Zum Gedenktag des 20. Juli 1944 veröffentlichen wir den folgenden Beitrag von Hermann Graml. Die Arbeit entstand unter Mitwirkung des Arbeitskreises „Europäische Publikation", München, der die folgenden Mitarbeiter angehören: Oberst a. D. v. Bischoffshausen, General der Infanterie a. D. Blumentritt, General der Flieger a. D. Bogatsch, Oberst a. D. Eckstein, Professor Dr. Ferid, Generalmajor a. D. Frhr. R. v. Gersdorff, Generalmajor a. D. G. v. Gersdorff, Hermann Graml, Generalmajor a. D. Haseloff, Professor Dr. Frhr. v. d. Heydte, Oberstaatsanwalt Hölper, Dr. Krausnick (Institut für Zeitgeschichte), Staatsminister a. D. Dr. Müller, Professor Dr. Maurach, Dipl. -Volkswirt Ruland, Oberstleutnant a. D. Sendtner, Dr. Uhlig, Generalmajor a. D. v. Witzleben.
I. Von der französischen Kapitulation bis zum Beginn des Angriffs auf Rußland
1. Die Lage nach dem „Blitzkrieg“ im Westen Wenn wir von den überzeugten Gegnern Hitlers einmal absehen, so war die deutsche Bevölkerung einschließlich der Nationalsozialisten im September 1939 mit Empfindungen in den Krieg gegangen, die — fern von jedem Enthusiasmus — aus Pflichtbereitschaft, apathischer Resignation gegenüber einem offenbar unabwendbaren Schicksal und einem durch die beiden ersten Komponenten etwas verdeckten Groll über die wieder einmal mit ihren Problemen nicht fertig gewordenen Politiker des eigenen Landes wie der nunmehrigen Feindstaaten seltsam genug zusammengesetzt waren. Dazu hatten sich die Befürchtungen um den Ausgang der zukünftigen Kämpfe und die bange Erwartung kommender Leiden gesellt. Der schnelle Sieg über Polen hatte keineswegs genügt, die Sorgen und Ängste der ersten Kriegstage zu zerstreuen; zu gut wußte jeder Deutsche, daß den Truppen Hitlers lediglich ein nichts weniger als entscheidender Teilerfolg zugefallen war und ihnen die Auseinandersetzung mit den eigentlichen Gegnern — England und Frankreich erst noch bevorstand. Zudem bedrängte auch noch nach dem „Feldzug der 18 Tage“ die Frage, ob Deutschland denn tatsächlich kein friedlicher Weg aus der Krise des Sommers 1939 offen gestanden hatte, das zweifellos weithin herrschende und von der Führung geschickt genährte Bewußtsein, wie 1914/18 einen Verteidigungskrieg zu führen. Die Genialität Hitlers war jedenfalls zwischen September 1939 und Mai 1940 längst nicht mehr so unbestritten wie nach der Sudetenkrise und dem Münchner Abkommen. Allenthalben wartete man auf ein Ereignis, das den Beginn ernsthafter Kämpfe im Westen überflüssig machen und eine Umkehr auf dem so zögernd betretenen Weg der Gewalt erlauben würde. Es gab nicht wenige, die von Hitler selbst eine entsprechende Aktion erhofften und glaubten, die Westmächte müßten um des Wohls aller europäischen Staaten willen auf eventuelle deutsche Friedensangebote eingehen.
Der Durchschnitt des Offizierskorps der deutschen Wehrmacht fühlte und dachte damals nicht anders. Seine obersten Spitzen hatten außerdem noch militärische Sorgen; sie meinten, daß die von ihnen geführten Divisionen wegen ihrer in Polen sichtbar gewordenen technischen, organisatorischen und ausbildungsmäßigen Mängel nur wenig Aussicht hätten, eine ernstliche Kraftprobe mit den auf Grund jahrhundertelanger Erfahrungen sehr hoch bewerteten französischen und britischen Armeen erfolgreich bestehen zu können
Die zum Staatsstreich gegen Hitler entschlossenen Oppositionsgruppen des Heeres, von der gleichen Skepsis erfüllt und überdies in Sorge wegen des allmählichen Schwindens der Friedensmöglichkeiten einer nichtnationalsozialistischen deutschen Regierung — denen der Beginn einer deutschen Offensive im Westen endgültig den Todesstoß versetzen mußte —, waren in diesen Monaten emsig bemüht, einen Weg zu finden, Hitler noch vor einer unabsehbaren Ausweitung des Krieges zu stürzen
Aus Gründen, die hier nicht zu erörtern sind, bleiben die Anstrengungen des OKH und der Oberbefehlshaber der Heeresgruppen, die Westoffensive zu verhindern, vergeblich, und der Staatsstreich kam nicht zustande. Am 10. Mai 1940 begann der deutsche Vormarsch und binnen kurzem war das politische Klima völlig verändert. Ende Mai notierte Ullrich v. Hassell, ehemals Botschafter der Weimarer Republik wie des Dritten Reichs am Quirinal und nun schon seit einiger Zeit führendes Mitglied der zivilen Opposition gegen Hitler selbst und den Nationalsozialismus
Wie immer man den Anteil Hitlers an dem militärischen Geschehen bewerten mag, der wenige Wochen später (am 17. Juni 1940) durch die französische Kapitulation vollendete militärische Sieg des nationalsozialistischen Deutschland über Frankreich hatte in der Tat die Stimmung des deutschen Volkes tiefgreifend beeinflußt und Hitlers Prestige wie seine reale politische Position entscheidend gefestigt. Man muß damals in Deutschland gelebt haben, um zu wissen, wie sorgenvoll und schwerer Rückschläge gewiß die Masse der Deutschen den ersten Nachrichten über den Beginn der Offensive begegnete. Gerade die Teilnehmer des ersten Weltkrieges waren zunächst überzeugt, daß nun ein langer und blutiger Krieg seinen Anfang genommen habe, dessen Ausgang überdies höchst unsicher sei; sie hatten die französischen und britischen Truppen seit Verdun, Flandern, der Somme und Cambrei so in Erinnerung, daß sie wahrlich keinen Anlaß sahen, optimistisch zu sein. Elm so nachhaltiger wirkte der atemberaubend schnelle und mit relativ wenig Verlusten bezahlte Erfolg• des deutschen Heeres. Namen, an die sich die Vorstellung jahrelanger schwerster Kämpfe geheftet hatte und die gleichsam mit Strömen von Blut getauft waren, Namen, die 1914 und dann wieder 1918 zwar das Ziel deutscher Angriffe gewesen, aber niemals erreicht worden waren, tauchten an einem Tag in den Heeresberichten auf und wurden am nächsten schon von anderen abgelöst, an die während des ersten Weltkrieges nicht einmal gedacht werden konnte. Mit ungläubigem Staunen verfolgte man den Vormarsch der deutschen Divisionen auf der Karte und wagte zuerst gar nicht so recht an den Sieg zu glauben. Als dann aber Frankreich kapituliert hatte und auch kein englischer Soldat mehr auf französischem Boden stand, da verstummten freilich bei den meisten alle Zweifel an Hitlers politischer wie militärischer Begabung und an seinem Glück, die sich vorher geregt haben mochten, und weithin waren die Deutschen geneigt, ihm — wieder — Größe zuzubilligen. Die „Leistung“ des Dritten Reiches rehabilitierte das System oft genug auch in den Augen derjenigen, die sein moralisches und indeologisches Fundament zwar mit Mißtrauen oder kalter Ablehnung betrachteten, jetzt aber Effektivität mit Legitimität verwechselten. Nicht zuletzt weil der „Blitzkrieg" in Frankreich die dem deutschen Selbstbewußtsein 1918 geschlagenen Wunden schloß und die seit jenen Tagen so sehr gestörte politische Balance des deutschen Volkes wiederherzustellen schien.
