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Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion | APuZ 22/1958 | bpb.de

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APuZ 22/1958 Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion

Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion

MARGARETE B U B E R -N E U M A N N

Vorwort

Das Beispiel Ungarns, aber auch die Vorgänge in Polen sind sehr geeignet, uns wieder einmal ins Gedächtnis zu rufen, in wie verheerendem Ausmaß die Führungen — und zum Teil auch die große Masse der Mitglieder — der internationalen kommunistischen Parteien im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte dezimiert worden ist. Wie furchtbar Stalin auch dem deutschen Kommunismus mitspielte, das werden die folgenden Ausführungen schildern. Daß Stalins Nachfolger sich wenig von ihrem Lehren unterscheiden, obwohl sie ihm vorübergehend verdammten, das zeigt nicht nur das brutale Einschreiten der Sowjets in Ungarn, es erweist sich tagtäglich an den Zuständen in der Sowjetzone und den übrigen Satellitenstaaten der Sowjetunion.

Sowohl unter den ungarischen Aufständischen, die zu Tausenden für die Freiheit kämpften und starben, als auch unter denjenigen, die man t zahlreiche Mitglieder der Kommunistischen Partei Lingams Auch der auf hinterhältige Weise entführte Ministerpräsident Imre Nagy war schließlich ein Kommunist. Ungarische Kommunisten waren also unter denen, die im Feuer sowjetischer Panzerdivisionen umkamen, und unter denen, die in Sibirien verfaulen werden. Ihr Schicksal ist entsetzlich, aber es ist doch nicht zu vergleichen mit der Tragödie, der Abertausende ihrer Genossen in den Dreißiger Jahren in der Sowjetunion zum Opfer fielen. Sie, die ungarischen Kommunisten, haben wenigstens gegen ihre Henker kämpfen dürfen. Sie sind für eine gerechte Sache gefallen oder deportiert worden. Die damaligen Opfer der kommunistischen Diktatur hatten nicht einmal gekämpft. Im Gegenteil, sie waren zumeist noch in dem Augenblick, als sie nachts von der NKWD aus ihren Betten geholt wurden, gläubige Kommunisten. Lind waren sie es nicht mehr, so hatten sie doch lediglich resigniert, aber kaum einem gingen. einzigen von ihnen wäre es eingefallen, gegen das kommunistische Regime kämpferischen Widerstand zu leisten. Kampflos wurden sie zur Schlachtbank geführt. Kampflos wurden sie niedergeknallt oder nach Sibirien verschickt, wo die meisten von ihnen bald elend zugrunde Unter diesen Opfern der Großen Säuberung befanden sich auch Tausende deutscher Kommunisten. Über ihr Schicksal wurde bis heute nur wenig bekannt. Während der Nazizeit und während des Krieges drangen genauere Berichte nur selten über die deutschen Grenzen. Nach dem Kriege taten die westdeutschen Kommunisten und ihre Sympathisanten alles, um die Verbrechen der dreißiger Jahre totzuschweigen. Sie boten gegen die wenigen, die Sibirien entrinnen und mit ihren persönlichen Erfahrungen die blutige Wahrheit der Großen Säuberung dokumentieren konnten, den ganzen kommunistischen Propagandaapparat auf, um diese Zeugnisse zu Lügen zu stempeln. Vollen Erfolg hatte diese Taktik allerdings nicht. Auch gegen ihren Willen blieb nicht verborgen, was sich seit Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion abgespielt hatte und was sich in ihrem gesamten Machtbereich immer noch abspielt. Aber die freie Welt hörte, von kleinen politisch interessierten Kreisen abgesehen, nicht besonders gern von diesen Dingen. Man brachte dem Schicksal westlicher Kommunisten in der Sowjetunion wenn nicht Ablehnung, so doch sehr häufig kühle Gleichgültigkeit entgegen. Was interessierte einen schon der LIntergang „verratener Verräter“? Sollten die Kommunisten sich nur ruhig gegenseitig zerfleischen!

Lind dann kam die Zeit des Geistes von Genf, die Zeit der lächelnden Koexistenz. Jeder Hinweis auf die Unmenschlichkeit des sowjetischen Regimes wurde als „Friedensstörung“ empfunden und sogar gebrandmarkt. Die Warner sahen sich immer mehr in Vereinzelung gedrängt. Ihre Enthüllungen vertrugen sich nicht mit dem neuen „Geiste der Verständigung". Erst die ungarische Katastrophe hat große Teile der westlichen Welt aus ihrem Verständigungstaumel gerissen. Auf einmal wurde es wieder vielen klar, was anderen schon seit eh und je klar gewesen war, nämlich, daß die Nachfolger Stalins um keinen Deut besser sind als ihr Vorgänger und Lehrmeister Joseph Wissarionowitsch Stalin. Mord und Terror gehören nun einmal zur sowjetischen Wirklichkeit. So war es vor zwanzig Jahren. So ist es noch heute.

Die kommunistische Bewegung ist ihrem Ursprung nach eine revolutionäre Bewegung. Sie ist, wie alle revolutionären Bewegungen, ihrem Programm nach radikal. Das Kapital, von dem eine revolutionäre Bewegung zehrt, ist die Hingabe und Begeisterung ihrer Anhänger. Diese Hingabe ist der Motor, der sie bewegt. So war es auch in der KPD in den ersten Jahren ihres Bestehens. Nicht die Schlechtesten setzten sich mit ihrer ganzen Kraft für die Sache ein, die sie für die gerechte hielten. Das Beispiel Sowjetrußlands schien ihnen ein großes, ein verehrungswürdiges Beispiel. Sie waren aus vollem Herzen gläubig. Wenn ihnen Zweifel aufstiegen, unterdrückten sie sie. Es ging schließlich um die Sache des Sozialismus. Mit der Zeit wurde der Führungsanspruch der KPdSLI in der Komintern immer drückender. Selbst die Gutgläubigen konnten diese Entwicklung nicht mehr ignorieren. Aber trotzdem sagten sich nur wenige von der Partei los. Stalin und die Seinen nannten es Disziplin und forderten sie als selbstverständlich von allen Mitgliedern der kommunistischen Parteien. In Wirklichkeit war dieses Dulden und Sichfügen bei den meisten Kommunisten Anhänglichkeit und Hingate an die Sache des Sozialismus. Es war ein freiwillig gebrachtes Opfer, das ihnen allerdings übel gedankt worden ist. Der Außenstehende mag füt diese Gläubigkeit kein Verständnis haben, und aus der Perspektive jahrzehntelanger bitterer Erfahrung gesehen ist sie wahrhaft nur schwer erklärlich. Aber sie existierte. Aus ihr zog die kommunistische Bewegung ihre Kraft. Schon früh erhielten die kommunistischen Parteien der Internationale ihren von Moskau aus dirigierten bürokratischen Über-bau. Aber diese Parteibürokratie wurde getragen von dem persönlichen Einsatz der Mitglieder, den sie ihrerseits lenkte und den Interessen Moskaus entsprechend ausnutzte.

Schon Anfang der dreißiger Jahre waren zahlreiche Kommunisten in die Sowjetunion gegangen, viele von ihnen einfache Arbeiter, die ihre Kraft dem sozialistischen Aufbau zur Verfügung stellen wollten. Denn für jeden Kommunisten galt die Sowjetunion als das große Ideal, das gewaltige Experiment, der erste Staat einer neuen, sozialistischen Welt. Ich erinnere mich daran, wie im Jahre 1929 der rumänische Dichter Panait Istrati, ernüchtert und tief enttäuscht aus der Sowjetunion zurückgekehrt, uns in Berlin über die Zustände in Rußland berichtete Aber haben wir ihm etwa geglaubt? Nein, wir hielten ihn für einen Konterrevolutionär und wollten seine Warnung nicht hören. Wir ließen nicht an unserem blinden Glauben rütteln. Unser Paradies hieß Sowjetrußland. Dorthin reisen zu dürfen, war für jeden echten Kommunisten das große Ziel. Und wenn er es erreichte, in die UdSSR zur Arbeit geschickt zu werden, so ging er voller Begeisterung und Opferfreudigkeit, nicht ahnend, daß er in seinen Untergang ging.

Dann kam das Jahr 193 3 und mit ihm für viele Kommunisten die Flucht aus Deutschland. Wievielen mag es wohl bereits damals bewußt geworden sein, daß Stalin am Zusammenbruch der Weimarer Republik und an der Machtergreifung der Nazis sein gerütteltes Maß Schuld trug? Sicher nur wenigen, und wenn sie es erkannt hatten, dann versuchten sie auch dieses noch zu entschuldigen. Wohl jeder kommunistische Emigrant wünschte, wenn irgend möglich, nach Sowjetrußland zu kommen. Welcher andere Staat als das „Vaterland des Weltproletariats“ hätte ihm besseres politisches Asyl gewähren können? War es nicht weniger eine Emigration als eine Heimkehr? Hatten sie nicht ihr ganzes Leben dem Sieg des Kommunismus geweiht? Zu Hunderten emigrierten damals deutsche Kommunisten in die Sowjetunion. Wieviele von ihnen haben überlebt? Und wenn sie überlebt haben, unter welchen Opfern? Die lückenlose Geschichte des Unterganges so vieler von ihnen wird wohl niemals geschrieben werden können. Ihre Wege verlieren sich zumeist im Dunkel, in den Zellen der Untersuchungsgefängnisse, in den Kerkern der Isolatoren und in den Zwangsarbeitslagern Sibiriens. Nur bei einer verhältnismäßig geringen Anzahl wissen wir, was aus ihnen geworden ist.

Die deutschen Kommunisten, die in der Sowjetunion zugrunde gingen, gehörten allen Schichten der Partei an, vom höchsten Funktionär bis zum einfachen Parteimitglied. Für sie alle können hier nur einige Schicksale beispielhaft aufgezeigt werden, Heinz Neumann, das ehemalige Mitglied des Politbüros der KPD, Willi Münzenberg, der Propagandist und große Organisator, Leo Flieg, die „graue Eminenz" der deutschen Parteiführung, Max Hölz, der Rebell aus Mitteldeutschland, der Maler Heinrich Vogeler als Vertreter der kommunistischen Künstler und Intellektuellen, und schließlich, für die vielen Namenlosen, zwei einfache Menschen, die Lederarbeiterin Aenne Krüger, die in meinem Buch „Als Gefangene bei Stalin und Hitler" unter ihrem Parteinamen Grete Sonntag eine Rolle spielt, und der Arbeiter Erich Schmidt, der zwar wie ich von der NKWD an die Gestapo ausgeliefert wurde und die Nazizeit überlebte, der aber letzten Endes an den Folgen der Behandlung starb, die er in Sowjetrußland erdulden mußte.

Heinz Neumann

Beginnen wir mit dem Schicksal Heinz Neumanns. Es ist nicht nur bekannter geworden als das vieler anderer deutscher Kommunisten in der Sowjetunion, sondern es ist auch besonders typisch. Neumanns Schicksal unterscheidet sich dadurch von dem der anderen deutschen Kommunisten, die ich in der Folge wiedergeben werde, als seinem Zerwürfnis mit Stalin und der Komintern ein echter Konflikt zugrunde lag. Das kann auch bei Leo Flieg, dem „großen Schweiger", der, wie ich später berichten werde, offenen Auges in sein Verderben ging, nicht gesagt werden. Schon gar nicht bei Max Hölz, dessen Fähigkeit, politische Zusammenhänge zu sehen, ziemlich gering war, sowie bei Heinrich Vogeler, der ein Idealist, aber keineswegs ein praktischer Politiker war, und noch viel weniger bei den zwei Arbeitern, deren politische Aktivität sich auf die des einfachen Parteimitglieds beschränkte.

Heinz Neumanns politische Rolle im Deutschland der Weimarer Republik und innerhalb der KPD jener Jahre ist umstritten. Die Beurteilung seiner Persönlichkeit schwankt zwischen schärfster Kritik und rückhaltloser Bewunderung. Das deutet schon auf zwei Dinge hin, die auch wirklich entscheidend sind für die Beurteilung seines Charakters: erstens auf eine ausgesprochene Zwiespältigkeit seines Wesens, die es schwer machte, ein einheitliches Urteil über ihn zu fällen, und zweitens auf eine ausgesprochene Farbigkeit und Augenfälligkeit in allem, was er tat und sagte. Seine Gestalt sprang so sehr ins Auge, daß man ihm häufig Dinge zuschrieb, mit denen er in Wirklichkeit nicht das geringste zu tun hatte. Bei alledem spielte seine große Jugend eine geringe Rolle. Wenn man bedenkt, daß Neumann im Jahre 1902 geboren wurde, d. h. daß er auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere ein junger Mann in den Zwanzigern war, und daß diese Laufbahn ihr jähes Ende fand, als er eben 30 Jahre alt geworden war. Der 35jährige verschwand dann für immer in den Torenhäusern des NKWD

Alles in Heinz Neumanns Entwicklung geschah frühzeitig, aber schon als Kind zeigten sich Zwiespältigkeiten in seinem Wesen, die ihm später zum Teil verhängnisvoll werden sollten. Einer seiner hervorstechenden Charakterzüge, ein unstillbarer Drang nach Aktivität, kennzeichnet ihn schon in der frühen Jugend. Dieses heftige Temperament bringt ihn bald in Gegensatz zum bürgerlich-friedlichen Elternhause.

Eine sozialistische Note erhielt dieser Gegensatz aber erst als Heinz Neumann Philologiestudent an der Berliner Universität geworden war. Neumann gehörte nicht zur Generation der Revolutionsteilnehmer von 1918. Dazu war er zu jung. Aber er besaß revolutionäres Temperament. Es ist ihm später oft vorgeworfen worden, er sei nichts anderes als ein berechnender Einpeitscher der Stalinschen Politik in der deutschen KP gewesen, ein Urteil, das in krassem Gegensatz stand zu der Auffassung vieler Arbeiter, aber auch zahlreicher Funktionäre, die gerade in ihm, zu einer Zeit, als die KPD immer mehr zu erstarren begann, einen Vertreter der revolutionären Politik innerhalb der Partei sahen. Wie er alles, was er anpackte, mit Elan in Angriff nahm, so widmete er sich auch, nachdem er als 17jähriger auf der Universität zum ersten Mal in Berührung mit dem Kommunismus gekommen war, der kommunistischen Sache, von der er überzeugt war, daß sie einst mächtig genug sein werde, die Zukunft entscheidend und zum Segen für die Menschheit zu verändern. Ein Irrtum, dem damals sehr viele Gutwillige verfallen waren.

Der junge Neumann wurde von Ernst Reuter-Friedland, dem unvergessenen Berliner Oberbürgermeister nach 1945, der 1920 Politischer Leiter der KPD für Berlin-Brandenburg war, in die Kommunistische Partei ausgenommen. Hier wurde bald August Thalheimer, ein Mitglied des ZK und einer der führenden Kommunisten jener Jahre, auf Heinz Neumann aufmerksam. Thalheimer erkannte seine ausgezeichneten Fähigkeiten. Er nahm ihn daher 1922 als Begleiter bei der Reise einer deutschen Parteidelegation nach Sowjetrußland mit. Als die Delegation in Njegoreloje, der polnisch-russischen Grenzstation, von Kalinin mit einer Rede begrüßt wurde, stellte sich heraus, daß der junge Neumann das einzige Delegationsmitglied war, das genügend Russisch konnte, um auf diese Rede zu antworten. Er hatte es kurz zuvor während eines halbjährigen Gefängnisaufenthaltes wegen illegaler Parteiarbeit aus freien Stücken gelernt. Sein großes Interesse an Sprachen sollte ihm auch in Zukunft noch oft nützlich werden. Während der Reise des Jahres 192 2 avancierte Neumann jedenfalls zum Dolmetscher der Delegation, und es konnte nicht ausbleiben, daß die führenden Leute der Komintern in Moskau auf diesen vielversprechenden jungen Genossen aus Deutschland aufmerksam wurden. Bereits von dieser ersten Reise an datiert die enge Beziehung zu einer ganzen Zahl sowjetrussischer Funktionäre in der Komintern, die ihm später so oft vorgeworfen werden sollte.

