Der nachstehende Aufsatz ist dem Buch „Wissenschaft und Menschenbildung im Lichte des West-Ost-Gegen-satzes“ von Theodor Litt mit freundlicher Genemigung des Verlages entnommen. Das Buch ist 1958 bei Quelle & Meyer in Heidelberg erschienen.
Wissenschaft und Epochalbewußtsein
Es wird heute viel verhandelt über jene Betätigung der Hochschule, die die Engländer als die „extramurale“ bezeichnen — über ihre Bereitschaft oder Verpflichtung, auch die nicht zur akademischen Gemeinschaft gehörige Allgemeinheit an den Früchten ihrer Arbeit teilnehmen zu lassen. Den meisten dieser Erörterungen liegt eine Vorstellung zugrunde, die sich etwa folgendermaßen wiedergeben ließe. Die Hochschule erarbeitet einen Schatz von Wissen und Können, der zunächst denjenigen zugute kommt, die in irgend einem, sei es auch bescheidenen Maße, an seinem Erwerb beteiligt sind: den Forschenden, Lehrenden und Lernenden. Finden sich die an der Hochschule Lehrenden darüber hinaus noch bereit, den nicht dem corpus academicum Angehörigen in den sie bedrängenden Fragen, Zweifeln und Nöten zur Hilfe zu kommen, so ist das eine Betätigung, die zu dem, was den Inhalt ihrer Lebensarbeit ausmacht, äußerlich hinzutritt. Es läßt den Kern dieser Arbeit unberührt. Es könnte auch wegfallen, ohne daß ihr dadurch eine Beeinträchtigung widerführe. Es ist, mit einem Worte ein opus supervacaneum, das die Hochschule auf sich nimmt, wenn sie dem besagten Verlangen entgegenkommt. Ich stelle der damit reproduzierten Vorstellung die These entgegen, daß sie allenfalls auf die Gestalt der Dinge zutrifft, aus der sich noch vor einem halben Jahrhundert das Verhältnis von Hochschule und außer-akademischer Allgemeinheit bestimmte, daß aber heute eine Umgestaltung teils vollendet, teils im Gange ist, hinter der sie hoffnungslos zurückbleibt. Heute darf es die Hochschule nicht mehr als ein Verdienst buchen, wenn sie auf das Rücksicht nimmt, was die Allgemeinheit von ihr an Aufschlüssen erwartet und fordert; heute übt sie nicht ein freiwilliges Entgegenkommen, wenn sie auf diese Zumutungen eingeht — nein: es ist recht eigentlich der Kern ihrer ureigensten Aufgabe, auf den sie durch diese scheinbar von außen kommenden Anrufe hinge-drängt wird. Nur wenn sie in dem, was sich in diesen Anrufen meldet, das Anliegen erkennt, dem sie ihre ganze Kraft widmen muß, um dasjenige sein zu können, was sie als Glied dieser bestimmten Epoche zu sein hat — nur dann wird sie ihren Platz im Aufbau des Ganzen behaupten. Glaubt sie es ignorieren zu können, so verurteilt sie sich selbst zur Abdankung.
In dieser These spricht sich die Überzeugung aus, daß die Funktion, die der Wissenschaft im Zusammenhang des Gesamtlebens auszuüben obliegt, sich im Laufe des letzten Menschenalters in einer tief einschneidenden Weise abgewandelt hat. Wenn ich das übersehe, was seit dem Kriegsende zu dem Thema „Hochschulreform" beigebracht worden ist, so kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß man sich weithin an Fragen festgebissen hat, die zweifellos ernsthaft diskutiert zu werden verlangen und verdienen, deren Verhandlung aber zuletzt doch von dem, worauf es eigentlich ankommt, abführt.
Die Wandlung, auf die hingedeutet wurde, hat nicht bloß darin ihren Grund, daß die Erhaltung und Gestaltung unseres Lebens in einem rapid anwachsenden Maße auf die Erleuchtungen angewiesen ist, die nun einmal nur eine allseitig ausgebaute und methodisch disziplinierte Wissenschaft herzugeben vermag. Es geht nicht nur um die quantitative Zunahme dessen, was das allgemeine Leben von der Wissenschaft an AufSchlüssen erwartet. Das Volumen des in dieser Hinsicht von der Wissenschaft zu Leistenden könnte beliebig anwachsen, ohne daß deshalb Wissenschaft und Hochschule die Rolle des aus selbsterworbenem Überfluß freiwillig Spendenden aufzugeben brauchten. Entscheidend ist vielmehr dies, daß diejenigen Fragen, mit denen heute die Allgemeinheit an die Wissenschaft herantritt, in einer solchen Tiefe wurzeln, eine so allumfassende Bedeutung haben und zugleich mit der Existenz des gerade lebenden Geschlechts so unlösbar verbunden sind, daß sie sträflich mißachtet, ja völlig verkannt würden, wollte man in ihnen nicht mehr als „von außen" an die Wissenschaft herangebrachte Forderungen erblicken, die sozusagen beiläufig und im Nebenamt erledigt werden könnten. In ihnen stellt das Zeitalter sich selbst die fundamentalen Fragen, die zwar nicht durch die Wissenschaft allein gelöst, aber auch nicht ohne ihre Beihilfe angemessen formuliert, geschweige denn beantwortet werden können. Eine Wissenschaft, die diesen Fragen ausweichen wollte, würde ihrem Zeitalter gerade das Entscheidende schuldig bleiben.
Weshalb der Ruf, den die Epoche an die Wissenschaft ergehen läßt, so dringend ist, liegt auf der Hand. Innerhalb des letzten Menschen-alters sind nicht nur Katastrophen von grundstürzender Art über unser Geschlecht hereingebrochen, ist nicht nur die ganze Menschheit in einen Dauerzustand der Unruhe und Gärung versetzt worden — es hat sich auch, in widerspruchsvoller Verschränkung mit diesem Vorgang der Dissoziierung, die rationale Regelung und organisatorische Vereinheitlichung der menschlichen Angelegenheiten zu einem nie vorauszusehenden Grade der Vollkommenheit emporentwickelt. Indem das eine sich mit dem anderen vielfältig verschlingt und durchdringt, ist es zu einer Gesamtverfassung der menschlichen Dinge gekommen, die bewirkt, daß ebensosehr Alles mit Allem zusammenhängt wie Alles wider Alles aufsteht. Die Menschheit, durch ihre eigenen Taten zur Einheit zusammengeschlossen, ist zu einem alle Kräfte der Zerstörung gegen sich selbst kehrenden Gesamtsubjekt geworden. Es ist, als habe sie nur deshalb allen Scharfsinn des organisierenden aufgeboten, das Werk Denkens um der Selbstvernichtung möglichst gründlich verrichten zu können.
Das ist eine Sachlage, die unwidersprechlich beweist: der Mensch von heute hat sich in eine Daseinsgestalt hineingearbeitet, die sich seiner Verfügung um so mehr entzieht, je mehr sie in ihrer organisatorischen Selbstausgliederung zur Perfektion durchdringt. Er kann ihrer nicht mehr Herr werden, weil, je mehr die Komplikation der in ihr sich begegnenden Ordnungen zunimmt, um so mehr die Möglichkeiten der Ein-und Durchsicht zurückgehen, die er nötig hätte, um nicht von ihnen überwältigt zu werden. Obwohl in allen Teilen sein Werk und nicht Schöpfung übermenschlicher Gewalten, entwickelt dies Daseins-gefüge ein Eigenleben, dessen Richtung seinem wohlverstandenen Interesse schnurstracks zuwiderläuft. Er hat sich in ihm seinen Zwingherrn, wo nicht seinen Verderber geschaffen.
Ohne Zweifel würde man irren, wollte man annehmen, daß durch die rechte Einsicht in das so entstandene Lebensgefüge allein die aus ihm entspringenden Selbstgefährdungen paralysiert werden könnten. Die Einsicht allein ist nicht stark genug, die innerhalb seiner sich regenden Mächte der Zwietracht und des Vernichtungswillens niederzuhalten. Um so bestimmter aber wird gesagt werden dürfen, daß ohne diese Einsicht auch der beste und reinste Wille unvermögend sein würde, den Prozeß der Selbstzerstörung aufzuhalten. Denn keine Entschließung, keine Handlung, keine Maßnahme kann dazu beitragen, das Unheil zu bannen, wenn sie nicht durch die Einsicht in die Lebensbezüge beraten ist, welche vor dem Schicksal der Selbstverkehrung bewahrt werden sollen. Daß dem so ist, das muß unserem Zeitalter deshalb eingeschärft werden, weil es nur zu gerne bereit ist, erhabene Wallungen des Gemüts und beredte Ergüsse des menschheitsbeglückenden Pathos als Ausweis der Berufung anzuerkennen. Dieser Schwäche heißt es die nüchterne Erkenntnis entgegenstellen, daß ohne jene Vertrautheit mit der Aufgabe, die man „Sachkenntnis" nennt, auch das wohlgemeinteste Streben wirkungslos verpufft oder gar die Sache noch schlimmer macht.
Und dies eben ist nun die Aufgabe, die der Wissenschaft aus dieser weltgeschichtlichen Stunde, wahrlich einer Stunde der Entscheidung, erwächst: sie hat den Menschen dazu fähig zu machen, daß er das Geflecht der in ihm sich kreuzenden Lebenszusammenhänge durchschaue, daß er auf Grund dieser Einsicht einen festen Stand im Gewoge der ihn hierhin und dorthin drängenden Strömungen gewinne und fähig werde, innerhalb eines solchermaßen erschlossenen und geklärten Lebenshorizonts Entschlüsse zu fassen, die ihm selbst und dem Ganzen zum Heile sind. Darin besteht die Lebenshilfe, die das an sich selbst so furchtbar irre gewordene Zeitalter von der Wissenschaft erwarten und fordern darf.
Das kommunistische Epochalbewußtsein
Es wird nicht an Sachwaltern der Hochschule fehlen, die darauf bestehen, daß diese Aufgabenstellung die Wissenschaft dem, was seit eh und je ihres Amtes gewesen sei, entfremden müsse. Sie mögen, um eines Besseren belehrt zu werden, auf eine Erscheinung unserer Gegenwart hinblicken, in der wir das, was hier in Rede steht, in weltgeschichtlichem Maßstab, aber allerdings auch in einer entsprechend dimensionierten Verzerrung vor Augen haben. Ich meine die Doktrin des Koimnunisntus, den „dialektischen Materialismus". Sie ist, unter dem Gesichtspunkt unserer Überlegungen betrachtet, das ohnegleichen dastehende Unternehmen, dem Menschen der Gegenwart die ihn umfangende Gesamtwirklichkeit so vollkommen durchsichtig zu machen, daß er hinsichtlich seines Standes in ihr und der aus diesem Stand entspringenden Aufgaben auch nicht von dem leisesten Zweifel angefochten werden kann — und dies durch die Erleuchtungen einer Lehre, die in allen Teilen Wissenschaft, strenge, als gültig ausgewiesene und jeden Widerspruch entwaffnende Wissenschaft zu sein behauptet. Es ist ein Unternehmen, das schon aus dem Grunde lebhafteste Beachtung fordern darf, weil die politische Bewegung, die an dieser Lehre ihre ideelle Grundlage hat, auf Erfolge von überwältigenden Ausmaßen hinweisen kann — Erfolge, angesichts derer der Frage nicht auszuweichen ist ob und in welchem Maße an ihrem Zustandekommen die „wissenschaftliehe" Begründung und die in ihr dem Menschen sich anbietende Daseinserhellung beteiligt ist. Denn wenn sich ein solcher Anteil, wohl gar ein solcher von erheblichem Gewicht, nachweisen ließe, so würde das bezeugen, wie sehr dem Menschen von heute an einer durch Wissenschaft zu bewirkenden Daseinserhellung gelegen ist.
So viel wird jedenfalls von dieser „Wissenschaft“ behauptet werden dürfen, daß sie die in die besagte Richtung weisenden Bedürfnisse mit einer Vollständigkeit und Allseitigkeit zu befriedigen sich stark macht, die schlechthin nicht überboten werden können. Denn es gibt nichts am Himmel und auf Erden, was nicht durch sie umfaßt, eingeordnet und erklärt würde. Sie läßt in ihrem systematischen Aufbau keine Lücke, in die sich eine aus anderen Quellen stammende Erleuchtung eindrängen könnte. Und zwar vollbringt sie dies alles aus der Kraft jener Methode, als deren Urheber Marx, Engels und Lenin gepriesen werden. Ihre Uni-versalität erweist sich des weiteren darin, daß sie das Dasein nicht nur erklärt, sondern, soweit es auf den Menschen als wollendes und handelndes Wesen ankommt, auch noch lenkt. Das Letztere auf sich zu nehmen hält sie sich deshalb für qualifiziert, weil das Wissen, über das sie verfügt, kraft seiner Allzuständigkeit nicht nur Vergangenheit und Gegenwart umgreift, sondern sich auch auf die Zukunft erstreckt. Damit aber erteilt sie dem Menschen, der als wollend-handelndes Wesen ohne Unterlaß sich auf die Zukunft auszurichten genötigt ist, die Anweisungen, durch die er von allen Zweifeln über das zu Tuende und zu Lassende erlöst und in die einzuschlagende Richtung gewiesen wird.
Und noch in einer zweiten Hinsicht darf die Wissenschaft des Kommunismus sich „universal" nennen. Sie bleibt nicht den Führern der kommunistischen Staatenwelt als ihr Geheimnis und Privileg vorbehalten. Nicht anders als die Wissenschaft der nichtkommunistischen Welt gibt sie sich als Verwalterin und Verkünderin einer Wahrheit, die nicht etwa für einen Kreis von Auserwählten reserviert, sondern jedem denkenden Wesen zubestimmt sei und daher auch jedem solchen Wesen nahegebracht werden müsse. Im Einklang mit dieser Auffassung tut der kommunistische Staat alles, um die Wissenschaft, der er die alleinige Geltung vindiziert, in die Seelen der ihm Angehörigen als unverlierbaren Besitz einzupflanzen. Sich ihrer so anzunehmen hat er um so mehr Grund, als er sich von ihrer Verbreitung auch für sich selbst einen gewichtigen Vorteil versprechen darf. Denn die durch sie enthüllte „Wahrheit“ enthält als wesentlichen Bestandteil auch das, was man die „Wahrheit“ der kommunistischen Staats-und Gesellschaftsordnung nennen könnte. Sie gibt ihr dadurch die wissenschaftliche Beglaubigung, daß sie nachzuweisen sich anheischig macht, sie sei die durch den notwendigen Gang der Geschichte geforderte und daher auch der endgültigen Durchsetzung versicherte Gestaltung der menschlichen Dinge Was könnte ein Staat Besseres tun als sich die Verbreitung einer Doktrin angelegen sein lassen, die ihm selbst in aller Form den wissenschaftlichen Segen erteilt! Was er tut, um der Wahrheit Bahn zu brechen das hilft zugleich seinen eigenen Bestand befestigen und seine eigene Zukunft sichern. So wundern wir uns denn nicht, daß, wo immer der Kom-Seite gen wird, in den Seelen der Menschen das hervorzubringen, was in der Sprache des Kommunismus das „richtige Bewußtsein“ heißt. Es ist natürlich kein anderes als das durch die Wahrheiten des Marxismus-Leninismus erleuchtete Bewußtsein. Je fester und allseitiger dieses Bewußtsein sich durchbildet, um so zuverlässiger werden die durch den kommunistischen Staat zusammengefaßten Menschen die innere Verfassung annehmen, die sie fähig und willig macht, sich genau so zu verhalten, wie die Ordnung dieses Staates es von ihnen fordert. Im Lichte der kommunistischen Wissenschaft zergehen alle Widerstände, die das glatte Funktionieren dieses Gemeinwesens in Frage stellen könnten.