Die in Deutschland nie ganz ausgestorbene Neigung schließlich, den Ausgang kriegerischer Verwicklungen als eine Art Gottesurteil aufzufassen — der November 1918 war ja nicht als militärische Entscheidung anerkannt worden —, kam Hitler ebenfalls zugute. Er und sein Regime waren durch den Sieg scheinbar bestätigt worden, und die Bemerkung eines Bekannten v. Hassels, daß ein Mann solcher Erfolge ein Mann mit Gott sein müsse
In München, zwei Jahre zuvor, hatte Hitler lediglich das politische LIrteil des damaligen Generalstabschefs, Beck, widerlegt, jetzt hatte er gegen das Oberkommando des Heeres, die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen und zahllose andere Offiziere auf deren ureigenstem Gebiet recht behalten. Gewiß nur mit der entscheidenden Hilfe jüngerer Generalstäbler und nur vorübergehend, aber dennoch mußte gerade das OKH, d. h.der Oberbefehlshaber des Heeres, v. Brauchitsch und sein Stabschef Halder, zu Kenntnis nehmen, daß Hitler es gewesen war, der die französische Widerstandskraft richtig eingeschätzt und sich einen strategischen Plan zu eigen gemacht hatte, der die Gegebenheiten und Möglichkeiten moderner Kriegführung» sachgerechter berücksichtigte, als die ursprünglichen operativen Vorschläge des OKH
Nicht länger, das war die unvermeidliche Folge, konnten die Spitzen des deutschen Heeres Hitler mit der unbestrittenen Autorität des Fachmanns entgegentreten. Hitlers Selbstbewußtsein war — und zwar seinen Dimensionen entsprechend — gestiegen, das Überlegenheitsgefühl der obersten Führer des Heeres hatte fast im gleichen Verhältnis gelitten. Der Gedanke ist nicht von der Hand zu weisen, daß sich vor allem Brauchitsch und auch Halder von dieser fachlichen Niederlage nie mehr so recht erholt haben, daß jedenfalls ihr Verhältnis zu Hitler eine tief-greifende Wandlung erfuhr. In der Folgezeit sollte diese Gewichtsverlagerung erst ihre wahre Bedeutung erhalten.
Daneben trugen aber auch noch andere Faktoren dazu bei, daß Hitler vielen Offizieren nun in einem besseren Lichte erschien als früher. Nicht so sehr der plötzlich auf sie herabrauschende Ordenregen oder die Beförderungen und Marschallstäbe, wie ausländische Beobachter konstatieren zu müssen gelaubt haben
Ganz abgesehen davon, daß es psychologisch einfach unmöglich ist, eine erfolgreiche Armee gegen ihren obersten Befehlshaber zu führen, noch dazu, wenn dieser wie Hitler 1940 sein gerütteltes Maß Anteil am Erfolg beansprucht, brachte der durchschnittliche Offizier, ob Leutnant oder Feldmarschall, Hitler jetzt sogar wärmere Empfindungen entgegen.
Selbst wer sich sein kritisches Denkvermögen bewahrt hatte und an Hitler wie am Dritten Reich immer noch manches auszusetzen fand, billigte dem „Führer“ zu, eben der „Führer“ Deutschlands und seiner Armee zu sein. Vielleicht zum erstenmal seit 1933 sah sich Hitler vom Offizierskorps _ wenigstens von der Mehrzahl der Offiziere — ohne größere Vorbehalte anerkannt
Lind doch wäre nichts falscher, als anzunehmen, es habe 1940 „keinen Zweifel“ am „Führer“ gegeben
Wenn man bei einem Manne von der Urteilsschärfe und Übersicht eines Hassell auch gewiß voraussetzen darf, daß ihm der Sieg über Frankreich nicht den Blick für die nach wie vor wenig hoffnungsvolle Gesamtsituation Deutschlands trübte, so zeigt seine Äußerung doch, daß Opposition gegen Hitler nicht mehr von Erfolg oder Mißerfolg des Diktators geschwächt, bzw. bestärkt wurde, sondern inzwischen in weit höherem Maße als 1938 grundsätzlich fundiert war: „Niemand kann die Größe des von Hitler erreichten Erfolges bestreiten. Aber das ändert nichts am inneren Charakter seiner Taten und an den grauenhaften Gefahren, denen nun alle höheren Werte ausgesetzt sind. Ein dämonischer Spartakus kann nur zerstörend wirken“
Wie Hassell in seinem Tagebuch bezeugt, urteilten seine Freunde nicht anders
Die oppositionellen Offiziere, obwohl sie sich doch noch in einer etwas schwierigeren Lage befanden als die Diplomaten oder Beamten — nicht zuletzt weil sie gleichsam als aktive Teilhaber des Sieges sich gegen die mit einem selbst errungenen Erfolg normalerweise verbundene eigene Hochstimmung zu wehren hatten —, dachten ebenfalls nicht daran, zu resignieren. Goerdeler sagte ihnen in einer Denkschrift, die am 1. Juli entstanden war
Halders Votum freilich war nicht allein der im Augenblick richtige sondern einer taktische Rat, Ausdruck tieferwurzelnden Resignation des Stabschefs, die der militärischen Opposition während der folgenden Monate manche Hoffnung verdarb. Halder, an sich schon eine mehr als bedächtige Natur und von Monat zu Monat weniger aktionsbereit
Eine gewisse Rolle dürfte sicher gespielt haben, daß er, wie schon erwähnt, von Hitler auf seinem Fachgebiet, der operativen Planung, zum bloßen Exekutivorgan gestempelt worden war. Die strategische Anlage der Westoffensive war ja außerhalb des OKH entstanden und von Hitler dem OKH beinahe aufgenötigt worden, das den Gedanken nur mehr zu realisieren und auszuführen hatte. Die Warnung des Oberkommandos vor einer Offensive überhaupt waren nicht nur vergeblich, sondern dem Anschein nach auch falsch gewesen. Andererseits ist es aber ebenso gut möglich, daß Halder insgeheim zu der Überzeugung gekommen war, es sei vergeblich, sich Hitler in den Weg stellen zu wollen, da das Glück mit ihm sei und man nichts besseres tun könne, als ihm zu gehorchen; der Mann des Erfolgs, der sich bisher über jeden fachmännischen Rat hinweggesetzt hatte, ohne deshalb zu Fall zu kommen, werde schließlich doch den Krieg zu einem guten Ende führen können, so unwahrscheinlich das auch sein möge
Wie dem auch sei, angesichts des notorischen Versagen Brauchitschs fiel infolge der Halderschen Sinneswandlung das OKH für eine unter günstigeren Umständen, als sie unmittelbar nach dem Abschluß der Kämpfe in Frankreich herrschten, anzusetzende Aktion gegen Hitler höchstwahrscheinlich aus.
Wie sich die oberste Spitze des Heeres künftig zu verhalten gedachte, unterstrich ihre Reaktion auf die Vorgänge in Polen. Die dort tagtäglich verübten Schandtaten von SS-und Polizeiformationen — Morde an Juden und der polnischen Intelligenz — hatten zu einem scharfen schriftlichen Protest des dortigen Militärbefehlshabers, Generaloberst Blaskowitz, geführt, der dann deshalb von Hitler abgehalftert und in Pension geschickt wurde
Gewiß hätte jede energische Opposition gegen Hitlers Ostpolitik den Feldmarschall und seinen Stabschef wahrscheinlich sofort mit der letzten Konsequenz oppositionellen Handelns in Diktaturen, dem Staatsstreich, konfrontiert, der im Augenblick psychologisch unmöglich war. Dennoch bleibt zu fragen, ob ein entschiedenes Beharren auf der politischen Mit-verantwortung der Armee und des Generalstabs zum damaligen Zeitpunkt ganz ohne Chancen gewesen wäre. Noch war Hitler noch nicht endgültig zu dem Schluß gekommen, er könne ohne den Sachverstand der Generale seine Schlachten gewinnen und „das bißchen operative Führung“
Statt aber wenigstens den Versuch zu wagen, Hitler vor eine geschlossene und entschlossene Generalsfronde zu stellen, gaben Brauchitsch und Halder das moralische und politische Mitsprecherrecht des Heeres unwiderruflich preis und wählten so den zunächst bequemeren, tatsächlich aber um so sicherer dem Untergang zuführenden Weg. Während sie sich moralisch und politisch zu salvieren glaubten, indem sie Gewehr bei Fuß neben Greueln standen, die in der neueren europäischen Geschichte kein Beispiel finden, verstrickten sie sich immer tiefer in das, was die Nationalsozialisten selber als die Identität zwischen Hitler und Deutschland, zwischen den Taten des Dritten Reiches und dem deutschen Volk verstanden. Von Tag zu Tag mußte es schwerer fallen, sich aus diesen Bindungen innerlich wieder frei zu machen.
