig zu behaupten, wie etwa S u 1 g i n s Theorie „vom Tode der Schule“). Der Mensch ist, wie wir mit H e r b a r t sagen, wohl ein bildsames, aber kein willkürlich formbares Wesen. Die charakteristisch aufklärerische These von der Allmacht der Erziehung erscheint uns heute genau so illusorisch wie die andere gleichen Ursprungs vom vollkommenen Menschen. Der Mensch ist vom Erbe wie Milieu her an die je eigenen Voraussetzungen gebunden. Pestalozzi sprach von seiner Individuallage. Diese Gebundenheit teilt er mit dem Tier. Er ist zugleich — und das unterscheidet ihn wesenhaft vom Tier — ein geist-begnadetes Wesen: der „Mensch erhobenen Hauptes“ (Thornton Wilder). Das ist die herrschaftliche Berufung des Menschen, seine eigentliche Freiheit in der Bindung, seine Gottesabbildlichkeit. Es gibt situationsbedingte und zweckgebundene Aufgaben der Erziehung, bei den Sowjets genau so wie bei uns. Bildung aber geht weiter und greift tiefer: Sie ermöglicht Reifung zur personalen Souveränität in Denken und Handeln, Wollen und Vollbringen.
Es liegt auf der Hand: Der Mensch als Mensch wie ihn die Kultur-geschichte bisher sah, und zwar nicht nur im christlich-abendländischen Menschenbild, ging hier verloren. Das Recht auf Bildung für jedermann zu seiner menschlichen Bestimmung, bekanntlich auch ein Anliegen von Marx, wurde hier ersetzt durch die Erziehungspflicht für die jeweilige Funktion im gesellschaftlichen Kollektiv. Die Erziehung und ihr Objekt: der Mensch erfüllen eine ausgesprochen zweckhaft-utilitaristische Aufgabe. Die Erziehung wird, wie alles geistige Leben — nur die Sprache wurde von Stalin in seinen letzten Jahren, sei es eine Laune des Alters, seien es naheliegende politische Gründe, davon ausgenommen — als bloßer Überbau auf der sozialökonomischen Basis, als Produkt der gesellschaftlich-materiellen Umwelt angesehen. Weit entfernt davon, wie es die eigentlichen Klassiker der Sowjetpädagogik erstrebten, den ganzen Menschen zu erziehen und zu erzielen! Die sowjetische Kultur-politik unter Stalin operierte mit einer Pädagogik ohne Mensch.
Keine Überwindung der Fehlentwicklung
Nach Stalins Tode begann man diesen Irrtum einzusehen. Rufen wir uns nur die scharfe Wissenschaftskritik auf und nach dem XX. Parteikongreß in Erinnerung. Der These von der notwendigen Beachtung der wissenschaftlichen Eigenart folgte die These von der „Spezifik pädagogischer Erscheinungen“. Der Akademie Pädagogischen der der Wissenschaften der Russischen Sowjetrepublik und ehemalige Volksbildungsminister Kairov sowie die Pädagogik-Professorin abaje j a haben sich eindeutig in dem Sinne ausgesprochen. Es hieß:
„Die wedianisdte Übertragung der Kategorien der Politischen Ökonomie auf die Erziehungstheorie konnten natürlich der Pädagogik keine wesentliche Hilfe erweisen, sondern führten ganz folgerichtig zur unfruchtbaren Scholastik, . . . während gleichzeitig der Klärung der Spezifik pädagogischer Erscheinungen, die das Wesen der Erziehung bilden, nidu genügend Aufmerksamkeit gesd'ienkt wird. ” Gerade diese Tatsache haben sachliche Kritiker des Westens, nicht böswillige — wie gerne unterstellt wird —, seit Jahr und Tag festgestellt. Man muß diese Kritik immer noch der sowjetischen Erziehungswissenschaft entgegenhalten.
Einen Schritt weiter als die innersowjetische pädagogische Kritik ging 1956 die im Zusammenhang mit den Comenius-Ehrungen einberufene Konferenz der tschechoslowakischen Erziehungswissenschaftler, an der auch Vertreter der Nachbarländer teilnehmen. Prof. Pavlik, Leiter des Pädagogischen Kabinetts der Slowakischen Akademie der Wissenschaften und Verfasser einer wissenschaftlich fundierten Arbeit über die Entwicklung des sowjetischen Bildungswesens, geißelte den „deduktivscholastischen Charakter“ mancher theoretischen Werke. Der Hauptfehler sei, daß man sich „der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeit der erzieherisdten Erscheinungen meistens nur von einer, das heißt, von der gesellsdiaftlidien Sphäre her“ nähere und „sie von der anderen Seite, von der Sphäre der Natur her“, nur ungenügend prüfe. Das führe zu einer „Pädagogik ohne Kind“. Es ist interessant zu erfahren, daß der ostdeutsche Gast der Konferenz, Prof. A 11 von der Humboldt-LIniversität, erklärt habe, „daß die gleidren Probleme, wie sie auf dieser Konferenz in Prag ausgesprochen wurden, auch die Pädagogen in der DDR bewegen“. Wir wissen, wie wahr und notwendig gerade dort diese Kritik ist!