Inszenierung des Kantoner Aufstandes Nach einem kurzen, wenig ruhmreichen Zwischenspiel im militärischen Zersetzungsapparat der KPD, eine Rolle, die dem unvorsichtigen Naturell Neumanns wenig lag, sehen wir ihn 192 3 als Politischen Sekretär in Mecklenburg. Aber sein eigentlicher Aufstieg begann erst mit der Aera Ruth Fischer-Arkadij Maslow in der KPD, in den Jahren 1924/25. Dieser Aufstieg verlief jedoch keineswegs gleichmäßig. Er führte zu Höhepunkten und tiefen Abstürzen. Einer der umstrittensten Höhepunkte dieser Laufbahn dürfte wohl der Auftrag gewesen sein, den Neumann im Herbst 1927 von Stalin erhielt. Was sich im Zusammenhang mit diesem Auftrag begab, hat nicht nur mehr als alles andere dazu beigetragen, Neumanns Ruf zu schaden, es zeigt auch mit besonderer Deutlichkeit, wie hinterhältig und gewissenlos Stalin sein konnte, wenn es ihm darum ging, seine persönliche Politik durchzusetzen. Neu-mann wurde, zusammen mit seinem Freund Besso Lominadse, einem nur um wenige Jahre älteren georgischen Bolschewiken, einem ehemaligen leitenden Funktionär der Kommunistischen Jugendinternationale, nach Kanton geschickt, um dort einen Aufstand vorzubereiten. Das furchtbare Resultat dieses Auftrages ging als Kantoner Aufstand in die Geschichte ein. Die chinesische Revolution hatte die kommunistische Bewegung Chinas ungeheure Opfer gekostet, ohne daß bis dahin nennenswerte Ergebnisse für den Kommunismus zu verzeichnen gewesen wären. Sie war eine bürgerliche Revolution, getragen von der Kuomintang, der Nationalpartei des bürgerlichen Revolutionärs Sun Yat Sen. Die Sowjetunion hatte, nachdem die Westmächte eine Unterstützung der Kuomintang abgelehnt hatten, im Jahre 192 3 Michael Borodin, den späteren Marschall Blücher und andere Experten als Berater zur Kuomintang entsandt. Die chinesischen Kommunisten unterstützten auf Weisung Moskaus die Nationalpartei und verzichteten auf eigene Aktionen. Das ging einigermaßen gut, solange Sun Yat Sen lebte, aber nach dem Tode des Staatsgründers wurde dessen Schwager, der General Tschiang Kai-schek, der einflußreichste Mann der chinesischen Republik. Unter Tschiang Kai-schek stellte es sich bald heraus, daß die Kuomintang nicht gewillt war, die Kommunisten am Genuß der Früchte der Revolution teilhaben zu lassen. Die letzten Zweifel daran wurden Anfang 1927 nach dem Staatsstreich Tschiangs in Schanghai beseitigt. Moskaus, d. h. Stalins, Chinapolitik war gescheitert. Die kommunistischen Arbeiter Chinas hatten nutzlos verbluten müssen. Aber Stalin zog daraus noch immer keine Konsequenzen. Er vollzog keine Schwenkung, sondern klammerte sich weiter an die Kuomintang. Aber die Chinapolitik war inzwischen in der Sowjetunion zu einem innenpolitischen Faktor erster Ordnung geworden, denn neben der Agrarpolitik war sie es vor allen Dingen, die der trotzkistischen Opposition als Argument in ihrem Kampf gegen den Diktator diente. Und da das Versagen Stalins in China mehr als offensichtlich war, konnte ihm dieses Argument gefährlich werden. Nun nahte der Herbst 1927 und damit der XV. Parteitag der KPdSU. Dieser Parteitag war von Stalin dazu ausersehen, mit der trotzkistischen Opposition ein für allemal abzurechnen. Es galt also auch, die Chinafrage in seinem Sinne zu bereinigen. Aus diesem Grunde nahm er seine Zuflucht zu einer Katastrophenpolitik von einer Leichtfertigkeit, wie sie im Laufe der Geschichte nur selten vorgekommen ist. Um die Richtigkeit seiner politischen Linie in China zu beweisen, plante er einen Theatercoup, dessen verheerendes Resultat ihm von vornherein klar gewesen sein muß. Die Kommunisten sollten in Kanton, wo sie am stärksten vertreten waren, einen Volksaufstand entfesseln. Stalin mußte wissen, daß die Kräfte der Kommunisten selbst in Kanton niemals dazu ausreichen würden. Er kannte die überwältigende Macht, die ihnen entgegenstand. Er wußte genau, daß in Kanton ein Blutvergießen von grausiger Sinnlosigkeit stattfinden würde. Trotzdem beauftragte er zwei junge Menschen, einen Fünfundzwanzigjährigen und einen knapp Dreißigjährigen, damit, diese Wahnsinnstat durchzuführen. Aber er war ein schlauer Fuchs. Er selber hielt sich alle Hintertüren offen, um im Notfall die Verantwortung auf seine Beauftragten abwälzen zu können. Natürlich sahen sowohl Lominadse wie Neumann, die von der wahren Problematik in China nur wenig Ahnung hatten, die Situation durch die Brille ihrer kommunistischen Gläubigkeit und entstellten dementsprechend ihre Berichte nach Moskau. Aber als sie trotzdem noch einmal vor dem Losschlagen die Frage stellten, ob dieser Aufstand endgültig entfesselt werden sollte, da telegraphierte Stalin den charakteristischen Antwortsatz: „Handeln Sie so, wie Sie es verantworten können.“ Der Kantoner Aufstand nahm den Verlauf, der vorauszusehen war. Die Kommunisten verbluteten gegen eine vielfache Übermacht. Die Verantwortung allerdings wurde Lominadse und Neumann aufgebürdet, die sich in Moskau gegen heftige Angriffe zu wehren hatten, während Stalin keinen Finger für sie rührte. Neumanns Gegner gaben ihm fortan den schimpflichen Beinamen „Schlächter von Kanton“, ohne zu bedenken, daß der wahre Schuldige im Kreml saß und Joseph Wissarionowitsch Stalin hieß.

Bruch mit Stalin und der Komintern Allein die Erfahrungen des Kantoner Aufstandes hätten genügen müssen, um Neumann die Augen zu öffnen. Doch es hieße die wahre Natur kommunistischer Gläubigkeit verkennen, wollte man nicht einsehen, daß ein überzeugter Kommunist fähig ist, selbst Katastrophen solchen Ausmaßes in sein Konzept einzuordnen. Stalin errang auf dem XV. Parteitag der KPdSLI den ersehnten Sieg über die Opposition, und bald schien die Sonne seiner Gunst auch wieder für den nach Kanton vorübergehend in LIngnade gefallenen Neumann. Jetzt begann seine eigentliche politische Rolle in Deutschland. Zur Unterstützung Ernst Thälmanns nach Deutschland geschickt, wurde er zum Mitglied des Politbüros der KPD. Hier bereitete sich jedoch eine Entwicklung vor, die, was den politischen As'pekt angeht, zu einer Schwenkung der Kominternpolitik um 180 Grad, und was das Persönliche betrifft, zu einem endgültigen Bruch Neumanns mit seinem Gönner Stalin und der Komintern führen sollte. Die „Krise des Kapitalismus“, die vom Exekutivkomitee der Komintern schon 1 928, auf dem VI. Weltkongreß, vorausgesagt worden war, sollte angeblich in der Weimarer Republik eine „revolutionäre Situation“ herbeiführen. Aber noch im Laufe des Jahres 1929 zeigte es sich, daß von der Krise in erster Linie die national-sozialistischen und andere rechtsradikale Kräfte profitierten. Die auch schon vorher nicht gerechtfertigte Hoffnung auf einen revolutionären Sieg in Deutschland ging vollends verloren. Immer stärker mußte sich die politische Aktivität der deutschen Kommunisten auf die Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten konzentrieren. Hier war nun Heinz Neumann einer der kompromißlosesten Nazigegner. Er wäre im Jahre 1928, zu Beginn seiner Tätigkeit im Politbüro der KPD, überhaupt nicht auf den Gedanken gekommen, er könne jemals ausgerechnet durch seine unbedingte Ablehnung der Fachisten in Gegensatz zur Kominternpolitik geraten. Mit dem Problem der politischen Abweichungen von der Kominternlinie war er nur allzu sehr vertraut, auch kannte er den Begriff der Parteidisziplin zur Genüge, und wußte, daß es mit der persönlichen Meinungsfreiheit an der Spitze der Komintern nicht zum Besten bestellt war. Aber er, wie damals weitaus die Mehrzahl der Kommunisten, war davon überzeugt, daß diese Opfer an persönlicher Freiheit, dieser unerbittliche Zwang zur Disziplin einem guten Zwecke, nämlich der Errichtung des sozialistischen Paradieses auf Erden, dienten. Man bedenke, daß man die Jahre 1928/29 schrieb, daß es zu jener Zeit in der Sowjetunion zwar schon genug Beispiele von Eingerechtigkeit und Vergewaltigung gegeben hatte, daß aber die endgültige Herrschaft des Terrors, die Periode der Großen Säuberung, noch lange nicht angebrochen war. Niemals wäre Neumann der Einfall gekommen, Zwang und Unterdrückung im Namen der kommunistischen Idee etwa mit Zwang und Unterdrückung, wie sie von den Nazis angestrebt wurden. Für ihn war Adolf Hitler Feind Nr. 1 der Arbeiterklasse, und zwar der Arbeiterklasse insgesamt, nicht nur des Teiles, der sich in der KPD zusammengeschlossen hatte. Seine Abneigung gegen Hitler entsprang wesentlich seinem instinktiven Widerwillen gegen den militaristisch-völkischen Geist der Rechtsextremisten.

Neumann machte sich zum Wortführer im Kampf gegen den Faschismus und prägte u. a.des Schlagwort, das berühmt werden sollte: „Sdtlagt die Faschisten, wo ihr sie trefft!“ Denn Neumann hatte die Kampf-methoden seiner Gegner erkannt. Er wußte, daß brutalen Schlägern nur brutale Gewalt entgegengesetzt werden konnte. Aber er hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Stalin, der Spezialist für Gewaltherrschaft, sah die Dinge ganz anders. Nachdem sich herausgestellt hatte, welche Kräfteverschiebung die Wirtschaftskrise mit sich brachte, machte er sich an eine Neuorientierung der Kominternpolitik in Deutschland. Hemmungen weltanschaulicher Art kannte er nicht. Es kam ihm also nicht darauf an, mit denjenigen zu liebäugeln, die es jahrelang als eine ihrer Aufgaben betrachtet hatten, kommunistische Arbeiter totzuschlagen. Er dachte nicht daran, ernsthaft eine Aktionseinheit mit der Sozialdemokratie anzustreben, wenn dieses Schlagwort auch in den Auseinandersetzungen jener Jahre immer wieder auftauchte. Denn nichts fürchtete er mehr, als eine echte Vereinigung der deutschen Arbeiterklasse. Damals glaubte man nämlich, jedenfalls in Moskau, was Deutschland anging, vor der Alternative zu stehen: entweder Machtergreifung durch die rechtsextremen Kräfte oder sozialistische Revolution. Bei dem überlegenen deutschen Industriepotential hätte eine Machtergreifung der beiden sozialistischen Parteien in gemeinsamem Kampfe Deutschland ein Übergewicht verliehen, das die Vorherrschaft Moskaus in der Komintern ernsthaft bedroht hätte. Stalin lag also sehr viel daran, den alten Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus am Leben zu erhalten, trotz allen Geredes von Aktionseinheit.

Er baute seine Deutschlandpolitik weiterhin auf der These auf, daß die Sozialdemokratie der Hauptfeind der Arbeiterklasse sei. Sein Sprachrohr Manuilski äußerte sich auf dem XI. EKKI-Plenum im April-

Mai 19 31 dementsprechend: „In der Absicht, die Massen zu betrügen, behaupten die Sozialdemokraten bewuflt, der Hauptfeind der Arbeiterklasse sei der Faschismus. Es ist nicht wahr, daß der Faschismus Hitlerscher Prägung der Hauptfeind ist, sondern die Sozialdemokratie.“

Das gebräuchlichste Schimpfwort der kommunistischen Redner, der KP-Presse und der Parteiliteratur gegen die Sozialdemokraten war denn auch der infame Ausdruck „Sozialfaschisten". Dazu mag noch kommen, daß Stalin einem Hitler gegenüber eine gewisse Seelenverwandtschaft spüren mochte. Er liebte alle, die ohne Rücksicht, ohne Gewissen und ohne von menschlichen Gefühlen gehemmt zu sein zu handeln vermochten, und nannte Hitler daher einmal mit einem Anflug von fast neidischer Bewunderung einen „Teufelskerl". Jedenfalls tat er alles, um einen wirksamen Kampf der KPD gegen den heraufkommenden Hitler zu verhindern, was im übrigen diesen nicht im geringsten davon abhielt, auch weiterhin kommunistische Arbeiter ermorden zu lassen.

Neumann wehrte sich gegen diese Politik der Komintern verzweifelt, aber er wehrte sich auf seine Weise, d. h. er fuhr nach Moskau, wenn er zur Maßregelung gerufen wurde, kroch zu Kreuze, kehrte nach Deutschland zurück und setzte seine Politik fort, als sei er überhaupt nicht in Moskau gewesen. Das trug ihm den vielleicht nicht unberechtigten Vorwurf der „Doppelzünglerei" ein, es war aber doch wohl die einzige Methode, um aus diesem Debakel überhaupt noch etwas zu retten. Dieser ganze Gegensatz war eingekleidet in einen ebenso vielschichtigen, wie zwielichtigen Fraktionskampf unter den führenden Funktionären der KPD, wobei Thälmann die Rolle des Vertreters der offiziellen Kominternlinie übernahm. Dieser Fraktionskampf erleichterte den Überblick über die eigentlichen Zusammenhänge nicht gerade, zumal ihm natürlich auch noch andere Motive zugrunde lagen. Jedenfalls setzte Stalin seine außenpolitische Linie durch, und im Sommer 1931 sah man Nazis und Kommunisten beim sogenannten „Roten Volksentscheid“ bereits vereint, genauso wie im November 1932 beim Streik der Berliner Verkehrsarbeiter. Und am 22. Januar 193 3, wenige Minuten vor dem Untergang, verhinderte ein Telegramm aus Moskau an die Parteileitung der KPD, daß die Kommunistischen Arbeiter Berlins sich gegen die provozierende Demonstration der SA und SS auf dem Bülowplatz zur Wehr setzten. In einer Unterredung, die Ende 1931 in Moskau stattfand, hatte Stalin Neumann bereits eine aufschlußreiche Frage gestellt: „Glauben Sie nicht auch, daß, falls in Deutschland die Nationalisten zur Macht kommen sollten, sie so aussddießlidt mit dem Westen beschäftigt sein würden, daß wir in Ruhe den Sozialismus aufbauen könnten?"

