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Raketengeschosse und westliche Allianz | APuZ 33/1958 | bpb.de

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APuZ 33/1958 Raketengeschosse und westliche Allianz

Raketengeschosse und westliche Allianz

HENRY A. KISSINGER

Die folgende Betrachtung wurde mit freundlicher Genehmigung des Verlages der April-Nummer der „Foreign Affairs" entnommen.

Der Abschuß des sowjetischen Erdsatelliten und der Anbruch des Raketenzeitalters haben zu ernsten Diskussionen in der freien Welt und besonders innerhalb der westlichen Allianz geführt. Alle Fehler der letzten zehn Jahre — die Unfähigkeit, eine strategische Konzeption für die NATO zu entwickeln, die für alle Mitglieder gleich verbindlich ist, das Schwanken zwischen einer gewissermaßen automatischen Unversöhnlichkeit gegenüber der Sowjetunion und einer ebenso automatischen Bereitschaft zur Versöhnung, die Neigung, die größtmögliche Sicherheit mit einem Minimum an Verpflichtung zu verbinden zu suchen — mußten unweigerlich ein Gefühl erzeugen, dem fast jede Änderung des gegenwärtigen Kurses erstrebenswerter als eine Beibehaltung der jetzigen Linie erscheint.

Die ganze Zeit, seit unser Atommonopol zu Ende gegangen ist, haben wir gezögert, die Tatsachen anzuerkennen, daß sich eines Tages die Möglichkeiten der beiden Hauptmächte zu gegenseitiger Vernichtung aufheben würden, — wenigstens in den meisten Hauptpunkten. Die Erstarrung des Status quo in Europa, vor allem entlang den Grenzen des weitesten Vormarsches der Sowjets im Jahre 1945, mußte notwendigerweise m den unmittelbar betroffenen Ländern zu Groll oder Verzweiflung führen -in Deutschland bezüglich der Wiedervereinigung und in den osteuropäischen Satellitenstaaten im Hinblick auf die Wiedergewinnung eines gewissen Maßes an Unabhängigkeit von der sowjetischen Herrschaft. Die Enttäuschungen der Nachkriegszeit bedurften nur eines Symbols, um sich zu einem Protest gegen eine Politik zu verdichten, die den Anschein gewonnen hatte, steril zu sein, nicht zuletzt zum Teil deswegen, weil die Wirklichkeit so weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben war.

Zu allem LInglück weist die Reaktion auf das heraufziehende Raketenzeitalter zu einem großen Teil viele der Symptome auf, welche die Krise in allererster Linie überhaupt herbeigeführt haben. Die rein mechanische Art und Weise, die Strategie anzupacken, die unser Denken in der westlichen Allianz charakterisiert hatte, schwankte zwischen dem einen Extrem, daß jeder sowjetischen Herausforderung mit der Drohung der allerfürchterlichsten Vergeltung zu begegnen sei, und dem anderen Extrem, nämlich der Annahme, daß jeder technische Fortschritt der Sowjets uns total verwundbar mache. Einige Kritiker der jetzigen Politik auf beiden Seiten des Atlantik haben eindringlich behauptet, daß die technischen Erfolge der Sowjets unsere weitere Existenz von dem guten Willen der Sowjets abhängig machen (New Statesman: The Week-end Review, January 4, 1958 p. I). Andere meinen, daß die LISA heute weit mehr von ihren Alliierten abhängig sei als dies von den LISA. Daher würden sich die europäischen NATO-Mächte nicht nur weigern, der Errichtung von Raketenabschußbasen zuzustimmen, sondern den LISA auch noch harte Forderungen präsentieren, „solange die Sonne noch scheint“. (Geoffrey Barraclough, „Who Won at NATO?“, The Nation, Jan. 4, 1958. Vgl. Mr. Gaitskell’s Äußerungen im engl. Unterhaus, Feb. 19, 1958). Nachdenkliche Kritiker, die das System als die LIrsache der starren Haltung erkennen, verlangen nach dem Disengagement und nach einem neutralen Gürtel in Europa. (George F. Kennan, The Reith Lectures, The Listener, Dec. 5 1957; Dennis Healey, A Neutral Belt in Europe, Fabian Tract 311). Führer der Opposition begründen ihre Hoffnung mit der Annahme einer Änderung in den Motiven der Sowjets.

Der große Aufschwung der sowjetischen technischen Möglichkeiten werde mehr als kompensiert durch eine Neuformung der russischen Gesellschaftsstruktur, was Aussichten auf eine friedlichere Politik eröffne. (Äußerungen Aneurin Bevan’s, The Times, London, Oct. 2, 1957). Es kann gar kein Zweifel daran bestehen, daß die westliche Politik eine stärkere Dynamik entwickeln muß, wenn wir nicht von den revolutionären Veränderungen, die sich überall auf dem Erdball vollziehen, verschlungen werden sollen. Aber viele der Voraussetzungen, auf die sich die vorgeschlagenen Revisionen der Politik gründen, sind außerordentlich beunruhigend, lind so hoffnungslos die ausweglose Situation in Europa auch sein mag, einige der Vorschläge zu ihrer Überwindung wären imstande, eine Explosion herbeizuführen, der zu begegnen wir nur schlecht vorbereitet sind.

Die Strategie der Abschreckung

Kern der anschwellenden Kritik an der amerikanischen Politik in Europa ist die Annahme, daß der technische Fortschritt der Sowjets die LISA in eine fundamentale, wenn nicht gar hoffnungslos nachteilige Stellung gebracht habe. „Der Gaither Report“, schrieb eine britische Zeitschrift mit deutlichem Unterton, „hat auf-geded^t, da^, ungeaditet irgendwelcher Anstrengungen, welche die Amerikaner jetzt machen, der sowjetisdre Vorsprung in neuartigen Waffen einen soldten absoluten Stand erreicht hat, daß die nationale Existenz Amerikas zumindest bis 1961 von Rußland’s gutem Willen abhängig sein wird.“ Aus diesem Grunde, so wird argumentiert, nütze die Einrichtung amerikanischer Raketenabschußbasen im NATO-Bereich in erster Linie nur den LISA, da so das Risiko verteilt werde, zur allgemeinen Sicherheit werde aber nichts beigetragen. „Bisher habe idt immer geglaubt, daß es das Prinzip einer Allianz sei, uns selbst größeren Schutz zu bringen“, sagte ein Redner im Unterhaus. „Bezüglidt dieser Raketen aber fordern wir auf die eine oder die andere Weise ganz klar das Risiko eines Angriffs auf uns heraus und versdtaffen dabei die Sidterheit einseitig nur den USA.“ (Viscount Hinchingbrooke, M. P. Hansard, No. 408, S.

806). Diese Argumente decken eine tiefliegende Konfusion auf zwischen dem Mittel der Abschreckung und der Strategie für die Führung eines Krieges, falls die Abschreckung versagt;

eine Konfusion von Verwundbarkeit und strategischer Unterlegenheit, von zeitlich begrenzter strategischer Unterlegenheic und den sich daraus möglicherweise ergebenden Konsequenzen.