Die militärische Opposition gegen Hitler verlor durch die moralisch-politische Retirade des OKH zwar nicht ihre Mitte — das war Beck —, wohl aber die bisherige Befehlszentrale einer eventuellen Aktion. Ein Verlust, der umso schwerer zu tragen war, als die wachsende Resignation des Admirals Canaris auch den Nachrichten-und Verbindungsmittelpunkt zwischen den einzelnen militärischen Gruppen und zwischen militärisch und ziviler Opposition, die Abwehr, in Mitleidenschaft zu ziehen begann
Im Dezember 1940 begann eine neue Aktion, durch den General v. Rabenau doch noch auf Brauchitsch einzuwirken
Aber diese Reisen und Gespräche fanden in einer Atmosphäre statt, die so von Hitler beherrscht war, daß oppositionelle Aktivität nur den Zweck haben konnte, das Feuer des Widerstandsgeistes am Glimmen zu halten, bis die Umstände wieder günstiger sein würden. Ein großer Teil der Generalität sah nicht mehr klar, benebelt von Hitlers Erfolgen, oder war, bei aller Einsicht in die wahre Lage Deutschlands — die innere wie die äußere —, verständlicherweise nicht bereit, etwas zu unternehmen. So mußten etwa auch Goerdelers Denkschriften, soweit sie in jenen Tagen entstanden sind
Und doch ist gerade in diesen Monaten — drole de guerre des Widerstands — der Keim dazu gelegt worden, eine neue Schicht von Oppositionellen zu aktivieren. Hitler selbst sorgte durch seine Politik dafür, daß die Widerstandsbewegung Verstärkung erhielt, und zwar aus der jüngeren Generation, die bei den bisherigen konkreten Putschplänen eine relativ bescheidene Rolle gespielt hatte.
Es ist bekannt, daß es nicht zuletzt die nationalsozialistischen Verbrechen in Polen waren, die der zivilen Opposition, in diesem Fall dem Kreisauer Kreis, Männer wie Graf York v. Wartenburg endgültig gewonnen haben
Und angesichts der „Dinge, die eine organisierte Mörder-, Räuber-und Plündererbande unter angeblich höchster Duldung dort verbricht“, sah sicli Stiess zu dem Geständnis veranlaßt:
„Ich schäme midi, ein Deutsclter zu sein!“
Zwar vermochte er noch nicht ganz zu glauben, daß die Verbrechen von Hitler selber befohlen worden waren, wie die Ausdrücke „angeblich“ und „Duldung“ beweisen, aber seine Erkenntnis, daß allein die Armee dagegen etwas tun könne, ist doch schon klar genug: „Die Minderheit, die durch Morden, Plündern und Sengen den deut-sdten Namen besudelt, wird das Unglück des ganzen deutsdten Volkes werden, wenn wir ihnen nicht bald das Handwerk legen.“
Und ähnlich fühlten nicht wenige seiner Kameraden
So ganz traf es also nicht zu, wenn ein Außenstehender im Mai 1940 von der „einzigartigen Armee, die jede Leistung auf sich nimmt und die Verantwortung scheut“, geschrieben hatte
Nachdem Brauchitsch und Halder schon Anfang bzw. Mitte März von ihm orientiert worden waren
Die Frontbefehlshaber und ihre Stabschefs bewiesen am 30. März ein waches Empfinden für den Charakter der von Hitler befohlenen Maßnahmen. Sie hatten allerdings nicht selber protestiert, sondern lediglich von Brauchitsch verlangt, etwas dagegen zu tun. Das mag formal korrekt gewesen sein. Aber angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die ihnen der „Führer" ins Gesicht sagte, hätte man doch schon eine spontane Reaktion erwarten sollen, bevor Hitler sich wieder zurückzog. Sicher mögen viele gedacht haben, es handle sich nur um einen der üblichen Haßausbrüche Hitlers gegen den Bolschewismus, sozusagen eine ideologische und rethorische Routineangelegenheit
Als die schriftlichen Befehle im Mai bei den Frontstäben eintrafen, herrschte jedenfalls trotz Hitlers Vorbereitung helles Entsetzen. Der Ic der Heeresgruppe Mitte, der damalige Major Frhr. v. Gersdorff, ging mit dem Befehl, sogleich nachdem er ihn erhalten hatte, zum ersten Generalstabsoffizier der Heeresgruppe, Henning v. Tresckow, der an diesem Tag den Chef des Stabes vertrat
Gersdorff, der Tresckows Worte zunächst etwas übertrieben fand, hielt v. Bock Vortrag. Noch während er sprach, riß ihm der Feldmarschall die Papiere aus der Hand — trotz der Besprechung vom 30. März kam ihm die Angelegenheit offenbar völlig unerwartet
Bock anwortete:
„Da schmeißt er (Hitler) midi raus." Tresckow:
„Dann hast Du wenigstens einen guten Abgang vor der Geschichte gehabt."
Bock schickte die beiden Stabsoffiziere aus dem Zimmer, um den Fall allein zu überdenken. Nach einer Weile rief er sie wieder herein und sagte:
„Gersdorff, Sie setzen sich sofort in mein Flugzeug und fliegen nach Berlin. Dort sagen sie dem General Müller (General z. B. V. beim Ober-befehlshaber des Heeres), daß ich schärfstens gegen diese Befehle protestiere und sie voll und ganz ablehne. Sagen Sie ihm, daß ich mich weigere, die Befehle weiterzugeben oder sie auszuführen. Wenn Sie bei General Müller nidits ausrichten, dann bitten Sie in meinem Auftrag um persönlichen Vortrag bei Generalfeldmarsdiall von Braudiitsch"
Tresckow meinte zwar, das habe keinen Zweck, da ein Major in Berlin kaum etwas ausrichten könne, und versuchte nochmals, Bock zu einer gemeinsamen Aktion mit Leeb und Rundstedt zu bewegen — vergeblich.
Gersdorff flog eine Stunde später nach Berlin — er hatte nicht einmal eine schriftliche Bestätigung seines Auftrages in der Tasche — und wurde dort, wie Tresckow richtig vorhergesehen hatte, von Müller „abgewimmelt“. Müller erklärte dem Major allerdings, Brauchitsch sei wegen der Befehle mehrfach bei Hitler vorstellig geworden, er sei „Sturm gelaufen" gegen sie, aber von Hitler „rausgeschmissen" worden und könne es nun nicht mehr mit seiner Würde vereinbaren, nochmals einen Vorstoß zu machen, der nur das gleiche Resultat zeitigen werde
Müller wies den Abgesandten Bocks auch darauf hin, daß der Ober-befehlshaber des Heeres ja den Befehl zur Aufrechterhaltung der Manneszucht — der inzwischen bei der Heeresgruppe Mitte eingetroffen war — herausgegeben und damit dem Kommissar-und Gerichtsbarkeitsbefehl doch wohl die Giftzähne gezogen habe. Nach dieser unbefriedigenden Auskunft versuchte v. Gersdorff Brauchitsch zu erreichen, was aber nicht gelang, da sich der Feldmarschall nicht in Berlin befand.
Gersdorff kehrte daher sofort ins Posener Hauptquartier seiner Heeresgruppe zurück und meldete Bock das Ergebnis der Berliner Reise. Bock, der mit seinem neuen Stabschef, General v. Greiffenberg, Tresckow und den beiden Grafen v. Lehndorff-Steinort und v. Hardenberg, die eben. falls Bocks Stab angehörten, gerade beim Abendessen saß, wandte sich an die Runde mit den klassischen Worten: „Meine Herren, Sie sehen, ich habe protestiert“, und ging zu einem anderen Thema über.