Indem kommunistische Wissenschaft und kommunistischer Staat der-gestalt als Theorie und Praxis miteinander verschmelzen, nimmt die erstgenannte genau die Gestalt an, durch die sie zur vollkommensten Erfüllung des oben entwickelten Desiderats wird: sie wird zu einer Wissenschaft, die das so unerhört kompliziert gewordene Gefüge des modernen Lebens durcherschöpfende Erklärungen durchschaubar macht und damit den Horizont des innerhalb seiner postierten Menschen so weit aufklär, daß er weiß, was er zu tun hat. Hier liegt eine Entsprechung von Bedürfnis und Bedürfnisbefriedigung vor, die uns zu der Annahme berechtigt, daß die moralischen Eroberungen, die der Kommunismus sich gutschreiben darf, zumindest auch auf den klärenden Wirkungen beruhen, durch welche die ihn tragende und rechtfertigende Theorie den für ihn Gewonnenen beglückt. Der Mensch der Gegenwart, von tausend Fragen beunruhigt und von tausend Zweifeln umgetrieben, kommt sich wie von einer unablässigen Tortur erlöst vor, wenn ihm eine Lehre begegnet, die in einer wissenschaftlichen, also doch wohl unangreifbaren Form jede Frage beantwortet, jeden Zweifel zerstreut, ja die obendrein nicht nur über das, was war und ist, sondern auch über das, was sein wird und deshalb auch sein soll, unfehlbare Auskunft erteilt
Es ist das Verdienst des Kommunismus, daß er uns durch die Zustimmung, der seine „wissenschaftliche“ Selbstbegründung weithin begegnet, über ein im modernen Menschen lebendes Bedürfnis höchst lehrreich unterrichtet. Man glaube aber nicht, daß dies die einzige Bewegung sei, an die wir uns zu halten hätten, um uns von der Stärke dieses Bedürfnisses überzeugen zu können! Auch im Bereich der nichtkommunistischen Welt treffen wir Bestrebungen an, die auf das nämliche Bedürfnis abgestimmt sind. Die Wissenschaft als die nicht nur die Wirklichkeit erhellende, sondern auch das menschliche Leben lenkende Macht: das ist ein Ideal, zu dem sich auch in der westlichen, zumal in der angelsächsischen Welt angesehene Vertreter der Forschung mit Überzeugung bekennen. Bertrand Russells hierher gehörige Äußerungen haben eine symptomatische Bedeutung. Die amerikanische Psychologie und Soziologie wird in weitem Umfange von Vorstellungen und Zielsetzungen dieses Inhalts beherrscht. Daß die Wissenschaft sich zu einer „Nachrichtenagentur“
entwickeln werde, die keinem Fragesteller die Auskunft schuldig bleibe, ist für viele ein enthusiasmierender Gedanke.
Lins muß gerade dies zu denken geben, daß auch da solche Erwartungen gehegt, solche Forderungen aufgestellt werden, wo man nicht daran denkt, sich von der zur Lebenslenkerin erhöhten Wissenschaft Auskünfte zu versprechen, die einer Empfehlung des Kommunismus auch nur nahekämen.
Die Übereinstimmung zwischen den einander im übrigen so ferne Stehenden zeugt am vernehmlichsten für Verbreitung und Stärke des Bedürfnisses, dem die hier wie dort angerufene Wissenschaft Befriedigung verschaffen soll.
Ideologie und Wissenschaft
Aus den vorstehenden Darlegungen geht hervor, daß man, gilt es zu der dargestellten Sachlage urteilend Stellung zu nehmen, zweierlei scharf zu unterscheiden hat: einerseits Inhalt und Herkunft der Bedürfnisse, aus denen die in die Wissenschaft gesetzten Erwartungen entspringen, andererseits die Formen, in denen die Bewegungen der Zeit diesen Bedürfnissen Genüge zu tun versuchen. Der Gegensatz der Antworten, durch die in Ost und West das Fragen der Zeit beschwichtigt werden soll, beweist, daß die gleichmäßige Anerkennung der Bedürfnisse durchaus nicht die Gleichheit der Befriedigung im Gefolge zu haben braucht.
Für die Wissenschaft des freien Deutschland versteht es sich von selber, daß sie die Antwort, die die kommunistische Doktrin dem Fragen der Zeit erteilt, schon aus dem Grunde abweisen muß, weil das, was sie als „Wissenschaft“ ausgibt, in Wahrheit „Ideologie“ ist. Es ist ein System von Behauptungen, für deren Inhalt zuletzt der politische Wille und nicht das vorurteilsfreie Suchen nach der sich selbst begründenden Wahrheit maßgebend ist. Wir haben, um die außerwissenschaftliche Herkunft und Bestimmung der Doktrin nachzuweisen, es nicht nötig, uns auf ihren Inhalt einzulassen. Es genügt, die Eigenart des Verfahrens ins Auge zu fassen, dessen der Kommunismus sich befleißigt, um die für seine Gesellschaftsordnung maßgebende Lehre zur Herrschaft zu bringen Schon oben wurde festgestellt, daß es keineswegs bloß der Eifer für die Wahrheit ist, der ihn antreibt, auf die Anerkennung dieser Doktrin zu dringen Er setzt sich für sie ein, weil durch sie die besagte Gesell-
schnkrsoronung legitimiert und befestigt wird. Allein daß dieses mehr als theoretische Interesse im Spiel ist, das brauchte nicht zu verhindern, daß für die Lehre nur mit Mitteln theoretischer Art geworben würde, daß es nur die Kraft der Argumente wäre, durch welche sie die Seelen zu gewinnen versuchte. Leider denkt der Kommunismus nicht daran, sich bei seiner Seelenwerbung solche Zurückhaltung aufzuerlegen. Wo immer er das Heft in die Hand bekommt, da werden alsbald nicht nur alle Künste der Suggestion, der erzieherisch-propagandistischen Beeinflussung ins Spiel gesetzt, um die offizielle Heilslehre den Gemütern einzuprägen — nein: es werden auch alle Mittel der Einschüchterung his hin zum blutigsten Terror zum Einsatz gebracht, um allen abweichenden Meinungen den Mut zur Äußerung und damit die Möglichkeit der Verbreitung zu nehmen. Das „richtige Bewußtsein wird unter der Aufsicht des Staatssicherheitsdienstes zur Entwicklung gebracht. Allem eine Lehre, die durch solche Maßnahmen sich zur Geltung bringt, wird schon durch die Form ihrer Durchsetzung zum Gericht über sich selber. Eine „Wissenschaft“, die sich durch Zwangsmaßnahmen die Alleinherrschaft garantieren läßt, ist das genaue Gegenteil desjenigen, was sie mit dieser Benennung zu sein beansprucht. Zu den unerläßlichen Bedingungen jeglicher Wahrheitsfindung und damit jeglicher Wissenschaft, die diesen Namen mit Recht führt, gehört die uneingeschränkte Freiheit des Suchens, Fragens, Behauptens, Widersprechens — gehört die unbehinderte Auseinandersetzung der wetteifernd um die Wahrheit Bemühten. Diese Auseinandersetzung durch das Machtgebot der politisch Gebietenden unterbinden -das heißt so viel wie die Voraussetzungen möglicher Wahrheitsfindung außer Kraft setzen. Eine durch den Staat monopolisierte „Wissenschaft“ ist die Widerlegung ihrer selbst.
Es sieht darnach so aus, als sei es ein Leichtes, die prätendierte Wissenschaft des Kommunismus im Namen der echten Wissenschaft als Lüge bloßzustellen. Lind nicht gering ist bei uns die Zahl derjenigen, die da meinen, mit einer so summarischen Aburteilung sei bereits alles Nötige geschehen. Ja, sie halten sogar dafür, es werde dieser Doktrin zu viel Ehre angetan, wenn man sich auf die Widerlegung ihrer einzelnen Aufstellungen einlasse. Sie verdiene es gar nicht, so ernst genommen zu werden.
Indes uns die Sache so leicht zu machen — davor muß uns schon die Tatsache warnen, daß es nicht kleine Häuflein spintisierender Menschheitsbeglücker, sondern Millionen und aber Millionen sind, die im Zei-chen dieser Doktrin leben. Glaubt man, daß sie sich an der Herrschaft halten könnte, wenn nicht wenigstens ein beträchtlicher Teil dieser Millionen nicht bloß gehorsam nachbetete, was ihm vorgesagt wird, sondern auf die eine oder die andere Weise zu der Überzeugung gebracht worden wäre, in ihr wirklich die ganze Wahrheit zu besitzen? Auf Gläubige dieser Art würde der Einwand, die von ihnen angenommene Heilslehre sei, entgegen ihrer Behauptung, nicht echte „Wissenschaft", weil sie die Voraussetzungen wissenschaftlichen Strebens verneine, nicht den mindesten Eindruck machen.
Aber noch gewichtiger ist ein zweiter Gedanke, der es uns verbieten muß, die Anfechtung mit so leichter Hand abzutun. An der Bereitwilligkeit, mit der die kommunistische Lehre weithin ausgenommen wird, mißt sich ja, wie wir sahen, die Stärke des Bedürfnisses, dem sie in ihrer Weise Befriedigung zu verschaffen weiß. Mit der kommunistischen Bedrohung fertig zu werden wird demjenigen bestimmt nicht gelingen, der es unterläßt, sich von Wesen und Stärke dieses Bedürfnisses Rechenschaft zu geben, und der es infolgedessen auch nicht als notwendig ansieht, ihm durch Eröffnungen zur Hilfe zu kommen, durch welche die Tröstungen des Kommunismus überflüssig gemacht, ja als trügerische Vorspiegelungen entlarvt würden. Wenn ein Zeitalter so große Not hat, sich selbst als das, was es ist, zu durchschauen und mit sich als dem so und nicht anders beschaffenen fertig zu werden, dann wird es einer Doktrin, die ihm für all seine Zweifel Auskunft, für all seine Nöte Abhilfe verspricht, nur dann absagen, wenn ihm als Ersatz für das Aufzugebende eine andere, eine besser begründete und zuverlässiger helfende Einsicht angeboten wird. Mit einer bloßen Verneinung dessen, wovon sich zu trennen ihm zugeredet wird, wird es sich keinesfalls zufrieden geben.
Will also die echte, die in der Welt der Freiheit beheimatete Wissenschaft es mit der kommunistischen Bedrohung aufnehmen, so wird sie nicht anders können als sich darum bemühen, daß sie dem an sich selbst irre gewordenen Zeitalter etwas von der Sicherheit des Sichselbstwissens gibt, die ihm der Kommunismus durch pseudowissenschaftliche Suggestionen einzupflanzen auf dem Wege ist. Bleibt sie hinter'ihm in dieser Hinsicht zurück, so hat er bereits das Spiel gewonnen.
Es ist also im Verhältnis zur kommunistischen Doktrin mit einer Geste der verächtlichen Abweisung nicht getan. Es muß ihr durch die Wissenschaft der freien Welt etwas gegenübergestellt werden, was ihr insofern gleichkommt, als es den drängenden Fragen der Epoche nicht ausweicht, sondern Antwort erteilt, was ihr aber dadurch überlegen ist, daß es nicht bloß Wissenschaft zu sein behauptet, sondern wirklich Wissenschaft ist. Es genügt nicht, überhaupt in irgend einer Weise der Wahrheit zu dienen, es gilt die Wahrheit zu enthüllen, deren unsere Zeit bedarf.
Wenn sich aber die wissenschaftliche Hochschule entschließt, in der damit gekennzeichneten Aufgabe das sinngebende Zentrum zu erblikken, von dem aus sich das Ganze ihrer Bemühungen zu ordnen hätte, dann nimmt sie zwar die ganze Beschwernis auf sich, die das Umordnen und Neugliedern ihres Lehrgehalts ohne Frage mit sich bringen würde, aber sie darf sich auch sagen, daß dieselbe Gesamtlage, durch welche ihr diese Aufgabe aufgenötigt wird, zugleich für ihre angemessene Lösung die denkbar günstigsten Bedingungen bereitstellt. Der Selbstbesinnung der Epoche könnte keine größere Gunst widerfahren als diejenige, die ihr durch das Auftreten und die Durchformung der kommunistischen Doktrin zu teil wird. Denn alles das, was die unterscheidende Eigenart und den unschätzbaren Eigenwert des der freien Welt vergönnten Lebenszustandes ausmacht, könnte nicht in klarerer Linienführung hervortreten, nicht in helleren Farben erstrahlen, als es dann der Fall ist, wenn es auf den Hintergrund des durch die kommunistische Welt realisierten und durch die kommunistische Lehre kanonisierten Lebenszustandes aufgesetzt wird. Wie stets, so ist auch hier die Folie des Gegensätzlichen wie kein Zweites geeignet, Eigenart und Eigenwert des zu Erkennenden zur Abhebung zu bringen. Es ist, als habe der geschichtliche Prozeß die Gegensätze so aneinander und durcheinander sich zuschärfen lassen, daß es nur des sorgsamen Zusehens bedürfe, damit das, was hüben und drüben die Lebensverfassung bestimmt, in klarster Ausprägung zum Vorschein komme.
Ohne Zweifel hat sich diese Korrespondenz des Widereinanderstehenden nur aus dem Grunde zu solcher Schärfe präzisieren können, weil das, was uns in Gestalt des Kommunismus entgegentritt, nicht eine aus fremden und fernen Ursprüngen sich herleitende Macht, sondern ein Abkömmling unseres abendländischen Geisteslebens ist. Die Genealogie des östlichen Kommunismus führt zurück auf die geistigen Bewegungen des Westens. Es werden durch ihn nur gewisse Grundtendenzen der europäischen Entwicklung bis zu ihren letzten Konsequenzen vorgetrieben. In-ihm finden wir in gewisser Hinsicht „uns selbst“ wieder, nur allerdings in einer Verzerrung und Übersteigerung, die gerade deshalb unseren leidenschaftlichen Widerspruch herausfordert, weil sie sich auf unser gemeinsames Ahnenerbe beruft und uns so gleichsam zur Mitverantwortung heranzieht.