Die sowjetische wie die von ihr maßgeblich bestimmte Pädagogik der assoziierten Länder ist allerdings nicht bereit oder in der Lage, daraus die notwendigen Folgerungen zu ziehen. Man müßte wenigstens zurück zu den zwanziger Jahren, zu Krupskaja, Blonskij und den anderen, in der pädagogischen Bedeutung allenfalls Makarenko nachstehenden Größen! Gewiß, man „gräbt“ sie wieder aus, gibt deren Werke neu und vollständiger heraus, lehrt sie wieder in den Hochschulen. Man gibt sogar uns in der Kritik recht, daß sie bisher sträflich vernachlässigt worden seien. Aber man ist nicht willens, die stalinistische Fehlentwicklung der Sowjetpädagogik von dort her zu überwinden. Der Vizepräsident der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften der RSFSR und Professor an der Lomonosov-Universität Markouchevic erklärte in einem Gespräch anläßlich der UNESCO-Tagung für Pädagogik in Hamburg im November 1957, man sehe keinen Bruch der pädagogischen Entwicklung der Sowjetunion unter Stalin.
Diese Aussage ist charakteristisch. Sie kennzeichnet den Wesensunterschied in der Beurteilung der Sowjetpädagogik von hüben und drüben. Wir sehen in der frühsowjetischen Erziehungsentwicklung ein reformpädagogisches Ringen, das den Menschen als je individuelle Einmaligkeit noch nicht ganz aus den Augen verloren hatte und bis zu einem gewissen Grade zu seinem Recht kommen ließ. Unter S t a I i n ist dann der große „Ausverkauf“ des Menschen in jeder Hinsicht unternommen worden. Das war die zwangsläufige Folge, die Kehrseite des Persönlichkeitskultes um Stalin und Genossen. Solange man nicht bereit ist, das zu erkennen und sich von dieser Politik Stalins zu distanzieren, wird der Mensch in der Sowjetunion sowie in den „Volksdemokratien“ nicht zu seinem Recht kommen können, insbesondere auch nicht zu dem ihm im Verfassungsartikel 121 verbrieften Recht auf Bildung.
Deutsche ostpädagogische Forschung erst am Anfang
Es konnte in dem Beitrag nur eine Antwort auf die uns zentral erscheinende Frage der sowjetischen Erziehung gegeben werden. Angesichts der sowjetischen Erziehungswirklichkeit im anderen Teil Deutschlands nehmen sich in der Bundesrepublik mehr und mehr Vorträge und Publikationen der kritischen Durchdringung des immer noch von vielen in seiner prinzipiellen wie aktuellen Bedeutung verkannten Phänomens an.
Die deutsche ostpädagogische Forschung steht erst am Anfang. Sie steht heute vor der ebenso schwierigen wie ehrenvollen Aufgabe, die in den zwanziger Jahren namentlich von Sergius Hessen begründete Tradition fortzuführen. Durch die Einrichtung einer Forschungsstelle für Sowjetpädagogik am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin ist die institutionelle Voraussetzung für die Konzentrierung und Koordinierung dieses erziehungswissenschaftlichen
Zweiges in Deutschland gegeben. Sie bedarf um dieses Auftrages willen besonderer, großzügiger Förderung.
Wie wichtig es auch ist, daß diese Arbeit in Verbindung mit der deutschen Ostforschung der anderen Fachbereiche im Rahmen der neu-entstandenen Osteuropa-Institute vorgenommen werden kann, sie muß sich zugleich als Wesensbestandteil der Vergleichenden Pädagogik betrachten. Diese bedarf in der besonderen geographisch-politischen Lage unseres Landes gerade der Ausweitung ihres Gesichts-_ kreises ad orientem.
Anmerkung:
Leonhard Froese, Dr. phil. habil., Dozent für Pädagogik an der Universität Hamburg, Lehrauftrag an der FU Berlin. „Ideengeschichtliche Triebkräfte der russischen und sowjetischen Pädagogik", Heidelberg 1956.