Tresckow hat sich wenig später in unzweideutiger Form über das Verhalten seines Verwandten geäußert. Und es besteht kein Zweifel, daß er damals jede Hoffnung aufgab, Bock für die Opposition zu gewinnen
Es läßt sich allerdings kaum ein größerer Gegensatz denken, als der zwischen dem hervorragenden Fachmilitär Bock — vielleicht der glänzendste Stratege des deutschen Heeres —, der bei aller äußerlichen Wahrung der überkommenen Ehrbegriffe und Regeln seines Standes doch sehr darauf bedacht war, seine Fähigkeiten zur Geltung zu bringen, und nie seine Karriere vergaß, und dem I a der Heeresgruppe Mitte, Tresckow, der bereits im Sommer 1939 seinem Freunde Schlabrendorff erklärt hatte, Pflicht und Ehre forderten, alles zu tun, um Hitler und den Nationalsozialismus bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu Fall zu bringen und damit Deutschland wie Europa vor den Gefahren der Barbarei zu retten
Immerhin ließ Bock es damals bei der Mission Gersdorff nicht bewenden. Er setzte sich mit seinen Armeebefehlshabern in Verbindung, von denen ebenfalls bereits scharfe Proteste gegen die Befehle einzulaufen begannen — da diese auf dem Quartiermeisterweg, ohne daß sie von der Heeresgruppe hätten gestoppt werden können, bereits zu den Armeen gegangen waren —, und besprach mit den Feldmarschällen V. Kluge und v. Weichs, auch dem Generaloberst Guderian, was getan werden könne
Das ist in der Tat weitgehend gelungen — auch bei den Heeresgruppen Nord und Süd verlief die Angelegenheit ähnlich
Lind dennoch trugen die Befehle auch Früchte, die Hitler nicht erwünscht sein konnten. Daß zum erstenmal der Armee selbst völkerrechtswidrige und verbrecherische Handlungen zugemutet und befohlen wurden, öffneten vielen Offizieren die Augen über den wahren Charakter des Regimes, dem sie dienten, und machte ihnen klar, daß auch der Soldat an der Verantwortung für die moralische Gesundheit seines Landes teilhat. Hitler selber erreichte es so, daß die psychologische und politische Wirkung des Sieges über Frankreich sich abschwächte und der Widerstandsbewegung innerhalb der Armee neue Kräfte zuwuchsen. Zudem sahen sich die zum Sturz des Diktators bereits entschlossenen Soldaten bestätigt und gewannen frische Energie. Die Folgen sollten sich schon bald zeigen.
II. Vom Beginn des Rußlandfeldzuges bis zur Winterkrise 1941/42
Noch wenige Tage vor dem 22. Juni 1941 hatten Popitz und Hassell von Beck gefordert, er müsse als vornehmster Vertreter seines Standes — auch wenn er nicht mehr im Dienst sei — an Brauchitsch schreiben, um den Oberfehlshaber des Heeres darauf hinzuweisen, daß er gegen Hitlers Mordbefehle irgendetwas zu unternehmen habe
Auch wer keinen Blick für die politischen Zusammenhänge besaß und nichts von Strategie verstand, konnte sich nicht des unbehaglichen Gedankens erwehren, daß es, schlicht gesagt, eine Dummheit sei, sich einen weiteren Gegner auf den Hals zu laden, solange England nur geschlagen, aber nicht besiegt war. Mit bänglichen Gefühlen standen die Deutschen überdies vor den Landkarten und verglichen die riesige Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs mit der daneben recht bescheiden wirkenden Fläche des deutschen Reiches. Die historisch Gebildeten dachten an Karl XII. und Napoleon, die beide in den russischen Ebenen den Todesstoß erhalten hatten; aber auch der noch nicht so kurzlebigen, in Generationen denkenden Landbevölkerung trat der Winter des Jahres 1812 vor Augen, denn das Schicksal der bayerischen, württembergischen, sächsischen usw. Kontingente, die alle mit der großen Armee Napoleons elend im Osten verdorben waren, war in den deutschen Ländern allenthalben noch unvergessen. Zudem war seit mehr als zwei Jahrzehnten Rußland zur terra incognita geworden; man wußte nicht recht, was dort vorging, welcher politischen und miltärischen Überraschungen man sich zu versehen hatte und welche Widerstandskräfte das sowjetische Regime zu entfalten in der Lage sein mochte. Lind schließlich drängte sich neben die Vorstellung von den unendlichen Räumen Rußlands, neben die Erinnerung an die Beresina und neben die Furcht vor einem unbekannten Feind das Bild sibirischer Gefangenenlager mit Typhus, Ruhr, Hunger und mit unzähligen jämmerlich zu Grunde gegangenen Soldaten, wie es nach den Erfahrungen des ersten Weltkriegs etwa Dwingers „Armee hinter Stacheldraht“ überaus eindrucksvoll gezeichnet hatte; das Bild eines Landes und Volkes, denen die jahrhundertealten festen, wenn auch immer wieder verletzten europäischen Regeln und Begriffe fremd waren. Das alles trug dazu bei, das deutsche Volk einen lichten Moment lang erkennen zu lassen, daß es an einem Wendepunkt des Krieges stehe und das Feld der gewissermaßen normalen europäischen Auseinandersetzungen verlasse. Wenn es noch nie das Empfinden gehabt hatte, Hitler treibe eine abenteuerliche Politik, so spürte es doch jetzt, daß das Überschreiten der russisch-deutschen Demarkationslinie in Polen nichts mehr mit einem wohlüberlegten politischen oder militärischen Kalkül und auch nichts mehr mit der oft gerühmten Intuition des „Führers“ zu tun hatte, daß der 22. Juni 1941 vielmehr der Beginndes reinen Abenteuers und des nicht länger getarnten Hazards markierte.
Der Armee, d. h.dem Heer, waren Überlegungen oder besser Ahnungen dieser Art keineswegs fremd, doch stellte hier das in mehreren erfolgreichen „Blitzkriegen“ erworbene Selbstvertrauen ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht dar. Die Armee, der Hitler im Sommer 1941 befahl, Rußland anzugreifen, war nicht mehr die an ihrem Wert und ihrer Schlagkraft zweifelnde Truppe, die 1939 in Polen oder 1940 in Frankreich einmarschiert war. Sie wußte jetzt, was sie leisten konnte, und traute sich eher zuviel als zuwenig zu. Der Hitlersche Optimismus, der den russischen Zusammenbruch mit Sicherheit nach einigen Wochen erwartete, war ihr zwar fremd, aber irgendwelche tieferen Erschütterungen löste der Entschluß des „Führers“ nicht aus; nur wenige erkannten, daß die Armee im Begriff war, sich an eine unlösbare Aufgabe zu wagen. Hitler konnte ihr damals, ohne seine Position zu gefährden, jeden Gegner zuweisen. Trotzdem begriff das Heer, vom Feldmarschall bis zum Schützen, daß nun die Zeit des leichten Ruhms vorüber war — wer schon während der Tage ins Gefecht kam, fand dieses Gefühl rasch bestätigt — und die Stimmung war dementsprechend gedämpft, ja ernst, als die Angriffsbefehle bekannt wurden
Doch wo immer in Deutschland sich Zweifel an Hitler geregt haben mochten und wie dunkel auch der Schatten einer ungeheueren-Aufgabe auf das Selbstgefühl der Armee gefallen war, wieder einmal erstickte Hitler alle Skepsis durch den Erfolg. Das erste Halbjahr des Krieges in Rußland schien den Schreck und die dunklen Ahnungen kommenden Unheils der ersten Tage des Feldzugs als Hirngespinste zu entlarven. Die Aktion, die zunächst wie ein aller Berechnung entglittenes Abenteuer ausgesehen hatte, präsentierte sich schon nach wenigen Wochen im Gewand eines genau kalkulierten Plans. Schlachten von bislang nicht gekanntem Ausmaß brachten Erfolge, für die in der Kriegsgeschichte kein Beispiel zu finden war. Der durchschnittlich informierte normale Staatsbürger gewann den Eindruck, daß die militärischen Bewegungen wie ein Uhrwerk abliefen und sich von den Operationen in Frankteich nicht im Wesen, sondern nur durch ihren Umfang unterschieden. Beruhigt verwies er seine kritischen Gedanken, die ihm während der letzten Juniwoche so zugesetzt hatten, in den hintersten Winkel seines Bewußtseins und kapitulierte wieder einmal vor dem Weitblick und der Intuition des „Führers“. Der durchschnittliche Offizier reagierte auf die erste Phase des Rußlandfeldzuges nicht anders, wenn er auch die Propagandaslogans — etwa dem, daß die deutschen Divisionen die russische Armee wie Spreu vor sich her fegten — nicht mehr recht goutierte und großsprecherische Kommentare der Funktionäre des Regimes, auch die Hitlers, als Verhöhnung der eigenen Leistung empfand.