In diesem Sinne darf behauptet werden, daß dieselbe Epoche, welche durch ihre Komplikation die Forderung der Selbstbesinnung unausweichlich macht, zugleich die Erfüllung dieser Forderung aufs wirksamste unterstützt. In der ungeheuren Spannung der sie entzweienden Gegensätze bringt sie uns, theoretisch wie praktisch, den Kampf der um die Seele des modernen Menschen ringenden Gewalten mit unüberbietbarer Plastik zur Anschauung. Indem wir uns darauf besinnen, daß wir in dem Kommunismus weder die Erfindung machtgieriger Emporkömmlinge noch das Hirngespinst verrannter Weltbeglücker vor uns haben — indem wir vielmehr in ihm den Inbegriff der Konsequenzen erkennen, in die der Geist unseres Erdteils bei Radikalisierung seiner Grundtendenzen notwendig einmünden mußte, wird er für uns zu dem Gegenbild, an dem sich das uns im Denken und Tun Obliegende mit vollkommener Klarheit abzeichnet. Aber sowohl ihn als auch uns in diesem Lichte zu sehen — dazu ist einzig und allein jene Macht imstande, der es gegeben und aufgetragen ist, das verworrene Getriebe des Daseins auf seine durchgehenden Grundlinien zurückzuführen. Diese Macht heißt — die Wissenschaft. Von dem Hintergründe der Afterwissenschaft, die sich „dialektischer Materialismus“ nennt, sehen wir die Aufgabe der wahren Wissenschaft sich in leuchtender Klarheit abheben.
Erkennen wir in dem Gegenüber von Ideologie und Wissenschaft den reinsten Ausdruck des zwischen Ost und West obwaltenden Gegensatzes, dann ermessen wir die Abwegigkeit jener weit verbreiteten Redeweise, der zufolge der Westen nur dann sich selbst zu behaupten Aussicht habe, wenn er der Ideologie des Kommunismus mit einer gleich zugkräftigen Ideologie zu begegnen wisse. Wollte doch der, der also spricht, erkennen, daß er mit dieser Forderung in die Denkweise eben der Bewegung verfällt, die er erfolgreich bekämpft sehen möchte! Ohne es zu wissen und zu wollen, gibt er ihr dadurch Recht, daß er der Ideologie dieselbe allumfassende Bedeutung zumißt wie sie. Er lerne einsehen, daß das, was der Westen dem Osten als reinsten Ausdruck seiner selbst entgegenzustellen hat, nicht eine Ideologie ist, die eben als solche mit der bestrittenen Ideologie den Charakter der Willensbestimmtheit gemein haben würde, sondern eine Wissenschaft, die nur dadurch sie selbst ist, daß sie sich von jeder denkbaren Ideologie in aller Schärfe absetzt, mithin auch irgendeiner Ideologie zum Vorspann zu dienen mit Entschiedenheit ablehnt! Ohne Zweifel gibt es auch im Westen Ideologien. Aber eine jede von ihnen ist, was ihre Herkunft und Absicht angeht, der Ideologie des Ostens zu nahe verwandt, um ihr ein Paroli bieten zu können ) *.
Das aber die so hervortretende Aufgabe der Wissenschaft auch und gerade die Aufgabe der wissenschaftlichen Hochschule ist, lehrt abermals schon der Blick hinüber ins Lager des Kommunismus. Wir sahen, daß dieser mit der Wahrheitsidee der freien Welt wenigstens insoweit in Übereinstimmung bleibt, wie er die Wahrheit als ein der Menschheit zubestimmtes und nicht einer Minderheit von Erwählten vorzubehaltendes Gut ansieht und behandelt. Wenn er nun demzufolge alles tut. um das, was ihm als „Wahrheit ‘ gilt, zu einem möglichst weit verbreiteten Gemeingut zu machen, so würde die westliche Welt unfehlbar ins Hintertreffen geraten, wollte sie nicht gleichfalls Sorge tragen, daß ihre Wahrheit, die zugleich „die“ Wahrheit ist, zum Gemeinbesitz so vieler Seelen werde, wie nur irgend von ihr erreicht werden können. Der Millionenfront der in der Pseudowahrheit Befangenen soll eine ebenso ausgedehnte Front der auf die echte Wahrheit Eingeschworenen begegnen. So findet sich auch der Westen im Interesse seiner äußeren und seiner inneren Selbstbehauptung darauf angewiesen, der geistigen Haltung, die dem auf Wahrheitsfindung bedachten ansteht, zu einer möglichst weiten Verbreitung zu verhelfen und der Wahrheit, die sich als solche ausweist, eine Phalanx von Verteidigern zu stellen, die sie wider die ständig drohende Verfälschung in Schutz nimmt. Es ist eine im weitesten Sinne zu verstehende Erziehungsaufgabe, die damit dem Westen und mit ihm dem westlichen Deutschland gestellt ist. Wo aber sollte sie eher und mit größerer Aussicht auf Erfolg in Angriff genommen werden als an der hohen Schule, die ihre Zöglinge in der Zucht des Wahrheitsdienstes heranzubilden beauftragt ist? Und wenn es zutrifft, daß die zu suchende und zu pflegende Wahrheit vor allem als die Wahrheit über das Ganze des gegenwärtigen Lebenszustandes verstanden werden muß, dann hat die Hochschule als die Stätte zu gelten, die vor allen anderen Bildungsanstalten durch diesen Imperativ auf den Plan gerufen wird. Werden doch von ihr Jahr für Jahr die Nachrückenden ins Leben hinausgesandt, die ihrem Auftrag ein Entscheidendes schuldig bleiben würden, wollten sie nicht zu der Prägung des allgemeinen Geistes den Beitrag leisten, der dem Gewicht der ihnen anvertrauten Tätigkeit entspricht.
Im Hinblick auf die dargestelltc Gesamtlage heißt es nicht zu viel behaupten, wenn man sagt, daß die Wissenschaft gegenwärtig ihre große Stunde erlebt. Sie findet sich aufgerufen, mit vollem Stimmrecht in die Auseinandersetzung der weltgeschichtlichen Mächte einzutreten, die zur Zeit im Gange ist. Da die eine dieser Mächte sich ausdrücklich auf sie als auf diejenige Instanz beruft, aus der sich ihr Recht, ihre Wirkungskraft und die Gewißheit ihres schließlichen Sieges herleite, so wird auch die andere Seite, selbst wenn sie die Vollmachten der Wissenschaft niedriger einzuschätzen geneigt ist, nicht anders können als sie als Gesprächspartner heranziehen und ihrem Votum Beachtung schenken.
Aber seine große Stunde erleben heißt noch lange nicht sich dieser Stunde gewachsen zeigen! Es gibt auch verpaßte Möglichkeiten und überhörte Forderungen. Gerade an die wissenschaftliche Hochschule ergeht in diesem Augenblick die Frage, ob sie den Ruf der Stunde vernimmt und ihm Folge zu leisten gewillt ist.
Illusion und Wahrheit
Angenommen, die Wissenschaft nähme sich der ihr durch das Zeitalter gestellten Aufgabe an, so würde sie an ihrem Teile sich um die Herausbildung dessen bemühen, was zu dem angeblichen „richtigen Bewußtsein“ des Kommunismus das Gegenstück ausmachen würde. Denn sie würde es auf die Begründung und Pflege einer Bewußtseinshaltung anlegen, die „richtig“ heißen dürfte, weil sie mit der wirklichen Gesamtlage des Zeitalters im Einklang wäre. Allein gerade wenn wir die Entsprechung des hier und des dort Angestrebten ins Auge fassen, wird es uns offenbar, wie viel schwerer es die Wissenschaft des Westens mit der ihr so gestellten Aufgabe hat als die „Wissenschaft“ des kommunistischen Ostens. Den Menschen für eine bestimmte Bewußtseinshaltung zu gewinnen und in ihr zu befestigen wird um so leichter gelingen, je mehr das, ihm als Bewußtseinsgehalt angeboten wird, Sympathien zu erwecken und Zustimmung hervorzulocken geeignet ist. Wie günstig die kommunistische Doktrin in dieser Hinsicht gestellt ist, wurde uns schon oben deutlich. Sie nimmt schon dadurch für sich ein, daß sie schlechthin alle Fragen, die den modernen Menschen bedrängen, nicht nur überhaupt zu beantworten, sondern aus einem einzigen, allumfassenden und methodisch geordneten Gedankenzusammenhang zu beantworten sich anheischig macht. Sie befriedigt das menschliche Bedürfnis nach gedanklicher Einheit mit unüberbietbarer Vollkommenheit. Allein die durch diese Wissenschaft erteilten Aufschlüsse haben auch noch das Gute an sich, daß sie den heißesten Wünschen des Menschenherzens eine durch strenge Beweise garantierte Erfüllung verheißen. Was der Mensch dem Dasein vor allem meint abfordern zu sollen, das ist einerseits die Wohl-ordnung seiner äußeren Existenz und andererseits die Vollendung seines inneren Wesens — in der Sprache des achtzehnten Jahrhunderts: „Glückseligkeit“ und „Tugend“. Nun, die,, klassenlose Gesellschaft“, in die nach Ausweis dieser Wissenschaft der „Fortschritt“ der geschichtlichen Bewegung einmünden muß und einmünden wird, wird sowohl dem einen als auch dem anderen Bedürfnis die vollkommenste Befriedigung verschaffen. Denn sie kennzeichnet sich als der Zustand eines Glücks, von dem kein Mensch ausgeschlossen, und einer Tugend, deren kein Mensch un-teilhaftig ist. Daher die Lebensstimmung eines völlig ungetrübten Optimismus, wie sie der kommunistische Staat im Einklang mit der ihn tragenden Theorie allenthalben zur Herrschaft zu bringen sich so viel Mühe gibt! Und der Erfolg bleibt nicht aus. Wie gerne lauscht die Menschheit einer Botschaft, die so viel Sicherheit mit so viel Verheißung zu vereinigen weiß!
Verstehen wir also unter dem „richtigen Bewußtsein“ das durch die marxistisch-leninistische Wissenschaft erleuchtete Bewußtsein, so kann ihm jedenfalls ein Vorzug nicht abgesprochen werden: es ist ein seinen Träger beglückendes und anspornendes Bewußtsein. Wenn sich also diesem Bewußtsein ein anderes, ein aus anderen Einsichtsquellen sich speisendes Bewußtsein entgegenstellt, so erhebt sich ihm gegenüber die Frage, ob es dem von ihm Erfüllten die gleiche Lebenszuversicht zu verleihen geartet ist. LInter diesem Gesichtspunkt geprüft, kann die Wissenschaft des Westens, die ausschließlich auf „Wahrheit“ ausgehende Wissenschaft, nur sehr schlecht abschneiden. Je strenger sie an der Wahrheitsforderung festhält, um so weniger kann sie dem Menschen von dem geben, was ihm die kommunistische „ Wissenschaft" so überreichlich spendet. Sie ist nicht in der Lage, das Ganze der Wirklichkeit in einem lückenlosen und von Widersprüchen freien Gedankenzusammenhang einzufangen. Lind nichts liegt ihr ferner als der Gedanke, durch eine unfehlbare Zukunftsprognose dem Menschen den Aufstieg zu Tugend und Glückseligkeit garantieren zu wollen. Sie wirkt, an ihren Gegenspieler gehalten, im ausgesprochensten Sinn ernüchternd. Desillusionierung ist der Erfolg, den sie bei den auf sie zu hören Erbötigen erstrebt und erreicht. Das, was in ihrem Sinne sich ein „richtiges Bewußtsein nennen darf, ist ein Bewußtsein, das sich in die Grenzen des Mensch-seins zu finden und überschwenglichen Zukunftserwartungen zu entsagen bereit ist. Die zu vollkommener Tugend und Glückseligkeit erlöste Gesellschaft ist ihr ein Phantom, durch das die Menschheit nur zur Selbstverkennung verleitet und vom rechten Wege abgeleitet werden kann.
So findet also die Wissenschaft des Westens, was ihre Wirkung auf die Menschen angeht, sich genötigt, gerade die durchschlagskräftigsten unter den Impulsen zu entbehren, durch die die „Wissenschaft des Kommunismus die Menschen zu dem ihr konformen „Bewußtsein zu überreden in der Lage ist. Weder läßt sich das, was das durch sie erleuchtete Bewußtsein zum Inhalt haben müßte, in Gestalt einer allumfassenden, aus einem Grundprinzip entwickelten Doktrin aussprechen noch würde es gar imstande sein, die der Zukunft sich zukehrende Erwartung und den der Zukunft zugewandten Willen durch Auskünfte von auch nur annähernd gleich beschwingender Art zu befriedigen. Es kann nicht umhin, die Ausrufungszeichen des Kommunismus durch ebensoviele Fragezeichen zu ersetzen. Wenn und so lange es der Wahrheit und nur der Wahrheit die Ehre zu geben nicht abläßt, kann es gar nicht anders als lange gehegte Herzensanliegen und liebevoll gehätschelte Wunschträume abbauen. Und das bedeutet: an werbender Wirkung kann es sich mit dem Kommunismus nicht von ferne messen. Von hier aus erscheint es nicht verwunderlich, daß die westliche, die „freie“ Welt und mit ihr das westliche Deutschland überhaupt noch nicht so recht darangegangen ist, dasjenige „Bewußtsein", das dein durch sie repräsentierten Gesamtzustande entsprechen würde, so weit zu klären, daß es als haltgebende Macht in die Seelen der an ihm teilhabenden Menschen eingehen könnte. Es bleibt in weitem Umfange dem Zufall überlassen, ob und wieweit der einzelne Mensch dahin gelangt, sich von der Welt, in der er seinen Stand hat und von der er seinen Auftrag empfängt, eine Vorstellung zu machen, die darnach angetan wäre, ihm die Bedingungen seines Daseins und die Möglichkeiten seines Verhaltens zu erhellen. Sein Bewußtsein ist nur zu oft ein unerleuchtetes Bewußtsein. Die Folge ist, daß dem so zuversichtlich auftretenden Bewußtsein des östlichen Kommunismus auf der Seite des Westens überhaupt kein ebenbürtiger Widerpart die Stirne bietet.