Seit Ende unseres Atommonopols ist die von der westlichen Allianz verwandte Drohung zwecks Abschreckung eines sowjetischen Angriffs im steigenden Maße unvereinbar geworden mit der Strategie, welche die westliche Allianz zu verfolgen bereit ist, falls die Methode der Abschreckung versagt. Die oft wiederholte Erklärung, daß die militärische Politik der Allianz dazu bestimmt sei, den Krieg zu verhindern und nicht aber, ihn heraufzuführen, und durchzukämpfen, fordert die grundsätzliche Frage heraus: Worin liegt die Wirksamkeit einer Drohung, die katastrophale Folgen für Freund und Feind zugleich mit sich bringt, wenn sie ausgeführt wird? Bisher hat uns und unsere Alliierten der Glaube an die Überlegenheit der USA eingelullt und uns dazu verleitet, diesem Problem aus dem Wege zu gehen. Die Strategie wurde mit der maximalen Entwicklung der Stärke indentifiziert, und das Problem, diese Stärke in Beziehung zu setzen zur Bereitschaft, sie auch zu gebrauchen, wurde ignoriert. Da das Strategische Luftwaffenkommando (Strategie Air Command), also die Wiedervergeltungswaffe, außerhalb der Kontrolle der NATO steht, nahm die Westliche Allianz teilweise die Charakteristika einer unilateralen Garantie an.

Unsere Alliierten haben einem eigenen militärischen Beitrag über infrastruktureile Bereitstellungen hinaus wenig Bedeutung beigemessen; ja, sie sind sogar sehr bestrebt, das zahlenmäßige Verhältnis unserer Truppen zu den ihren so hoch wie möglich zu halten, um sicher zu gehen, daß ein sowjetischer Angriff auch zeitlich unser Strategisches Luftwaffenkommando in Aktion setzen würde. Das heraufziehende Raketen-zeitalter ändert daher nicht so sehr die strategischen Beziehungen als daß es sie vielmehr klar herausstellt. Es hat das Gespenst großgezogen, daß die Abschreckdrohung möglicherweise auch durchgeführt werden müsse. Es hat unsere Alliierten und uns selbst gezwungenermaßen mit dem Problem konfrontiert: wie muß eine lebensfähige NATO-Strategie beschaffen sein.

Wenn man das Problem vom Standpunkt der Abschreckung betrachtet, so vertreten diejenigen, welche Raketen für Europa befürworten, die Ansicht, daß die weiteste Verteilung der neuartigen Waffen den wirksamsten Schutz gegen den Ausbruch eines Krieges darstellen würde. Andererseits zeigen aber die Führungsprobleme für den Fall eines wirklichen Krieges, daß die Kritiker der NATO-Strategie in erster Linie darum bemüht sind, militärische Operationen von ihren eigenen Ländern fernzuhalten. Die so entstehende Situation ist von besonderer Ironie, man glaubt nämlich, daß diejenigen Maßnahmen, die einen Angriff auf das stärkste Mitglied der Allianz abschrecken sollten, einzig und allein dem Nutzen eben dieses Mitgliedes dienten. Obgleich es keine Sicherheit für unsere Alliierten ohne die USA gibt, meinen paradoxerweise zahlreiche Europäer, daß es nicht unbedingt in ihrem Interesse sei, alles zu tun was sie können, um die Sicherheit der USA zu gewährleisten, und das, obgleich es keine Sicherheit für unsere Alliierten gibt ohne die LISA.

Die Fürsprecher wie Kritiker der Errichtung von Raketenabschußbasen in Europa werden durch die Einseitigkeit ihrer Auffassung irregeführt: Die Fürsprecher weil sie das gleiche Abschreckungsmittel für jede Art von Bedrohung anwenden wollen, die Gegner weil sie der Ansicht sind, daß die Ablehnung von Raketen einer Vermeidung jeden Risikos gleichkomme. Es ist gewiß verständlich, wenn man die Schrecken eines Atomkrieges nur zögernd vergegenwärtigt; aber es kann kein Zweifel sein, das alle Länder schwer unter einem globalen Kernwaffenduell zwischen den USA und der UdSSR leiden würden. Anstelle der Teilnahme an einem amerikanisch-sowjetischen Krieg mag Neutralität als der bessere Teil erscheinen. Aber mehr noch liegt es im Interesse unserer Alliierten dazu beizutragen, daß ein solcher Krieg überhaupt nicht stattfindet. Und es steht nun einmal fest, daß die Raketengegner in dem Bemühen, den Folgen eines Krieges zu entgehen, die Abschreckung möglicherweise in einem solchen die Aggression geradezu ermutigenden Maße schwächen.

Das ist das Dilemma. Lösen läßt es sich erst, wenn ein besseres Verständnis für den Einfluß der Rakete -auf die Strategie vorhanden ist.

Es bestand die Tendenz, Verwundbarkeit mit strategi eher Unterlegenheit gleichzusetzen, und eine zeitweilige Unterlegenheit mit der sowjetischen Möglichkeit, zu einem tödlichen Schlage auszuholen. Keine dieser beiden Behauptungen ist zutreffend. Die wachsenden sowjetischen Möglichkeiten im Bere -1 Mittel-und Zwischen-Strecken-Raketen ändert kaum noch etwas an der Verwundbarkeit Westeuropas, da dieses ganze Gebiet schon seit geraumer Zeit den sowjetischen Kurz-und Mittelstrecken-Bombern ausgesetzt ist. Was die USA angeht, so waren sie schon vor dem Sputnik verwundbar, und sicher wird der Grad unserer Verwundbarkei noch anwachsen. Aber in einer Position strate gischer LInterlegenheit befinden wir uns nur dann, wenn die Sowjetunion Raketen von soldrer Genauigkeit und in so großer Anzahl entwickelt, daß sie unsere Vergeltungswaffen, Flugzeuge oder Raketen, vernichten kann, oder wenn die Sowjetunion eine Luftabwehr mit einer Durchschlagskraft entwickelt, die in der Lage ist, die Wirkung unseres Gegenschlages auf ein tragbares Maß zu reduzieren. Es steht nicht zu erwarten, daß eine dieser beiden Möglichkeiten in unmittelbarer Zukunft Wirklichkeit wird. Ob das für eine der beiden überhaupt jemals der Fall sein wird, hängt von der Intensität unserer eigenen Anstrengungen ab. Bis dahin sollten wir unsere Schwächen nicht dadurch größer erscheinen lassen, als sie wirklich sind, daß wir zukünftige sowjetische Möglichkeiten mit der gegenwärtigen amerikanischen Stärke vergleichen.

Zur Zeit besitzt die Sowjetunion operative interkontinentale Raketen noch nicht in ausreichender Anzahl. Wir haben daher Zeit, die Lücke zu schließen, wenn wir energisch und entschlossen handeln. Wenn die Sowjetunion interkontinentale Raketen zur Serienherstellung bringt, so werden es auch dann noch wahrscheinlich kaum ausreichende Mengen und kaum welche mit einem solchen Genauigkeitsgrad sein, um unser Strategie Air Command vernichten zu können, auch wenn man annimmt (was keinesfalls heißt, daß es so sein muß, wenn wir durchgreifend vorgehen), daß die Sowjetunion ihre Führung während der ganzen Zeit beibehalten wird. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Sowjetunion genaue, interkontinentale Raketen in ausreichender Anzahl besitzt, müßte unsere Raketenwaffe gut entwickelt sein. Hinzu kommt, daß sie auch weiterhin von unserer noch immer mächtigen strategischen Luftwaffe unterstützt werden würde. Später dann werden beide Seiten über gut verteilte Raketenwaffen mit hohem Bereitschaftsgrad verfügen.

Aber auch wenn die Sowjetunion einen leichten Vorsprung in irgend einer der oben. beschriebenen Phasen erreichen sollte, ist ein überraschender Gesamtangriff unwahrscheinlich. Auch eine unterlegene Vergeltungswaffe kann abschreckend sein, wenn sie in der Lage ist, die Wunden zuzufügen, die der Gegner doch nicht hinzunehmen bereit ist. Keine Nation wird einen Krieg durchkämpfen nur wegen der Über-legenheit, immer noch größeren Schaden anrichten zu können, als er selbst zugefügt bekommt, wenn der für ihn zu erwartende Verlust doch ein untragbares Maß annehmen kann. Um einen solchen Überraschungsangriff durchzuführen, müßten die sowjetischen Planer schon ziemlich sicher sein, daß sie der Vergeltungsvernichtung en; gehen; und ihre Berechnungen müßten dabei nol ezu idiotensicher sein. Selbst eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit würde allein nicht dazu verführen, eine nationale Katastrophe zu riskieren.