Und doch befestigte sich gerade in diesen Monaten bei nicht wenigen klar und rechtlich denkenden Soldaten die Abneigung gegen das Regime. Wie er schon die wirtschaftliche Stabilisierung der ersten Jahre durch seine Kirchen-und Judenpolitik, durch Konzentrationslager und Gestapo, wie er die frühen außenpolitischen Erfolge durch die prinzipielle Amoralität seiner außenpolitischen Methoden, wie er München durch die „Kristallnacht“ und den militärischen Sieg über Polen durch Handlungen, die Politik und Mord gleichsetzten, entwertet hatte, so entwertete Hitler auch jetzt die Siege, die ihm seine Soldaten gewannen, durch Maßnahmen, die so ungeheuerlich waren, daß man den Generalen wohl glauben schenken darf, wenn sie erklären, die ersten Andeutungen, die ihnen Hitler darüber machte, nicht so ganz begriffen zu haben
Die Ablehnung dieser Aktionen durch Offiziere, die davon erfuhren, war wohl einhellig. Bereits am 5. September 1941 schrieb der spätere General Stiess von den „Belastungen . . ., die in dem System begründet sind, so daß man sich seines anständigen Deutschtums schämen muß . . .“
Was aus der Erkenntnis für Konseqenzen gezogen wurden und ob aus dem Gefühl, einem despotischen Vernichtungswillen zu dienen, der Entschluß zu einer Aktion oder wenigstens der Wunsch nach einer Aktion gegen den Diktator entstand, war freilich eine ranz andere Frage.
Selbst Stiess schrieb ja am 24. November 1941, er tue seine „Pflicht", worunter er damals zweifellos noch die Erfüllung seiner militärischen Aufgaben verstand und nicht schon die höhere Verpflichtung, den Mann, auf dessen Befehle hin der Name Deutschland geschändet wurde, zu stürzen
Ein Offizier der 16. Armee, der vergeblich gegen die Judenmassaker in baltischen Städten protestiert hatte, zog daraus nicht bereits den Schluß, mit allen Mitteln gegen das Regime, das solche Verbrechen zu seinen Alltagspraktiken machte, zu kämpfen — wofür ihn sein Rang allerdings auch wenig tauglich erscheinen läßt: er war Oberleutnant —, sondern meldete sich an die Front
Generaloberst Busch, Oberbefehlshaber einer Armee der Heeresgruppe Nord, vor dessen Hotelfenster in Kowno die Salven der Erschießungskommandos knatterten, billigte den Mord keineswegs, aber als ihm einmal beim Abendessen einer seiner Untergebenen meldete, es beginne wieder ein Massaker, da hat er nur mit der Achsel gezuckt und den versammelten Offizieren erklärt: „]a, da kann ich nichts dagegen tun; das sind politische Auseinandersetzungen, die uns nicht interessieren, das heißt, sie interessieren uns sdton, aber wir dürfen nichts unternehmen, diese Dinge gehen uns nichts an.“
Busch zog also, wenn er die Schüsse der Exekutivorgane Himmlers hörte, gewissermaßen die Vorhänge zu, beugte sich wieder über die Karte seines Armeegebietes und ließ sich bei seinen dienstlichen Obliegenheiten nicht weiter stören.
Der Feldmarschall v. Bock wagte es ebenfalls nicht, dem Drängen seines Stabes nachzugeben und den Einsatzkommandos in seinem Befehlsbereich das Handwerk zu legen. Er raffte sich nur dazu auf, den Ordonnanzoffizier Fabian v. Schlabrendorff mit der Ausarbeitung einer Denkschrifft zu beauftragen. Und manchmal konnte ihn Tresckow veranlassen, die Einsatzgruppen vom sogenannten Operationsgebiet zu entfernen, wozu er als Oberbefehlshaber dann berechtigt war, wenn die Kommandos militärische Bewegungen behinderten; eine Möglichkeit, die Busch übersehen hatte
Bei der Heeresgruppe Süd geschah es sogar, daß sich der Feldmarschall v. Reichenau und der aus einem preußischen Garderegiment hervorgegangene Feldmarschall v. Manstein im Herbst 1941 zum Erlaß von Befehlen bemüßigt fühlten, die im besten NS-Jargon von der „völligen Zerschlagung der Machtmittel und der Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis“ handelten und es sich verbaten, daß sich deutsche Soldaten über die bei derartigen Auseinandersetzungen unvermeidliche Härte erregten
Wieder einmal steht jeder unvoreingenommene Betrachter vor der nicht faßbaren Tatsache, daß kein Heeresgruppen-oder Armeebefehlshaber spontan gegen die vor ihren Augen geschehenden Verbrechen reagierte. War bei den Subaltern-oder Stabsoffizieren die Flucht an die Front, d. h. in die vergleichsweise saubere Atmosphäre des Kampfes, eine immerhin begreifliche, ja vielleicht die im Augenblick einzig mögliehe Haltung — wenngleich sie eine fatale Ähnlichkeit mit dem entsprechenden Verhalten vor Kriegsausbruch, dem Rückzug in die „reine Sachlichkeit des Dienstes“, aufweist — so kann doch den höchsten Offizieren der Armee das Recht auf eine gleiche oder verwandte Reaktion nicht zugebilligt werden; es würde ihrer Stellung nicht gerecht. Gewiß, auch diesen Problemen gegenüber sahen sie sich vom Oberkommando des Heeres und dem obersten Soldaten der Armee, Feldmarschall v. Brauchitsch, — vom OKW ganz zu schweigen — im Stich gelassen, und außerdem hatte Hitler im Falle Rußland, durch das Auf-begehren des Generals Blaskowitz in Polen gewarnt, den Befehlsbereich der Oberbefehlshaber auf ein relativ schmales Gebiet hinter der jeweiligen vordersten Linie begrenzt und so eventuellen Protesten der Generale einen formalen Riegel vorgeschoben. Aber weder das Versagen des OKH noch die räumliche Distanz und das Fehlen einer formellen Handhabe — die beiden letzten Mängel waren überdies, wie die Beispiele Kowno und Borissow zeigten, keineswegs immer gegeben — despensieren die hohen Befehlshaber der deutschen Armee von der Anklage, vor der Forderung des eigenen Gewissens wie des Gewissens ihrer Nation einen kläglichen Rückzug in den nur mehr mechanisch aufgefaßten soldatischen Gehorsam angetreten zu haben.
Die Taten der Einsatzgruppen waren keine Barbarismen einer übermütigen und vom Sieg berauschten Soldateska, auch keine Ausschreitungen, die ihren Ursprung in der Leidenschaft des Kampfes hätten haben können; vielmehr fungierten sie als Teil eines wohlüberlegten politischen Plans und als befohlene Aktion eines Regimes, das Verbrechen zu den normalen Mitteln normaler Politik rechnete. Angesichts des organisierten Massenmordes im Dienste der eigenen Regierung mußte die oberste Garnitur der deutschen Generalität die Frage an sich richten, ob einem System, das solcher Handlungen fähig war, die eigenen — hervorragenden, das ist unbestritten — militärischen Fähigkeiten noch länger zur Verfügung gestellt werden durften, ob der Staat Hitlers würdig war, den Krieg erfolgreich zu beenden. Auch dem engagiertesten Nationalsozialisten hätte sich jetzt der Gedanke aufdrängen müssen, was es denn für einen Sinn habe, die ohne Frage amoralische bolschewistische Diktatur zu „zerschlagen und den asiatischen Einfluß im europäischen Kulturkreis auszurotten", während zur gleichen Zeit die herrschende Partei des eigenen Staates eben diesen Staat auf kaltem Wege bolschewisiert und das, was Manstein vielleicht unter „asiatischem“ Geist verstanden haben mag, von der eigenen Regierung praktiziert wird. Es kann nicht behauptet werden, die führenden Generale hätten das Problem nicht gesehen — schon gar nicht, sie hätten die das Problem verursachenden Fakten nicht gekannt; noch vor Beginn des Angriffs auf Rußland sagte der Adjutant Rundstedts, v. Salviati, zu Hassell, die Feldmarschälle sähen alle, was mit dem Dritten Reich los sei. Aber, so mußte Salviati einschränken, „damit sei es auch aus“
In der Tat, wer schon den Mut fand, sich die auf der Hand liegenden Fragen vorzulegen, der fand doch nicht den Mut zur entsprechenden Antwort. Nicht der Mangel an Rechtsempfinden verhinderte den unabweisbar als einzige Möglichkeit der persönlichen, nationalen und historischen Rechtfertigung — nicht nur Salvierung — sich aufdrängenden Staatsstreich; noch lag auf dem Durchschnitt der hohen Generalität ein Abglanz der altpreußischen Ehrauffassung und strengen Rechtlichkeit eines Marwitz und des sittlich-politischen Verantwortungsgefühls eines Scharnhorst. Aber es fehlte die innere Kraft, das einmal als richtig Erkannte ohne Rücksicht auf die Folgen — worunter hier weniger ein eventueller Schaden an Leib und Leben, sondern mehr die Diffamierung durch die Propaganda des Regimes, das mangelnde Verständnis der Kameraden, der Verzicht auf die Teilnahme an den doch nur vorübergehenden Erfolgen und der Abschied von der lockenden militärischen Aufgabe und Wirkungsmöglichkeit verstanden wird — in die Tat umzusetzen; gerade die Eigenschaft also, die einen durchschnittlichen preußischen Offizier zu dem Marwitz und einen hochbegabten Generalstäbler zu der historischen Gestalt Scharnhorsts gemacht hatte.