Allein so begreiflich das damit aufgezeigte Zurückbleiben sein mag, so wenig ist es uns gestattet, uns mit ihm wie mit einem Unabänderlichen abzufinden. Im Gegenteil: je schwerer der Westen es hat, dem „richtigen Bewußtsein“ des Kommunismus eine gleiche werbungskräftige Botschaft entgegenzustellen, um so größer ist die Anspannung des Geistes, die er sich abfordern muß, damit die von ihm vertretene Dseinsdeutung das, was ihr an werbender Wirkung abgeht, durch die Evidenz ersetzt, mit der sie von ihrer Gültigkeit zu überzeugen weiß. Vielleicht, daß sie bei gehörigem Vordringen in die Tiefe sogar durch Erleuchtungen belohnt werden wird, vor denen alle kommunistischen Anpreisungen zur Wesenlosigkeit verblassen! Allein selbst wenn die damit erhoffte Genugtuung ausbliebe: sollte nicht schon die Gewißheit, in der Auslegung des eigenen Daseins nicht auf die Einflüsterungen unkontrollierter Gemütsbedürfnisse, sondern nur auf die Stimme der Wahrheit gelauscht zu haben — sollte nicht diese Gewißheit alles das aufwiegen, was die ideologische Zukunftsverklärung an Scheinbefriedigungen anzubieten hat! Welches Bewußtsein hat denn auf die Benennung „richtiges Bewußtsein“ begründeten Anspruch — es sei denn dasjenige Bewußtsein, das sich mit der Wahrheit auf Gedeih und Verderb verbündet hat!
Die Wahrheit aber über den eigenen Daseinszustand zu erkunden — das ist noch nie so schwer gewesen wie inmitten der Gesamtlage, aus der sich gegenwärtig dieser Lebenszustand bestimmt. Noch nie haben die Verpflechtungen der Taten und Schicksale, Bestrebungen und Einrichtungen, in deren Ineinandergreifen sich das menschliche Los gestaltet, einen solchen Grad von Komplikationen erreicht. Dies eben ist die Tatsache, aus der der Wissenschaft ihre neue Verpflichtung gegen das Leben erwächst. Ohne ihre Beihilfe würde der Mensch vergeblich um ein auch nur einigermaßen zulängliches Selbstverständnis ringen. Ihr Rat wird ihm um so unentbehrlicher, je mehr sich die Schwierigkeiten sachgemäßer Ratserteilungen steigern.
Unter diesen Umständen ist es lebhaft zu begrüßen, daß die Lösung der Aufgabe, der die Wissenschaft sich damit gegenübergestellt findet, durch das Auftreten der nämlichen Gegenmacht begünstigt und erleichtert wird, deren Angriff auf der anderen Seite dieser Aufgabe erst ihre ganze Dringlichkeit verleiht. Die kommunistische Doktrin, auf den ersten Blick nur die unbequeme, ja die scheinbar überlegene Konkurrentin der auf wirkliche Wahrheitserhellung ausgehenden Wissenschaft, leistet auf der anderen Seite dieser Erhellung dadurch ungewollten Vorschub, daß sie ein System der Lebensauslegung und Lebensgestaltung errichtet, welches mit seiner Vergewaltigung sowohl der Wahrheit als auch des Lebens für jedes echte Wahrheitsbemühen die wirksamste Folie abgibt. Selten kommt es vor, daß ein Komplex von irrigen Behauptungen sich selbst dadurch gleichsam experimentell widerlegt, daß er das Leben nach Maßgabe dieser Behauptung formieren zu wollen sich erkühnt und durch den Erfolg dieses Bemühens seine eigenen Hypothesen Lügen straft. Die Greuel, durch welche die Praxis des kommunistischen Staates die Welt entsetzt, sind nicht bloß die Ausschreitungen eines seiner Grenzen vergessenden Machtwillens; sie sind die logisch notwendigen Folgerungen aus einer Doktrin, die den ihr Anhangenden verführt, den Menschen, entgegen seiner Natur und Bestimmung, in ein konstruiertes Schema menschlichen Zusammenlebens und -wirkens hineinpressen zu wollen. Die theoretische Verzeichnung wird zur praktischen Verknechtung. Die Wahrheit, in deren Licht dieses Schema sich als krasse Lebensvergewaltigung enthüllt, ist zugleich das Palliativ, durch welches es seiner Glaubwürdigkeit und damit seiner Macht über die Seelen beraubt wird. Die Wissenschaft, zur Sachwalterin dieser Wahrheit bestellt, wird zur Heilkraft für das durch seine eigenen Irrungen tödlich bedrohte Zeitalter.
Die Technik im Epochalbewußtsein
Wo die um Lebenserhellung bemühte Wissenschaft ihre Aufgaben zu suchen, welche Haltung sie im Versuch ihrer Beantwortung einzunehmen, welche Widerstände sie im Durchdringen zur Wahrheit zu überwinden hat, das wolle man aus zwei Beispielen ersehen, die unseren Zeitgenossen aus vielen die Öffentlichkeit stark bewegenden Erörterungen vertraut sind.
Im Auf-und Ausbau unseres Lebens tritt immer mächtiger die Form des gemeinsamen Handelns hervor, die wir die Tedmik nennen. Es liegt im Wesen der Technik, daß die von ihr geleiteten Weisen des Vorgehens von einer Klarheit, Durchsichtigkeit und Verständlichkeit sind, die nicht ihresgleichen haben. Dieser Vorzug ist ihnen deshalb zu eigen, weil sie in allen Teilen das Werk der ratio, des planenden und rechnenden Verstandes sind. Die Rationalität der Technik ist darum eine so vollkommene, weil sie durch das Verhältnis der unbedingten Solidarität geeint ist mit derjenigen Wissenschaft, die ihrerseits wieder das unerreichte Muster rationaler Sachbestimmung ist: mit der mathematischen Naturwissenschaft. Natürlich bietet sie sich in dieser Durchsichtigkeit nur dann dar, wenn sie mit den Augen des ihr Heimischen, des „SachKenners", betrachtet wird. Aber für ihn nimmt sie dann auch die Gestalt eines Gefüges von Überlegungen und Handlungen an, dessen Ordnung mit seiner restlosen Verständlichkeit zusammenfällt.
Insoweit wird also durch das Wort „Technik“ ein Lebensbereich bezeichnet, innerhalb dessen das Zeitalter, wenn es um sein Selbstverständnis bemüht ist, die besten Chancen der Befriedigung vorfindet. So weit es sich „technisch“ verhält, hat es mit der Auslegung seiner selbst nicht die geringste Mühe. Nun aber stellt sich der merkwürdige Widerspruch heraus, daß dieselbe Technik, die dem Verständnis nicht die geringste Schwierigkeit bereitet, so lange es sich innerhalb der durch sie gestifteten Ordnungen bewegt, auf einmal Fragen über Fragen heraufbeschwört, sobald nicht der Ablauf der in ihr zusammenwirkenden Vorgänge, sondern ihre Stellung im Ganzen des menschlichen Daseins begriffen werden soll, sobald also das Verständnisbemühen die Grenzen des technischen Feldes überschreitet. Alsdann zeigt es sich nämlich, daß eine Tätigkeit sehr wohl in sich verständlich, ja vollkommen durchsichtig sein kann, ohne daß damit auch nur das mindeste darüber ausgemacht wäre, was die Ausübung dieser Tätigkeit für den sie ausübenden Menschen, was die Auswertung der Produkte dieser Tätigkeit für den über sie verfügenden Menschen bedeutet. Hier tut sich jenes Kapitel der Kulturbesinnung auf, dem man so gerne die Überschrift „Dämonie der Technik“ gibt.
Daß wir damit auf eine Frage gestoßen sind, der in der Selbstbesinnung unseres Zeitalters eine zentrale Stellung gebührt, läßt sich wiederum an dem Gegenbeispiel der kommunistischen Daseinsauslegung ohne weiteres ablesen. Die kommunistische Doktrin weiß genau, aus welchem Grunde sie diesem Stück Lebenswirklichkeit so viel Teilnahme schenkt und so viel denkendes Bemühen zuwendet. Der bejahungsfreudige Optimismus, den zu züchten sie so sehr beflissen ist, findet an wenigen Stellen ein so überzeugendes Beweismaterial wie im Bereich der Technik, dieser Domäne des unabstreibarsten „Fortschritts“. Wo gäbe es sonst noch eine Weise menschlichen Handels, die nur den ihr durch die Sache vorgezeichneten Weg getreulich einzuhalten brauchte, um mit unfehlbarer Sicherheit von Erfolg zu Erfolg weiterzuschreiten! Ein System der Leb msdeutung, das in dem Prinzip des „Fortschritts“ nichts Geringeres als das Bewegungsgesetz der Menschheitsentwicklung gefunden zu haben vermeint, kann gar nicht anders als in der Technik und den durch sie ermöglichten Formen des kooperativen Handelns das Muster und Modell alles menschlichen Zusammenlebens und -wirkens erblicken und verehren. Daraus folgt die Überzeugung, daß der Mensch seinem Menschentum nicht besser zur Vollentwicklung verhelfen kann als dadurch, daß er sich mit der durch die technische ratio gesteuerten Bewegung vollkommen identifiziert, daß er sich ihr ohne jeden Vorbehalt anheim-gibt und durch sie von Station zu Station weitertragen läßt. Hingabe an technischen Fortschritt ist als solche schon Pflege der „Humanität“. Aus der „Dämonie“ der Technik ist die Philanthropie der Technik geworden. An dem Beispiel dieses die Zeit so stark bewegenden Problems können wir ablesen, wie geeignet die kommunistische Selbstauslegung ist, zur Folie zu dienen, wo der sich die dem Westen gemäße, d. i. die der Wahrheit treu bleibende Selbstauslegung des Menschen mit unvergleichlicher Klarheit abzeichnet. Es braucht nur Wesen, Ursprung und Wirkungsweise der Technik mit unbefangenem Wahrheitssinn aufgefaßt und analysiert zu werden, damit die Frage, was der Mensch von Seiten der Technik in der Gestaltung sowohl seiner selbst als auch der durch sie mitbestimmten Gesamtschicksale zu gewärtigen hat, eine wirklich klärende Antwort finde. Es ist eine Antwort, durch die er in den Stand gesetzt wird, sein Verhältnis zu dieser Daseinsmacht so zu regeln, daß sie das Ganze seiner Existenz nicht durch unzulässige Grenzüberschreitungen verwirrt und mißleitet, sondern, sich auf die ihr zukommenden Obliegenheiten beschränkend, allen ausschweifenden Herrschaftsansprüchen entsagt. Es ist nicht dieses Ortes diese Antwort zu entwickeln. So viel aber darf gesagt werden: jede in die Tiefe dringende, weder auf Herzenswünsche noch auf politische Machtsprüche hörende Analyse macht offenbar, wie unbegründet der Optimismus ist, der den Fortschritt in der technischen Sachbemeisterung der Förderung des Menschen als Menschen gleichsetzt. Sie vermag darüber hinaus an den Tag zu bringen, welche nichts weniger als theoretische Impulse es sind, die sich von der Glorifizierung des technischen Fortschritts eine nachhaltige Unterstützung versprechen. So sehr es der Wahrheit widerspricht, Aufkommen und Ausbreitung der Technik im Sinne einer weitverbreiteten Kulturkritik auf einem dem Menschen unterlaufenen Fehltritt zurückzuführen, so wenig steht es mit ihr im Einklang, derselben Technik alle Segenswirkungen der den Menschen zur Vollendung führenden Erzieherin nachzusagen und damit die Wachsamkeit einzuschläfern, deren er so dringend bedarf, um nicht unversehens von der Sache, deren Führung er sich im technischen-Handeln anvertraut, so sehr in Beschlag genommen zu werden, daß er seiner selbst als der aller Sachbeherrschung überlegenen Person vollkommen vergißt.
Die Technik so in den Gesamtzusammenhang der menschlichen Bestrebungen und Einrichtungen hineinzustellen und aus diesem Ganzen heraus zu verstehen und zu begrenzen — dies eben ist die Aufgabe, die nur durch eine wirklich wissenschaftliche Selbstzergliederung des modernen Lebenszustandes gelöst werden kann. Hinter ihr bleiben alle aus vagen Eindrücken, unkontrollierten Stimmungen, aufdringlichen Wünschen sich speisenden Räsonnements hoffnungslos zurück. In welchem Umfange Berater von so zweifelhafter Art sich heute bei der Verhandlung unseres Themas in den Vordergrund drängen, ist keinem Kenner der einschlägigen Literatur fremd.
Der Staat im Epochalbewußtsein
In der Frage, welche dem modernen Menschen durch die Lebensmacht „Technik“ aufgegeben wird, haben wir das eine der Beispiele vor uns, die uns zeigen sollen, vor welche Aufgaben'sich die Wissenschaft durch die Gestaltung der modernen Welt gestellt findet. Von ihr her werden wir ungesucht zu dem zweiten Beispiel fortgeführt, wenn wir uns erinnern, daß die Theorie des Kommunismus es für angezeigt hält, die Ordnung, des nach technischen Vorschriften arbeitenden „Kollektivs“ zum Vorbild aller menschlichen Vergemeinschaftung zu erhöhen. Auch hier verhält er sich so, daß gerade von dem Gegenbilde der kommunistischen Daseinsauslegung sich das der wissenschaftlichen Wahrheit genugtuende Selbstverständnis in äußerster Schärfe abhebt.
Welches ist die Sphäre des Lebens, die sich nach dem besagten Vorbild zu formieren in erster Linie angehalten wird? Es ist die Sphäre von Staat und Gesellschaft. Zumal das Ordnungsgefüge des Staates-scheint wie geschaffen, die Linien des arbeitenden Kollektivs in sich nachzuzeichnen und sich damit gleichfalls auf die Bahn eines nicht aufzuhaltenden „Fortschritts“ zu bringen.
Sache der recht verstandenen Wissenschaft ist es, dieses Postulat auf seine Haltbarkeit hin zu prüfen. Diese Prüfung ist nicht nur erforderlieh, damit der Staat vor dem Schicksal der theoretischen Verzeichnung bewahrt bleibe. Sie tut auch und gerade deshalb not, weil jeder Versuch, die in Rede stehende Angleichung in die Praxis zu überführen, d. h.
den Staat in seinem Bau dem arbeitenden Kollektiv konform zu machen, unweigerlich all jene Akte der Vergewaltigung im Gefolge hat, deren es bedarf, damit die im Staat vereinten Menschen sich genau so den Dekreten der im Staat Gebietenden unterwerfen, wie sie als Glieder des arbeitenden Kollektivs sich den Forderungen des sie umfangenden Werkzusammenhangs fügen. Es ist nun einmal nicht anders: wo eine Vielzahl von Menschen sich in der Bearbeitung derselben „Sache“ (Stoffe und Kräfte der Natur) vereint, da ist eben diese Sache die Instanz, nach deren Weisung sich die Einzelleistungen zum wohlfunktionierenden „Apparat“ ineinanderfügen. Wo aber eine Vielzahl von Menschen sich zu einer politisdien Gemeinschaft vereint, da fehlt es an der „Sache“, die mit der gleichen Eindeutigkeit die Leistungen bestimmte und das Ineinandergreifen der Leistungen bewirkte: da melden sich alle die Interessen und Ideen, Bestrebungen und Leidenschaften zum Worte, die im arbeitenden Kollektiv verstummen, wenn und so lange dem Gebot der Sache Folge geleistet wird, lind weil im Raum der Politik all diese Mächte ihre Stimme erheben und ihren Anteil am Ganzen fordern, darum kann hier nur durch den Einsatz der je des Gegenstreben erstickenden Gewalt das Tun der Menschen zu einem Getriebe zusammen-gezwungen werden, das, was Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit des Funktionierens angeht, nicht hinter der Perfektion des arbeitenden Kollektivs zurückbleibt. Nur um den Preis dieser Freiheitsberaubung ist der „Fortschritt“ feil, den angeblich auch der Staat zu realisieren befähigt und berufen ist.