Sicherlich, auch wenn wir die größten An-strengungen machen, wird es nicht leicht sein, mit den Sowjets Schritt zu halten, besonders da wir uns gegen eine Fülle sehr verschiedener Gefahren schützen müssen, während sie sich nur auf ihre wirksamste Waffe konzentrieren brauchen. Außerdem geben in einem Zeitalter der „Raketenfülle“ die Raketen selbst auf Grund ihrer Beschaffenheit dem Aggressor einen ganz bestimmten Vorteil. Das „Count-down“ eines Raketengeschosses von heute — d. h. die Zeitspanne zwischen dem Entschluß zum Abschuß und dem eigentlichen Abschuß — dauert mehrere Stunden. Ein angreifendes Geschoß ist etwas weniger als eine halbe Stunde unterwegs. In ihrem jetzigen Entwicklungsstadium sind daher Raketengeschosse wirksamer als Angriffswaffen denn als Vergeltungswaffen. Ehe wir nicht in der Lage sind, entweder die Zeit bis zum Abschuß von Vergeltungsgeschossen radikal zu vermindern oder unsere Abschußbasen unverwundbar machen, ausgenommen eben einen Volltreffer, kann sich ein Angreifer einen sicheren Vorteil aus einem Überraschungsangriff errechnen, ganz gleich wie der Stand unserer Raketenentwicklung ist. Dies gilt besonders, wenn die Sowjetunion gewissermaßen als Nebenprodukt ihres offensiven Raketenprogrammes eine hochwirksame Abwehr gegen bemannte Flugzeuge entwickelt, die ja solange das Rückgrad unserer Vergeltungsmacht bleiben, bis die Reaktionszeit für Raketen drastisch gekürzt ist.

Diejenige Seite, die sich in einem weltweiten Krieg in der Defensive befindet, braucht daher eine entwickeltere Raketentechnik und sicherere Abschußeinrichtungen als der Angreifer. Der Aggressor kann es sich leisten, einen „Countdown" von mehreren Stunden zu haben, da der Krieg erst mit seinem Angriff beginnt. Seine Basen können verwundbarerer sein, weil die Raketen abgeschossen sind, ehe ein Vergeltungsschlag erfolgt. Die Defensivseite darf sich daher nicht einfach damit zufrieden geben, den gleichen technischen Stand innezuhaben. Wir müssen größere Anstrengungen machen, die Reaktionsspanne unserer Vergeltungswaffen zu kürzen und durch Verteilung, durch Schutz der Abschußeinrichtungen, durch Beweglichkeit so un-

verletzlich wie möglich zu machen. So schwierig diese Aufgabe auch sein mag, wir haben immer noch die Kraft, sie zu meistem. Wenn die Sowjetunion jemals einen solchen Vorsprung erlangen sollte, daß sie das Gefühl bekommt, sich einen Überraschungsangriff leisten zu können, so wären an diesem unserem Versagen nur wir selbst schuld.

So bringt das angehende Raketenzeitalter für unsere Allianzen Schwierigkeiten mit sich, die denen, welche zahlreiche unserer europäischen Kritiker annehmen, genau entgegengesetzt sind. Wenn wir erst einmal interkontinentale ferngelenkte Raketen in ausreichender Zahl besitzen, werden unsere Alliierten in einem weltweiten Krieg nicht länger unersetzbar sein. Raketeneinrichtungen in Europa wären für uns in einem Endkampf nur dann wichtig, wenn eine lange Zeitspanne zwischen unserer Entwicklung von Mittelstreckenraketen (1 500 Meilen) und der Produktion von interkontinentalen Raketen läge und wenn inzwischen unsere Strategische Luftwaffe nutzlos geworden wäre. Dies ist sehr unwahrscheinlich. LInsere Vergeltungswaffe von bemannten Flugzeugen wird noch lange Zeit eine mächtige Waffe bleiben, und die Sowjetunion wird nicht so bald genügend Langstrek-kenraketen besitzen, um es auf einen Überfall ankommen zu lassen. Das bedeutet nicht, daß die Existenz von 1 500-Meilen-Raketen in Europa nicht den Abschreckungsfaktor gegen einen weltweiten Krieg erhöhen würde. Sie würden als wohlverteilte Macht die Schlagkraft der westlichen Allianz erhöhen und somit einen erfolgreichen Überraschungsangriff noch schwieriger machen. Aber 1 500-Meilen-Geschosse in Europa sind mehr ein weiterer Vorteil als eine Notwendigkeit, um einen weltweiten Krieg durchkämpfen zu können.

Kontinentale Raketenbasen zur Verteidigung Europas

Der wirkliche Grund für die Errichtung von Raketenbasen auf dem Kontinent ist ein ganz anderer. Sie dienen nicht der Verteidigung Amerikas sondern der Verteidigung Europas. Sie sind aus gerade dem Grunde notwendig, dessentwegen die Europäer sie nicht haben wollen: nämlich weil mit der wachsenden Schnelligkeit und Vernichtungsmöglichkeit der Waffen jedes Land zögern wird, seine Existenz für irgendetwas anderes als die unmittelbare Bedrohung seines Lebens aufs Spiel zu setzen. Wenn Europa nur ungern bereit ist, an einem weltweiten Krieg zur Verteidigung der USA teilzunehmen — der einzige ins Gewicht fallende Grund für die Ablehnung von Raketenbasen — so werden die USA zögern, wegen der Verteidigung Europas die totale Vernichtung zu riskieren. Unsere NATO-Alliierten sollten eigentlich jede Veranlassung haben, eine Strategie entwickeln zu helfen, welche die USA nicht zwingt, zwischen einem weltweiten Krieg und der Nichtbeteiligung an der Verteidigung Europas wählen zu müssen.

Anstatt das amerikanische Angebot von Raketengeschossen als ausschließlich für uns von Nutzen anzusehen, sollten unsere europäischen Alliierten verstehen, daß unser Angebot das einzige Mittel ist, durch das Europa einen bestimmten Einfluß auf seine Zukunft gewinnen kann. Eine starke militärische Kraft innerhalb Europas und unter europäischer Kontrolle ist mehr denn je erforderlich, weniger um einen Angriff auf uns abzuschrecken als einen solchen Angriff von Europa fernzuhalten. Die Weigerung, Raketengeschosse anzunehmen, wird nur die Abhängigkeit Europas von den LISA steigern. Wenn die USA die alleinige Verantwortung für die Verteidigung der freien Welt übernehmen, so werden sie auch die Verantwortung für die Bestimmung des casus belli übernehmen. Die Entscheidung, wie auf einen Angriff auf Europa zu reagieren sei, wäre dann nicht länger eine europäische. In dem Maße wie die USA verwundbarer werden, wird es immer weniger objektive Tatbestände geben, die einen weltweiten Krieg wert scheinen lassen. Auch Europa würde möglicherweise als nicht mehr wichtig genug erscheinen, besonders bei begrenzten oder zweideutigen Bedrohungen. Und bei der Zerstörungsfähigkeit moderner Waffen ist jeder Angriff, der eindeutig kein Totalangriff ist, in sich selbst zweideutig. Mit der Zeit kann diese Situation zu dem führen, was viele Europäer am meisten befürchten: — direkte Verhandlungen zwischen den LISA und der LIdSSR, von denen Europa ausgeschlossen ist.