Neumanns Niederlage im Kampf gegen Stalin und seine Deutschlandpolitik besiegelte seinen Untergang. Frühjahr 1932 wurde er, aus dem deutschen Politbüro entfernt, nach Moskau berufen und im Herbst desselben Jahres zur Kominterndelegation nach Spanien geschickt. Das Ende kam im November 193 3, nachdem der Geheimapparat der KPD einen Brief Neumanns aus dem Jahre 1932 an seinen Freund Hermann Remmele gefunden hatte, in dem Neumann diesen aufforderte, „nicht Haase, sondern Liebknecht zu sein“, das heißt, in der Deutschland-frage der Komintern gegenüber nicht nachzugeben, sondern festzubleiben. Das Urteil Moskaus lautete: Entfernung aus jeglicher Kominternarbeit und Verfügung, sich sofort von Madrid nach Zürich zu begeben und von jetzt ab selbst für sich zu sorgen. Das wäre an sich kein Unglück gewesen, aber erstens traf es einen Neumann, der immer noch überzeugter Kommunist war, schwer, als „Abgesagter“ leben zu müssen, und zweitens mußte er den Zürcher Aufenthalt mit ganz unzulänglichen falschen Papieren antreten und konnte nicht auf die geringste Unterstützung von seifen der Partei rechnen. Es dauerte dann auch nicht lange, bis er von der Schweizer Fremdenpolizei verhaftet wurde. Die Ablehnung eines nazistischen Auslieferungsbegehrens durch die Schweizer Regierung nahm etwa ein halbes jähr in Anspruch. Während dieser Zeit saß Neumann im Schweizer Zuchthaus Regensdorf als Auslieferungsgefangener. Keiner der umliegenden demokratischen Staaten wollte den berüchtigten Kommunisten Neumann aufnehmen, nur die Sowjetunion bot ihm Asyl an. Mit einem französischen Saufcon-duit wurde Neumann im Juni 1935 von französischer Polizei, die ihn an der Schweizer Grenze in Empfang genommen hatte, nach Le Havre und an Bord des sowjetrussischen Frachters „Wolgaless gebracht. Noch fast zwei Jahre lebte Neumann als Geächteter in Moskau. Als die NKWD ihn am 27. April 1937 verhaftete, hatte er längst erkannt, welchem Götzen er gedient hatte. Er ist spurlos verschwunden.

Willi Münzenberg

Es dauerte Jahre, bis ich den Mann, der seit 1923 der Lebensgefährte meiner Schwester war, näher kennenlernte. Das lag wohl zum Teil daran, daß er mich betont als „kleine Schwester“ behandelte, was mein Selbstbewußtsein verletzen und mich in eine Abwehrstellung gegen ihn treiben mußte. Zum Teil lag es wohl auch daran, daß Willi Münzen-berg so wenig meiner jugendlichen Idealvorstellung von einem „führenden Genossen“ entsprach. Er schien weniger ein Revolutionär als ein Manager zu sein, und wenn dieser untersetzte, breitschultrige Mann die Angestellten seiner zahlreichen Büros in ständiger Bewegung durch-

einanderwirbelte, bei Sitzungen alles andere als demokratisch verfuhr und aus seinen Mitarbeitern das Letzte an Arbeitskraft herausholte, dann begriff ich, warum man ihn in der Kommunistischen Partei als „Unternehmer“ bezeichnete und seinen Betrieben den Namen „Münzenberg-Konzern“ gab, ein Name, der nicht etwa aus der Ironie geboren, sondern durchaus zu Recht zu bestehen schien. Über Münzenberg ist, im Verhältnis zu anderen KP-Führern, ziemlich viel geschrieben worden, allerdings verstreut in den Publikationen zahlreicher Kommunisten und Exkommunisten. Die zusammenfassende Darstellung seiner außerordentlichen Leistung steht noch aus. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß in der Beurteilung seiner Persönlichkeit ziemliche Einmütigkeit herrscht. Das LIrteil der Geschichte ist mit ihm weit glimpflicher umgegangen als mit irgend einem anderen führenden deutschen Kommunisten. Willi Münzenberger war wirklich eine erstaunliche Persönlichkeit, die einen fast magischen Einfluß auf Menschen der verschiedensten Kategorien ausübte. Arthur Koestler schreibt in seinem Erinnerungsbuch „Die unsichtbare Schrift“: „Er war ein feuriger, demagogischer und unwiderstehlicher Redner und ein geborener Führer. Obgleich er ohne eine Spur von Wichtigtuerei und Arroganz war, strahlte seine Persönlichkeit eine derartige Autorität aus, daß ich erlebt habe, wie sozialistische Minister, ausgekochte Bankiers und österreichische Herzöge sich in seiner Gegenwart wie Schulknaben benahmen.'

Es war nicht verwunderlich, daß sich unter den Mitgliedern der KPD über diesen außergewöhnlichen Mann viele Legenden verbreiteten. So erzählte man sich unter anderem, er sei Millionär und mit einer Potsdamer Generalstochter verheiratet. Daß dieses Märchen nicht stimmte, konnte ich ja nun am besten beurteilen. Die Millionen, die Münzen-berg in seinem „Konzern“ erarbeitete, flossen nicht in seine eigenen Taschen, sie kamen der Kommunistischen Partei zugute, und verheiratet war er schließlich mit meiner eigenen Schwester, die alles andere als eine Generalstochter war, wenn sie auch tatsächlich aus Potsdam stammte.

Willi Münzenberg wurde 1 8 89 in der thüringischen Stadt Erfurt geboren und wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen auf. Die brutalen Erziehungsmethoden des Vaters, der der uneheliche Sohn eines Freiherrn von Seckendorf war, verdüsterten seine Kindheit und Jugend.

Münzenberg besuchte nur ganz unregelmäßig die Volksschule, las aber heimlich alles, was ihm in die Hände fiel. Die Ereignisse des Burenkrieges beeindruckten ihn so heftig, daß er als Elfjähriger Brot aufsparte, etwas Geld in die Tasche steckte und sich heimlich auf den Weg in Richtung Eisenach machte. Er wollte als Freiwilliger zu den Buren. Erst weit hinter Gotha wurde er aufgegriffen und wieder nach Hause transportiert.

Nachdem der Vater starb — beim Gewehrputzen jagte er sich eine Schrotladung in den Kopf — begann Münzenberg in einer Erfurter Schuhfabrik zu arbeiten. Ganz jung noch kam er durch den „Arbeiterbildungs-Verband“ in Berührung mit der sozialistischen Jugendbewegung. Als Wanderbursche ging er in die Schweiz und wurde Austräger in einer Zürcher Apotheke. Hier fand er seinen ersten politischen Kontakt in einem Kreise anarchistisch-syndikalistischer Intellektueller, dessen Mittelpunkt der Schweizer Arzt Fritz Brupbacher war. Brupbacher und er wurden Freunde fürs Leben. Im damaligen Zürich gab es viele Emigranten aus dem zaristischen Rußland, unter ihnen Lenin, seins Frau Krupskaja, Trotzki und Sinowjew. Münzenberg wurde mit ihnen bekannt und geriet vor allem unter den Einfluß Lenins, der mit sicherem Blick die großen Fähigkeiten dieses jungen Mannes erkannte. In Zürich leitete Münzenberg den Sozialistischen Jugendverband und war von 1916 an der Emigrantengruppe Lenins eng verbunden. Im Sommer 1917 fuhr er in einem plombierten Eisenbahnwagen gemeinsam mit anderen Sozialisten von der Schweiz kommend durch Deutschland nach Schweden, um in Stockholm an einer Friedenskonferenz teilzunehmen, die unter der Leitung Radeks einberufen worden war. Wieder zurückgekehrt in die Schweiz, bekannte er sich Ende 1917 demonstrativ zu den Zielen der russischen Oktoberrevolution. Als Mitorganisator eines Generalstreiks in Zürich wurde Münzenberg in einem dortigen Zuchthaus interniert und nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus der Schweiz ausgewiesen. In Deutschland schloß er sich dem Spartakusbund an, aber sehr bezeichnend für ihn ist, daß es ihn, obgleich er schon 30 Jahre alt war, zur politischen Arbeit unter der Jugend zog. Noch zehn Jahre später, als ich Münzenberg näher kennenlernte, hat er seiner Jungburschenzeit nachgetrauert, dem Abschnitt seines Lebens, in dem er vorbehaltlos gläubig sein durfte. Zusammen mit Leo Flieg, dem Österreicher Richard Schüller und anderen gründete Münzenberg den Kommunistischen Jugendverband, als dessen Vertreter er zum II. Weltkongreß der Komintern im Jahre 1920 das erste Mal nach Sowjetrußland fuhr. In Moskau wurde er bei der Gründung der Kommunistischen Jugendinternationale zu deren Vorsitzenden gewählt. Aber schon 1921, obgleich er beim III. Weltkongreß wiederum delegiert war, wurde er von Sinowjew als Sekretär der Jugendinternationale abgesetzt und verließ schon 1921 das einengende Korninterngetriebe. Ich möchte annehmen, daß in diese Zeit auch seine ersten Enttäuschungen über die Moskauer Methoden fallen.

Der Münzenberg-„Konzern“

Im Sommer 1921 beauftragte ihn Lenin, mit dem er während der ganzen Zeit in persönlichem oder brieflichem Kontakt stand, mit den bereits existierenden bürgerlichen und sozialistischen Hungerhilfsaktionen des Nansenkomitees und des Internationalen Gewerkschaftsbundes in Verbindung zu treten. In dieser Tätigkeit stellte sich Münzen-berg nach kurzer Zeit auf eigene Füße und wurde zum großen Organisator der Internationalen Arbeiterhilfe, die sich im Laufe der Jahre mit ihren Zeitungen, Zeitschriften, Sammelaktionen, Volksküchen und Kinderheimen über die ganze Welt ausbreitete. Zur ersten Aufgabe der IAH gehörte es, das vom Hunger heimgesuchte Sowjetrußland zu unterstützen. Millionen an Geld und Sachwerten gingen in den Jahren 1921 und 1922 durch die Sammlungen der IAH nach Sowjetrußland. In den darauffolgenden Jahren unterstützte die IAH vor allem Streikende und Arbeitslose sowie deren Kinder und Frauen. Bei dieser Tätigkeit hat Münzenberg als erster Kommunist erfahren, welche Macht die mit den kommunistischen Parteien sympathisierenden Intellektuellen darstellen.

Von jener Zeit an wandte er seine wesentlichste propagandistische Tätigkeit diesen Intellektuellen zu. Er warf die doktrinären Methoden der KP-Führung, deren ungenießbare, hölzerne Dogmensprache über Bord und fand den richtigen Ausdruck als auch die gemäßen Methoden, um intellektuelle Sympathisanten in einer breiten Peripherie um die KP zu scharen.

Er umgab sich in seinen Unternehmungen, den Zeitungsredaktionen der „Welt am Abend“, „Berlin am Morgen", der „Arbeiter-Illustrierten", der Zeitschrift „Roter Aufbau“, dem Filmunternehmen „Meshrabpom“, dem „Neuen Deutschen Verlag“ und der „Universum-Bibliothek“ nicht nur mit den besten Köpfen der kommunistischen Intelligenz und mit KP-freundlichen Intellektuellen aller Schattierungen, er zog auch häufig Kommunisten zur Mitarbeit heran, die sich in der Partei irgendwelcher „Abweichungen“ schuldig gemacht hatten. Seine Feinde warfen ihm hämisch vor, er tue das nur, weil diese Abweichler aus Angst vor der Partei und aus dankbarer Anhänglichkeit an ihren Retter besonders willfährige Werkzeuge seien. Daran mag etwas Wahres gewesen sein, denn Münzenberg betrieb eine höchst ausgeklügelte, diplo-matische Personalpolitik. Möglicherweisse spielte bei dieser Taktik aber auch ein gewisses Verständnis für die Lage dieser abgesagten Genossen mit, denn Münzenberg dürfte schon damals alles andere als ein gläubiger Anhänger der Kominternpolitik gewesen sein.

Münzenberg war ein dynamischer, aber äußerst unbequemer Vorgesetzter. Er hatte zwar begriffen, wie wichtig die Unterstützung durch die Intellektuellen sein konnte, aber er hatte wenig Ehrfurcht vor ihrer Arbeit. Gustav Regler, der bekannte Schriftsteller, der Anfang der dreißiger Jahre Kommunist wurde und während des spanischen Bürgerkrieges zu den Organisatoren und Führern der Internationalen Brigade gehörte, erzählte mir folgenden charakteristischen Vorfall: In den Jahren 193 3/34 arbeitete er mit Otto Katz, Max Schröder, Alfred Kantorowicz und Bodo Uhse am „Braunbuch“ über den Reichstagsbrandprozeß. Den Hauptteil des Textes verfaßte Otto Katz. Regler entdeckte nun ganz zufällig in einem alten Buch die Tatsache, daß ein inzwischen viel zitierter Geheimgang das Haus des damaligen Reichstagspräsidenten Hermann Göring mit dem Reichstagsgebäude verband, jener Gang, durch den die eigentlichen Täter, die SA-Leute, in den Reichstag gelangten und den Brand anlegten. Er schrieb über diese Tatsache ein Manuskript für das „Braunbuch" und legte es Münzenberg vor. Dieser las es durch, erklärte, es sei nicht gut und zerriß es in kleine Stücke, obwoni Regler heftig dagegen protestierte. Er ging über die Einwände des Verfassers, der keine Kopie besaß, mit den gleichgültigen Worten hinweg: „Es ist gut, wenn Du das alte Manuskript überhaupt nicht mehr siehst, sondern ganz von neuem anfängst zu schreiben. Das wird dann besser!"

Erstaunlicherweise machte er sich durch diese rücksichtslose Behandlung wenige Feinde unter seinen Mitarbeitern. Fast alle standen unter dem Eindruck seiner kraftvollen Persönlichkeit, bewunderten seine Fähigkeit, auch noch die geringste Kleinigkeit seinen Zwecken dienstbar zu machen, mochte es sich um die Sammlung von Unterschriften einflußreicher Dichter, Künstler oder Gelehrter handeln oder um den Aufbau einer Hilfsaktion.

Wohl kein anderer prominenter deutscher Kommunist war so voller Ideen wie Münzenberg. Sie sprudelten unaufhörlich, und er gab sich nur selten die Mühe, sie von sich aus bereits in zusammenhängende Form zu bringen. Seinem Sekretär Hans Schulz pflegte er eine Fülle von Stichworten zu diktieren und überließ es ihm dann, diese Stichworte in angemessene Form zu bringen, zu Briefen oder Memoranden zusammenzufassen. Dabei nahm er es als selbstverständlich an, daß der unglückliche Schulz häufig ganze Nächte über dieser ungeheuren Arbeit verbringen würde. So ideenreich Münzenberg war, und so wichtig ein Mann wie er für die kommunistische Bewegung war, so lag doch in dieser rastlosen Betriebsamkeit, dem Übermaß immer neuer agitatorischer Einfälle, die dann in die Tat umgesetzt nicht selten nur glänzende Fassade blieben, die Begrenzung seiner Größe. Immer wieder fühlte er sich — und nicht zu Unrecht — behindert durch die Tatsache, daß er eigentlich in einem Randgebiet des Parteigetriebes tätig war. Manche seiner Feinde und auch einige seiner Freunde warfen ihm vor, daß er seine ganze Kraft einer Sache widme, an die er im tiefsten Herzen gar nicht mehr glaube.

Münzenberg hatte in der Tat schon früh Zweifel an der Richtigkeit der Politik Moskaus. So wie bei vielen Kommunisten war aber auch bei ihm die Loslösung von der Weltanschauung, die von Jugend auf sein ganzes Denken und Fühlen beherrscht hatte, ein langsamer, schmerzlicher Prozeß. Wenn man das Lebenswerk dieses Mannes be-trachtet, wenn man bedenkt, welche Dienste er dem sowjetrussischen Regime geleistet hat, mag meine Behauptung, daß die Wurzel seiner Kritik am sowjetrussischen Regime bereits in das Jahr 1921 zurückreicht, sehr merkwürdig klingen. Damals wurde er ohne viel Federlesen vom leitenden Mann der Komintern, von Sinowjew, als Sekretär der Kommunistischen Jugendinternationale abgesetzt, weil bereits in jener frühen Zeit der Internationale die Mächtigen der Komintern ergebenere Werkzeuge brauchten. Münzenberg war ihnen viel zu selbstbewußt. Er dachte nicht daran, sich bedingungslos den Befehlen der Russen zu beugen, jener Russen, die er doch mit ihren Stärken, aber auch ihren großen Schwächen aus allernächster Nähe kennengelernt hatte, als sie noch vier Jahre früher arme Schlucker in der Schweizer Emigration gewesen waren. Münzenberg hatte kein Verständnis für die diktatorischen Allüren dieser Herren. Er hatte schon frühzeitig erfaßt, daß der sowjetrussische Autoritätsanspruch in der Komintern einer westeuropäischen Arbeiterorganisation verhängnisvoll werden mußte. Für die Russen der Komintern war er also nicht zu gebrauchen, und wenn Lenin ihm im Jahre 1921 nicht einen ganz privaten Auftrag gegeben hätte, nämlich den Aufbau einer Hilfsorganisation für die Hungernden an der Wolga, wäre Münzenbergs politische Entwicklung wahrscheinlich ganz anders verlaufen. Aus dieser Zeit, wie durch seine persönliche Beziehung zu Lenin, datierte die Sonderstellung, die er sowohl der Komintern gegenüber als auch im Rahmen der KPD einnahm. Hier liegt die Ursache für seine weitgehende LInabhängigkeit.