Von dem Hintergrund des Staates, der sich durch eine angeblich wissenschaftliche Doktrin ermächtigen läßt, den Menschen zum Funktionsglied eines ihn entmündigenden Apparats herabzuwürdigen, zeichnet sich das Bild des Staates ab, dessen tiefster Sinn es ist, dem in den Staat integrierten Menschen alle Vergewaltigungen der dargestellten Art fernzuhalten. Und auch hier verhält es sich so, daß mit diesem Staat die Wissenschaft sich um so enger verbunden zeigt, je strenger sie in ler Zergliederung der politischen Wirklichkeit alle ideologischen Vorentscheidungen verabschiedet und nur die Wahrheit ans Licht zu bringen entschlossen ist. Die Staatsform, von der dies gilt, ist diejenige der Demokratie. Das soll wahrlich nicht besagen, daß durch die Wissenschaft die Staatsform der Demokratie ebenso als die „richtige ausgewiesen werde, wie durch die nämliche Wissenschaft die für den kommunistischen Staat grundlegende Doktrin sich ihrer „Falschheit muß überführen lassen. Es will nur heißen, daß die Demokratie, im Unterschied vom Staat des Kommunismus, es nicht nötig hat, sich durch eine angebliche Wissenschaft vom Menschen legitimieren zu lassen, die der krassesten Verleugnung des spezifisch Menschlichen gleichkommt, sondern den Menschen gerade in denjenigen Wesenszügen respektiert und zum Zuge kommen läßt, die durch die Wissenschaft als das spezifisch Menschliche ausgezeichnet werden. Indem sie einen jeden ihrer Bürger zur Teilnahme an der gemeinsamen Meinungs-und Willensbildung aufruft, erkennt sie ihm in aller Form die Selbstheit und Selbstverantwortlichkei.des Urteilens und Sichentschließens zu, in deren Bewährung er sich zum Range der „Person" erhebt. In diesem und nur in diesem Sinne darf behauptet werden, daß die Demokratie ebenso streng mit der Wissenschaft solidarisch ist, wie der Kommunismus nur im Bunde mit einer Afterwissenschaft vom Menschen den Schein der Beifallswürdigkeit hervorzurufen vermag.
Und gerade wir Deutsche haben allen Grund, uns der genannten Solidarität ausdrücklich zu versichern. Äußerlich hat der Staat der Deutschen die Form der Demokratie angenommen; aber unendlich schwer hat es diese Form, in den Seelen der ihr Überantworteten Wurzel zu schlagen. Es ist, als finde man vielerorts die tiefste Genugtuung darin, an ihr die Gebrechen zu erspähen, in denen sich ihre Anfälligkeit und Ausartungsbereitschaft offenbare. Wie heilsam können angesichts dieser Neigung die Erleuchtungen einer Wissenschaft sein, die nicht nur in dem Menschen das zur Freiheit der Entscheidung aufgerufene W* esen enthüllt, sondern auch den Wahn zerstreut, als sei das Privileg der Freiheit anders als um den Preis der Abirrungen und Verkehrungen zu haben, denen zu verfallen der Mensch als das vom Gängelband der Natur gelöste und sich selbst anheimgegebene Wesen ohne Unterlaß versucht ist! Indem die Wissenschaft diesen Wahn entlarvt, erweist sie sich von neuem als die Macht, die nicht bloß einen ohne ihr Zutun so und nicht anders beschaffenen Gegenstand durch Belichtung sichtbar macht, sondern durch ihr erhellendes Tun in das Leben dieses Gegenstandes befreiend und beschwingend eingreift. Nur wenn der Deutsche die ihn umfangende politische Wirklichkeit verstehen lernt, nur wenn er verstehen lernt, daß ein aus freien Wesen gebildetes und durch freie Entscheidungen sich fortbildendes Gemeinwesen unmöglich den Anblick eines störungsfreien Einvernehmens und einer zwiespaltlosen Kooperation bieten kann — nur dann wird er dahin gelangen, das Verhältnis, das zwischen dem Staat und ihm selbst obwaltet, so zu sehen, daß er sich weder als den außerhalb postierten und deshalb einflußlosen Zuschauer des politischen Kampfspiels noch als den mit dem Leviathan um sein Lebensrecht hadernden Rivalen mißversteht. Nur dann wird er sich hüten, an seinem Teil das Leben der Demokratie entweder durch Abseitsgehen lahmzulegen oder durch Obstruktion in Verwirrung zu bringen. Wie dürfen wir hoffen, mit der in Gestalt des totalitären Staates andrängenden Anfechtung fertig zu werden, wenn wir dem Staat, der seinem ureigensten Wesen nach die Verneinung eines jeden Totalitarismus ist, Verständnis und Teilnahme verweigern und so den moralischen Kredit entziehen, von dessen Gewährung die Möglichkeit seiner Selbstbehauptung abhängt! Es ist die Wissenschaft vom Menschen, die uns für die Tragweite der hier so leicht geschehenden Unterlassung die Augen öffnet.
Überlieferung und Fortbildung
An zwei Beispielen haben wir uns die klärende Wirkung verdeutlicht, durch welche die Wissenschaft dem Menschen der Gegenwart helfen kann, sich in dem labyrinthischen Bau des ihn umfangenen Lebens zurechtfinden und sein Verhalten nach Maßgabe dieser Einsicht einzurichten. Aus beiden Beispielen war zu entnehmen, wie sehr die Aufgabe der Klärung dadurch erleichtert wird, daß Theorie und Praxis des Kommunismus uns das Gegenbeispiel einer Daseinsauslegung und Daseinsgestaltung zur Verfügung stellen, an dem sich ablesen läßt, wie man es nicht anzufangen hat, will man nicht die Aufgabe der Daseins-orientierung so gründlich wie möglich verfehlen.
Ich bin der Überzeugung, daß man die der Wissenschaft heute obliegende Verpflichtung in einer so grundsätzlichen Allgemeinheit fassen muß, um das Gebot der weltgeschichtlichen Stunde richtig zu verstehen. Allerdings: je prinzipieller die Aufgabe formuliert wird, um so unabweisbarer wird auch eine weitere Frage. Wir besitzen die Wissenschaft nur in der bestimmten Gestalt, zu der sie sich in der geschichtlichen Entwicklung unseres Kulturkreises durchgearbeitet hat. Zu dieser Gestalt gehört eine innere Haltung, die man die wissenschaftliche „Gesinnung“ nennen könnte. Lind diese Haltung bildet die Seele derjenigen Institution, der die Förderung der Wissenschaft in erster Linie obliegt:
der wissenschaftlichen Hochschule. Die Frage, die sich daraus ergibt, ist die, ob und wieweit Wissenschaft und wissenschaftliche Hochschule durch ihre geschichtliche Entwicklung vorbereitet sind, sich der von uns entwickelten Aufgabe anzunehmen — ob und wieweit die in ihnen waltende „Gesinnung" der neuen Lage entgegenkommt.
Die Antwort auf diese Frage kann nicht in einem Satze gegeben werden, weil die wissenschaftliche Liberlieferung, an der von uns erörterten Aufgabe gemessen, sowohl fördernde als auch hemmende Momente sichtbar werden läßt.
Lim mit den letzteren zu beginnen: jene im Eingang erörterte Auffassung, der zufolge die Wissenschaft ein opus supervacaneum auf sich nehmen würde, wenn sie das Selbstverständnis der Gegenwart zu klären sich bereit fände, ist tief verwurzelt in der unsere wissenschaftliche Welt beseelenden Grundgesinnung. Seitdem Wilhelm von Humboldt als berufener Interpret der seine Epoche erfüllenden Geistgläubigkeit der Wissenschaft unter den Gütern der „Humanität“ ihren Platz angewiesen und ihre Sendung zugesprochen hat, ist es die herrschende Meinung geblieben, daß die Wissenschaft nur dann ihrer Bestimmung Genüge tue, wenn sie, sich abkehrend von den vergänglichen Bedürfnissen der Zeit und den vorübergehenden Forderungen des Augenblicks im „zweckfreien“ Dienst an der nur um ihrer selbst willen gesuchten Wahrheit aufgehe. Aus dieser Zielbestimmung spricht nicht etwa die Gleichgültigkeit gegen das, was der geschichtliche Augenblick an Fragen und Sorgen hervorbringen mochte. Wohl aber liegt ihr die Gewißheit zugrunde, daß die Wissenschaft gerade dann am sichersten der Zeit dasjenige geben werde, was sie von ihr erwarten dürfe, wenn sie zunächst einmal ihr eigenes Reich ohne jeden Gedanken an mögliche Nutzanwendung ausbaue. Nur durch solche Zurückhaltung könne und werde sie den ihr sich weihenden Menschen zu der Souveränität des Geistes emporbilden, durch die er dann hinterher auch seiner Zeit den erwarteten Beistand zu leisten qualifiziert werde. Was gemäß dieser Vorstellung das eine mit dem anderen verbindet, das ist die Reife und Weisheit, zu der der Mensch im Umgang mit der zeitüberlegenen. Wahrheit durchdringt, nicht aber eine logische Nötigung, durch welche die Wissenschaft sich mit der Zeitlichkeit einzulassen verpflichtet würde. Auf Grund dieser Vorstellung wird die Zuwendung zur Zeit eine zusätzliche Bemühung — eine Bemühung, die, unbeschadet ihrer Dringlichkeit und Unerläßlichkeit, dem eigentlichen Geschäft der Wissenschaft als solchem fremd ist. Könnte es doch auch dann, wenn sie ausfiele, zum sachlich geforderten Abschluß gebracht werden!
Wie weit diese Vorstellung noch heute die Gemüter beherrscht, lehrt die Tatsache, daß das Credo nicht weniger Hochschullehrer folgendermaßen lautet: Wenn ich die mir anvertraute Wissenschaft ohne jeden Gedanken an die Funktion, die sie im Leben der Gegenwart ausübt, in reinem Wahrheitssinn pflege und fördere, wenn ich die jungen Menschen, die mir in diese Wissenschaft einzuführen obliegt, zu der nämlichen Gesinnung erziehe, dann habe ich damit auch schon voll-bracht, was ich meiner Zeit schuldig bin. Denn damit habe ich sowohl mich selbst als auch die meiner Führung Anvertrauten in diejenige Haltung hineingebildet, in der nun einmal fest geworden sein muß. wer seinem Zeitalter leisten will, was es von ihm erwarten darf. Die reine Hingabe an die zeitüberlegene Wahrheit führt nicht von der Zeitlichkeit hinweg: sie gibt die Kraft, die Zeitlichkeit zu bestehen.
Wir stellen dem die Überzeugung entgegen, daß die damit proklamierte Zweiteilung der Aufgaben, die vielleicht bis zu einer gewissen Stufe des geschichtlichen Fortgangs zu rechtfertigen und durchzuführen war, durch die Entwicklung der letzten Menschenalter zunehmend illusorisch geworden ist. Ein Zeitalter, das sich selbst und mit sich auch die ihm gliedhaft eingefügte Wissenschaft nicht vor der Gefahr der Selbst-Vernichtung bewahren wird, es sei denn, daß es das Getriebe seiner Lebensfunktionen durchschauen und beherrschenden lernt -ein solches Zeitalter schreit geradezu nach einer Wissenschaft, die in der Aufgabe Selbsterhellung nicht ein Geschäft erblickt, das anhangsweise, d. h. als nachträgliche Anwendung einer in sich zum Abschluß gelangten Erkenntnis, erledigt werden könnte, sondern diese wahrscheinlich brennende Lebensfrage gleich in den Ansatz ihres denkenden Bemühens aufnimmt. Die Wissenschaft muß es lernen, sich selbst als die Macht anzusehen, in deren Betätigung das Zeitalter erst seiner selbst inne, seiner selbst mächtig wird. Bekanntlich hat Hege/das Verhältnis der besonderen Philosophie zu der Epoche, in der sie hervortritt, bestimmt durch den Satz, sie sei „ihre Zeit, in Gedanken erfaßt". Er wollte damit sagen, daß die universale Wahrheit, die durch die Philosophie als ganz? entfaltet werde, die Wahrheit über die Epoche, die gerade diese bestimmte Gestalt der Philosophie hervorbringe, nicht etwa als Folgerung oder Anwendung hinter sich herziehe, sondern als notwendiges Moment des Ganzen in sich schließe. Das Ganze begreifen heißt auch seine derzeitige Sondergestalt begreifen. Seine derzeitige Sondergestalt verfehlen heißt auch das Ganze verfehlen. Genau so will das verstanden sein, war unseres Erachtens der Wissenschaft unserer Tage obliegt. Sie hat das Wissen des Zeitalters um sich selbst nicht als Folgerung oder Anwendung aus einem Wissen heraus zu entwickeln, das sich ohne Rücksicht auf diese Frage bereits zum Ganzen gerundet hätte. Sie hat, obwohl oder vielmehr weil die Zerspaltung in Einzelwissenschaften von dieser Perspektive abzulenken nur zu sehr geeignet ist, an jedem Punkte ihrer Arbeit die Frage wach und rege zu erhalten, was das gerade in Angriff genommene Stück wissenschaftlicher Forschung im Zusammenhang mit dem Ganzen, und zwar mit dem Ganzen nicht nur des wissenschaftlichen Forschens sondern auch des Lebensvollzuges, bedeute. Sie hat, mit einem Worte, den Aktualitätsbezug des gerade im Blickpunkt Stehenden dem Bewußtsein der Forschenden und Lehrenden gegenwärtig zu halten.
Man kann die gleiche Forderung auch in einer anderen Form aussprechen, indem man anknüpft an einen seit unserem klassischen Zeitalter nicht zur Ruhe gekommenden Pädagogendisput. Ich meine den Streit über das Verhältnis von „Allgemeinbildung“ und „Berufsbildung“.