Wenn Europa nicht auf die Möglichkeit verzichten will, sein Geschick zu beeinflussen, so muß es fähig sein, sowjetischen Bedrohungen immer kühner und entschiedener zumindest zum Teil mit seinen eigenen Machtmitteln entgegentreten zu können. Man kann natürlich dagegen einwenden, daß ein Angriff auf Westeuropa eine Herausforderung sein würde, auf welche die USA mit einem totalen Krieg reagieren müßte, ganz gleich was nun der militärische Beitrag ihrer Alliierten sein würde. Tatsächlich ist diese Überzeugung der wahre Grund für die fehlenden militärischen Anstrengungen der NATO gewesen und das auch schon vor dem Zeitalter der Raketengeschosse. Aber ein Krieg „über“ Europa braucht nicht unbedingt die Form eines Angriffes auf Europa anzunehmen. Auf Grund früherer Ereignisse ist das Risiko eines sowjetischen Angriffes, mit dem ganz Europa überrannt werden soll, geringer als das lokaler Attacken, die dazu bestimmt sind die Kraftlosigkeit der NATO bloßzulegen und ihre diplomatische Wirksamkeit zu schwächen. Je größer der Unterschied in dem Kräfteverhältnis zwischen Europa und den UdSSR ist und je größer die Verwundbarkeit der USA ist, umso herausfordernder wird die sowjetische Politik unseren Alliierten gegenüber werden. In dem Maße, in dem Europa über ein militärisches Kräftepotential unter eigener Kontrolle verfügt, das in der Lage ist, größeren Angriffen zu begegnen, wird es Vertrauen gewinnen, um dem sowjetischen Druck Widerstand zu leisten.

Je stärker die lokalen Abschreckungsmittel sind, um so weniger ist es wahrscheinlich, daß bestimmte Drohungen überhaupt versucht werden.

Kurz gesagt, eine Weigerung unserer europäischen Alliierten, Raketengeschosse zu akzeptieren, wird die Abhängigkeit der NATO von der Abschreckung eines weltweiten Krieges erhöhen in demselben Augenblick, wo die Folgen einer massiven Vergeltung den Willen zum Widerstand schwächen. Andererseits wird die Bereitschaft, sich sowjetischen Angriffen zu widersetzen, gesteigert, wenn eine möglichst große Anzahl von Alternativen zwischen einer Kapitulation und einem möglicherweise selbstmörderischen Krieg geschaffen werden. Da es das Ziel der Abschreckung ist, dem Angreifer ein Risiko vor Augen zu stellen, daß in keinem Verhältnis zu dem erstrebten Ziel steht, würden lokale Streitkräfte in Europa eine lebenswichtige Funktion erfüllen, auch wenn sie nicht jeder Art von sowjetischen Angriffen gewachsen sind. Schweden und die Schweiz unterhalten beachtliche militärische Streitkräfte. Ihr Zweck ist nicht in erster Linie, eine größere Macht als potentiellen Angreifer zu besiegen — dazu reichen ihre Streitkräfte nicht aus — sondern um einen Preis klar zu umreißen, den ein möglicher Angreifer nicht bereit ist zu zahlen. Ebenso würden substantielle militärische Kräfte auf dem Kontinent viel dazu beitragen, überstürzte sowjetische Abenteuer abzuschrecken. Zu guterletzt könnten sie die Sowjetunion zu einer militärischen Rüstung von solchem Ausmaß zwingen, daß jeden Zweifel über ihre letzten Absichten beseitigt und es somit leichter macht, Sanktionen gegen einen totalen Krieg einzuführen. Selbst wenn man dagegen hält, daß jeder sowjetischer Angriff auf Europa unweigerlich zu einem totalen Krieg führt, bedeutet das noch nicht notwendigerweise, daß die Verteidigung Europas mit einer solchen Strategie beginnen muß. Da ein totaler Krieg die gesamte Menschheit in ihrer Existenz bedrohen würde, 'sollte er nur als der letzte Weg beschritten werden. Wir brauchen andere Mittel, um den sowjetischen Schachzügen zu begegnen.

Aber wird nicht der Besitz von Kernwaffen und Raketengeschossen die Verwundbarkeit Europas steigern? Können nicht gerade sie zu dem Angriff führen, den sie vermeiden sollen?

Das Problem ist nicht so einfach, wie einige der Gegner der Strategie mit Raketenwaffen es erscheinen lassen. Die Gegner von Raketenbasen in Europa sagen, daß wenn es keine gäbe, Westeuropa sich von einer Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR fernhalten könnte. Das ist zwar kein heroischer Standpunkt, aber er mag vertretbar sein. Er illustriert aber das Maß, in dem unsere Alliierten sich auf unser Strategie Air Command als wichtigstes Abschreckungsmittel und als wichtigste Waffe im Kriegsfall verlassen haben. Für viele erweckt daher der Vorschlag, die NATO mit Raketen auszurüsten, den Anschein, als würden sie nun in eine Strategie einbezogen, die ihnen bisher Schutz ohne ihre direkte Beteiligung gewährte.

Es kann jedoch sein, daß im Falle eines weltweiten Krieges die Sowjetunion die Möglichkeiten einer europäischen Neutralität hoch genug einschätzt, um den Angriff auf europäische Basen zu vermeiden, und das um so mehr, als diese kein entscheidendes Element in einer solchen Auseinandersetzung wären. Im Falle eines lokalen Angriffes innerhalb Europas — ein wahrscheinlicherer Fall — wären natürlich die Raketenbasen die ersten und wichtigsten Ziele.

Aber die Verwundbarkeit, die sie schaffen, ist in sich nicht verschieden von derjenigen zahlreicher Flugplätze, Nachschubdepots und anderer militärischer Einrichtungen, welche die NATO bereits errichtet hat. Es kann nicht geleugnet werden, daß gerade Raketen wegen ihrer strategischen Bedeutung möglicherweise besondere Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Aber gewiß werden unsere Alliierten nicht mit dem Argument kommen, daß die Errichtung nur solcher militärischer Basen auf europäischem Gebiet erlaubt sein sollte, die sowohl in einem totalen als auch in einem begrenzten Krieg keinerlei Bedeutung besitzen.

Aber warum gerade Raketen? Könnte man nicht dagegen einwenden, daß eine Verteidigung Europas selbst mit Kernwaffen im Notfall -ein Ding sei, die Errichtung von Raketenbasen aber ein ganz anderes? „Mittelstreckenraketen . . .“ so schreibt ein britischer Autor, „kann audi die blükendste Phantasie nickt Verteidigungswaffen nennen. Sie sind Vergeltungswaffen, welche die Sicherheit der Länder, in weldten sie stationiert sind, nicht erhöhen, sondern vielmehr zu deren Gefährdung beitragen. Mit anderen Worten, durch eine Bewaffnung mit 1 500-

Meilen-Geschossen wird die NATO automatisch zu einer offensiven Allianz.“ (Barraclough, op. cit.). Es ist nicht leicht ersichtlich, wieso eine Waffe, die zur Vergeltung in des Angreifers eigenem Land verwandt werden kann, automatisch eine defensive Allianz in eine offensive verwandelt. Auch wenn Europa im großen Stile mit Raketen für begrenzte Reichweite ausgestattet wäre, könnte es die Sowjetunion nie völlig besiegen. Und bei der Verwundbarkeit des dicht bevölkerten Europas gegenüber sowjetischen Vergeltungsmaßnahmen wäre es eine solche Dummheit für die NATO, einen Angriffskrieg zu entfesseln, daß noch nicht einmal der Kreml diese Möglichkeit ernst nehmen könnte.