Aus Privatgesprächen mit Münzenberg ging hervor, daß er nach seinem Ausscheiden aus der Führung der Jugendinternationale sich auch weitgehend vom suggestiven Einfluß der sowjetischen Ereignisse befreite und immer stärker zu einer westeuropäischen revolutionären Lösung hin tendierte. Als revolutionärer Sozialist brachte er nach dem Ende des Krieges jeder Teilnahme am parlamentarischen Leben zunächst nicht das geringste Interesse entgegen, sondern lebte in der Vorstellung, daß der revolutionäre Umsturz in Deutschland vor der Tür stehe. Die jungen Kommunisten dachten damals nicht länger als. ein oder zwei Jahre voraus. Wie eine kalte Dusche wirkte dann auch auf Münzenberg und seine Freunde ein Gespräch mit Paul Levi, der ihnen 1921 an Hand wohldurchdachter Argumente auseinandersetzte, daß sich der internationale Kapitalismus noch jahrelang ohne große Erschütterungen weiterentwickeln werde, und daß eine Nachkriegskrise wahrscheinlich nicht vor zehn Jahren zu erwarten sei. Noch 1921 teilte Münzenberg diese „ defaitistische" Meinung Levis keineswegs, aber schon nach 1923 begrub er die Hoffnung auf eine baldige revolutionäre Lösung für Mitteleuropa. Die Nachkriegsaufstände in Ungarn, München und den Leunawerken waren in seinen Augen keine wirklich revolutionären Ausbrüche, sondern Putschversuche, die er ablehnte, weil er sie als gegen die Interessen der Arbeiterklasse gerichtet empfand. Die Initiatoren dieser Aufstände, die aus Moskau geschickten Apparatschiks betrachtete er mit tiefer Verachtung.

Münzenbergs innere Wandlung Aber trotz aller menschlichen und politischen Reserven gegenüber Sowjetrußland sowie der Politik der KPD blieb Münzenberg der Komintern auch innerlich bis zum Jahre 1933 treu. Erst dann wurden seine Zweifel immer heftiger. Vielleicht läßt sich sogar aus der Tatsache, daß Münzenberg über ein Jahrzehnt lang gegen seine politische Überzeugung sündigte, die gewaltige Arbeitsleistung erklären, die er in dieser Zeit vollbrachte, und die ihn bis 193 3 Tag und Nacht nicht zum Nachdenken kommen ließ. So fand er erst in der Emigration Kraft und Zeit zu einer inneren Klärung, und seine Kritik setzte genau am gleichen Punkt an, wo sie 1921 begonnen hatte. Erst nach seiner Flucht aus Deutschland, in Paris, begann er übrigens, die Werke der Oppositionellen, der Gegner des sowjetischen Systems, der Kritiker an der orthodoxen marxistisch-leninistischen Doktrin zu lesen. Nun war es allerdings im Jahre 193 3 wesentlich schwieriger, weiterhin die Augen zu verschließen, denn inzwischen war das furchtbare Resultat, die direkte Folge des sowjetischen Totalitätsanspruches in der Komintern, vor aller Welt sichtbar. Hitler herrschte über Deutschland. Die KPD, das außen-politische Instrument der Sowjetrussen, war zerschlagen, die deutschen Arbeiter zahlten für ihre Treue und ihren Glauben an die Partei mit ihrem Blute. Lind trotzdem verkündete man aus Moskau, daß die deutsche Arbeiterklasse keine Niederlage erlitten habe. Vielleicht bedurfte es erst dieses politischen Irrsinns, um Münzenberg zur endgültigen Ernüchterung zu bringen. Trotzdem — oder wahrscheinlich gerade deshalb — begann er wie ein Besessener gegen den Nationalsozialismus zu arbeiten. Er wußte inzwischen, daß die Komintern zu einer wirklich antifaschistischen Politik weder fähig noch willig war.

Münzenberg, der Tatmensch, der nie in seinem Leben etwas Halbes getan hat, war auch jetzt noch bereit, sich im Kampf gegen den Faschismus, den er für unbedingt notwendig hielt, mit ganzer Kraft einzu-setzen, selbst im Sinne der Komintern, an die er eigentlich nicht mehr glaubte. Er gründete zahlreiche Komitees, leitete Hilfsaktionen für deutsche Emigranten, versuchte immer wieder, Persönlichkeiten der verschiedensten weltanschaulichen Richtungen zu einer gemeinsamen Front gegen den Faschismus zusammenzuschließen, wobei sein Mangel an orthodoxer Starre ihm besonders zustatten kam. Hierdurch wurde er bald zu einem wichtigen Vorbereiter und Exponenten der Volksfront-politik, die sich bereits am Horizont abzeichnete, und es ist vielleicht nicht ohne Interesse, zu bemerken, daß der VII. Weltkongreß der Komintern, der die Volksfrontpolitik offiziell sanktionierte, seine Zweifel dämpfte und ihn vorübergehend wieder etwas hoffnungsvoller sein ließ. Vor allen Dingen gründete er gleich nach seiner Ankunft in Paris im Jahre 193 3 den Verlag der Editions du Carrefour, das publizistische Zentrum der deutschen antifaschistischen Emigration, eine direkte Fortsetzung des Berliner „Neuen Deutschen Verlages“, ausgebaut mit dem geretteten Kapital dieses Unternehmens. In den Editions du Carrefour erschienen Werke wie die Braunbücher über den Reichstagsbrandprozeß, der Bildband „Naziführer sehen dich an“, eine besonders wirkungsvoll zusammengesetzte Porträtierung der nationalsozialistischen Unmenschen der damaligen Zeit, „Hitler treibt zum Krieg“ und viele andere. Den Nazis war die Aktivität Münzenbergs so unangenehm, daß sie sich nicht nur dazu verstiegen, den Antifaschismus in dem von der Antikomintern herausgegebenen Propagandabuch „Der Weltbolschewismus“ eine „demagogische Erfindung Willy Münzenbergs“ zu nennen, sondern daß sie ihn (1935) und meine Schwester Babette (1938) in Abwesenheit zum Tode verurteilten.

Dennoch läßt sich wohl mit Sicherheit sagen, daß die intensive antifaschistische Tätigkeit den Prozeß seiner inneren Wandlung nicht zum Stillstand brachte. Die Entscheidung fiel aber erst mit den Nachrichten über den Beginn der Großen Säuberung und über den ersten Schauprozeß in Moskau. Münzenberg erkannte, daß Stalin beabsichtigte, die alten Bolschewiken physisch auszurotten. In diese Zeit fiel ein Erlebnis, das ihn sehr beeindruckte. Kurz nach dem Sinowjew-Prozeß fand in Amsterdam ein Kongreß statt, an welchem Münzenberg teilnahm. Auf der Straße traf er zufällig einen ehemaligen Freund, den holländischen Trotzkisten Sneevligt, der ihm in den Weg trat und ihm ins Gesicht schrie: „Verräter Kain, wo ist dein Bruder Abel-Sinowjew!?“ Münzen-berg war erschüttert. Diese Worte trafen ihn um so tiefer, weil er innerlich der gleichen Meinung war. Sie zerstörten wohl seine letzten Illusionen. Warum aber kamen Münzenberg und seine Frau trotzdem noch im Herbst 1936 nach Moskau? Sie mußten doch genau wissen, daß der Komintern Münzenbergs Skeptizismus nict unbekannt geblieben war. Beweise dafür gab es genug. Mußten sie nicht damit rechnen, daß man sie — in dieser Zeit des Terrors und der Säuberung — zurückhalten würde, um sie zur Verantwortung zu ziehen? Manuilski hatte Münzen-berg eingeladen und ihn, zurückgreifend auf den alten Vorschlag, ihn als Agitpropleiter der KJ einzusetzen, aufgefordert, seine Arbeiten in Paris abzuwickeln. Außerdem sollten die beiden über den Verlauf des erwähnten Amsterdamer Kongresses Bericht erstatten. Aber diese äußerlichen Gründe waren sicher nicht entscheidend. Entscheidend war vielmehr ein Ereignis, das auch auf uns seine Wirkung nicht verfehlt hatte, nämlich der Ausbruch des spanischen Bürgerkrieges. Stärker noch als Heinz Neumann und mich hatte der Ausbruch dieses Krieges Münzen-berg beeinflußt, denn er wurde in Paris sofort zum Mittelpunkt eines aktiven Kreises spanischer Loyalisten. Sein Freund Del Vayo, später der Außenminister der Regierung Negrin, dessen Schwager Araquistain, Botschafter Spaniens in Paris, und viele andere führende Republikaner, die ersten ausländischen Freiwilligen und zahlreiche sozialistische wie liberale Intellektuelle und Politiker, begeistert für die Sache der spanischen Loyalisten, kamen zu Münzenberg, dem bewährten Organisator, und baten ihn um seine Unterstützung. Man brauchte Hilfe: Waffen, Geld, Menschen. Die Stimmung war ekstatisch.

Mußte sich jetzt nicht erweisen, daß der Kommunismus immer noch eine internationale Bewegung war? Hatte Franco durch seinen Aufstand nicht eine echte revolutionäre Situation geschaffen, die erste seit der russischen Oktoberrevolution? Denn darüber bestand bei der Mehrzahl der Kommunisten kein Zweifel: der spanische Bürgerkrieg war eine Auseinandersetzung zwischen Kommunisten und Faschisten, und die Geschichte hatte offenbar in Spanien dem Kommunismus wieder einmal eine gewaltige Rolle zugeteilt. Die geringfügige Tatsache, daß die spa-nischen Kommunisten in der dortigen Volksfrontregierung die schwächste Partei bildeten, konnte ihrer Selbstüberschätzung und Begeisterung keinen Abbruch tun. Die außerordentliche Aktivität der spanischen Kommunisten verwischte außerdem die wirklichen Proportionen. Auch Münzenberg konnte sich der allgemeinen Begeisterung nicht entziehen. Mußte er in einer solchen Situation nicht die eigene Sicherheit hintanstellen? Außerdem hatte bei Ausbruch des Bürgerkrieges der erste Schauprozeß noch nicht stattgefunden. Die Nachricht darüber traf Münzenberg mitten in der fieberhaften Tätigkeit für die spanischen Loyalisten. Warum hatte Stalin gerade diesen Termin für die erste öffentliche Manifestation des nackten Terrors gewählt? Spürte er etwa die Gefahr, die für ihn im Wiederaufleben der alten revolutionären und internationalistischen Ideale liegen konnte? Der eiskalte Machtpolitiker konnte keine Fanatiker gebrauchen, die sich für grandiose internationale Ideen einsetzten und sich nicht willenlos für die absolute Macht opfern ließen, für seine persönliche Macht in der Sowjetunion, für die Macht der Sowjetunion in der Welt. Oder hoffte Stalin, daß der Bürgerkrieg die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit so ausschließlich auf Spanien lenken würde, daß er indessen ungestört unter seinen Gegnern aufräumen konnte? Wer konnte es wissen? Nach wie vor bestürmten die Spanier und ihre Freunde Münzenberg, sich für sie in Moskau zu verwenden. So folgte er der Einladung Manuilskis, die ihn eigentlich hätte hellhörig machen müssen, denn dieser hatte bestimmt nicht umsonst bereits im Sommer den tschechischen Kommunisten Smeral nach Paris geschickt, einen kominterntreuen Mann, der sich in Münzenbergs Aufgaben „einarbeiten“ sollte. Im Oktober trafen also Babette und Münzenberg in Moskau ein. Trotz allem.

In Moskau zitierte man Münzenberg unverzüglich vor die IKK (Internationale Kontrollkommission) und fragte ihn über die verschiedenen Personen aus, die in seinen Pariser Büros tätig waren. Dieses Verhör vor der IKK, das erste, das er in seiner langen kommunistischen Praxis erlebt hatte, kam ihm so grotesk vor, daß er nicht ernst bleiben konnte. Als man ihm drohend den Namen einer gewissen Liane vorhielt, die als Stenotypistin in einem seiner Komitees arbeitete, und behauptete, sie sei eine Spionin Francos, brach er in schallendes Gelächter aus und wollte wissen, was diese „Flohknackerei" eigentlich zu bedeuten habe. Aber man holte ihn ein zweites, ein drittes und ein nächstes Mal in das Haus der Komintern an der Mochowaja, und als die würdigen Vertreter der IKK, der höchsten Instanz der Komintern, immer wieder mit sturer Hartnäckigkeit auf Liane zu sprechen kamen und ihn schließlich der „mangelnden Wachsamkeit“ bezichtigten, verging ihm das Lachen, und es überkam ihn ein Gefühl, als befinde er sich bereits in der Gewalt der NKWD. Nur wenige Tage Aufenthalt in Moskau hatten genügt, und Münzenberg wie Babette wurden von der gleichen panischen Angst ergriffen, wie sie damals abertausende Menschen in diesem Lande in ihren Krallen hielt. Dazu erfuhren sie noch von Heinz Neumann und mir, wer in den letzten Wochen verschwunden war, und wie sich die Menschen in ihrer ringst vor der Verhaftung zu Denunzianten und Verrätern erniedrigten.

Nachdem sich Münzenberg nun gegen die „proletarische Wachsamkeit“, einer der vornehmsten Tugenden eines Bolschewiken, vergangen hatte, verbreitete sich unter seinen Bekannten und Freunden die Nachricht wie ein Lauffeuer, daß ihn die IKK in ihren Fängen habe. Sofort begann sich um Babette vnd Münzenberg ein luftleerer Raum zu bilden. Man mied sie, als seien sie aussätzig. Nur Neumann ging mit mir gemeinsam oder auch allein am hellichten Tage zu ihnen ins Hotel. Er hatte allerdings nichts mehr zu verlieren, aber trotzdem gehörte selbst in seiner Situation — oder vielleicht gerade deswegen — ein tüchtiges Maß an Mut dazu, den Spitzeln der NKWD und den Denunzianten der Komintern die Stirn zu bieten. Die anderen alten Freunde Münzenbergs, von denen es viele in Moskau gab, kamen nur noch im Dunkel der Nacht ins Hotel geschlichen. Jetzt wurde von der Komintern aus auch noch die Aufforderung, in Moskau zu bleiben, wiederholt, aber nicht mehr als Aufforderung, sondern als Befehl. Nun zweifelte Münzenberg nicht mehr daran, daß man die Absicht hatte, ihn zu vernichten. Aber er gab den Kampf nicht auf. Dazu war er zu temperamentvoll und zu energisch. Er verlangte kategorisch die Ausreise, weil er unbedingt, ehe er in Moskau bleiben könne, die Arbeit abwickeln müsse, die er in seinen Spanienkomitees begonnen habe. In der Komintern schien man das einzusehen, und Manuilski bestimmte sogar schon einen Tag, an dem alles zu Münzen-bergs Abreise bereit sein werde. Ehe sie zum Bahnhof gingen, nahm ich Abschied von ihnen. Ich hatte die furchtbare Ahnung, als würde ich sie nie wiedersehen, aber ich war froh, daß wenigstens sie gerettet waren. Auf dem Bahnhof sollten sie, wie das üblich war, ihre Pässe mit den Ausreisevisen erhalten, doch als sie wartend am Zuge standen, erschien ein Bote und teilte ihnen mit, die Pässe seien nicht bereit, da die Ausreisevisen verweigert worden seien.