Wenn das pädagogische Gewissen die Augabe der „Allgemeinbildung“
nur dadurch in der rechten Weise meint lösen zu können, daß es die Fragen der „Berufsbildung", als Anliegen bloß des „praktischen“
Lebens, sorglich aus ihr heraushält, so ist das die nämliche Trennung wie diejenige, kraft welcher die „reine“, die zeitüberlegene Wissenschaft sich von der den Fragen der Zeit zugewandten Wissenschaft absetzt
Die Einbeziehung des Gegenwärtigen scheint mir das Prinzipielle an der Wendung zu sein, durch welche Wissenschaft und wissenschaftliche Hochschule unserer Tage sich von dem humboldtischen Wissenschaftsideal zu distanzieren hätten. Glücklicherweise ist es durchaus nicht an dem, daß diese Abstandnahme der totalen Absage gleichkäme. Im Gegenteil: daß und in welcher Hinsicht wir an jenem Ideal festzuhalten gerade dann uns verpflichtet finden, wenn wir den Auftrag der modernen Wissenschaft ernst nehmen, ging aus den vorausgegangenen Darlegungen in aller Klarheit hervor. Es ist, so sahen wir, das umgewollte Verdienst des Kommunismus, daß er uns das Unverlierbare, ja das heute am wenigsten Preiszugebende an dem humboldtischen Vermächtnis in leuchtender Klarheit vor Augen rückt. Indem er die sich selbst begründende, die in sich selbstruhende Wissenschaft durch die im Vorurteil wurzelnde Pseudowissenschaft ersetzt, betrügt er die Zeit gerade um dasjenige, was ihr wie kein Anderes nottut: um die Verständigung mit sich selbst, die ihr gerade und nur dann zum Heile sein kann, wenn sie mit der Wahrheit im Einklang steht. Was der Kommunismus der Epoche vorenthält, das gibt ihr die Wissenschaft. Denn daß die Wissenschaft sich der Fragen und Sorgen der Zeit anzunehmen habe — diese Forderung könnte ja nicht gröblicher mißverstanden werden, als es durch die Auslegung geschehen würde, sie habe sich zu den die Zeit erfüllenden Bewegungen in ein Verhältnis der Abhängigkeit zu begeben. Würde sie doch mit dem darin liegenden Verzicht auf ihre Autonomie alsbald automatisch gerade dasjenige einbüßen, wodurch sie der Zeit zur Hilfe zu kommen befähigt wird: das Vermögen, zu jener Wahrheit durchzudringen, nach der die um ihr Selbstverständnis ringende Zeit so inständig verlangt. So lernen wir am Gegenbeispiel des Kommunismus: die Wissenschaft wird um so sicherer der Zeit dazu verhelfen, mit sich selbst fertig zu werden, je strenger sie von ihren Aufstellungen jeden Einfluß zeitverhafteter Tendenzen fernehält. Die Wissenschaft so vor Trübungen bewahren — das heißt wahrscheinlich dem Erbe Wilhelm von Humboldts die Treue halten.
Was sich also im Verhältnis zu dem überlieferten Wissenschaftsideal zu ändern hat, das ist die Richtung des Fragens, nicht aber die geistige Haltung, in der und aus der heraus gefragt wird. Die eigene Zeit in ihr Blickfeld einbeziehend, wird die Wissenschaft nicht zur dienstbeflissenen Bügelhalterin, sondern zur selbstmächtigen Beraterin der Zeitgewalten.
Die Wissenschaft vom Menschen
Mag es aber immerhin so sein, daß die hier geforderte Wendung nicht einem Bruch mit der Überlieferung gleichkommt, so ändert das nichts daran, daß die Wissenschaft unmöglich die Sorgen der Zeit in ihr Gedankengefüge aufnehmen kann, ohne sich Umgliederungen und Neuakzentuierungen von eingreifender Art zumuten zu müssen. Und gerade die wissenschaftliche Hochschule ist der Ort, an dem die so entstehenden Schwierigkeiten sich am empfindlichsten fühlbar machen. Sie kann ihnen am wenigsten ausweichen, weil sie mit der Aufgabe der „Forschung“ diejenige der „Lehre“ vereinigt und so, den Nachwuchs der akademischen Berufe auszubilden verpflichtet, den Zusammenhang mit dem Leben der Gegenwart zu wahren besonders aufgerufen wird.
Indem wir an die Frage herantreten, in welchen Formen die grundsätzlich aufgewiesene Aufgabe in concreto anzufassen ist, erweist es sich als notwendig, eine das Ganze der Wissenschaften teilende Unterscheidung ins Auge zu fassen, die gerade im Lichte der genannten Frage ihre ganze Tragweite offenbart.
Wenn es darauf ankommt, den Menschen in seinen der Zeit entspringenden Nöten zu beraten, dann fällt naturgemäß der Blick zunächst auf diejenigen Wissenschaften, die an dem Menschen ihren Gegenstand haben. Es sind diejenigen Wissenschaften, in denen der Mensch seiner selbst inne wird. Dabei ist der Begriff des „Menschen"
soweit zu fassen, daß in ihn auch die Taten, Werke, Veranstaltungen, Einrichtungen hineingedacht werden, durch deren Hervorbringung der Mensch nicht etwa bloß von dem, was er an sich schon ist, nach außen hin Kunde gibt, sondern sich überhaupt erst zu dem Wesen durchbildet, welches zu sein ihm als dem Erstgeborenen der Schöpfung aufgegeben ist. Schon ein flüchtiger Blick über die Arbeit der hohen Schule läßt uns erkennen, wie groß der Anteil der in diesem Sinne auf den „Menschen" bezogenen Wissenschaften an der Gesamtheit der Institution ist.
Daß aber die uns beschäftigende Fragestellung den Blick zunächst auf die Wissenschaft vom Menschen hinlenkt, das erweist sich bei näherem Zusehen als ebenso tief begründet wie aufschlußreich. Es darf von dem Ganzem dieser Wissenschaften gesagt werden, daß gerade sie es sind, durch welche die Zuwendung zur aktuellen Gegenwart angebahnt, nahegelegt, ja letztlich gefordert wird. Das ist deshalb der Fall, weil in und mit dieser Zuwendung nur ein durchgehendes Grundmotiv ihrer gesamten Forschungsarbeit in einer speziellen Richtung vorgetrieben und damit allerdings radikalisiert wird.
Keine wissenschaftliche Bemühung um den Menschen kann daran vorbeisehen, kann daran vorübergehen, daß er das gescJ^ichtliche Wesen, das in Form der Geschichtlichkeit sich auslebende, sich bewährende und versagende, sich gewinnende und sich verlierende Wesen ist. Geschichtlieh sein heißt aber nichts anderes als in immer neuen, einmaligen, also zeitlich fixierten Lagen seines Daseins Kreis erfüllen. Daß also der Mensch in einer ihn umfangenden und beanspruchenden Gegenwart seinen Stand hat, daß ihm durch diese Gegenwart seine Möglichkeiten erschlossen und seine Aufgaben gestellt werden, das ist ein Grundsachverhalt, der in die Fundamente jeder Wissenschaft vom Menschen eingeht. Wenn also die besondere Gegenwart, die die Lebenssituation von uns Heutigen ausmacht, von der Wissenschaft in ihren besonderen Lebensnöten beraten zu werden verlangt, so können von den Wissenschaften, an die dieser Ruf ergeht, diejenigen am wenigsten durch ihn überrascht werden, die ohnehin gewohnt sind, im Menschen das durch seine jeweilige Gegenwart angeforderte Wesen zu sehen. Neu ist an ihrer Lage nur dies, daß sie dieses Angefordertsein nicht nur als einen Tatbestand vor Augen haben, von dem in betrachtender Haltung Kenntnis zu nehmen wäre, sondern als einen sie selbst betreffenden, sie aus der betrachtenden Haltung hervorholenden Anspruch erfahren. Sie finden sich selbst unter der Forderung stehend, deren Unausweichlicbkeit ihnen im Blick auf den durch sie zu erforschenden Gegenstand so oft offenbar geworden ist. Indem sie dieser Forderung Folge leisten, wissen sie nicht nur im allgemeinen um die Zeitgebundenheit alles mensch-liehen Seins und Tuns, sie helfen sie auch im besonderen durch Eingreifen in die Bewegung der eigenen Zeit aktualisieren. Sie treten aus der Reserve des bloß Betrachtenden heraus und reihen sich den zeitgestaltenden Kräften ein.
Es liegt im Wesen der Sache, daß dieser Übertritt in sehr verschiedenen Graden von Bewußtsein und Ausdrücklichkeit vollzogen werden kann. Auch heute noch kann die Wissenschaft vom Menschen in einer jeden ihrer Sparten so betrieben werden, als ob sie in einem von der Gegenwart vollkommen abgedichteten Raum vor sich gehe. Man kann z. B. so Geschichte erforschen und lehren, als ob das gerade im Blickpunkt stehende Stück geschichtlicher Vergangenheit nichts, aber auch gar nichts zu tun habe mit jener Geschichte, die sich im Augenblick in uns und durch uns, die gerade zum Zuge Gekommenen, vollzieht. Allein diese Absonderung würde nicht nur zur Realität der Geschichte, die nun einmal ein einziger unzerteilbarer Wirkungszusammenhang zu sein nicht aufhört, in schneidendem Widerspruch stehen; sie würde auch dem Menschen von heute, der seine vielgeschichtete und spannungsgeladene Wirklichkeit nur im Rückgriff auf seine Vergangenheit begreifen kann, die Erhellung seiner selbst vorenthalten, die er nötig hat, um nicht im Widerstreit der sein Leben zerfuchenden Gegensätze unterzugehen. An diesem Beispiel läßt sich ablesen, wie die Wissenschaft vom Menschen heute zu Werke zu gehen hat, um nicht nur gelehrtes Wissen zu erzeugen und weiterzugeben, sondern dem um seine Existenz ringenden Zeitalter den Horizont seines Seins und Tuns aufzuklären. Darin liegt eben die Radikalisierung der für die Wissenschaft vom Menschen leitenden Fragestellung, daß sie die zeitliche Fixiertheit alles Menschlichen nicht bloß als durchgehendes Grundmotiv unseres Daseins aufzuzcigen und festzuhalten, sondern auch durch ihre eigene Wirksamkeit tätig zu bewähren hat.
Es erübrigt sich, die damit gekennzeichnete Wendung durch die ganze Reihe der Wissenschaften hindurch zu verfolgen, die schon durch ihr Thema das Daß und das Wie dieser Wendung ohne Weiteres sichtbar machen: der Wissenschaften vom Menschen überhaupt, vom menschlichen Seelenleben, von der Gesellschaft, von der Wirtschaft, vom Staat, vom Recht, von der Erziehung. Viel lehrreicher-ist es, sie an einer Gruppe von Wissenschaften nadizuweisen, die, im Licht der herkömmlichen Denkweise betrachtet, die letzten sein würden, diese Wendung nahezulegen oder gar wissentlich zu vollziehen. Zu den Wissenschaften vom Menschen gehören auch diejenigen Disziplinen, die in der medizinischen Fakultät zusammengeschlossen sind. Die Lehre vom gesunden und kranken Menschen den auf den Menschen bezüglichen Wissenschaften einzureihen scheint selbstverständlich. Gleichwohl würde man es noch vor wenigen Jahrzehnten als absurd angesehen haben, in die Lehre vom gesunden und kranken Menschen die Geschichtlichkeit des Menschen als bestimmendes Motiv einzubeziehen. Die für die medizinische Wissenschaft grundlegenden Disziplinen galten als reine Naturwissenschaften, die Medizin verstand sich selbst als „angewandte Naturwissenschaft“. Als Naturwissenschaft aber kann und darf nur eine Disziplin gelten, die durch die Allgemeinheit ihrer Ergebnisse jede Beziehung auf die Besonderheit der geschichtlichen Lage ausschließt. Sie würde, wollte sie diese Beziehung in Rechnung stellen, ihren wissenschaftlichen Charakter einbüßen. Daraus scheint zu folgen, daß die Medizin, obwohl Wissenschaft vom Menschen, auf die geschichtliche Besonderung des Menschlichen Rücksicht zu nehmen und folgeweise die Hinwendung zur Gegenwart mitzumachen nicht nur nicht die Pflicht, sondern nicht einmal die Möglichkeit hätte Allein die damit vollzogene Trennung der Medizin von der Geschichte hat im letzten Menschenalter immer mehr an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Mehr und mehr setzt sich die Erkenntnis durch, daß beim Menschen Gesundheit und Krankheit nicht Naturphänomene sind, die unabhängig vom Wandel der geschichtlichen Situationen in sich ihren Bestand haben. Mehr und mehr lernt man einsehen, daß Krankheiten, nach ihrem Wesen, ihrer Herkunft und ihrer Wirkung betrachtet, zu den Lebenserscheinungen gehören, die an der geschichtlichen Besonderheit des Zeitalters, in dem sie auftreten, Teil haben. Jede Epoche hat eben ihre, d. h. diejenigen Krankheiten, die zu ihren Neigungen, Gepflogenheiten, Veranstaltungen und Einrichtungen hinzugehören wie der Schatten zum Licht. Füi die Wissenschaft der Medizin aber ist es nicht mehr als selbstverständlich, diese Erkenntnis alsbald in die Zuwendung zur Gegenwart umzusetzen. Denn da sie eine zum Helfen berufene, also praktische Wissenschaft ist, ist sie weitaus in erster Linie an derjenigen Zeit interessiert, in der sic einzig ihr Helferamt ausüben kann, d. h. an der Gegenwart. Kein Wunder also, daß die medizinische Forschung sich mehr und mehr daran gewöhnt hat, die unser Zeitalter heimsuchenden Leiden auch unter dem Gesichtspunkt zu durchforschen, was die unser Zeitalter kennzeichnenden Zustände zu ihrem Aufkommen und ihrer Ausbreitung beigetragen haben mögen. Eine Wissenschaft, die so verfährt, hat aufgehort, sich als „angewandte Naturwissenschaft''zu verstehen. Sie hat in der Erforschung des um sein Selbstverständnis ringenden Zeitalters den ihr zukommenden Platz eingenommen.
Nur anhangsweise sei hinzugefügt, daß diese „historische“ Wendung in der Medizin sich mit gleichem Nachdruck auch in der Beurteilung und Behandlung des einzelnen Menschen geltend machen muß Auch hier kommt man mehr und mehr davon ab, im Patienten nicht mehr als den „Fall“ zu sehen, der unter Zugrundelegung allgemeiner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse nach Maßgabe allgemeiner medizinischer Regeln zu „behandeln“ wäre. Auch hier ist man der Notwendigkeir inne geworden, die individuelle „Geschichte" des Leidenden in den Kreis der für die Diagnose des aktuellen Zustandes bestimmenden Überlegungen aufzunehmen. Lind da diese individuelle Geschichte ihrerseits natürlich nicht abgelöst werden kann von dem Ganzen der allgemeinen Daseinsbedingungen, in deren Zeichen der betreffende Mensch zu seiner persönlichen Daseinsgestalt herangereift ist, so tritt als unentbehrlicher Hintergrund der auf die Gegenwart des einzelnen bezüglichen Ermittlungen die auf die Gegenwart des Epochalen sich richtende Gesamtauffassung hervor. Im großen wie im kleinen kann die Medizin gar nicht anders als in ihr Gedankengebäude den Bezug auf die Gegenwart, in der sie ausgeübt wird, mit aufnehmen. Selbst in diesem der Domäne der Naturwissenschaft so nahe gelegenen Grenzfall findet sich die Wissenschaft vom Menschen genötigt, der eigenen Zeit schon in dem Ansatz ihrer denkenden Bemühungen Raum zu geben.