In dem Maße wie die sowjetische Raketen-waffe wächst, wird die Bedrohung oder die Aktualität von Raketenangriffen eine immer wichtigere Waffe, Europa zu neutralisieren oder es zur Ergebung zu zwingen. Von der Suez-Krise bis hin zu der Krise in Syrien haben Warnungen vor Raketenangriffen eine zunehmende Rolle in der sowjetischen Diplomatie gespielt. Raketen in Europa unter europäischer Kontrolle sind daher wichtig, einerseits, um sich einem Angriff im üblichen Sinne zu widersetzen; noch lebenswichtiger sind sie aber andererseits, um der Drohung mit Raketenangriffen gegenüberzutreten und ihnen stand-zuhalten.

Statt globalem Gegenschlag: lokaler Widerstand

Der wirkliche Einwand gegen die Errichtung von Raketenstützpunkten in Europa richtet sich daher weniger gegen die Natur der Waffe an sich als gegen die Strategie, die mit ihr verbunden ist. Bevor es zu einem effektiven Fortschritt in der NATO-Strategie kommen kann, müssen alle Alliierten sich darüber klar werden, daß auf Grund ihrer ständig zunehmenden Verletzbarkeit die Drohung eines totalen Krieges zu einem immer größer werdenden Hindernis für entscheidende Schritte wird. Die nur zögernd erfolgende Anerkennung der Tatsache, daß einem Teil der Angriffsmöglichkeiten einzig und allein lokal begegnet werden kann, war das Haupthindernis für eine wirksame NATO-Strategie. Unsere europäischen Alliierten waren nicht bereit, sich künftig auf eine lokale Verteidigung einzustellen, weil sie nicht bereit waren, die notwendigen Anstrengungen zu unternehmen, und weil sie fürchteten, daß wir uns völlig zurückziehen würden, wenn sie erst einmal die Möglichkeit einer geringeren als einer totalen amerikanischen Beteiligung akzeptiert hätten. Wir hingegen wurden daran gehindert, auf die Schaffung lokaler Verteidigungsmaßnahmen einen Druck auszuüber, und zwar teils durch den Absolutismus unserer eigenen Militärdoktrin und teils aus Furcht davor, daß ein derartiger Druck das Vertrauen unserer Alliierten beeinträchtigen könnte.

Aber diese Neigung, der Realität auszuweichen, kann zu einer Demoralisierung führen.

Die bloße Verpflichtung zu einer totalen Verteidigung würde, wenn keiner der Partner bereit ist, die sich hieraus ergebenden Konsequenzen auf sich zu nehmen, nur in eine Sackgasse führen. Unsere Alliierten haben das Recht, auf einer amerikanischen Beteiligung an ihrer Verteidigung zu bestehen. Es sollte ihnen nicht gestattet werden, einen Aktionskurs vorzuschreiben, der die katastrophalsten Risiken mit sich bringt, und dies um so mehr, wenn diese Strategie ihre Bereitschaft verringert, Angriffen Widerstand entgegenzusetzen. Eine lokale Verteidigung soll unseren Einfluß auf Entscheidungen vergrößern und die Verteidigungspolitik der NATO auf eine Linie mit jener Strategie bringen, zu deren Durchführung sie bereit ist.

Eine Strategie der lokalen Verteidigung ist nicht etwa notwendig, um die Allianz am Leben zu erhalten — obgleich sie diesem Zwecke dient — sondern weil allein die Allianz die Möglichkeit zu einer Strategie bietet, die nicht unausweichlich eine Katastrophe bedingt.

Wenn europäische mit Raketen ausgerüstete Streitkräfte in erster Linie für eine lokale Abschreckung bestimmt sind, dann sollten sie nicht unter amerikanischer sondern unter NATO-Kontrolle stehen und den Erfordernissen der lokalen Verteidigung entsprechen. Das Vergeltungspotential in einem totalen Krieg muß die größtmöglichen Zerstörungen in der geringstmöglichen Zeit zufügen können. Die Treffsicherheit ist dabei von geringerer Wichtigkeit als Stärke und Breitenwirkung. Das Abschreckungs-potential für eine lokale Verteidigung dagegen sollte abgestuft und so eingerichtet werden können, daß ein Übereinkommen erzielt werden kann, bevor die Kontrolle über die Situation entgleitet. Und vor allem sollte es die größtmögliche Beweglichkeit besitzen.

Ein Vergeltungspotential bemannter Flugzeuge kann nach der ersten Angriffswarnung eingesetzt werden. Flugzeuge können immer zurückbeordnet werden, wenn sich der Alarm als falsch erweist. Der Entschluß dagegen, Raketen abzuschießen, ist unwiderruflich. Daher ist es notwendig, daß eine auf Raketen aufgebaute Strategie den Vergeltungsschlag absichtlich in den Grenzen hält. Je unverwundbarer die Raketenstützpunkte gemacht werden, desto größer ist die Möglichkeit, die Gefahr eines Mißverständnisses zu verringern. Wenn die Raketenstützpunkte nicht zerstört werden können, dann kann die defensive Seite ihren Gegen-schlag verzögern, bis der Feind zugeschlagen hat, und kann somit vermeiden, nur auf Grund von Vermutungen zu handeln, die sich später als falsch herausstellen könnten.

Dies ist besonders wichtig im Falle des Raketeneinsatzes für eine lokale Verteidigung, wobei auf jegliche Weise die Gefahr verringert werden muß, daß sich ein lokaler Widerstand zu einem totalen Krieg ausweitet. Treffsicherheit und Beweglichkeit sind daher die wichtigsten Erfordernisse für ein solches Raketen-system. Treffsicherheit ist notwendig, um eine abgestufte Anwendung zu ermöglichen, und Beweglichkeit, um die Verletzbarkeit durch Überraschungsangriffe zu verringern. Die NATO sollte sich daher bemühen, ein motorisiertes Raketensystem aufzustellen, dessen größerer Teil ständig wechselnde Positionen bezieht. Unterseeboote und in geringerem Maße Überwasserschiffe stellen eine andere Form idealer beweglicher Abschußrampen dar. Zerstörungsfähigkeit und Breitenwirkung sollten zugunsten der Treffsicherheit und Beweglichkeit geopfert werden. Denn NATO-Raketen haben nicht in erster Linie den Zweck, das sowjetische Mutterland zu zerstören sondern zu beweisen, daß eventuelle Gewinne sowjetischer Streitkräfte in Europa in keinem Verhältnis zu den Risiken stehen. Auch eine Rakete von 800 oder 1000 Meilen Reichweite würde sich in diesem Zuzusamenhang als sehr nützliche Drohung erweisen, auch wenn sie in einem totalen Krieg nicht entscheidend sein könnte — vielleicht gerade deswegen. Gerade die Tatsache, daß Raketen-stützpunkte in Europa das Vergeltungspotential der Sowjetunion nicht zerstören könnten, würde ein Garant für ihre defensiven Aufgaben sein.