Von diesem Moment ab gaben Münzenberg und Babette jede Hoffnung auf, jemals die westliche Freiheit wiederzusehen. Sie fuhren zurück ins Hotel „Moskwa“ — geheimnisvoller Weise war ihr Zimmer noch unberührt und frei — legten sich angezogen auf die Betten und erwarteten die Verhaftung. Aber nichts geschah. Am nächsten Morgen stürzte Münzenberg in die Komintern zu Togliatti, der Dimitroff während dessen Urlaub vertrat. Mit welchen Mitteln Münzenberg es fertig-brachte, Togliattis menschliches Gefühl zu rühren, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls setzte der italienische Parteiführer die Kaderabteilung der Komintern solange unter Druck, bis es ihm gelang, die Ausreisevisen zu erhalten. Dabei kam ihm ein unerwarteter Umstand zu Hilfe. Gerade in diesen Tagen hatte Stalin einen Geheimbefehl erlassen, der besagte, daß die spanischen Republikaner mit sowjetischen Waffen und Spezialisten unterstützt werden sollten. Togliatti wies darauf hin, daß Münzenberg für diese Arbeit der geeignetste Mann sei, da er über die notwendigen Beziehungen in einem Maße verfüge, wie kein anderer Funktionär. 24 weitere Stunden warteten beide in qualvoller Ungewissheit, bis es feststand, daß sie gerettet waren.

Nachdem Münzenberg glücklich Paris erreicht hatte, verließen ihn seine Körperkräfte. Er lag längere Zeit in einem Pariser Vorort im Sanatorium eines Professors Chateaubriand. Dieser Arzt, der über seine Frau, eine Russin, lebhaften Kontakt mit Menschen aus Sowjetrußland unterhielt, erzählte Münzenberg eines Tages, daß Bucharin im Winter 1936/37 zu einem Vortrag nach Paris gekommen sei. Chateaubriand kannte Bucharin sehr gut, und als dieser schon nach kurzem Aufenthalt in Paris ein Telegramm aus Moskau erhielt, das seine sofortige Rückkehr forderte, hatte ihn der Arzt beschworen in Frankreich zu bleiben. Aber vergeblich. Bucharin war mit offenen Augen in sein Verderben gefahren.

Gleich nach der Ankunft in Paris, noch ehe er ins Sanatorium ging, hatte Münzenberg seine gesamten Funktionen an Smeral abgetreten, und während er krank lag, vollzog sich die Übergabe des Carrefour-Verlages und aller Komitees mit ihren Kassen, Buchhaltungen und dem ganzen Bürogetriebe an den Beauftragten Manuilskis, den dicken, durch Zuckerkrankheit bereits apathisch gewordenen Tschechen. Babette sammelte alle Übergabeprotokolle, die von Smeral unterzeichnet worden waren, und versteckte die Kopien an einem neutralen, sicheren Ort, um sie bei eventuellen späteren Angriffen und Diffamierungsversuchen aus Moskau präsentieren zu können. Als Versteck hatte sie den Stahl-schrank im Büro eines katholischen Pressedienstes gewählt. An der gleichen Stelle bewahrte man auch das Archiv und die Druckschriften der gegen den Nazismus gerichteten Freiheitspartei auf, an der Münzen-berg später mitarbeitete, und deren Schriften kurioserweise im Diplomatengepäck des französischen Botschafters Francois-Poncet nach Deutschland geschmuggelt wurden. Als nach dem Einzug der Deutschen die Gestapo im katholischen Büro Haussuchung abhielt, fand sie kein Fetzchen Papier. Die Katholiken hatten zur rechten Zeit alles vernichtet. Während des ganzen Jahres 1937, nachweisbar noch bis um Weihnachten herum, rief die Komintern Münzenberg wiederholt nach Moskau zurück. Er reagierte nicht darauf. Damit war der Bruch mit der Komintern endgültig vollzogen. Dennoch blieb er politisch aktiv, selbständig und in Verbindung mit gleichgesinnten sozialistischen oder bürgerlichen Freunden. Seine Tätigkeit war auch weiterhin gegen den Faschismus gerichtet. Nur wenige seiner früheren Kampfgenossen hielten auch nach dem Bruch mit der Komintern zu ihm. Aber er blieb immer noch ein Mann mit guten Verbindungen. Auch der den Sowjetrussen freundlich gegenüberstehende schwedische Bankier Olof Aschberg, der jahrelang sein Freund gewesen war, wandte sich in dieser kritischen Zeit nicht von ihm ab. Dann kam der Vormarsch der Deutschen, und Münzenberg begab sich freiwillig in ein Lager, um der zwangsweisen Einlieferung durch die Franzosen zu entgehen.

Das Ende Sein Ende war ebenso geheimnisvoll wie tragisch. Als kurz vor der Kapitulation Frankreichs die Deutschen aus den französischen Internierungslagern freigelassen wurden, verließ auch Münzenberg gemeinsam mit drei anderen Lagerinsassen das Lager Chambarran östlich von Lyon und schlug die Richtung nach Valence, einer Stadt an der Rhone südlich von Lyon, ein. Zum letzten Male wurde er in dem Ort St. Antoine gesehen. Dort machte die kleine Gruppe Halt und erfuhr, daß sich in dem nicht weit entfernten, von der Straße durch einen Wald getrennten Weiler Montagne ein Auto befinde, mit welchem sie möglicherweise nach Marseille fahren könnten. Die Vier brachen auf und verschwanden im Walde in Richtung Montagne. Einige Monate später stöberte der Jagdhund eines Bauern aus St. Antoine in diesem Walde die, von Laub bedeckte, stark verweste Leiche Münzenbergs auf. Um den Hals war ihm ein Stück Stahldraht geschlungen.

Die Stalinisten zögerten nicht, diesen Mord sofort der Gestapo in die Schuhe zu schieben, obgleich keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden sind. Die Gestapo wäre vermutlich zu klug gewesen, um einen so wichtigen Mann wie Münzenberg in einem einsamen Gehölz zu erschlagen. Sie hätten ihn wahrscheinlich mitgenommen, um Aussagen und Geständnisse von ihm zu erpressen, ehe sie ihn umbrachten. Andere Kommunisten, wie die sowjettreue französische Journalistin Genevieve Tabois, verstiegen sich zu der Behauptung, Münzenberg sei von Kameraden erschlagen worden, die er an die französische Polizei verraten habe. Wieder andere behaupten, er habe Selbstmord verübt. Auch diese Theorie ist ganz und gar unwahrscheinlich. Münzenberg war noch beim Verlassen des Lagers sehr optimistisch im Hinblick auf die Zukunft. Er war alles, andere als gebrochen und hat zu niemandem auch nur ein einziges Wort über eventuelle Selbstmordabsichten verlauten lassen. Nicht weit von Chambarran entfernt, an der Riviera, lebte sein alter Freund Valeriu Marcu, den er leicht hätte erreichen können, und der ihn sofort mit Geld, Ausweispapieren und Wohnung hätte versorgen können. Es ist völlig unwahrscheinlich, daß ein tatkräftiger, dynamischer Mensch wie Münzenberg den Kampf in diesem Stadium freiwillig aufgegeben hätte.

Mit weit größerer Sicherheit darf man annehmen, daß Münzenberg der NKWD zum Opfer gefallen ist. Von zweien seiner Begleiter fehlt jede Spur. Verhöre des dritten verliefen ergebnislos. Im Gebiet um Grenoble hielt sich noch während des ganzen Krieges eine Reihe absolut linientreuer und skrupelloser kommunistischer Funktionäre auf. Einige von ihnen können sich sehr gut mit Münzenberg zusammen im Lager Chambarran befunden haben. Ein deutscher Emigrant erzählte nach dem Kriege, daß einer dieser Funktionäre sich ihm gegenüber gebrüstet habe, er wisse genau, was mit Münzenberg geschehen sei. Der Sozialist Albert Vassart, bis 1939 prominentes Mitglied des Politbüros der KPF, berichtete von der kommunistischen Feme, die planmäßig alle führenden Funktionäre beseitigte, die nach dem Stalin-Hitler-Pakt oder aus anderen Gründen mit der KP gebrochen hatten. V assart entzog sich diesem blutigen Racheakt nur dadurch, daß er sich bis 1946 mit seiner Frau unter falschem Namen in einer Maison meuble mitten in Paris verbarg.

Besonders wichtig für die Aufklärung des Falles Münzenberg aber dürfte die Aussage des 1950 von den Sowjetrussen entführten und 195 5 freigelassenen ehemaligen kommunistischen Bundestagsabgeordneten Kurt Müller sein. Im Laufe eines Verhörs sagte ein MWD-Beamter zu ihm: „Sie wissen ja wohl, daß wir Willy Münzenberg auch zur Strecke gebracht haben.“

Leo Flieg

Der Name Leo Fliegs ist der Öffentlichkeit weit weniger bekannt als der Name Heinz Neumanns und Willi Münzenbergs. Aber die Rolle Fliegs in der KPD war eine sehr wichtige. Da er sich meistens im Hintergrund hielt, nannte man ihn oft die „graue Eminenz“ des deutschen Kommunismus. Diese Scheu vor der politischen Öffentlichkeit entsprang zum Teil seinem Wesen, zum Teil hatte sie aber auch mit der Aufgabe zu tun, die Leo Flieg innerhalb der Partei gestellt worden war. Leo Flieg war ein zierlicher kleiner Mann mit gutgeformtem Kopf, vollen dunkelbraunen Haaren, ein Mann mit gemessenen Bewegungen, der selten ein lautes Wort sprach. Ehe er Berufsrevolutionär wurde, war er Bankbeamter gewesen, und dieser Beruf schien weit besser zu ihm zu passen als die spätere Wirksamkeit in der KPD.

Die Art dieser Wirksamkeit hätte sicher ein LIneingeweihter niemals vermutet, denn dieser sanfte, schweigsame Mann war bereits Anfang der 20er Jahre Leiter der kommunistischen Militärzersetzungs-und Terrororganisation. Während des Krieges 1914/18 hatte der Soldat Flieg sich antimilitaristisch betätigt und war zum Sozialisten geworden. Früh verband ihn eine enge Freundschaft mit Willi Münzenberg, mit dem er zeitlebens vertraut zusammengearbeitet hat. 1918 wurde Leo Flieg Sekretär von Leo Jogiches, dem großen polnischen Sozialisten, der der Gefährte Rosa Luxemburgs und einer der Führer des Spartakus-bundes war. Bald darauf begann er, sich der Geheimarbeit in der jungen KPD zu widmen, und kein Mensch hätte vermutet, daß unter seiner Anleitung neben idealistischen Phantasten auch ganz gewöhnliche Geldschrankknacker arbeiteten, um der Revolution zum Siege zu verhelfen. Solche Arbeiten mußten „in aller Stille“ durchgeführt werden, und der wortkarge Flieg war genau der richtige Mann dafür. Man mache sich nun aber keine romantischen Vorstellungen vom Menschen Leo Flieg. Hinter der Maske dieses stillen, empfindlichen Mannes verbarg sich kein finsterer Dämon. Flieg war auch als leitender Funktionär des Geheimapparates und später des Parteisekretariats von der Gewissenhaftigkeit eines Beamten, was besonders deshalb von Wichtigkeit war, weil durch, seine Hände das sowjetrussische Geld für die KPD ging. Außerdem war er der für Deutschland verantwortliche internationale Verbindungsmann zur Geheimabteilung der Komintern, der sogenannten OMS, oder Abteilung für Internationale Verbindung. Enge persönliche Freundschaften verbanden ihn mit zahlreichen alten Bolschewiken wie Pjatnitzki, den langjährigen Generalsekretär der Komintern, Abramow-Mirow, den Leiter der OMS, und vielen anderen. Bei alledem war er ein Mann von großer persönlicher Unantastbarkeit, bescheiden und sparsam in seinem Privatleben, gerecht in der Verteilung der Mittel, die durch seine Hand gingen, freundlich, wenn auch zurückhaltend, gegenüber seinen Mitarbeitern, bei denen er sich großer Beliebtheit erfreute. Erst vor einiger Zeit bestätigte mir das ein ehemaliges Mitglied des Geheimapparates, das während der Emigrationsjahre führende KP-Funktionäre mit illegalen Quartieren zu versorgen hatte. Niemals habe er einen bescheideneren „Gast“ unterzubringen gehabt als diesen Verwalter der Parteigelder. Daß eine solche saubere Haltung in der KPD durchaus nicht immer an der Tagesordnung war, das zeigt eine andere Geschichte. Der deutsche Schriftsteller Gustav Regler, der damals noch Kommunist war, sammelte während des Spanischen Bürgerkrieges in Paris eifrig Geld für den Aufbau der Internationalen Brigaden. Eines Tages gab er eine größere Geldsumme, die für die Unterstützung der Spanienkämpfer bestimmt war, an Heinrich Mann, der das Geld wiederum an Paul Merker, den damaligen Vertreter der Emigrations-Parteileitung in Paris, weitergab. Anderntags traf Regler zufällig einige Angestellte der Parteileitung, die ihm glücksstrahlend berichteten, daß sie endlich ihr Monatsgehalt bekommen hätten. So wurde also das für die Spanienkämpfer gesammelte Geld ohne vorherige Anfrage dazu benutzt, die eigenen Funktionäre zu bezahlen. Bei Leo Flieg wäre ein derartiges Vorkommnis ganz undenkbar gewesen.

Flieg und Münzenberg waren schon seit dem Ende des Ersten Weltkrieges miteinander befreundet gewesen. Später schloß sich diesen beiden noch Heinz Neumann an. Als die in der Geschichte Heinz Neumanns erwähnten innerparteilichen Auseinandersetzungen zwischen Thälmann und Neumann begannen, deren Hintergrund Neumanns Gegensatz zur Deutschlandpolitik Stalins und der Komintern war, schlossen sich Münzenberg, Flieg und Neumann noch enger zusammen und nannten sich selber die „Drei Musketiere“. Die drei Männer waren ihren Temperamenten und ihren Charakteren nach grundverschieden voneinander. Obgleich sie alle drei Kommunisten waren, gingen ihre politischen Meinungen sehr oft und sehr entschieden auseinander. Während Neumann noch trotz aller bitteren Erfahrungen ein gläubiger Kommunist war, hatte sich bei Willi Münzenberg längst ein starker Skeptizismus herausgebildet, den er in den Gesprächen zu dritt immer wieder ausspr^ch. Auch Neumann machte, wenn sie unter sich waren, seinem Herzen Luft und zwar vor allem im Hinblick auf die verfehlte Deutschlandpolitik der Komintern. Leo Flieg aber blieb meistens still. Das geschah sicherlich nicht aus Feigheit. Er hatte oft genug durch seine Arbeit für den Kommunismus bewiesen, daß er alles andere als ein Feigling war. Sein Temperament erlaubte es ihm nicht, seine Gefühle zur Schau zu stellen. Aber Münzenberg sowie Neumann wußten, daß auch Flieg sich mit kritischen Gedanken herumschlug. Während er unermüdlich für die kommunistische Bewegung tätig blieb, fraß er seine Zweifel in sich hinein. Oft erscheint mir das Schicksal dieses Mannes, der selbstverständlich und ohne Aufhebens für den Kommunismus mehr geleistet hatte als zahlreiche berühmt gewordene Funktionäre zusammen, als eins der tragischsten Kommunistenschicksale überhaupt. Bestimmt waren es bei ihm die lautersten Motive, die ihn zum Kommunismus geführt hatten; doch auf der anderen Seite mußte diese Lauterkeit seines Charakters ihn eindringlicher als andere erkennen lassen, wohin der Weg führte, den die kommunistische Bewegung unter der Führung Stalins eingeschlagen hatte. Seine letzten Jahre müssen, obwohl er nie darüber sprach, im Zeichen eines verzweifelten „Dennoch" gestanden haben. Das mag für Außenstehende schwer verständlich oder sogar Grund genug für ein Verdammungsurteil sein. Derjenige, der weiß, wie schwer es ist, einen Glauben aufzugeben, wird es verstehen.