Die Wissenschaft vom Außermenschlichen
Ein durchaus anderes Gesicht nimmt unser Problem in dem Augenblick an, da wir unseren Blick denjenigen Wissenschaften zuwenden, die es nicht mit dem Menschen zu tun haben, sondern sich auf die Wirklichkeit des Außermenschlichen beziehen. Wir nennen sie die „Naturwissenschaften". Die Abwandlung, die alsdann eintritt, hat darin ihren letzten Grund, daß die hier sich auftuende Welt von Gegenständen nichts von Geschichtlichkeit weiß. Das Tier, die Pflanze, das Unbelebte hat keine „Geschichte“. Für sein Wesen und sein Verhalten ist es folglich auch gleichgültig, welchen zeitlichen Ort es einnimmt. Dem entspricht es, daß die diesen Bereichen zugeordnete Wissenschaft den Bezug auf die zeitliche Besonderung, den die Wissenschaft vom Menschen als notwendiges Moment in sich befaßt, von sich ausschließt. Sie fragt nach Gestalten, Ordnungen, Zusammenhängen, die den Wandel der Zeiten überdauern. Daraus ergibt sich hinwiederum, daß auch und gerade der Bezug auf die besondere Zeit, in der die besagte Wissenschaft ihr Werk verrichtet, daß der Bezug auf die Gegenwart nicht in den Gesichtskreis dieser Wissenschaft selbst eintreten kann. Auf Grund von alledem könnte es so aussehen, als ob die hierher gehörigen Disziplinen, wenn ihnen zugemutet würde, sich mit den Fragen und Nöten der Zeit abzugeben, sich selbst aufzugeben und sachfremde Funktionen auf sich zu nehmen aufgefordert würden. Ihr methodischer Charakter scheint ihnen die Zuwendung zur Gegenwart zu verbieten.
Die hier in ihrer grundsätzlichen Notwendigkeit aufgezeigte Abwandlung des zwischen der Wissenschaft und ihrer Gegenwart obwaltenden Verhältnisses tritt nicht in allen Sparten der Wissenschaft von der Natur in gleicher Klarheit zutage. Wir suchen sie da auf, wo sie sich zu äußerster Schärfe präzisiert. Das ist der Fall im Bereich der mathewatischen Naturwissenschaft, also vor allem im Bereich der zur Einheit zusammenwachsenden Disziplinen Physik und Chemie. Es ist das Auszeichnende an diesen Disziplinen, daß sie die radikale Abkehr von der geschichtlichen Selbstbesonderung, die schon durch die Beschaffenheit der den Naturwissenschaften zugeordneten Gegenstände vorgezeichnet ist, durch die ihren Aufbau bewirkende Methode in einer logischen Schärfe hervortreten lassen, die nicht ihresgleichen hat. Bestimmung und Leistung ihrer Methode ist es, die natürlichen Vorgänge auf mathematische Beziehungen zurückzuführen. Diese Mathematisierung aber ist als solche auch schon die Erhebung über alle die Besonderungen, in denen das natürliche Geschehen sich entfaltet. Sie ist die Zurückführung alles Besonderen auf allgemeine Relationen, die nicht bloß heute und hier, sondern stets und überall gelten. Jeder Versuch, zum Besonderen zurückzugelangen, käme der Verneinung der in diesen Wissenschaften waltenden methodischen Haltung gleich.
Auf dieser methodischen Selbstabschließung beruht der Vorzug, dessen wir oben gedachten: es ist die sowohl diese Wissenschaft als auch die mit ihr solidarische Technik auszeichnende Verständlichkeit — jene glasklare Durchsichtigkeit, die sich aus ihrer Rationalität ergibt Um diese Rationalität wäre es unweigerlich geschehen, wenn dem zeitlich sich Besondernden Zugang gewährt würde. Seine Zulassung würde das mathematische Gefüge zerstören.
Auf Grund des Dargelegten könnte es so aussehen, als ob von der Verpflichtung, der wir die Wissenschaften vom Menschen unterworfen fanden — als ob von der Verpflichtung, der eigenen Zeit helfend zur Seite zu stehen, die Wissenschaften vom Außermenschlichen in aller Form loszusprechen seien. Allein dieser Folgerung steht doch die offenkundige Tatsache im Wege, daß wenige Mäche dem Zeitalter so wertvolle, ja unentbehrliche Dienste leisten, wie Naturwissenschaft und Technik im Verein es Tag für Tag tun. Lind, was noch mehr zu beachten ist: dem Zeitalter so behilflich zu sein sind sie gerade und nur deshalb imstande, weil sie sich jede unmittelbare Zuwendung zu ihm mit unerbittlicher Strenge untersagen. Denn die Exaktheit ihrer Erkenntnisse, und das heißt: die Verwendbarkeit ihrer Ergebnisse würde in eben dem Maße zurückgehen, wie sie sich die Hinwendung zur Stunde und damit die Beschäftigung mit dem Besonderen gestatten wollen. Sie tun also ihrem Zeitalter gerade dadurch am besten Genüge, daß sie ihm in ihrer methodischen Arbeit den Rücken kehren. Denn nur in dieser Einstellung können sie die Früchte ernten, von denen das Zeitalter so gern Gebrauch macht. Das Zeitalter kann also, so scheint es, nichts Besseres tun als sie in ihrer Arbeit vollkommen unbehelligt lassen Allein daß mit einer so sauberen Grenzziehung die Sadie nicht erledigt ist, das lehrte uns bereits die oben erfolgte Feststellung wie gründlich die Klarheit und Durchsichtigkeit der zu durchschauenden Zusammenhänge sich verliert, sobald man, statt Naturwissenschaft und Technik in ihrem inneren Gefüge zu studieren, ihre Stellung im Gesamt-aufbau und ihre Funktion im Gesamtgetriebe des Lebens ins Auge faßt. Denn sobald man tut, zeigt sich auch schon: daß Wissenschaft dies eine in dem ihr eigentümlichen methodischen Vorgehen der Zeit, in der sie sich ausbildet, jede Rücksicht versagt, das bedeutet wahrhaftig nicht, daß ihr Verhältnis zu dieser Zeit dasjenige eines äußerlichen Danebenstehens, wo nicht einer sie von jener abtrennenden Fremdheit wäre. Genau das Gegenteil ist der Fall. Gerade weil die rechnende Wissenschaft in ihren Gleichungen jeden Bezug zur zergehen läßt — gerade deshalb und nur deshalb ist es ihr gegeben, Ergebnisse hervorzubringen, durch deren praktische Auswertung das Antlitz der Zeit einschneidende Abwandlungen erleidet. Worin diese Abwandlungen bestehen, das zu vergegenwärtigen genügt die Erinnerung, wie sehr durch die mit der mathematischen Naturwissenschaft verschwisterte Technik die Verfahrensweisen der wirtschaftlichen Produktion, die Gliederungen der Gesellschaft, die Lebensgewöhnungen der Allgemeinheit, die Formen der sei es friedlichen sei es kriegerischen Auseinandersetzung verändert worden sind.
Wir stehen also der bedenkenswerten Tatsache gegenüber: eine Wissenschaft bringt es fertig, ihr Zeitalter gerade dadurch in eine neue Gestalt überzuführen, daß die sich ihm als solchem zuzuwenden strengstens unterläßt. Wie tief diese Gestaltwandlung geht, das wird erst dann offenbar, wenn wir uns nicht damit begnügen, die oben erwähnten schon dem oberflächlichen Blick bloßliegenden äußeren Umgestaltungen zu registrieren, sondern zusehen, wie der geistige Habitus einer Epoche sich verändert, sobald sie aus ihrem Schoße eine Wissenschaft hervorbringt, die sich von ihrer Zeit so vollkommen zu emanzipieren durch ihre Methode in den Stand gesetzt wird. Wenn und soweit die durch diese Wissenschaft entwickelte Betrachtungsweise im Denken der Zeitgenossen Platz greift und auf diese Weise ihrer Weltbegegnung Einfluß gewinnt, führt sie in ihrem inneren Leben eine Scheidung herbei, durch welche das Verhältnis zwischen dem Menschen und der ihm begegnenden Welt vollkommen umgebildet wird. Denn die Welt verwandelt sich, soweit sie von den Methoden jener Wissenschaft ergriffen wird, in einen Inbegriff von berechenbaren und damit auch beherrschbaren „Sachen“, die als frei verfügbare „Mittel“ in den Dienst der vom Menschen verfolgten „Zwecke“ gestellt werden können. Es treten gleich Parteien auseinander: die Welt als das riesige und ständig sich erweiternde Inventar der durch die Wissenschaft bereitgestellten Mittel und der Mensch als der durch die Wissenschaft mit immer reicheren Wirkungsmöglichkeiten beschenkte Stifter der Zwecke. Man beachte wohl, daß dieses Grundverhältnis, obwohl durch die vorausgegangenen Weisen der Weltbegegnung vorbereitet, doch erst mit dem Aufgang der mathematischen Naturwissenschaft zu seiner Perfektion durchdringt. Erst die vollkommen berechenbare ist die vollkommen beherrschbare Welt. Erst durch die rechnende Naturwissenschaft wird die Sonderung von Mensch und Sache, Zweck und Mittel zu letzter Präzision zugeschärft.
Nun sieht es auf den ersten Blick so aus, als ob die Bedeutung der dargestellten Entwicklung sich darin erschöpfe, daß es dem Menschen mit der Verwirklichung seiner Zwecke immer besser gelinge. Der „Fortschritt“ in der Weltbemeisterung scheint der Sinn dieses ganzen Vorgangs zu sein. Allein so urteilen — das hieße die Sache höchst einseitig ansehen. Dem Zuwachs an äußerer Weltbewältigung korrespondiert eine innere Umgestaltung, die den schicksalvollsten Peripetien der Menschheitsgeschichte zuzurechnen ist.
Zum ersten: erst indem die Parteien Mensch und Welt mit letzter Klarheit auseinandertreten, wird sich der Mensch so ganz des Anteils am Weltgeschehen bewußt, der auf ihn, das zur Zwecksetzung aufgerufene und zum Mittelgebrauch ermächtigte Subjekt, entfällt. Nie zuvor war er in der Lage, das seiner Vollmacht Anheimgegebene so scharf von dem ihm sich entziehenden Lauf der Dinge abzugrenzen und das Gewicht der mit dieser Vollmacht verbundenen Verantwortung so vorurteilsfrei abzuschätzen.
Sodann: im Lichte dieser Rechenschaftsablage enthüllt sich wie die schwindelerregende Größe so die unheimliche Zweideutigkeit der dem Menschen eröffneten Möglichkeiten des Wirkens. Er wird der Versuchungen inne, für deren Verfänglichkeit den Zeitgenossen der Atömwissenschaft nicht erst die Augen geöffnet zu werden brauchen.
Endlich: es geht ihm auf, daß ihm in Gestalt der diese Möglichkeiten erschließenden Wissenschaft eine Denkform mitgegeben ist, die nicht nur die äußere Existenz unseres Geschlechts durch die von ihr angebotenen Instrumente der Zerstörung in Frage stellt, sondern auch seiner inneren Wohlgestalt dadurch gefährlich wird, daß sie sich über die ihrer Zuständigkeit entzogenen Bereiche des Menschlichen ausbreitet und die hierher gehörigen Ordnungen gewaltsam an ihre eigene Schematik angleicht. Es ist das Verdienst der den Kommunismus begründenden Doktrin, die Lebenswichtigkeit der aus dieser Selbstbesinnung entspringenden Einsichten gerade dadurch ins Licht gerückt zu haben, daß sie ihnen im Rahmen ihrer Aufstellungen nicht den mindesten Raum gönnt. Sie unterdrückt das Bewußtsein der dem Menschen auferlegten Veranwortung, indem sie ihn einem unablenkbaren Geschichtsprozeß als dienendes Glied eingeordnet sein läßt. Sie unterdrückt das Bewußtsein der mit der Weltunterwerfung einhergehenden Zweideutigkeit des Wollens, indem sie den „Fortschritt“ zum unverdrängbaren Gebieter des genannten Prozesses erhöht. Und sie verhilft der durch die Naturwissenschaft inaugurierten Denkform dadurch zur Universalherrschaft, daß sie nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch die Ordnung der menschlichen Dinge zum technisch konstruierten und beherrschten Apparat veräußerlicht und entseelt. Sie ist mit alledem das Widerspiel der den Menschen für seine Lebenslage sehend machenden Wissenschaft.
Naturwissenschaft und Selbstbesinnung
Wir haben im Vorausgegangenen einen geschichtlichen Vorgang von unabschätzbarer Tragweite analysiert, der paradoxer Weise in Gang gebracht und im Gang erhalten wird durch eine Wissenschaft, deren methodischer Charakter der Abblendung gegen alles Geschichtliche gleichkommt, die also auch den durch sie selbst bewirkten geschichtlichen Umschwung innerhalb ihres eigenen Horizonts nicht zu Gesicht bekommen kann. Die Überlegungen, in die wir eintraten, indem wir nach dem Verhältnis der Naturwissenschaft zum Lebensganzen fragten, waren selbst nicht wieder näturwissenschaftliche Überlegungen. In ihnen wurde die Grenze des naturwissenschaftlichen Denkens überschritten. Aber damit hörten sie nicht auf, wissenschaftliche, oder besser: nach wissenschaftlicher Durchbildung verlangende Überlegungen zu sein. Wo sie im System der Wissenschaften ihren Ort haben, kann nach dem früher Erörterten nicht zweifelhaft sein. Es war die Wissenschaft vom — Menschen, die in ihnen zu Worte kam. Wer die Bedeutung überdenkt, die der Naturwissenschaft im Aufbau des gesamten Daseins zusteht, der überdenkt ihren Anteil am äußeren und inneren Schicksal des Menschen. Wir finden uns also durch die Sache selbst zu der Wissenschaft zurückgeführt, von der wir scheinbar mit dem Übergang zu der Wissenschaft vom Außermenschlichen Abschied genommen hatten.
Die Feststellung dieser Rückkehr darf nun wahrlich nicht dahin mißverstanden werden, daß der naturwissenschaftliche Forscher zu verstummen habe, wenn die Lebensbedeutung der von ihm vertretenen Disziplin zur Erörterung steht. Sie soll nur einschärfen, daß er, wenn er sich die
Frage nach ihrer Lebensbedeutung stellt, automatisch naturwissenschaftlicher Forscher zu sein aufhört und auf den Boden der Wissenschaft hin-übertritt, die ihren Gegenstand am Menschen hat.