Die Neigung, von Ehre mehr zu reden, als sie zu leben, ist zwar gewiß eine allgemeine Erscheinung menschlichen Verhaltens, aber den-noch ist es schwer vorstellbar, daß sich die Offiziere der Freiheitskriege oder die um Wilhelm I., ja auch die Generale des ersten Weltkriegs unter ähnlichen Umständen ähnlich schwachmütig gezeigt hätten; Clausewitz, Grolman, Diebitsch sagten ihrem König den Dienst bereits auf, als er die eigentliche politische und moralische Aufgabe des damaligen preußischen Staates nur zu verkennen schien; Moltke und seine „Halbgötter" hätten sich schwerlich von der politischen Führung zu Handlungen nötigen lassen, die ihrem Ehrenkodex, geschweige denn ihrem Gewissen widersprachen; und während des ersten Weltkrieges hat der General v. Francois das Recht auf Befehlsverweigerung, ob nun sachlich gerechtfertigt oder nicht, geltend gemacht, ohne sich um die Ungnade irgendwelcher Vorgesetzten zu kümmern. Doch seitdem hatte die Armee Wandlungen durchgemacht, die als Ergebnis Feldmarschälle geschaffen hatten, die wohl noch in den alten Anschauungen dachten, aber nicht mehr oder doch nicht immer nach ihnen handelten
Aber wenn man davon absieht, daß das Offizierskorps und insbesondere seine führenden Vertreter der einzigen Möglichkeit, mit einer alle gewohnten Maßstäbe, Begriffe und Regeln sprengenden Situation fertigzuwerden, dem Staatsstreich gegen Hitler und dessen Regime, immer noch auswirken, so ist doch unverkennbar, daß die Tätigkeit der Einsatzgruppen immerhin die psychologische Wirkung der großen Anfangserfolge des Rußlandfeldzugs weitgehend paralysierte, wenn nicht ganz aufhob. Mehr als das. War Hitler nach der französischen Kapitulation vom Durchschnitt des Offizierskorps ohne größere Vorbehalte als „Führer“ anerkannt worden, so hatte er durch seine pseudopolitischen Maßnahmen selber dafür gesorgt, daß diese Anerkennung weithin wieder zurückgezogen wurde. Der Sieg über Frankreich hatte die Offiziere vorübergehend vergessen lassen, daß sie Hitler als fremd empfanden und kein Vertrauen zu ihm hatten, jetzt, nach einigen Monaten Krieg in Rußland, wußten sie es wieder. Es entstand das, was Hassell damals die „zunehmende Disposition“ der Generale für oppositionelle Gedanken nannte
Inzwischen begann auch noch ein weiterer Faktor eine Rolle zu spielen, nämlich der wachsende Unmut gerade der höheren Befehlshaber und der Generalstäbler über die Eingriffe Hitlers in die Kompetenzen der militärischen Führung. Trotz der nach außen und ziffernmäßig so imponierenden Erfolge verliefen die militärischen Operationen zwischen Juni und Dezember 1941 keineswegs nach Wunsch, und hinsichtlich der strategischen Ziele wie der operativen Anlage des Feldzugs ergaben sich schon früh ernste Meinungsverschiedenheiten, ja Spannungen zwischen Hitler einerseits und dem OKH sowohl wie den Heeresgruppen-bzw. Armeebefehlshabern andererseits
Das bald nach dem Ende der Grenzschlachten auftauchende Problem: Stoß nach Moskau (den das OKH und die Heeresgruppe Mitte vorschlugen) oder Stoß über die Ukraine zum Kaukasus und noch weiter nach Süden (der Hitler vorschwebte), bezeichnete ja nicht eine normale Alternative zwischen zwei operativen Möglichkeiten, sondern den viel tiefer wurzelnden Wesensgegensatz zwischen den politisch-utopischen Träumen des im Kriegshandwerk dilettierenden Diktators und dem nüchtern-sachlichen Denken der ihr Metier wahrlich beherrschenden Soldaten. Die Maßlosigkeit des mehr und mehr die Realitäten aus den Augen verlierenden Hitler strebte schließlich beide Ziele zugleich und noch ein drittes dazu (Leningrad) an und verlor alle drei.
Schon im Herbst 1941 begann sich die Überspannung der militärischen Kräfte und des wirtschaftlichen Potentials abzuzeichnen, und der daraus resultierende sachliche Gegensatz führte sofort dazu — seinen eigentlichen Ursachen entsprechend —, daß sich die beiden ungleichen Partner wieder mit dem Mißtrauen betrachteten, das ihr Verhältnis etwa zur Zeit der Sudetenkrise charakterisiert hatte. Bereits im August 1941 sprachen Generalstabsoffiziere vom „blutigen Dilettantismus“
Wie nicht anders zu erwarten, gab die Verletzung des fachlichen Gewissens, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, der moralischen Empörung des oppositionellen Gedanken zugänglichen Teils der Generale und Generalstäbler erst die solide Grundlage. Beide Momente verschmolzen schließlich zu einer nicht mehr voneinander unterscheidbaren Einheit und es ist in diesem Stadium des Krieges müßig, zu fragen, welcher Faktor ausschlaggebend war, einen Offizier dem Kreis des Widerstands zuzuführen. Nicht zuletzt deshalb, weil auch die Rebellion des Fach-gewissens ethischer Natur war, ist sie d; ch durch die gleiche zutiefst unsittliche Maßlosigkeit und Mißachtung der Grundgesetze menschlichen Lebens geweckt worden, die auch die Anweisungen an die Einsatzgruppen diktiert hatte. Jedenfalls förderte das Zusammentreffen des militärischen Gegensatzes zu Hitler mit der Ablehnung des Diktators aus sittlichen-moralischen Motiven die „Disposition“ der Generale für antinationalsozialistische und gegen den „Führer“ gerichtete Pläne in einer Weise, daß die seit Beginn des Angriffs auf Rußland wieder nach Aktionsmöglichkeiten Umschau haltenden Widerstandsgruppen Hoffnung schöpften, die Armee werde sich ihnen endlich, endlich doch zur Verfügung stellen.
Schon Ende Juli 1941 glaubte die Berliner Oppositionsgruppe um Beck, Hassell, Popitz usw.den Versuch wagen zu können, die Generale neuerdings zu sondieren; den seit der französischen Kapitulation unsubstantiierten Staatsstreichplänen sollte wieder eine militärische Basis und damit eine reale Erfolgschance zu verschaffen sein, so hoffte sie
In Berlin war es relativ einfach, wenigstens für Personen, die entsprechende Positionen einnahmen oder eingenommen hatten, sich ein klares Bild der Gesamtlage zu verschaffen und sich den Blick vom Vormarsch der deutschen Heere nicht trüben zu lassen. Die psychologischeVerfassung der „Kesselschlachten" schlagenden und gewinnenden Generale in Rußland mußte notwendig anders sein: wirtschaftliche Sorgen brannten noch nicht auf den Nägeln, der englische Gegner, seine Kriegs-schauplätze wie seine möglichen Verbündeten, war fern, was vor Augen lag, war der eigene Erfolg. Von beiden Seiten — in Berlin und im Osten — sind diese differierenden inneren Ausgangspunkte nicht immer voll verstanden worden. Während sich die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen mit dem OKH und Hitler noch darüber unterhielten, bzw. stritten, ob sie Moskau nehmen oder aber die Ölfelder von Maikop erobern sollten — und an eine Niederlage Deutschlands entweder gar nicht oder doch nur, wie Feldmarschall v. Bock, in seltenen Augenblicken dachten —, waren Hassell, Oster, Dohnanyi und General Olbricht in Berlin bereits überzeugt, daß die Siegeschancen längst verpaßt seien und auch die Möglichkeiten für noch annehmbare Friedens-bedingungen mehr und mehr dahinschwanden
Als dann Thomas Ende August/Anfang September 1941 die Heeresgruppen besuchen konnte, zeigte es sich, daß der Versuch, die Generale zu aktivieren, in der Tat noch verfrüht war. Thomas hatte zwar bei den Stäben der Heeresgruppen Mitte und Süd eine gute Aufnahme gefunden, doch von den Stabschefs lediglich General v. Greiffenberg, den Chef Bocks, persönlich sprechen können und keine konkreten Ergebnisse nach Berlin mitgebracht
Freilich ergab das Gespräch zwischen Schlabrendorff und Hassell, daß die Soldaten nicht nur von allen schon genannten Bedenken, sondern noc von einer weiteren Sorge verfolgt wurden, die 1941 in der Tat drückender auf den Gemütern der Opposition lastete, als etwa vor dem Beginn der Offensive gegen Frankreich: die Sorge nämlich, ob ein von 'Ltler befreites Deutschland noch einen annehmbaren Frieden erreichen könne. Eine Frage, die auch die vor wenigen Wochen so siegesgewissen Soldaten zu bedrängen begann, seit das Zusammenwirken militärischer 1 moralischer Differenzen zwischen Hitler und den Generalen eine große Vertrauenskrise vorbereitete. Die Erkenntnis des wahren Wesens Hitlers schärfte den Blick für die Gesamtsituation Deutschlands und rief erstmals wieder ins Bewußtsein, daß die militärische Kraft der Gegner Deutschlands es diesen ohne weiteres erlaubte, auf einen Verständigungsfrieden zu verzichten und ihre politischen Pläne auf die deutsche Niederlage zu gründen. Audi eine Regierung der oppositionellen Kräfte konnte England und Frankreich nicht zwingen, Deutschland einen raschen und vernünftigen Frieden zu geben. Nach außen aber und in den Augen des Volkes schien die deutsche Position nicht nur noch gut, sondern geradezu glänzend zu sein.