So würden die vorgeschlagenen Raketen-und Kernwaffenstützpunkte zur Sicherheit Europas beitragen, vorausgesetzt, sie würden von erheblichen europäischen Anstrengungen begleitet, und wir würden unsere eigenen Militäreinrichtungen nicht ausschließlich auf eine totale Strategie ausrichten. Die wichtigste Aufgabe der NATO sind nicht Raketenstützpunkte, viel weniger noch der Grad der Abhängigkeit der Vereinigten Staaten von ihnen. Das Grundproblem ist die Ausarbeitung einer wirklichen NATO-Strategie. Das derzeitige amerikanische Verteidigungsbudget läßt in betrübender Weise erkennen, daß die strategische Macht wieder einmal auf Kosten der lokalen Verteidigungskapazität erworben worden ist. Beunruhigend an der europäischen Einstellung zur NATO ist die Weigerung, die Realität anzuerkennen, daß nämlich eine größtmögliche Sicherheit nicht länger mit minimalen Kosten erworben werden kann. Wenn die NATO nicht imstande ist, eine tatsächliche Verteidigungskapazität zu entwickeln, dann könnte ein Disengament unausweichlich werden. Dies sollte aber unsere Kritiker nicht veranlassen zu frohlocken, denn unter den gegenwärtigen Umständen würde es das Ende des europäischen Einflusses auf die Weltpolitik bedeuten.

Kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa ?

Wie steht es nun mit der Disengagements-Theorie? Wie mit den Vorschlägen für einen neutralen Gürtel oder einer kernwaffenfreien Zone?

Es ist leicht, mit den Motiven, die der „Disengagements-Theorie“ zu Grunde liegen, zu sympathisieren. So lange sich zwei militärische Großmächte in Mitteleuropa gegenüberstehen, wird argumentiert, wird die Gefahr eines Zwischenfalls bestehen, der einen Krieg entflammen könnte —. Als weiteres Argument wird angeführt, daß die Schaffung eines neutralen Gürtels das quid pro quo ist, das die sowjetischen Streitkräfte veranlassen könnte, sich aus den Satellitenstaaten zurückzuziehen und damit eine normalere Entwicklung der kommunistischen Regime in diesen Staaten ermöglichen würde. Ein Disengagement wäre nach dieser Theorie wünschenswert, weil die NATO in ihrer jetzigen Form nicht in der Lage sei, einen Groß-angriff der Sowjets aufzuhalten. Sie vergrößere somit nur die Spannungen, ohne Sicherheit zu gewährleisten. Schließlich wird behauptet, ein Disengagement sei wichtig, um die Sowjetunion von der Aufrichtigkeit der westlichen Absichten zu überzeugen.

Diese Argumente widersprechen den gesamten Erfahrungen der Nachkriegszeit. Wo westliche und kommunistische Streitkräfte einander gegenüberstehen, ist es selten zu Zwischenfällen gekommen. Die wenigen Zwischenfälle, die sich ereignet haben (wie z. B. die Berliner Blockade), liefen zu Ungunsten der Sowjetunion aus. Die Risiken sind so groß, daß beide Seiten im allgemeinen sehr weit gehen, um Zusammenstößen vorzubeugen, wo immer sie die Ereignisse unter Kontrolle haben. Dagegen sind sowjetische Übergriffe immer dort vorgekommen, wo der Widerstand schwach oder unmöglich schien. Der einzige Fall einer offenen kommunistischen Aggression schließlich folgte auf einen amerikanischen Versuch, sich in Korea zurückzuziehen. Sonst wäre er wahrscheinlich nicht vorgekommen. Lind die Argumente, daß die NATO entbehrlich und zugleich eine Bedrohung der sowjetischen Sicherheit sei, sind zweifelsohne unvereinbar. Welche Pläne für die militärische Stärke der NATO bisher auch gemacht worden sind, keiner wird sie instand setzen, einen Angriffskrieg zu führen.

Wir müssen auch die Möglichkeit berücksichtigen, daß die Sowjetunion mehr an Verhandlungen über ein Disengagement als an einem Disengagement selbst interessiert ist. Wenn erst einmal Verhandlungen eingeleitet sind, ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Disengagements-Erwartungen die NATO-Planung stark demoralisieren und jede militärische Anstrengung auf dem Kontinent unterminieren würde. Und wir können ziemlich sicher sein, daß es zu endlosen Ausweich-und Verzögerungsmanövern kommen würde, so daß die Sowjetunion mit großer Wahrscheinlichkeit durch unser Versagen eines ihrer wichtigsten Ziele erreichen würde, nämlich die Auflösung der NATO ohne irgendwelche Konzessionen auf sowjetischer Seite.

Daß es der Sowjetunion mehr um die Erreichung einer strategischen Vormachtstellung als um der Verringerung der Spannungen geht, beweist der einzige Disengagements-Vorschlag, den die Sowjetunion gemacht hat, der Rapacki-Plan für eine kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa. Die Annahme des Rapacki-Planes würde nicht die sowjetische Bedrohung von Mitteleuropa mit Kernwaffen fernhalten, da auch sowjetische Kurzstreckenraketen einen großen Teil Westeuropas von sowjetischen Stützpunkten aus erreichen können. Da unsere gesamte Strategie auf Kernwaffen aufgebaut ist, würde dies zum Rückzug aller amerikanischen Streitkräfte aus Mitteleuropa führen. Und wenn dieser Präzedenzfall erst einmal geschaffen worden ist, dann würde ein ungeheurer Druck ausgeübt werden, um die Kernwaffen aus ganz Europa einschließlich Großbritanniens zu verbannen. Da keine Aussicht besteht, einen sowjetischen Vormarsch ohne Kernwaffen aufzuhalten, würde eine kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa nicht nur ein Vakuum schaffen, in dem die sowjetischen konventionellen Streitkräfte vorherrschen, sondern auch das Gleichgewicht der Kräfte zerstören, von dem die Sicherheit Westeuropas abhängt. Schließlich wäre die NATO so geschwächt, daß der Rückzug der amerikanischen Streitkräfte von dem Kontinent nahezu sicher wäre.

Diese Situation würde sich durch einen gleichzeitigen Rückzug amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte aus Mitteleuropa und die Einrichtung eines „neutralen Gürtels“ nicht grundsätzlich ändern. Die sowjetischen Streitkräfte würden sich nur 600 Meilen zurückziehen, wobei Mitteleuropa ohne weiteres im Bereich von Raketen bleiben würde, während sich die ame-rikanischen Streitkräfte aus den oben genannten Gründen auf die andere Seite des Atlantiks zurückziehen müßten. Ob sich wohl die Sowjetunion durch ein neutrales, bewaffnetes Deutschland weniger bedroht fühlen würde als durch ein in die westliche Allianz integriertes und durch die Kollektivinteressen der NATO-Länder in Schranken gehaltenes Deutschland? Ein nicht integriertes Deutschland könnte durch inneren Drück gezwungen werden, seine Ansprüche auf die östlichen Gebiete bis an die Grenze des Erträglichen voranzutreiben. Andererseits würde ein unbewaffnetes neutrales Deutschland durch die Schaffung eines Vakuums gerade an der Stelle, wo sich die Großmächte am bittersten bekämpfen, die Spannungen steigern.

Anstatt zur Stabilität beizutragen würde durch einen neutralen Gürtel die gespannte Situation somit explosiver werden. Es sei der Hauptsinn eines neutralen Gürtels, so wurde gesagt, eine etwas günstigere Entwicklung im Satellitenge-

biet zu ermöglichen. Der Rückzug der sowjetischen Streitkräfte könnte jedoch ein lange schon schwelendes Ressentiment zu einer offenen Revolution werden lassen. Chruschtschow hat jedoch wiederholt erklärt, daß die „sozialistischen Erfolge“ in dem Satellitenbereich sakrosankt seien und die Sowjetunion immer eine „aitgemessene Unterstützung einem sozialistischen Britderland“ (Zitat: Interview mit James Reston, „The New York Times“, 10. Okt.