Der Sturz Neumanns im Frühjahr 1932 riß Leo Flieg nicht mit sich, obwohl seine Freundschaft zu Neumann auch in den Kominternkreisen sehr wohl bekannt war. Zwar wurde er vorübergehend nach Moskau befohlen, durfte aber dann in der Pariser Emigration weiterarbeiten. War er seiner außerordentlichen Erfahrung wegen unentbehrlich, oder verdankte er es seinen alten Beziehungen zu Pjatnitzki, daß er zunächst unangetastet blieb? Das ist nicht leicht zu entscheiden. Jedenfalls setzte er seine Tätigkeit für Partei und Apparat in aller Stille fort, bis er Ostern 1937 plötzlich von der Komintern die Aufforderung erhielt, unverzüglich nach Moskau zu kommen. Der schwedische Bankier Olof Aschberg, ein Freund Willi Münzenbergs und Fliegs, der in Paris lebte, riet Flieg dringend davon ab, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Die Sowjetunion befand sich mitten in der Großen Säuberung. Allnächtlich verschwanden hunderte von Menschen. Ein Ruf nach Moskau konnte nur den sicheren Untergang bedeuten, zumal mit Abramow-Mirow und seinen Mitarbeitern in der OMS bereits aufgeräumt worden war. Aschberg wußte davon, und auch Flieg konnte es nicht unbekannt geblieben sein. Aber obgleich der um Leo Fliegs Sicherheit besorgte Bankier ihm Geld anbot, das ausgereicht hätte, um ihm ein ruhiges Leben als Emigrant in Paris zu gestatten, lehnte es Flieg ab, zu bleiben. Er wußte, daß die Kominternführung, falls er nicht in Moskau erschien, ihn an seiner verletzlichsten Stelle angreifen und behaupten würden, er habe Parteigelder nicht ordentlich verwaltet und Unterschlagungen begangen, und eine solche Verleumdung fürchtete dieser zutiefst rechtlich denkende Mensch am meisten. Diese Möglichkeit wollte er Stalin und seinen Helfershelfern nicht geben. Lieber ging er offenen Auges in sein Verderben. Er war kaum in Moskau eingetroffen, als er spurlos verschwand. Sein weiteres Schicksal ist in undurchdringliches Dunkel gehüllt. Er ging zugrunde, wie er gelebt hatte, unauffällig, ohne Lärm. Niemand hat je etwas über sein Ende erfahren. Der sowjetrussische Moloch hatte auch diesen Mann verschlungen, der sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als der Sache des Kommunismus selbstlos zu dienen.

Max Hölz

Mit Heinz Neumann, Willi Münzenberg und Leo Flieg habe ich drei Beispiele für den Untergang kommunistischer Politiker und Funktionäre gegeben. Dazu traten noch einige wenige Namen deutscher Kommunisten, die in jenen Jahren in der Sowjetunion als Unschuldige zugrunde gingen. Aber es traf nicht nur die Politiker, die Träger der Ideologie in Praxis und Theorie, die bewußten, politisch denkenden und politisch handelnden Kommunisten. Es traf auch die Volkshelden, die von Theorie und Politik nichts begriffen, für die Fraktionskämpfe oder ideologische Auseinandersetzungen böhmische Dörfer waren, die lediglich ihr Leben in die Schanze geschlagen hatten für eine Sache, von der sie eine Besserung der Lebensbedingungen erhofften, und nicht zuletzt, weil ihr kämpferisches Temperament sie zu waghalsigen Taten zwang.

Es gab in den zwanziger Jahren wohl kaum einen Menschen in Deutschland, dem der Name Max Hölz nicht vertraut gewesen wäre. Romantische Legenden in großer Zahl rankten sich um die Schinder-hannes-Gestalt dieses ehemaligen Kinoerklärers, der 1920, während des Kapp-Putsches, aus Heimarbeitern des Erzgebirges einen Trupp von etwa hundert Leuten bildete und sich mit ihnen den reaktionären Frei-korps entgegenstellte, Orschaften überfiel, Waffen raubte, die Reichen bedrohte und den Armen half, so gut er konnte. 1921 wurde er zu einer der Zentralfiguren des mitteldeutschen Aufstandes. Als die sogenannte März-Aktion im April 1921 zusammenbrach, befand sich unter den Tausenden deutscher Arbeiter, die verhaftet wurden, auch Max Hölz. Er wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Aber er geriet nicht in Vergessenheit. Dafür sorgte eine jahrelange Kampagne der KPD, die sich um seine Befreiung bemühte und ihn gleichzeitig zum Märtyrer erhob, was sie dann weidlich für ihre propagandistischen Zwecke ausnutzte. Wie groß der Ruf war, den dieser Rebell in der Weimarer Republik genoß, bewies mir ein Vorfall, dessen Zeuge ich war. Bei einer Aufführung der „Weber“ von Gerhart Hauptmann im Berliner Großen Schauspielhaus geschah es, als die Weber mit dem Ruf „Jäger raus!“ die Freilassung des verhafteten Moritz Jäger fordern, daß sich im Parkett und auf den Rängen Hunderte von Menschen spontan erhoben und schrieen: „Max Hölz raus! Max Hölz raus!“. 192 8 wurde diese Forderung erfüllt und Hölz begnadigt. Ich war mit dabei, als er auf dem Bülowplatz in Berlin triumphal empfangen wurde. " Wenn ich aber erwartet hatte, einen abgezehrten Häftling zu sehen, dann wurde ich eines Besseren belehrt. Hölz sah gesund und gut genährt aus. Er war braun gebrannt und offenbar in bester Verfassung. Ich erfuhr dann, daß er im Zuchthaus Sonnenburg eine Art Ehrenhäftling gewesen war. Der Propagandafeldzug der Kommunisten und der Druck der öffentlichen Meinung hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Gefangene Max Hölz erhielt so viele Briefe und solche Berge von Paketen, daß das kleine Postamt des Ortes schier verzweifelte. Nach seiner Freilassung wurde er dann zur zugkräftigsten Reklamefigur der KPD, die ihn ein Jahr lang auf Tournee durch ganz Deutschland schickte und über seine Zuchthauszeit berichten ließ. Hölz war zwar ein mutiger, ja verwegener Mann, aber er war alles andere als ein überlegener Mensch.

Es mangelte ihm wohl an Intelligenz. Daher war er völlig außer Stande, seine eigene Rolle mit dem nötigen Abstand zu sehen. Da man ihn wie einen Helden feierte, so folgerte er, mußte er auch ein Held sein und als solcher behandelt werden, d. h. er zögerte keinen Augenblick, für sich Privilegien zu fordern, die ihm in Wirklichkeit nicht zustanden. Er begriff nicht, daß die KPD mit ihm nur deshalb Reklame machte, weil es ihr ausgezeichnet in den Kram paßte. Sein Selbstgefühl wuchs ins Unermeßliche, und damit wurde er immer unbequemer, schließlich aber ganz untragbar für die Partei. Denn er glaubte, sich kraft seiner „heroischen“ Vergangenheit Dinge herausnehmen zu können, die, vom Standpunkt der Parteidisziplin aus gesehen, einfach unverzeihlich waren. Später erfuhr er übrigens, daß er wegen mangelnder Parteidisziplin schon während des Kapp-Putsches aus der Partei ausgeschlossen worden war, was die Kommunisten natürlich nicht daran hinderte, aus seinem Schicksal so viel Kapital herauszuschlagen, wie es nur irgend ging.

Es war nicht so einfach, Hölz in Deutschland einfach fallenzulassen. Das hätte unter seinen Anhängern einen merkwürdigen Eindruck gemacht, da man nur zu gut wußte, wie sehr sich die KPD bislang für ihn eingesetzt hatte. Außerdem wäre Hölz bestimmt nicht still geblieben. Diesen Schwierigkeiten suchte man dadurch aus dem Wege zu gehen, daß man ihm vorschlug, nach Moskau zu gehen. Hölz erwartete sicher, daß das Gefeiertwerden sich in der Sowjetunion fortsetzen werde. Dort kannte man ihn bisher nur vom Hörensagen. Im riesigen Rußland lebten viele Menschen. Bis die alle Max Hölz gesehen und bewundert hatten, konnten Jahre vergehen. Also nahm er die Einladung an, und die KPD atmete auf, denn in den Jahren 1929/30 mußten Rebellen ä la Hölz ihr denkbar unbequem sein. Die hatten zu einer Zeit ihr Leben aufs Spiel setzen dürfen, als die Partei noch davon zu profitieren hoffte. Diese Zeiten waren vorbei. Dem disziplinierten Duckmäuser, der sich willenlos den Weisungen Moskaus unterwarf und der gleichzeitig ein gewissenloser Intrigant war, dem Bolschewiken neuen Typs, dessen reinster Vertreter ein Walter Ulbricht war, dem politischen Neandertaler gehörte die kommunistische Welt. Die wenigen Kräfte, die sich dieser Entwicklung entgegenzustellen versuchten, waren bereits zum Untergang verurteilt. Ein eigenwilliger Volksheld bedeutete nun eine besondere Gefahr, denn verständlicherweise waren die Arbeiter geneigt, sich gerade ihn zum Vorbild zu nehmen, und die KPD hatte ja auch das Ihre dazu getan, die Gestalt des Max Hölz mit einem sehr sichtbaren Nimbus zu umgeben. Daher entledigte man sich seiner, indem man ihn nach der Sowjetunion abschob, wo er, dank der Wirksamkeit der Stalin-

sehen Terrormaschinerie, kein Unheil mehr stiften konnte. Aber die Moskauer hatten sich in Max Hölz verrechnet. Hölz zeigte mehr Selbstbewußtsein, Willenskraft und Querköpfigkeit, als man ihm anscheinend zugetraut hatte. Zunächst wurde er in der Sowjetunion gefeiert und mit Orden dekoriert. Aber das dauerte nur kurze Zeit, dann versuchte man, ihn totzuschweigen. Doch damit war man bei Hölz an die falsche Adresse geraten. Er nahm diese Behandlung keineswegs stillschweigend hin. Hatte man nicht oft und laut genug gesagt, daß er ein Held sei, daß er Gewaltiges für die kommunistische Sache geleistet hatte? Also konnte er auch darauf pochen. Hölz betrachtete die Verhältnisse in der Sowjetunion als seine ganz persönliche Angelegenheit. Er war der Überzeugung, er habe einen ganz bestimmten Anteil an diesem Vaterlande des Weltproletariats. Wie alle primitiven Menschen nahm er allzu viele Dinge wörtlich und verhielt sich auch dementsprechend. Da ihm immer wieder versichert worden war, in Rußland herrsche das Volk, das Pro-letariat, und er sich als Teil dieses Volkes empfand, machte er seinem Herzen ungehemmt Luft, wo immer er etwas zu kritisieren fand. Und es gab reichlich viel zu kritisieren. Dazu kam noch sein verletztes Selbstgefühl. So erlaubte er sich viel, was zu jener Zeit kein anderer ausländischer Kommunist in der Sowjetunion gewagt hätte, von russischen Kommunisten ganz abgesehen. Er verhielt sich geradezu selbstmörderisch, obwohl er mit zahlreichen seiner Kritiken durchaus recht hatte. Aber gerade das war in Sowjetrußland die eigentliche unverzeihliche Sünde: die Wahrheit zu sagen. Hölz begriff erst allmählich, wohin die Dinge trieben. Schließlich wurde sogar er, der Wagemutige, von panischer Angst erfaßt, die sich nach und nach beinahe bis zu Verfolgungswahn steigerte. Er hatte nur noch einen einzigen Gedanken: hinaus aus diesem sogenannten Paradies, hinaus aus der Todesfälle. Es ging ihm nur noch darum, sich zu retten. Daher schreckte er nicht einmal vor dem Versuch zurück, Verbindung mit der deutschen Botschaft in Moskau aufzunehmen, obgleich die Nazis in Deutschland bereits die Macht an sich gerissen, hatten. Diese Versuche wurden zunächst wirksam vereitelt. Einmal aber gelang es ihm, an den NKWD-Posten vor der Botschaftstür vorbeizukommen und seinen Fall in der Botschaft vorzutragen. Als er auf sein Zimmer im Moskauer Hotel „Metropol“ zurückgekehrt war, verbarrikadierte er sich und legte sich mit einer Pistole auf die Lauer, da er damit rechnete, daß die NKWD ihn sofort verhaften werde. Kampflos wollte er sich nicht ergeben. Darum beantwortete er alle Bitten des Hotelpersonals, zu öffnen, mit der kategorischen Ankündigung, er werde auf jeden Eindringling schießen. Erst als man ihn davon überzeugt hatte, daß es nicht die NKWD war, die zu ihm ins Zimmer wollte, beruhigte er sich. Überhaupt muß ihn dieser Anfall von Panik etwas erschöpft haben, ‘denn als man ihm kurz darauf eine Arbeit in Gorki anbot, ging er darauf ein.

Als ich 1935 nach Moskau kam, gab mir ein Freund eine Schilderung seines tragischen Endes. Er berichtete, man habe im Frühjahr 1934 aus der Wolga bei Gorki eine männliche Leiche geborgen, die als diejenige von Max Hölz identifiziert worden sei. Man fand Hölz angeschwemmt an das Baugerüst eines Brückenpfeilers und behauptete, er sei beim Baden ertrunken. Die Tatsache, daß ihm ein . Staatsbegräbnis bereitet wurde, genügte nicht, um die zahlreichen Gerüchte über die seltsamen Umstände seines Todes zum Schweigen zu bringen. Alles deutete darauf hin, daß der einstige kommunistische Volksheld von der NKWD ermordet worden war. Über die Art und Weise ist viel gerätselt worden, die Tatsache selbst steht heute fest.

Heinrich Vogeler

Nicht jedes Ende deutscher Kommunisten in der Sowjetunion vollzog sich freilich unter so dramatischen Umständen. Manche gingen sang-und klanglos zugrunde, ohne daß sich in einigen Fällen auch nur die NKWD hätte einschalten müssen. So geschah es zum Beispiel dem bekannten deutschen Maler und Illustrator Heinrich Vogeler. Wer ihn nur von den feinen, romantisch-lyrischen Werken seiner Glanzzeit her kennt oder das Urteil Paula Modersohn-Beckers über ihn gelesen hat, ein Urteil, das gegen Ende des vorigen Jahrhunderts abgegeben wurde und uns den Maler als einen dem Märchenhaften und der Vergangenheit zugewandten, zartsinnigen jungen Schwärmer schildert, der kann nur schwer verstehen, daß Heinrich Vogeler sich gleich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges entschieden dem Kommunismus zuwandte. Aber der Kommunismus bedeutete für ihn weniger wirtschaftliche oder politische Doktrin und Gesellschaftslehre. Ihm ging es vielmehr um Gerechtigkeit, um Menschenliebe, um Gleichheit unter den Menschen und neues Lebensgefühl. Sein Kommunismus hatte etwas von Urchristentum an sich. Dazu paßte die Neigung des Romantikers zum Asketentum sehr gut. Den „Barken Hoff“, das nach eigenen Angaben umgebaute Anwesen des Malers in der norddeutschen Künstlerkolonie Worpswede, schenkte er der Roten Hilfe mit der Bitte, dort ein Kinderheim für die Kinder mittelloser Kommunisten einzurichten. Ich lernte Heinrich Vogeler 192 3 bei einem Aufenthalt in diesem Kinderheim kennen. Er selber wohnte damals in einem kleinen Gartenhäuschen, kleidete sich wie ein Büßer, nahm kärgliche Mahlzeiten mit hölzernem Löffel von hölzernem Feller ein. Die neuen Wandgemälde, mit denen er die Wände der geräumigen Halle des „Barken Hoff“ geschmückt hatte, erfüllten mich mit Staunen, gleichzeitig aber auch mit Unbehagen. Der zarte Romantiker, den ich aus Bildern und Illustrationen wie denjenigen zu Oscar Wildes Märchen kannte, schien nicht mehr zu existieren. Er hatte sich offensichtlich um Anschluß an die modernsten Richtungen bemüht und seine Fresken in einem halbexpressionistischen Monumentalstil gemalt. Aber die Wandbilder überzeugten mich nicht. Sie zeigten allzu deutlich, daß ihrem Schöpfer die neue Manier wenig lag. Eine Frauengestalt kehrte immer wieder, manchmal in Ausdruck und Gebärde einer Heiligen gleichend, eine junge Frau mit flammend roten Haaren. Ob ihr die Farbe ihres Haares den Spitznamen „rote Marie“ eingetragen hatte oder ihre revolutionäre Vergangenheit, habe ich niemals herausgefunden. Die „rote Marie“, die, als ich 1923 nach Worpswede kam, Vogeler gerade verlassen hatte, um mit einem anderen Freunde in der Fleide zu siedeln, war ein Proletariermädchen aus Bremen, das während der Revolution von 1918 in ihrer Vaterstadt Heldentaten vollbracht haben sollte. Als sie in der Künstlerkolonie auftauchte, faszinierte sie die feinsinnigen Aestheten durch ihr unverfälschtes Proletariertum. Für Vogeler wurde sie eine Art Göttin der neuen Zeit, ein Symbol seiner eigenen Wandlung und vor allen Dingen seiner Sehnsucht.