Damit tauchte zwangsläufig das Problem auf, einen Weg zu find die Entstehung einer neuen Dolchstoßlegende zu verhindern — von dem natürlichen Wunsch der Soldaten, Deutschlands Stellung in Europa nicht zu schwächen, einmal abgesehen. Jeden General, der zu jener Zeit Putschplänen nähertrat, mußte der Gedanke beklemmen, sich dem Vorwurf des deutschen Volkes auszusetzen, man habe Hitler „um den zum Greifen nahen Sieg gebracht“
Andererseits wuchs offenbar doch die Bereitschaft, ohne Rücksicht auf militärische Lage und politische Folgen zu handeln. Hatte ein Offizier erst einmal den Blick von seinen unmittelbaren fachlichen Problemen gehoben und das Ganze ins Auge gefaßt, so konnte ihm bald nicht mehr zweifelhaft sein, daß es für Staat und Volk noch Schlimmeres gab als einen verlorenen Krieg. Etwas einfacher ausgedrückt: Hassell beobachtete im Herbst 1941 eine „langsam zunehmende Disposition'bei der militärischen Führung, diese ganz schandbare Schweinerei nicht mehr mitzumachen“
Im Oktober besuchten sowohl Falkenhausen wie Thomas den Ober-befehlshaber des Heeres, und Brauchitsch erwies sich als überraschend zugänglich. In erstaunlich offenen Gesprächen, wie sie bei Brauchitsch seit längerer Zeit nicht mehr möglich gewesen waren, ging der Feldmarschall auf die Gedankengänge der beiden Generale ein und gab deutlich zu verstehen, daß er wohl sehe, „welche Schweinerei herrsche“.
Ja, er ging sogar so weit, zuzugeben, daß er sich in gewisser Weise mitverantwortlich fühle
In den folgenden Wochen gewann allerdings selbst der sonst so skeptische Hassell den Eindruck, daß die Opposition mit Brauchitsch bald werde rechnen können
Auch Tresckow nutzte die spürbare Veränderung des Klimas zu einem neuen Versuch, Bock der Opposition zu gewinnen, nachdem er, wie bereits erwähnt, die Hoffnung auf den Erfolg solcher Aktionen eigentlich schon vor Beginn des Feldzugs aufgegeben gehabt hatte. In einem langen Vortrag legte er Bock seine Beurteilung der Lage dar und die Gründe seiner Überzeugung, daß Hitler an allem bisher Geschehenen die Schuld trage und Deutschland ins Unglück stürzen werde. Tresckow konnte seinen Vortrag jedoch nicht beenden. Bock fuhr auf und schrie: „Idi dulde iiidit, daß der Führer angegriffen wird! Ich werde mich vor den Führer stellen und ihn gegen jedermann verteidigen, der ihn anzugreifen wagt.“
Ob Bock tatsächlich empört war oder nur seinen Mangel an politischer Courage hinter Empörung verbergen wollte, ist letzten Endes unwesentlich. Die Heeresgruppe Mitte fiel allerdings durch Bocks Haltung als mögliches Aktionszentrum zunächst aus. Tresckow allein war nicht in der Lage, von Borissow oder Smolensk aus zu putschen. Er konnte vorläufig im Grunde nicht mehr tun, als alle anderen Oppositionellen auch: nämlich mit Gleichgesinnten in Verbindung bleiben und warten.
Die einzige Hoffnung blieb Brauchitsch. Das allein zeigt, wie schwach die Basis des Widerstands damals noch war. Der Abscheu vor der Amoralität des Systems und die Ablehnung der politisch-militärischen Zielsetzung des Diktators hatten zwar in der Armee eine überall spürbare Mißstimmung hervorgerufen — eine „Disposition“ zu kritischen Gedanken —, aber nicht ausgereicht, eine breitere oppositionelle Bewegung ins Leben zu rufen. Schon gar nicht eine Bewegung, die zu einer allem soldatischen Herkommen widersprechenden Aktion bereit gewesen wäre. Zu fest saßen die Klammern des Gehorsams, zu tief wurzelte die Über-zeugung, daß der Soldat seine Pflicht, d. h.seinen militärischen Dienst zu tun habe und der Politik fernbleiben müsse. Gewiß, öfter traf man Soldaten, die erkannt hatten, daß Hitler Deutschland und auch die deutsche Armee in eine mit den überkommenen Begriffen und Verhältnissen nicht mehr recht zu meisternde Situation geführt hatte. Aber noch gab es wenig Offiziere, die daraus den Schluß zogen, daß unter diesen Umständen Pflicht nicht mehr Erfüllung des Dienstes, sondern Rechtfertigung des Dienstes hieß, daß der Armee jetzt die Aufgabe gestellt war, das zerstörte tiefere sittliche Fundament der Pflicht neu zu legen. Daher konnte die zivile Opposition in der Tat nur mehr auf eine Aktion der Spitze des Heeres setzen. Aber auch Brauchitsch fand, wie nach seinem bisherigen Verhalten auch nicht anders zu erwarten war, den Absprung nicht. Jedenfalls nicht rechtzeitig; denn kurz nach dem Beginn der schweren Winterkrise, am 19. Dezember 1941, mußte er gehen und an seine Stelle trat Hitler selbst. Die „politische Nemesis“ hatte den Feldmarschall erreicht.