1957) gewähren würde — kurz, daß die Sowjetunion bereitstehe, jeden Aufstand zu unter drücken, der ein kommunistisches Regime in einem Satellitenstaat bedrohen würde. Tatsächlich könnte eine Neutralisierung gerade die Befreiung der Satellitenstaaten verhindern. Denn nur mit russischen Truppen können die sowjetischen Herrscher zuversichtlich glauben, die Situation unter Kontrolle zu haben. Die Anwesenheit sowjetischer Streitkräfte gibt ihnen die Sicherheit, daß Veränderungen die tragbaren Grenzen nicht überschreiten. Wenn jedoch russische Truppen zurückgezogen worden sind, dann könnten die sowjetischen Führer meinen, daß sie sich jeder wenn auch noch so kleinen Veränderung widersetzen üßten, damit diese 'e Kette von Ereignissen auslöst, die sie nicht mehr kontrolliere.; können.

Somit würde ein Disengagement zahlreiche neue Gefahren heraufbeschwören, die Streitkräfte aber, die diesen Gefahren begegnen könnten, jedoch vermindern. Sie ist keine sichere, sondern eine gewagte Politik, und sie wäre nur sinnvoll, wenn wir bereit sind, zu verhindern, daß die Revolutionen in den Satellitenstaaten zerschlagen werden. Sonst würde nur ein zeitweiliger Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus Mitteleuropa gewährleistet sein. Sie würden höchstwahrscheinlich zurückkehren, nachdem die amerikanischen Militäreinrichtungen auf dem Kontinent aufgelöst und Europa verteidigungslos gemacht worden ist. Eine Disengagements-Politik ohne politische oder militärische Antwort auf das Problem der Aufstände im sowjetischen Satellitenbereich oder auf die Rückkehr sowjetischer Streitkräfte unter einem anderen Vorwand wird wahrscheinlich gerade die Situation schaffen, die diese Politik vermeiden will Das Ergebnis wäre entweder eine Demonstration westlicher Schwäche und Unentschlossenheit oder ein totaler Krieg.

Das heißt nicht, daß der Rückzug amerikanischer Streitkräfte aus Mitteleuropa niemals in Betracht zu ziehen wäre. Aber die geeignete Ausgangsbasis hierfür wäre die europäische Stärke und nicht die Schwäche, eine Basis, die der NATO die Möglichkeit bietet, auf einen sowjetischen Angriff in Europa eine entscheidende abschreckende Wirkung auszuüben. Die Beweglichkeit, die so oft verlangt wird, erfordert von der westlichen Allianz größere und gleichmäßigere Anstrengungen. Der Grund für einen großen Teil der starren Haltung der NATO ist nicht, wie so oft behauptet wird, in der übergroßen Betonung der militärischen Faktoren, sondern in der geringen Bereitschaft zu suchen, alle sich aus diesen Faktoren ergebenden Konsequenzen auf sich zu nehmen.

Verhandlungen nur über konkrete Probleme

Wir kommen somit zu unserem letzten Problem, nämlich zu der in der ganzen westlichen Allianz vorherrschenden Tendenz, unserem Dilemma dadurch zu versuchen zu entgehen, daß sie der sowjetischen Politik nur die günstigsten Motive unterlegt und eine Schwächung unserer Entschlußkraft zuläßt aus Mangel an Vertrauen in unsere Fähigkeit, die Stirn bieten zu können.

Zunächst ist oft behauptet worden, daß west-

liche Verteidigungsanstrengungen unnötig seien, weil die Sowjetunion keine Angriffsabsichten hege. Aber die Absichten der Sowjetunion haben keine feststehende Größenordnung, auf die unser Verhalten etwa keinen Einfluß hat. Wenn wir uns um eine ausreichende Verteidigung bemühen, so kann dies wohl eine entscheidende Rolle bei einem sowjetischen Entschluß spielen, anzugreifen. Die westliche Allianz kann die sowjetische Haltung durch Zurückhaltung und Mäßigung bei der Anwendung ihrer Stärke mehr beeinflussen als durch den Versuch, eine gemäßigte sowjetische Haltung der Sowjets durch Schwäche zu erkaufen.

Die Einstellung der westlichen Allianz zum Verhandlungskomplex ist durch die Beunruhigung über die sowjetischen Absichten gleichfalls beeinflußt und beeinträchtigt worden. Jeder neue sowjetische Vorschlag rief eine Diskussion hervor, ob er eine grundlegende Änderung in der sowjetischen Gesellschaftsstruktur bedeute oder nicht. Die Diskussion, ob man in Verhandlungen eintreten sollte, befaßte sich daher weniger damit, ob Verhandlungen auch eine praktische Wirkung hätten als mit der Beurteilung der sowjetischen Absichten. Sowohl die Befürworter als auch die Gegner von Verhandlungen mit der Sowjetunion schienen darin übereinzustimmen, daß Verhandlungen nur dann möglich seien, wenn grundlegende Veränderungen in Sowjetrußland eintreten. Die eine Gruppe befürwortet daher eine Konferenz, weil eine derartige Veränderung tatsächlich stattgefunden habe, die andere leugnet dies. Die Gegner von Verhandlungen haben deshalb auf einem Beweis für den sowjetischen „guten Willen“ bestanden. Die Befürworter haben schon den sowjetischen Verhandlungsvorschlag als eine ausreichende Garantie für die sowjetischen Absichten erachtet.

Es ist zumindest jedoch zweifelhaft, ob Verhandlungen dringend erforderlich sind, wenn sich die sowjetischen Absichten nicht geändert haben, und ob ein ständiges Beharren auf einer Veränderung in der sowjetischen Gesellschaftsstruktur alle sich aus Verhandlungen ergebenden Absichten untergraben könnte. Je unnachgiebiger die Sowjetunion ist, um so wichtiger ist es für uns, ständig neue Vorschläge zu unterbreiten, die unsere Bereitschaft beweisen, Übereinkommen erreichen zu wollen, die aber auch das Anliegen klar umreißen, für das wir bereit sind zu kämpfen. Wir sollten keinen Vorschlag unterbreiten, dessen Annahme wir nicht wünschen, wir sollten uns aber auch nicht davon abhalten lassen, Vorschläge zu machen, nur weil wir glauben, sie könnten nicht angenommen werden. Es besteht für uns keine Verpflichtung, Vorschläge auszuarbeiten, von denen wir überzeugt sind, daß die Sowjetunion sie annimmt. Dies würde geradezu einer Aufforderung an die Sowjetunion gleichkommen, uns Schritt für Schritt zurückzudrängen. Wir haben aber die Verpflichtung, verantwortbare Vorschläge zu machen, deren Ziel es nicht sein darf, legitime sowjetische Interessen anzutasten.

So sind vielleicht z. B. in der gegenwärtigen Situation eine Anzahl konkreter Maßnahmen zur Verringerung der europäischen Unsicherheit möglich. Es könnte sofort ein Inspektionssystem in dem vom Rapacki-PIan erfaßten Raum eingeführt werden, um beide Seiten so weit wie möglich gegen die Gefahren eines Überraschungsangriffes zu schützen. Es sollten Vorschläge zur Begrenzung von Umfang und Art jedes Krieges gemacht werden, um die Gefahr zu verringern, daß durch einen Aufstand in Ostdeutschland oder in den Satellitenstaaten ein dritter Weltkrieg entflammt werden könnte. Der Sowjetunion sollten alle vertretbaren Garantien angeboten werden, daß kein von ihr als Folge einer europäischen Lösung aufgegebenes Gebiet als Stützpunkt gegen sie selbst benutzt oder mit offensiven Militäreinrichtungen versehen werden würde. Jedes Gebiet, aus der sich sowjetische Streitkräfte zurückziehen, soll zur kernwaffenfreien Zone werden, wenn die Sowjetunion es wünscht. Dann könnte der vorgeschlagene Nichtangriffspakt zwischen der NATO und den Warschau-Pakt-Staaten abgeschlossen werden.