Vogeler schenkte der Roten Hilfe nicht nur den „Barken Hoff , er half außerdem, wo er konnte, durch großzügige Stiftungen. Aber das hinderte Wilhelm Pieck, der damals die deutsche Sektion der Roten Hilfe leitete, nicht daran, Vogeler 1927 aus dem Zentralkomitee dieser Organisation wegen oppositionellen Verhaltens zu verdrängen. Dem nur auf seinen eigenen Vorteil bedachten Opportunisten Pieck mußte freilich tätige Menschenliebe und Opferbereitschaft wie oppositionelles Verhalten vorkommen, sie paßten und passen so gar nicht in das Konzept der Stalin, Ulbricht und Pieck.

Trotz dieser bitteren Erfahrungen ging Heinrich Vogeler, der inzwischen die Tochter des bekannten polnischen Kommunisten Karski geheiratet hatte, 1930 in die Sowjetunion, erfüllt von dem ehrlichen Willen, alle seine Kräfte für die Sache einzusetzen, an die er glaubte. In Rußland gab-er sich redliche Mühe, es den bolschewistischen Kultur-päpsten recht zu machen, indem er im Stil des sozialistischen Realismus schuf. Er opferte dazu auch noch sein Talent. Aber es nützte ihm nichts. Er fand keine Gnade vor den Augen der sowjetischen Kritiker. Sie nahmen keine Notiz von ihm. Er war sicher nicht schlechter als die übrigen minderwertigen Maler Sowjetrußlands, die es in jedem ihrer Bilder darauf anlegten, Stalins Geschmack zu treffen. 193 5 sah ich im Moskauer Kulturpark eine Ausstellung seiner in Rußland entstandenen Werke. Da war auch kein Restchen des Worpsweder Lyrikers mehr zu entdecken. Aber das stimmte mich nicht böse, sondern nur traurig. Es lag etwas Rührendes in seinem ehrlichen Bemühen, sich der offiziellen sowjetischen Kunst anzupassen, einem Bemühen, das ihm überdies so gar keinen Erfolg brachte. Erst während des Stalin-Hitler-Paktes, als Kulturaustausch mit Deutschland gewünscht wurde, besann sich die sowjetische Presse auf ihn, und Durus, der frühere Kunstkritiker der Berliner „Roten Fahne“, der ihn sonst gewöhnlich auf bösartigste Weise angegriffen hatte, schrieb einen anerkennenden Artikel über ihn. Das brachte sogar den sanftmütigen Vogeler in Harnisch, und er rief bei dieser Gelegenheit angeekelt aus: „Der Durus, dieser Kerl, ist schliwiuer als eilte Wanze!“

Das war alles, was für den deutschen Maler und selbstlosen Kommunisten Heinrich Vogeler jemals getan wurde. Er lebte in ärmlichen Verhältnissen in Moskau. Obwohl er jahrelang Beiträge in eine Moskauer Baudarlehenskasse einzahlte, brachte er es niemals zu einer eigenen Wohnung, geschweige denn einem Atelier. Mit seiner ganzen Familie zusammengepfercht, hauste er in einem einzigen Zimmer.

Von seinem Ende hörte ich erst nach 1945. In den Tagen, als die deutsche Armee sich Moskau näherte, beschafften sich die führenden deutschen Kommunisten in aller Eile neue sicherere Quartiere, aber keiner dachte an den alten Mann, den das harte Leben in der Sowjetunion ohnehin übel mitgenommen hatte. Vogeler machte das gleiche Martyrium wie die Mehrzahl der damals aus Moskau Evakuierten durch. Eines Tages mußte er sich an einer Sammelstelle im Osten der Stadt melden, von da aus mußte sich der 70jährige Maler in kilometerlangen Fußmärschen zum Deportationspunkt begeben. Dann begann die eigentliche Qual der viele Tage dauernde Transport unter schrecklichen Verhältnissen bis in das vorderasiatische Kurdistan. Nach Jahren besannen sich einige in Moskau verbliebene deutsche Schriftsteller auf ihn und sandten ihm ein Paket. Den Brief, den er ihnen daraufhin schrieb, brachte Theodor Plivier 1949 mit nach dem Westen. Er ist ein erschütterndes Dokument: „Wir sind hier in einem Tal", heißt es darin, „Gar nicht streng bewacht, da wir ja alle Treu-Ergebene des Sowjetregimes sind. — Natürliclt ist die Nahrung nicht zum allerbesten, aber manchmal hilft die Natur nach." Dieser Satz, das stellte sich später heraus, hieß nichts anderes, als daß sie sich unter anderem von Wurzeln nährten.

„Das ist aber nicht mein Kummer“, schreibt Vogeler weiter. „Ich wünschte mir nur, daß die Partei doch noch für midr Verwendung hätte.

Könntet Ihr für mich nicht ein Wort einlegen dort in Moskau? Ihr wißt, daß ich zu allem bereit bin. — Meine Gesundheit ist nicht zum besten.

Das Schlucken macht mir schon Schwierigkeiten. Schickt besser keine Pakete mehr ..." Nein, seine Gesundheit war wirklich nicht zum besten. Ein paar Wochen später starb er. An Hungerödemen. Was die Sowjets an ihm begangen haben, war Mord, zunächst geistiger und seelischer, dann körperlicher Mord, aber ein Mord von grausamer Langsamkeit.

Vor zwei Jahren erschien bei Vogelers 75jähriger Witwe in Worpswede der sowjetzonale Kulturemissär Alfred Kurella, ein Mann, der es 1937, als sein eigener Bruder in Moskau unschuldig verhaftet worden war, fertiggebracht hatte, in einer Wandzeitung gegen diesen Bruder Stellung zu nehmen, obwohl er dessen Unschuld sehr genau kannte. Dieser Kurella, der sich Schriftsteller nennt und der, kürzlich aus Moskau zurückgekehrt, mit einer Professur in Dresden entlohnt wurde, teilte der Witwe Vogelers mit, daß eine Wanderausstellung durch Städte der Bundesrepublik mit in Rußland entstandenen Werken des Worpsweder Malers geplant werde. Wohlweislich verschwieg er, daß die Kommunisten die Absicht hatten, noch ihr Opfer zu Reklamezwecken zu benutzen. Liber das Ende Vogelers in der Sowjetunion befragt, antwortete er: „Er starb im Hause eines Hirten, im friedlichen Kontakt mit der bäuerlichen Bevölkerung der Sowjetunion.“

Ein deutscher Arbeiter

Die letzten beiden Schicksale, die ich schildern will, sollen als Beispiele für eine ganz andere Gruppe von Menschen stehen. Hier handelt es sich weder um aktive kommunistische Funktionäre noch um bekannte Intellektuelle oder Künstler. Es handelt sich vielmehr um zwei beliebige Menschen aus der Masse der Parteimitglieder, brave, harmlose Arbeiter ohne politischen Ehrgeiz, die an den Kommunismus glaubten, weil sie hofften, er werde ihnen eine schönere Zukunft bringen. Dieser Glaube ließ sie in die Sowjetunion gehen, wie so viele andere ihrer Art, deren Schicksal ähnlich trostlos verlief, denn auch diese unbekannten Arbeiter fielen zu Hunderten dem sowjetischen Terror zum Opfer.

Erich Schmidt war ein kleiner ausgemergelter Arbeiter. Als ich ihn das erste Mal mit Bewußtsein sah, hatte ihn der Tod schon gezeichnet. Vielleicht überließ er sich diesem Tod sogar ohne Widerstand, weil sein Leben inhaltlos geworden war. Ein jahrelanger Kampf um Rehabilitierung lag hinter ihm, und man hatte ihn diese Rehabilitierung versagt.

Seinem Beruf nach war er Graphiker, aber sein Leben gehörte seit seiner frühen Jugend nur der kommunistischen Bewegung. Ihre Freiheitslieder waren seine Psalme, der Besuch ihrer Versammlungen sein Kirchgang, und in ihren Demonstrationen wuchs er über sich selbst hinaus, fühlte sich nicht mehr klein und von der Natur benachteiligt, sondern ging in Reih und Glied „im Marschtritt der Millionen“ Das Parteilokal wurde sein Zuhause, und als „Genosse“ gehörte er zur großen Bruderschaft der Partei, der er jede freie Minute seines Lebens opferte. Er war unerschrockener Kämpfer gegen die Nazis. Der kleine Erich Schmidt, das Mitglied der großen Kommunistischen Partei, war kein Feigling.

Nach 1933 riet ihm die Partei zu emigrieren, damit er nicht in die Hände der Gestapo falle. Er kam auf Hinwegen nach Moskau und sah sich am Ziel seiner sehnlichsten Wünsche. Er durfte mitarbeiten am Aufbau des Sozialismus. Das tat er als Graphiker in der Druckerei der deutschsprachigen Zeitung, in Moskau. Um das Maß des Glückes vollzumachen, fand er eine Frau, eine junge Polin, die er bald heiratete. Er hatte mit ihr zwei Kinder. Sein persönliches Leben war so ungetrübt und harmonisch, daß er für die Mißstände in seiner Umgebung kein Auge hatte. Sah er sie, so erfand er Entschuldigungen. Er zweifelte keine Minute daran, daß in Sowjetrußland Freiheit und Wohlstand bald ihren Einzug halten würden.

Da kam das Jahr 1936. Erichs Frau, die eine Polin war, erhielt eines Tages die Anweisung, daß sie binnen drei Tagen Sowjetrußland zu verlassen habe. Schon einige Minuten nach dem ersten tödlichen Erschrekken hatte Erich seine Sicherheit wiedergefunden. „Das Ganze ist ein Irrtum, der sich gleich aufklären wird.“ Er lief unverzüglich zur Behörde, die dieses Schreiben gesandt hatte, nämlich zur NKWD. Dort ließ man ihn nicht vor. Der nächste Weg führte ihn zur Komintern. Man hörte ihn an und versprach, „die Angelegenheit zu prüfen“. Dann ging er zur Roten Hilfe, zur Vertretung der KPD und ... am Ende hatte Erich Schmidt den Sieg davongetragen: die Ausweisung seiner Frau wurde zurückgenommen. Damit war alles gerettet, vor allem aber sein kostbarer Glaube. Hatte er nicht endlich den Beweis dafür erbracht, daß alle diese Gerüchte und dieses Gemurmel im Betrieb, das sich um Über-griffe und Verhaftungen durch die NKWD drehte, erlogen war? Hatte es sich nicht gezeigt, daß es in Sowjetrußland Gerechtigkeit gab? Und wurden wirklich irgendwelche Leute verhaftet, so geschah es sicher zu Recht, da sie Spione oder Konterrevolutionäre waren. In Sowjetrußland wurden keine unschuldigen Menschen der Freiheit beraubt . . .

Da kam Ende 1936 eines Nachts die NKWD und holte Erich Schmidt. Die beiden Beamten, die ihn verhafteten, nahmen die Beteuerungen seiner Unschuld nicht zur Kenntnis. Aber vielleicht verstanden sie ihn gar nicht. Sein Russisch war sehr schlecht. Lind dann hockte er durch Wochen und Monate in einer Zelle des Untersuchungsgefängnisses. Die Menschen, mit denen er zusammensaß, redeten ununterbrochen davon, daß sie unschuldig seien. Dieses Geschwätz hing ihm nach kurzer Zeit zum Halse heraus. Daß er selber unschuldig war, wußte er nur zu genau. Seine Verhaftung war natürlich ein Irrtum, bedauerlich, aber begreiflich. Das würde sich sehr bald herausstellen. Man sollte ihn nur erst einmal verhören. Aber man verhörte ihn nicht. Er saß in der Zelle, als habe man ihn vergessen. An jedem Schreibtage verfaßte er seitenlange Eingaben. Nichts erfolgte. Doch endlich kam die große Möglichkeit für ihn, diesen ganzen Unsinn aufzuklären, sein erstes Verhör.

Er traute seinen Ohren nicht, als der Untersuchungsrichter ihm konterrevolutionäre Umtriebe vorwarf. Handelte es sich vielleicht um eine Personenverwechslung? Aber aus den Worten des Untersuchungsrichters ging einwandfrei hervor, daß es sich um ihn, den Graphiker Erich Schmidt, drehte. Er ein Konterrevolutionär? Es war einfach lächerlich! Hatten ihm die Nazis nicht den Schädel eingeschlagen? Er riß die Haare auseinander und hielt dem Richter seine Narbe hin. Er, dessen Leben offen vor der Partei dalag, sei kein Konterrevolutionär. Er brach in schallendes Gelächter aus. Da gab ihm der Untersuchungsrichter eine Ohrfeige, und ein NKWD-Soldat drehte ihm den Arm im Gelenk um, als er ihn in die Zelle zurückschleppte. Erich Schmidt begriff nichts mehr Tage und Nächte hockte er auf den Brettern in der Zelle und grübelte. Was hatte er verbrochen? Er wühlte in seinen Erinnerungen. Hatte er vielleicht, ohne es zu ahnen, irgendwann einmal gegen die Disziplin verstoßen? War er nicht loyal gewesen? Er fand nichts. Er mußte sich immer wieder bestätigen, daß er, dessen ganzes Leben die Partei war, niemals gegen dieses Leben gesündigt hatte. Aber wo lag dann der Fehler? Wie konnte so etwas geschehen? Er fand keine Antwort. Als er fürchtete, den Verstand zu verlieren, vertraute er sich seinem Nachbarn an. Er erzählte ihm flüsternd seine ganze Geschichte. Der Nachbar, ein alter Arbeiter aus dem Elektrosawod, nickte verständnisvoll: „Kann ich wir denken, daß Du durcheinander bist! Aber es ist Deine eigene Schuld. Warum bist Du überhaupt hierher gekommen? Wenn Du bei den Nazis geblieben wärest, hättest Du es bestimmt nicht schlechter gehabt." Erich fuhr entsetzt zurück. Jetzt war er nun wirklich an einen gefährlichen Konterrevolutionär geraten! Bei den Nazis, den Todfeinden des Kommunismus, bei seinen persönlichen Todfeinden? Schon der Gedanke allein war ein Verbrechen! Aber der alte Arbeiter redete weiter. Er klärte ihn darüber auf, daß er, Erich Schmidt, nicht der einzige Unschuldige hinter den Mauern der sowjetischen Gefängnisse oder in den Zwangsarbeitslagern sei. Er sprach von den ungeheuerlichen Anklagen und Beschuldigungen, die nichts weiter seien als phantastische Erfindungen der NKWD. Erich Schmidt war, nach seinen eigenen schrecklichen Erfahrungen, nicht mehr so überzeugt davon, daß alle Mitgefangenen schuldig seien, daß er die einzige Ausnahme bilde. Aber er war auch nicht gewillt, an seinen bewußten Verrat zu glauben. Es mußte eine Erklärung geben! Und er suchte sie zu finden. Von jetzt ab redete er mit seinen Zellengenossen wie im Fieber.