Von hier aus begreift es sich, daß nicht wenige Vertreter der naturwissenschaftlichen Forschung zögern, wenn ihnen Fragen von der in Rede stehenden Art aufstoßen. Ein dunkles Gefühl sagt ihnen, daß sie sich diesen Fragen nicht stellen können, ohne den Boden der ihnen aus tagtäglichem Umgang vertrauten Wissenschaft zu verlassen und sich auf ein geistiges Abenteuer einzulassen, dem sie sich nicht so recht gewachsen fühlen, ja an dessen ersprießlichen Ausgang sie nicht glauben können. Ohne Frage wird durch die Einbürgerung in dem methodisch so wohlausgebauten Reich der Naturwissenschaften die Neigung zu einer solchen Selbstabschließung begünstigt. Man meint die weiterführenden Fragen denjenigen überlassen zu können oder zu sollen, die für die Erforschung der menschlichen Angelegenheiten ressortmäßig zuständig sind.
Aber dies gewollte, ja gewaltsame Abschneiden der über die Grenzen der Naturwissenschaft hinausführenden Fragen ist nicht nur deshalb zu verwerfen, weil es doch schließlich dem Menschen, und zumal dem forschenden Menschen, nicht ansteht, sich jegliches Nachdenken über die Lebensbedeutung der sein Dasein ausfüllenden Tätigkeit zu verbieten. Es muß vor allem dann Widerspruch hervorrufen, wenn man bedenkt, wie sehr der Menschheit heute daran gelegen sein muß, daß nicht nur ein Kreis von Eingeweihten, sondern die Allgemeinheit sich darüber im klaren ist, welch zweideutige Gabe dem Menschengeist in Gestalt des Zwillingspaares Naturwissenschaft-Technik in die Hand gelegt worden ist. Wenn die mit der Verwaltung dieser Gabe Betrauten es unterlassen, wo nicht ablehnen, ihr Denken bis zu dieser Lebensfrage vordringen zu lassen, wenn sie ihre Wissenschaft so betreiben, als sei mit ihrer gewissenhaften Aus-und Fortbildung alles ihnen Obliegende geschehen, dann geben sie der Allgemeinheit das Beispiel eines Verhaltens, das das genaue Gegenteil des durch die Lage Geforderten ist. Denn diese heischt mit beispiellosem Nachdruck die Selbstkontrolle dieses schicksalsvollen Vermögens.
Wie wir wissen, haben die Atomforscher durch ihr Heraustreten an die Öffentlichkeit den Beweis geliefert, daß sie nicht gewillt sind, die oben getadelte Abstinenz zu üben. Ihre zahlreichen Manifeste legen Zeugnis davon ab, daß sie sich der Verpflichtung bewußt sind, mehr zu sein als getreuliche Förderer der ihnen anvertrauten Wissenschaft. Ich habe aber nicht den Eindruck, daß die für ihr Auftreten maßgebende Einsicht auch in der hochschulmäßigen Vertretung ihrer Wissenschaft Früchte getragen hätte. Hier bleibt es vielfach bei einem Wissenschaftsbetrieb, der alle seine Probleme innerhalb der durch die Lehre zu überliefernden Disziplin sucht und die jenseits ihrer sich öffnenden Gefahrenzone höchstens mit einem gelegentlichen Blick streift. Aber damit ist es wirklich nicht getan. Einer wissenschaftlichen Hochschule ist nur eine Behandlung dieser doch wahrhaftig nicht nebensächlichen Angelegenheiten gemäß, die auch ihrerseits das Niveau der Wissenschaftlichkeit nicht unterschreitet, die, m. a. W., in grundsätzlicher Klarheit sich die Frage stellt, was es denn eigentlich für Wesensentfaltung und Schicksalsgestaltung des Menschen bedeutet, daß er mit der ihm begegnenden Welt durch ein Verhältnis verbunden ist, in dem die Möglichkeit, vielmehr die Aufforderung enthalten ist, das Naturgeschehen in mathematische Formeln umzudenken und dadurch zugleich die Verfügung über die dergestalt formalisierten Naturgewalten zu gewinnen. Dieses Verhältnis ist durchaus nicht so selbstverständlich und durchsichtig, wie es dem, der in der rechnenden Wissenschaft zu Hause ist, so leicht erscheint. Dem Nachdenken über dieses Verhältnis öffnet sich ein wahrer Abgrund von Problemen, die an der durch die Wissenschaft ermöglichten Existenzbedrohung nur ihren letzten, allerdings nicht mehr übersehbaren Ausläufer haben.
Nichts wird midi von der Überzeugung abbringen, daß sich die gründliche, d. h. die bis zu den letzten Gründen vordringende Behandlung dieser Frage angelegen sein zu lassen niemand so sehr berufen ist wie diejenigen Vertreter der in Rede stehenden Wissenschaften, die ihr nicht bloß in forschender Bemühung fortzuhelfen, sondern sie auch in lehrender Tätigkeit auf das nachwachsende Geschlecht zu übertragen den Auftrag haben. Denn gerade sie sind diejenigen, die am ehesten Aussicht haben, mit den hierher gehörigen Überlegungen eine breite Resonanz zu finden und durch die Vermittlung ihrer Jünger dem Denken der Allgemeinheit diejenige Richtung zu geben, die ihr angesichts der drohenden Selbstvernichtung so dringend zu wünschen ist. Wenn sie sich den hier aufklaffenden, diesen wahrlich abgründigen Fragen versagen — wer könnte an ihrer Stelle mit gleicher Erfolgschance für die uns not-tuende Einsicht werben? -
So zeigt sich: gerade hier sind wir an der Stelle angelangt, an der das uns beschäftigende hochschulpädagogische Problem seine brennendste Aktualität gewinnt. Ist es wirklich die Aufgabe der Hochschule, nicht nur die Wissenschaft als solche zu pflegen und zu fördern, sondern auch der Zeit zur Klarheit über sich selbst zu verhelfen, dann heißt es auch erkennen, daß das Durchdringen zu dieser Klarheit nirgend so bitter not tut wie in der Würdigung, Einordnung, Ausrichtung und Begrenzung der theoretisch-praktischen Bemühungen, durch welche der Mensch die ihm begegnende Natur berechenbar und verfügbar macht. Wenn die an diesen Bemühungen Teilhabenden ihre Sache zwar mit der Sicherheit des gewiegten Routiniers, aber doch so betreiben, daß sie im Grunde „nicht wissen, was sie tun“, dann ist das Streben der Zeit, sich selbst zu verstehen, gerade an der Stelle zum Resignieren verurteilt, an der das Eindringen in die Gründe am wenigsten erlassen werden kann. Wir haben gesehen, daß die Zweideutigkeit der durch die Naturwissenschaft erschlossenen Möglichkeiten des Handelns darauf beruht, daß durch die ihren Aufbau bestimmende Methode der Mensch und die Geschichte völlig aus dem Gesichtskreis des Denkens verbannt werden. Wie kann man sich da der Notwendigkeit verschließen, den in dieser Wissenschaft Einzubürgernden zu einer Besinnung anzuhalten, die ihm den Menschen und die Geschichte dann doch noch in den Blick bringt und ihn so für Wesen und Größe, Grenze und Verfänglichkeit seines denkenden Tuns sehend macht! Unmöglich aber kann er zu dieser Besinnung durch einen Hochschullehrer mit Erfolg angeleitet werden, der nicht selbst von ihrer Unerläßlichkeit durchdrungen ist.
Wissenschaft als heilende Kratt
Das Widerstreben, mit dem nicht wenige Hochschullehrer den Gedanken an eine so weitgehende Gegenwartsverpflichtung der Wissenschaft aufnehmen werden, wird nicht verschwinden, aber doch vielleicht abgeschwächt werden, wenn ich hinzusetze, daß bei all dem Ausgeführten nicht daran gedacht ist, das auf die Gegenwart Bezüglich an die Stelle des der unmittelbaren Aktualität Entbehrenden zu setzen. Von einer solchen Verdrängungsaktion kann schon aus dem Grunde nicht die Rede sein, weil eine so radikal isolierte Gegenwart unweigerlich jene Verständlichkeit einbüßen würde, zu der zu gelangen doch gerade die Absicht ist. Daß jegliche Gegenwart unendlich viel mehr enthält als das als bloß gegenwärtig zu Klassifizierende, das gehört ja gerade zu den Grundwahrheiten, die uns durch die Wissenschaft vom Menschen enthüllt werden. Neu und ungewohnt ist nur die Forderung, daß, was auch immer den Gegenstand der wissenschaftlichen Lehre bilden möge, die Beziehung zu der diese Lehre praktizierenden Gegenwart in das Licht der Besinnung gerückt werden möge. Und wenn man dagegen einwenden wollte, daß diese Beziehung herzustellen in vielen Fällen unmöglich oder nur durch höchst künstliche Zurüstungen möglich sei, so wäre zu erwidern, daß es in Wahrheit nicht einen einzigen Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gibt, von dem her nicht gebahnte Wege zu jener Gegenwart hinüberleiteten, die sich mit diesem Gegenstand beschäftigt.
Das zu erhärten würde schon die simple Feststellung genügen, daß sich mit dem fraglichen Gegenstand abzugeben die Gegenwart weder ein Interesse verspüren noch auch die Möglichkeit haben würde, wenn nicht von ihm her Verbindungen zum eigenen Lebensstatus zu schlagen wären. Wo diese Verbindungen völlig fehlen, da findet auch keine Zuwendung statt, die zu wissenschaftlicher Erforschung den Anstoß geben könnte. Die Geschichte des Geistes ist eine fortlaufende Illustration zu der Wahrheit, daß soundso vieles, was sich der Möglichkeit nach als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung darbietet, unbeachtet liegen-bleibt, weil das Zeitalter mit ihm in Verbindung zu treten weder nötig hat noch Neigung verspürt. Stellt es diese Verbindung her, so ist das der Beweis, daß der fragliche Gegenstand ihm nicht fremd und gleichgültig ist, sondern durch irgend einen — vielleicht höchst nebensächlichen und schwer bemerkbaren — Zug seine Teilnahme fesselt. In diesem Sinne ist das Nicht-Gegenwärtige, wenn und soweit es Beachtung findet, ein Gegenwärtiges. Lind seine eigene Gegenwart wird nur begreifen, wer das in sie eingeschlossene Nicht-Gegenwärtige mit in Anschlag bringt.
Diese nicht wegzudeutelnde Verflechtung ist es, auf die sich der berufen kann, der an die Wissenschaft, zumal die in Form der Lehre sich fortpflanzende Wissenschaft, die Aufforderung richtet, den ihr inne-wohnenden Gegenwartsbezug nicht bloß unbedacht und unkontrolliert sich auswirken zu lassen, sondern in das Licht bewußter Besinnung emporzuheben und so der Selbsterforschung einer sich selbst zum Rätsel gewordenen Zeit tätigen Beistand zu leisten. Allerdings ist zuzugeben, daß, selbst wenn der Wissenschaft insofern nicht zugemutet wird, den ihr aus langer Bemühung vertrauten Gegenständen den Rücken zu kehren, gleichwohl die Verbindung mit den Fragen und Nöten der Gegenwart sich nicht ohne weitläufige Zurüstungen von selbst ergeben, sondern mancherlei Umgruppierungen und Akzentverschiebungen unerläßlich machen würde. Der Lehrplan der Hochschulen würde weithin ein anderes Gesicht annehmen, ihr Lehrbetrieb sich vielfältig umzustellen haben, wenn die hier vorgetragene Forderung Gehör fände. Es ist daher nicht mehr als selbstverständlich, daß die Bereitschaft, sich mit dieser Forderung auseinanderzusetzen oder gar auf sie einzugehen, nicht eben groß sein kann.
Wenn ich diese Forderung auszusprechen mich gleichwohl nicht scheue, so ist dafür eine sehr einfache Überlegung maßgebend. Es ist nicht zweifelhaft, daß die Menschheit in ihrer mühseligen Wanderung an einer Wegstelle angelangt ist, an der sie sich nicht bloß partiellen und bei gutem Willen zu bemeisternden Verwicklungen, sondern der Frage: Sein oder Nichtsein gegenübergestellt findet. Auf diese Frage wird nur dann eine befriedigende Antwort erfolgen, wenn alles, was die gegenwärtig Lebenden an Energien der Daseinsgestaltung ihr eigen nennen, ohne Abzug zum Einsatz gebracht wird. Und zwar ist es uns nicht erlaubt, uns mit dem Aufgebot dieser Heilkräfte Zeit zu nehmen. Die Stunde drängt. Jede Verzögerung kann das Ende bedeuten. Unter den aufzubietenden Energien steht in vorderster Linie die Wissenschaft. Nur ein Tor kann glauben, daß sie allein das Unheil zu bannen die Möglichkeit oder den Beruf habe. Aber auch nur ein Tor kann glauben, daß ohne sie die Menschheit den Ausweg aus unsäglicher Wirrnis finden werde. Wenn sie versagt oder sich versagt, dann haben wir nichts mehr zu hoffen.
Nur weil ich nicht anders kann als die geschichtliche Stunde als eine solche der äußersten Daseinsbedrohung ansehen — nur darum schien es mir geboten, die vieldiskutierte Frage der Hochschulreform so an der Wurzel anzufassen, wie es hier versucht ist. Vielleicht würde ich doch nicht den Mut gehabt haben, mit so weitgehenden Vorschlägen hervorzutreten, wenn nicht ein bestimmter Kreis von Erfahrungen mich gelehrt hätte, wie bereitwillig und dankbar von den Zeitgenossen die Eröffnung einer Wissenschaft ausgenommen werden, die es als ihre vornehmste Aufgabe ansieht, das Dunkel zu lichten, in dem die Menschheit von heute sich vorwärtstastet, und die Verflechtungen zu entwirren, in die sie sich auf Schritt und Tritt verstrickt findet. Lind zwar ist es gerade jene „extramurale" Tätigkeit, von der unsere Darlegung ihren Ausgang nahm — gerade sie ist es, die dem für sie Gewonnenen die angedeuteten Erfahrungen beschert. Sie zeigt ihm immer von neuem, wie heiß die Mitlebenden darnach verlangen, einen Durchblick durch das Dickicht der sie umfangenden Daseinszustände zu gewinnen und Pfade aufgezeigt zu bekommen, die aus diesem Dickicht ins Freie führen könnten. Daß der Mensch von heute seine eigene Existenzform nicht mehr begreift, daß er aber um so inständiger darauf aus ist, sie sich durch ein gliederndes und stufendes Denken begreiflich zu machen — daß ist die Gewißheit, die mir in der Begegnung mit den verschiedensten Lebens-und Arbeitskreisen immer von neuem bestätigt worden ist. Es scheint mir nicht verstiegen oder vermessen zu sein, wenn ich aus dieser Erfahrung die gebotenen Folgerungen ziehe und mich durch die „extramurale“ Welt darüber belehren lasse, was intra muros zu geschehen hat, damit die Wissenschaft sich nicht sagen lassen müsse, sie habe ihr Zeitalter im entscheidenden Augenblick im Stich gelassen.
Anmerkung:
Dr. Dr. h. c. Theodor Litt, ordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik an der Universität Bonn, geb. 27. Dezember 1880 in Düsseldorf. Korr. Mitgl. d. Akad. Berlin und Wien, ord. Mitglied d. Akad. d. Wiss. Leipzig.