Wenn wir nicht durchsetzen können, daß die Verhandlungen auf konkrete Probleme be-schränkt bleiben, dann werden die psycholo-gischen Fundamente der westlichen Allianz nach und nach zerfressen werden. Schon das Interesse am Frieden im abstrakten Sinne hat viele zu der Ansicht verleitet, daß die Tatsache einer Konferenz genau so wichtig ist wie die Ergebnisse, die sie vielleicht erzielen könnte. Schon die Forderung nach ausreichenden Vorbereitungen wird als Unversöhnlichkeit interpretiert. Die Suche nach Gesamtlösungen könnte durchaus verhandelbare Regelungen verhindern, weil die sowjetischen Führer in dem Glauben ermutigt werden, daß sie ihre liebsten Hoffnungen durch ein einseitiges Angebot des Westens und ohne eigene Konzessionen erreichen können. Die Ansicht, daß Festigkeit in einigen Punkten unvereinbar mit erfolgreichen Verhandlungen sei, macht die Diplomatie zu einem Instrument der sowjetischen politischen Krieg-führung, deren wesentlichste Bedeutung psycho-logischer und nicht substantieller Art ist.

Wenn tatsächlich jeder sowjetische Vorschlag als Symptom einer tiefgreifenden Veränderung gedeutet wird, dann besteht die Gefahr, daß die vielleicht wirksamsten Mittel und Wege eines Einflusses auf die innere sowjetische Entwicklung unbeachtet bleiben. Es besteht kaum ein Anlaß zu einer Änderung des sowjetischen Kurses, der sich im großen und ganzen als außerordentlich erfolgreich erwiesen hat. Auch wenn man annimmt, daß es in der sowjetischen Gesellschaft Kreise gibt, die an einem friedlicheren Kurs interessiert sind, und sie ihre Wünsche auch in einen politischen Druck umzusetzen vermögen, so erscheint doch eine grundlegende Veränderung ziemlich unwahrscheinlich, solange wie sich bei jeder Festlegung der politischen Richtung die „harte Gruppe“ im Kreml ungestraft durchsetzt. Ein vorsichtigerer politischer Kurs wird sich auch nur dann durchsetzen, wenn der jetzige Kurs zu einem zu großen Risiko zu werden droht. Und dies könnte mehr von westlichen Entschlüssen als von abstrakten Beteuerungen eines guten Willens abhängen. Der Übereifer, mit dem einige Gruppen auf sowjetische Vorschläge reagieren, könnte die Entwicklungsmöglichkeiten der sowjetischen Politik durchkreuzen. Denn dadurch wird in den Sowjets der Glaube geweckt, daß jeder Kurs, wie unversöhnlich er auch sein mag, durch eine diplomatische Note immer in das Gegenteil verwandelt und jeder fait accompli durch abstrakte Beteuerungen friedlicher Absichten gemildert werden kann.

Es ist somit das letzte und wichtigste Problem der westlichen Allianz, den Endzweck und die moralische Zielsetzung festzulegen, Milde mit Stärke zu vereinen und die innere Kraft zu finden, in Situationen zu handeln, die ihrer Natur nach unklar sind. Dies ist unmöglich, solange die moralische Zielsetzung immer mit einem minimalen Risiko gleichgesetzt wird und unser Perfektionismus uns daran hindert, aktuelle Probleme anzupacken. Viele nachdenkliche Menschen im Westen sind wahrscheinlich über den Mangel an Format der westlichen Politik irritiert. Wenn aber ihre Besorgnis sie dazu verleitet, eine Art Rückzug vom politischen Schauplatz zu predigen, dann vergrößern sie nur die Sterilität unserer Politik, die sie doch gerade bekämpfen wollen.

Einer der nachdenklichsten und gründlichsten Kenner der westlichen Politik schrieb folgendes (Kennan op. cit. 14. Nov. 1957, S. 771):

„Meine eigenen Landslente, die midi oft gefragt haben, wo man am besten Hand anlegen sollte, um der sowjetischen Bedrohung zu begegnen, mußte ich pflichtgemäß antworten, an unseren eigenen Fehlern, an den Dingen, deren wir uns schämen, und zwar am Rassenproblem, an den Lebensbedingungen in unseren Großstädten, der Erziehung und Umgebung unserer Jugend, der wachsenden Kluft zwisdien Spezialkenntnissen und allgemeinem Verstehen. Idi nehme an, daß ähnliche Antworten audi für die anderen westlichen Länder gelten. Idr möchte hinzufügen, daß es sich hier um Probleme handelt, die nidrt durdt unsere Taten oder die Taten anderer in der Stratosphäre gelöst werden. Wenn eine Lösung für sie gefunden werden muß, dann hier auf dieser vertrauten Erde, in der Handlungsweise der Mensdien und den moralischen Kämpfen des Individuums. Wenn man die Wahl hätte, ob man Satelliten abfeuern oder sich weiterhin den innerstaatlichen Problemen widmen sollte, dann würde ich hundertmal sagen, das letzte. Denn wenn wir auf diesem Gebiet keine Fortschritte erzielen, dann wird uns kein Satellit je retten. Ob wir gegen die Russen gewinnen, ist in erster Linie eine Frage, ob wir gegen uns selbst gewinnen.“

Doch gestattet uns die Zeit solche absoluten Unterscheidungen nicht. Die freie Welt hat nicht die Wahl zwischen der Besserung ihrer selbst oder der Begegnung einer sowjetischen Bedrohung. Ihr Problem ist es vielmehr gerade, daß sie die eigene Lage bessern muß, während sie gleichzeitig sich selbst gegen die Gefahr eines Angriffs oder Umsturzes zu schützen hat. Stärke allein ist keine Antwort auf die Bedrohungen, die die Zukunft birgt. Sie bietet die Möglichkeit, daß es eine Zukunft geben wird. Auf lange Sicht gesehen hängen unsere Vitalität und der Sinn unseres Lebens von den Grundsätzen ab, nach denen wir leben. Aber das soll nicht heißen, daß wir angesichts dunkler Bedrohungen künftig ohne Festigkeit handeln und die Zukunft ohne moralische Kraft aufbauen können, auch wenn wir uns unserer eigenen Mängel bewußt sind.

Ein Problem kann im letzten Sinne geistig sein, während es zunächst einen politischen, militärischen oder wirtschaftlichen Aspekt hatte. Wenn wir auf einer moralischen Vollkommenheit bestehen, bevor wir zu handeln beginnen, dann werden wir es weder zur Vollkommenheit noch zur Aktivität bringen. In einer Zeit, in der Jie weitere Existenz unserer Kultur und vielleicht der Menschheit in Frage gestellt ist, darf die Milde nicht so weit gehen, daß sie vor jeder Aktivität zurückschaudert. Niemals wurde unser moralisches Gewissen mehr gebraucht als jetzt. Aber es darf den Absolutismus unserer strategischen Doktrin und die gelegentliche Selbstgerechtigkeit unserer Diplomatie nicht dadurch verherrlichen, daß es unsere Entscheidung einfacher erscheinen läßt als sie ist. Anmerkung:

Henry A. Kissinger, Direktor der „Special Stadies, Rockefeller Brothers’ Fund. Mitglied des Foreign Policy Research Institute der University of Pennsylvania, Direktor des Internationalen Seminars der Universität Havard.

Aus dem Inhalt unserer nächsten Beilagen:

Leonhard Froese:

„Sowjetische Menschenformung aus deutscher Sicht"

Aurel von Jüchen: „Was die Hunde heulen"

Percy Ernst Schramm: Polen in der Geschichte Europas Henry Wei: „China und Sowjetrußland"

Fussnoten

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