Für die Widerstandsgruppe in Berlin war der Abgang Brauchitschs dennoch ein harter Schlag. Alle Pläne und Gespräche, die zu ihrer Realisierung einer im Augenblick zumindest nicht unmöglich scheinenden Aktion des Feldmarschalls bedurften, waren „zunächst gegenstandslos“
geworden, und Hassell bemerkte verzweifelt: „Die Arbeit von vielen Monaten ist zunichte gemacht. . . .“
Als Hassell, der dem Vorhaben keine sonderlichen Chancen gab und sich über den Optimismus seiner Freunde höchlichst verwunderte
Die Winterkrise an der Ostfront zeigte aber — was ihre Wirkung auf die Widerstandsbewegung anbelangt — ein doppeltes Gesicht. Während einerseits nicht allein Brauchitsch ausfiel, Bock abgelöst und Hoepner, auch eine Hoffnung der Opposition, gemaßregelt wurde, sondern die Generalität des Ostheeres überhaupt — mit Ausnahmen — von der dämonischen Energie Hitlers tief beeindruckt war und dessen Rezept zur Abwendung des Zusammenbruchs der Front („Festhalten um jeden Preis“) allmählich als richtig ansah
Schon Hitlers Befehl, unter keinen Umständen einen Fußbreit Boden freiwillig aufzugeben, war keineswegs unbestritten; tieferblickende Offiziere ahnten bereits, daß dies: „geistlose“
Das „einbrechende Strafgericht“
Die Ansicht vieler Offiziere, Hitler habe mit seinen Befehlen wieder einmal recht behalten, gewann daher auf das Verhältnis zwischen Hitler und Armee nur vorübergehend Einfluß. Da freilich die Wirkung solcher Faktoren nicht bei allen Soldaten im gleichen Rhythmus zunahm bzw. nachließ, befand sich allmählich jeder Offizier in einer besonderen, nur ihm eigenen politischen Bewußtseinslage — was lediglich die durch den Kampf bedingte Kameradschaft vordersten Linie verschleierte
III. Von der Winterkrise zum Attentatsversuch der Heeresgruppe Mitte
Audi jetzt wirkte sich der Mangel an wirklicher Übereinstimmung zwischen dem „Führer“ und seinem Heer nicht sofort aus Die Erschöpfung der Armee nach den ungeheuren physischen und psychischen Anstrengungen der Wintermonate stand einer innerpolitischen Aktivität zunächst entgegen. Lind kaum waren die Kräfte notdürftig regeneriert, da machte sich bereits die Beanspruchung durch neue militärische Operationen geltend: im Süden lief die letzte erfolgreiche deutsche Offensive an, und im Mittelabschnitt wie an der Nordfront begann die Zeit endloser Defensivschlachten. Doch wurde der durch die Winterkrise ausgelöste Prozeß nur mehr verlangsamt, nicht aber aufgehoben. Hitlers Siege hatten ihre psychologische Bannkraft weitgehend verloren, zumal sich die Offiziere keinen Illusionen darüber hingaben, daß der Vormarsch zur Wolga und zum Kaukasus zwar Raumgewinn brachte, die russische Armee jedoch alles andere als geschlagen war: auch war ihnen klar, daß der Preis, den die vorläufig erfolgreiche Defensive der Heeresgruppen Mitte und Nord ununterbrochen forderte, das deutsche Kräftepotential eines Tages aufgezehrt haben mußte. Während Hitler scheinbar auf dem Gipfel seiner Macht stand und, wie seine „Tischgespräche“ belegen, im sicheren Gefühl, bereits gesiegt zu haben, Zukunftsplänen nachhing, sammelten sich langsam die Gegenkräfte; nicht nur außerhalb der „Festung Europa“, sondern gerade im Zentrum des Hitlerschen Herrschaftsbereichs. Ende März 1942 notierte Hassell: „Beck als Zentrale konstituiert.“
Tresckow hatte seinen Stab seit langem planmäßig zu einem potentiellen Putschinstrument ausgebaut. Er sammelte einen Kreis von Offizieren um sich, die aus eigenem Antrieb und beherrscht von der eindrucksvollen, ja als souveräner Mittelpunkt wirkenden Gestalt des I a der Heeresgruppe entschlossen waren, die erste sich bietende Gelegenheit zum Sturz Hitlers zu nutzen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Tresckow schon vor dem Beginn des Angriffs auf Rußland angefangen hat, zuverlässige, d. h. im Sinne der Opposition zuverlässige Soldaten dem Stab der Heeresgruppe zu gewinnen
Während des Vormarsches im Sommer und Herbst 1941 konnten diese Vorarbeiten zum Staatsstreich — und das waren sie ohne Frage
Tresckow beschränkte sich während dieser Monate auf Versuche, Bock gegen die übelsten Erscheinungen des Regimes zu aktivieren, und darauf, seine Autorität über die Stabsangehörigen zu festigen: denen, die zwar nicht im Banne Hitlers standen, aber der allgemeinen inneren wie äußeren Lage Deutschlands noch nicht genügend Aufmerksamkeit widmeten, brachte er das volle Verständnis der Situation nahe. In langen Gesprächen — unter vier Augen oder auch in etwas größerem Kreise — wurde über Hitler, den Nationalsozialismus und die militärische Entwicklung diskutiert und zu den Vorgängen im Hinterland der Heeresgruppe (Erschießungen, Gefangenenbehandlung usw.) Stellung genommen
Im September oder Oktober 1941 trat Tresckow dann erstmals durch Schlabrendorff mit festen Angeboten an die Berliner Zentrale der Opposition heran
Kluge, einer der fähigsten deutschen Generale, ein Mann der Improvisation und der genialen „Aushilfen“, „stand den Gedankengängen des Kreises um Tresckow näher“, wie Schlabrendorff das bezeichnete
Freilich stand das nicht von Anfang an fest, und Tresckow begab sich vorerst unverdrossen ans Werk, den Feldmarschall „aufzuziehen“, auf daß er richtig liefe
Das Ringen um den Feldmarschall erreichte einen ersten Höhepunkt im Herbst 1942. Tresckow holte sich Bundesgenossen. Schlabrendorff, der durch zahlreiche Reisen nach Berlin die Verbindung zu der Gruppe Beck/Oster/Hassel aufrechthielt, lud das wohl aktivste Mitglied der zivilen Opposition, Goerdeler, ein, nach Smolensk zu kommen und mit Kluge zu sprechen. Goerdeler sagte sofort zu
Wenn auch Kluge wieder schwankend geworden zu sein scheint, kaum daß Goerdeler ihm den Rücken gedreht hatte, so war doch der Boden nun gelockert
Wie Schlabrendorff schrieb, kannten sie die Stimmung großer Teile der Armee — Mannschaften wie Offiziere — zu gut, um die bei einer Gefangennahme Hitlers ohne weiteres möglichen, ja wahrscheinlichen Gegenmaßnahmen riskieren zu wollen
Die Offiziere des Stabes der Heeresgruppe Mitte sind lange und gründlich über die Frage mit sich zu Rate gegangen; auch über ihre eigene Stellung zum Eid haben viele Gespräche zwischen ihnen stattgefunden. Das Ergebnis solcher Überlegungen konnte nicht zweifelhaft sein. Tresckow, der tief religiös war, hatte sich zu der Auffassung durch-gerungen, Hitler habe seinerseits den Eid, der ja stets eine wechselseitige Verpflichtung darstellt, tausendfach gebrochen und das deutsche Volk so oft belogen, daß ein ihm geleisteter Eid keine Gültigkeit mehr haben könne
Lange vor dem Fall Stalingrads stand im Jahr 1942 bei Tresckow und seinen Freunden der Entschluß zum Attentat, zur „Initialzündung fest
Ob die politischen und militärischen Vorbereitungen in Berlin zu diesem Zeitpunkt oder einige Monate später schon -oweit gediehen waren, daß die zivile Gruppe um Goerdeler, Hassell, Popitz, Jessen u. a. und die militärische um Olbricht und Oster — Beck in der Mitte und darüber -Tresckow und seinen Offizieren mit ruhigem Gewissen sagen konnten: „Wir sind fertig. Die . Initialzündung'kann in Gang gesetzt werden“, darf man wohl bezweifeln, ohne dadurch das Andenken jener Männer zu verdunkeln
Die folgenden Ereignisse sind oft genug geschildert worden und brauchen an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden
Tresckows Ringen um Kluge, so lange ohne tiefere Wirkung, zeitigte endlich ein entscheidendes Ergebnis
Kluge: „Das kann ich nicht, dazu kann ich mich nicht durchringen.“
Tresckow antwortete ihm, den Feldmarschall erstmals mit dem Attentat konfrontierend: „Herr Feldmarschall, wir haben es bereits versucht. Der Mann, der da rechts neben ihnen geht, hat persönlich einen solchen Versuch gemacht.“
Kluge blieb stehen, griff Gersdorff beim Arm und sagte: „Gersdorff, was haben Sie getan? Wie können Sie so etwas machen?"
Gersdorff erwiderte: „Wir stehen auf dem Standpunkt, Herr Feldmarschall, daß das die einzige Lösung ist, um das Deutsche Reich und das deutsche Volk vor dem völligen Untergang zu retten.“
Tresckow hatte nicht falsch kalkuliert; Kluge sah die beiden Offiziere einen Augenblick lang an und rief dann: „Kinder, ihr habt mich!“
Der I a, der seinen Kluge sehr gut kannte, sagte: „Herr Feldmarschall, jetzt dürfen Sie aber wirklich nicht mehr zurüdt!"
Etwa zur selben Zeit wurde Graf Stauffenberg aus dem Lazarett entlassen und kam nach Berlin
G. F. Hudson: „Chruschy’s Komet"
Günther Nollau:
„Organisation und Arbeitsweise der Komintern"
Percy Ernst Schramm:
„Polen in der Geschichte Europas"
Reinhard Wittram: „Geschichte als Fortschritt"