Nach einiger Zeit ging eine merkwürdige Veränderung mit ihm vor.seine Gesichtszüge, die schlaff und unbestimmt geworden waren, festigten sich wieder. Man sah ihn lächeln, und in den Nächten schlief er ruhig und fest. Selbst als er ein Urteil von zehn Jahren „Arbeits-Besserungslager“ erhielt, schlug sein Herz nicht schneller. Seine Leidensgenossen blickten mißtrauisch auf ihn, sie glaubten, er sei verrückt geworden. Aber Erich Schmidt hatte nicht den Verstand verloren, er hatte nur die Lösung gefunden, die einzig mögliche Antwort auf seine quälenden Fragen. Mochten die anderen Häftlinge ihn ruhig auslachen, er wußte jetzt, warum die Gefängnisse voll waren mit Hunderttausenden unschuldiger Menschen, warum man jede Nacht neue und immer neue Unschuldige durch die Zellentüren zu ihnen hineinstieß. Die Erklärung war so einfach: An der Spitze der NKWD saß ein Feind, ein Verräter, ein Trotzkist! Dieser Mann war der wirkliche Konterrevolutionär! Auf solche Weise suchte dieser Verbrecher seinen teuflichen Plan zu verwirklichen, den Sturz der Sowjetregierung. Stalin aber und den übrigen führenden Kommunisten um ihn machte er weis, er habe eine weitverzweigte Verschwörung aufgedeckt.

Gefaßt trat Erich Schmidt den Transport nach Sibirien an und wurde einer der zahllosen Sklaven in den Kohlengruben Workutas. Er wußte ja, daß seine Leiden bald ein Ende nehmen würden. Sein Vertrauen in die Wachsamkeit der Partei war unerschüttert. Stalin würde sich nicht lange Sand in die Augen streuen lassen. Der Verräter würde entlarvt werden, und für ihn, Erich Schmidt, und alle die anderen unschuldig Verhafteten würde ein neues Leben in Freiheit beginnen. Damit aber auf alle Fälle seine persönliche Unschuld dokumentarisch niedergelegt werde, brachte er dem Chef der NKWD in Workuta ein viele Seiten langes Memorandum, in welchem er sein Leben als Kommunist in Deutschland schilderte, seinen Kampf gegen die Nazis und seine treue Pflichterfüllung während der Emigrationsjahre in Moskau. Über jeden Schritt, den er getan, jeden Gedanken, der ihn erfüllt hatte, legte er Rechenschaft ab. Allein seinen Verdacht, die Antwort auf seine Fragen, verschwieg er. Den Verräter an der Spitze der NKWD erwähnte er mit keinem Wort. Den Abschluß des Memorandums bildete ein Glaubensbekenntnis zur kommunistischen Idee. Man nahm ihm das umfangreiche Dokument ab, und er arbeitete weiter in der Grube, die an seinen ohnehin nicht großen Kräften zehrte.

Erich Schmidt, der in einer Welt für sich lebte, ahnte nichts von dem raffinierten Spitzelsystem, das die NKWD in jedem Lager Sibiriens errichtet. Eines Tages konnte er sein großes Geheimnis nicht mehr bei sich behalten. Er vertraute sich einem Mitgefangenen an, nannte sogar den Namen des Mannes, den er für den Verräter hielt. Kurze Zeit darauf wurde er vor ein Gericht der inneren NKWD des Lagers gestellt. Wegen „konterrevolutionärer Agitation“ erhielt er eine Zusatzstrafe von zehn Jahren. Ein Trotzkist in der Leitung der NKWD!

Von den zwanzig Jahren Zwangsarbeit, zu denen er nun insgesamt verurteilt worden war, hatte er bereits mehr als drei Jahre hinter sich gebracht, als man ihn im Dezember 1939 unter Bewachung nach Moskau zurücktransportierte. Jetzt — Erich wußte es genau — hatte seine Stunde geschlagen. In Moskau würde sich seine Unschuld herausstellen. Die Verschwörung mußte aufgedeckt worden sein. Für unzählige unschuldig Verurteilte bedeutete das die Freiheit. Erich Schmidt sah sein neues Leben vor sich, als Genosse unter Genossen, im Kreise seiner Familie. Wie groß mochten die Kinder jetzt sein?

Aber in Moskau war von Freiheit nicht die Rede. Er erhielt ein neues Urteil: Ausweisung aus dem Territorium der UdSSR. Es gab keinen Einspruch. Seine Frau und seine Kinder werde man ihm nachschicken, versicherte die NKWD. „Aber wohin wird man mich ausweisen?“ „Das werden Sie schon früh genug erfahren!"

So kam es, daß der gleiche Gefangenenwaggon, der dreißig kommunistische deutsche Emigranten transportierte, Erich Schmidt und mich nach Brest-Litowsk brachte, wo wir von der NKWD an die Gestapo ausgeliefert werden sollten. Damals sah ich ihn zum erstenmal, freilich ohne mit ihm zu sprechen. An der Demarkationslinie, als schon die SS auf uns wartete, kämpfte Erich Schmidt noch einmal verzweifelt um Gerechtigkeit. Es konnte doch einfach nicht möglich sein, daß die Sowjetunion deutsche Kommunisten an die Nazis auslieferte! Aber der NKWD-Offizier hörte ihn nicht einmal an. Roh wurde er vorwärts gestoßen, bis die SS uns alle in Empfang nahm..

Auf diese Weise kam Erich Schmidt nach Deutschland zurück. Man schaffte ihn in seine sächsische Heimatstadt, wo man ihn verhörte. Er sagte nichts als die Wahrheit. Er sei immer Kommunist gewesen, und er sei es auch geblieben. Trotz allem. Das war der Gestapo wahrscheinlich noch nicht vorgekommen. Sie zog es vor, ihn als harmlosen Irren zu behandeln, und ließ ihn nach kurzer Zeit frei. Er arbeitet wieder als Drucker, bis er eines Tages zur Wehrmacht eingezogen wurde. In seiner erstaunlichen Mischung aus Tapferkeit und Naivität erklärte er rund-weg, er sei überzeugter Pazifist. Kopfschüttelnd schickte man den seltsamen Heiligen zu den Sanitätern. 194 5 kehrte Erich Schmidt zurück in ein anderes Deutschland. Die Träume, die er immer noch hegte, schienen Wirklichkeit geworden zu sein. In seiner Heimat hatte der Kommunismus gesiegt. Erichs erster Gang führte ihn zur Parteileitung seiner Vaterstadt. Selbstverständlich werde er sich als alter Kommunist für die Aufbauarbeit zur Verfügung stellen. Allerdings sei vorher noch eine wichtige Angelegenheit zu regeln. Eher könne er kaum mitarbeiten. Lind Erich Schmidt packte aus. Es gehe um seine Rehabilitierung. Er könne nicht weiterleben, wenn die NKWD ihre Anklage, er sei ein Konterrevolutionär, nicht zurücknehme, wenn sein Urteil auf zwanzig Jahre Arbeits-Besserungslager nicht revidiert werde. Nur die Partei könne ihm dazu verhelfen. Sie sei sogar verpflichtet dazu, da sie ihn seit Jahrzehnten als treuen Genossen kenne. Außerdem möge man die sowjetischen Behörden veranlassen, daß seine Familie nach Deutschland geschickt werde, denn das habe ihm die NKWD vor seiner Auslieferung an die Nazis zugesagt.

Die Parteileitung war verblüfft. Sie versuchte zunächst, Zeit zu gewinnen, und vertröstete Erich auf später. Er ging nach Hause und legte alles schriftlich nieder, seinen ganzen Leidensweg durch die Gefängnisse und Lager der Sowjetunion. Lim seiner Schilderung mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, fügte er dem Bericht Zeichnungen von seiner Zelle in der Butirka und den verschiedenen Lagerabschnitten von Workuta bei.

Aber auch diese schriftlichen und graphischen LInterlagen schienen bei den Genossen der Parteileitung keinen tieferen Eindruck zu hinterlassen. Sie wurden im Gegenteil ungeduldig, wiesen ihn ab oder ließen sich einfach verleugnen, wenn er kam, um sein Recht zu fordern. Doch sie hatten nicht mit der Hartnäckigkeit Erich Schmidts gerechnet. Neue Ungerechtigkeit richtete sich drohend vor ihm auf, und in seiner Qual begann er, allen Genossen in seiner Vaterstadt von seinem Schicksal zu erzählen. Er fand willige Zuhörer. Manche freilich hielten ihn für einen halb verrückten Querulanten, der für die Partei nichts als eine Gefahr bedeutete. Andere aber waren über seine Enthüllungen erschüttert. Ais gute Kommunisten rieten sie ihm, nach Berlin zu gehen, das Politbüro werde ihm bestimmt sein Recht verschaffen. Vor allen Dingen Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht, die in jenen Jahren doch auch in Moskau waren, würden Verständnis für sein Schicksal haben.

Erich Schmidt fuhr nach Berlin. Als geschlagener Mann kehrte er zurück. Man hatte ihn kaum angehört. Man habe wichtigere Dinge zu tun, als sich mit seiner Rehabilitierung zu befassen. Er solle durch treue Parteiarbeit beweisen, daß er es verdiene, Genosse genannt zu werden. Diese Töne kamen ihm bekannt vor. Und bei anderen Dienststellen begegnete man ihm mit unverhohlenem Mißtrauen, zweifelte an seiner Unschuld, sagte drohend etwas von Untersuchung. Erich Schmidt fühlte sich plötzlich unbehaglich. Es war ihm, als sitze er wieder bei der NKWD in Moskau. Er ahnte mit einemmal dunkel, welch ein Narr er gewesen war.

Aber noch hatte er den Mut nicht ganz verloren, kaum war er angekommen, als er sich von neuem bei der Parteileitung seiner Heimatstadt meldete. Aber auch hier hatte sich der Ton verändert. Aber was noch schlimmer war, die Genossen, die ihm noch vor seiner Reise nach Berlin ein offenes Ohr geliehen hatten, rückten immer mehr von ihm ab, als sei er ein Gezeichneter. Nur wenige sprachen überhaupt noch mit ihm. Da wußte er, was die Uhr geschlagen hatte, und als ihm eines Tages ein alter Freund und Genosse warnend mitteilte, man plane, ihn zu verhaften, packte Erich Schmidt seinen Koffer und ging bei Nacht und Nebel über die Grenze nach Westdeutschland.

Er starb bald darauf, ein gebrochener Mann, an Magenkrebs. Die körperlichen Strapazen seiner Gefangenschaft und die seelische Qual der Nachkriegsjahre hatten ihn frühzeitig zugrunde gerichtet.

Eine deutsche Arbeiterin

Meine Bekanntschaft mit Grete Sonntag begann im Jahre 193 8 in einer Massenzelle der Butirka, des politischen Untersuchungsgefängnisses in Moskau. Eigentlich hieß sie nur mit ihrem Parteinamen Grete Sonntag, im bürgerlichen Leben aber Änne Krüger. Doch die NKWD hatte sie mit Bedacht unter diesem falschen Namen geführt, um ihre Verwandten in Deutschland vergeblich nach ihrem Verbleib forschen zu lassen.

Änne Krüger hatte, bis die NKWD sie in der Nacht zum 7. November, dem Jahrestag der russischen Revolution, verhaftete, als deutsche Emigrantin in der russischen Provinz in einer Lederfabrik gearbeitet. Lind ich habe später, als ich mit ihr im sibirischen Arbeitslager saß. gesehen, eine wie vorzügliche Arbeiterin sie sogar in der Gefangenschaft war, eine Arbeiterin, die es fertigbrachte, selbst in einem kasakischen Lagerpunkt deutsche Ordnung zu schaffen, was ihr einen beinahe mythischen Ruf eintrug. Eine wie ausgezeichnete Arbeiterin muß sie also in der Freiheit gewesen sein! Niemals hatte sie ein kritisches Wort gegen die Sowjetmacht gesagt, noch weniger sich einer feindseligen Handlung schuldig gemacht. Sie war genau so unschuldig wie alle die unzähligen Verhafteten in jenen blutigen Jahren. Als ich sie zum ersten Male sah, saß sie schon seit Monaten in Untersuchungshaft, wußte aber immer noch nicht, warum sie eigentlich ins Gefängnis gekommen war. Sie wirkte völlig verstört und war namentlich dadurch benachteiligt, daß sie kein einziges Wort Russisch verstand. Immer argwöhnte sie, man rede Böses über sie. Mißtrauisch hockte sie in einer Ecke und hütete ihre spärlichen Besitztümer, die nicht über das hinausgingen, was sie am Leibe gehabt hatte, als die NKWD sie verhaftete. Alles wurde jeden Abend sorgfältig geglättet, auch das winzigste Löchlein sauber gestopft. Der ganze Stolz dieser unschuldig Inhaftierten, die noch nicht einmal wußte, warum sie im Gefängnis saß, war ein Paar hoher Stiefel, und sie teilte mir gleich mit, warum sie so stolz auf diese Stiefel war. Sie hatte sie in der Lederfabrik als Prämie für vorbildliche Arbeit erhalten. Mich verblüffte das zunächst, aber ich sollte später noch öfter feststellen, daß der Geist der Udarniki und Stachanowzi sogar in gepeinigten Häftlingen lebendig geblieben war.

Aber auch in ihrem Falle machte sich die NKWD die Mühe, das notwendige Anklagematerial zu erfinden, und schließlich erfuhr sie, warum sie verhaftet worden war. Als Vorwand diente der NKWD der folgende Vorfall, der darauf beruhte, daß die Sowjetbehörden 1936/37 begonnen hatten deutsche Spezialarbeiter nach Nazideutschland auszuweisen, falls sie sich nicht bereit erklärten, sowjetische Staatsbürger zu werden: Diese Maßnahme rief auch in der Lederfabrik, in der Änne Krüger arbeitete, erregte Debatten hervor. Im Laufe eines solchen Gespräches äußerte sie sich einmal, ohne Böses zu ahnen, einem jungen deutschen Arbeiter gegenüber: „Du könntest doch ruhig nach Deutschland zurückgehen. Du warst ja nicht in der KPD und bist politisch ganz unbelastet. Dir wird sicher nichts passieren." Diese Unterhaltung hörte ein anderer deutscher Arbeiter und denunzierte sie bei der NKWD. Kurz darauf wurde sie verhaftet. Von ihrem ersten Verhör, auf das sie so lange hatte warten müssen, kam sie völlig zerbrochen wieder zurück in die Zelle. Sie erzählte mir, man habe ihr den A. beiter, der sie denunziert habe, gegenübergestellt, und er habe den Satz vor dem Untersuchungsrichter wiederholt. Das Urteil, das sie wegen dieses harmlosen Rates erhielt, belief sich auf fünf Jahre Arbeitslager wegen „konterrevolutionärer Agitation“. Der Zynismus, der sich in dieser Anklage und diesem Urteil offenbart, ist nicht zu überbieten. Hier wurde eine Frau wegen „konterrevolutionärer Agitation“ nach Sibirien geschickt, weil sie gemeint hatte, ein unbelasteter junger Deutscher könne unter Umständen ohne Gefahr nach Deutschland zurückkehren, während im gleichen Moment die sowjetischen Behörden deutsche Arbeiter, die nicht zurückkehren wollten, erpreßten oder an die Nazis auslieferten. Zu welchen Verbrechen die Sowjets in dieser Hinsicht fähig waren, das ging mir in vollem Umfange erst auf, als ich selber bei meiner Auslieferung 1940 an der Brücke von Brest-Litowsk miterleben mußte, wie die NKWD sogar Juden der SS übergab und damit dem sicheren Tode auslieferte. Änne Krüger und ich traten gemeinsam den langen Weg nach Südsibirien in das Lagergebiet von Karaganda in der kasakischen Steppe an. Die vielen Tausende von Häftlingen in Karaganda wurden in die Kohlengruben getrieben, hatten Kupfer und Zinn zu gewinnen oder den Boden der Steppe zu kultivieren. Wir zwei wurden einem landwirtschaftlichen Distrikt zugewiesen. Die Arbeitszeit auf den Feldern dauerte von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, im Sommer oft bis zu 15 Stunden täglich. Die völlig unzureichende Ernährung, sowie die Unterbrin-gung der Häftlinge in jämmerlichen, verlausten Lehmhütten waren ganz und gar menschenunwürdig.

Ich verließ Karaganda nach zwei Jahren, 1940, um nach Deutschland ausgeliefert zu werden. Änne Krüger blieb da. Und jetzt, vor etwa einem Jahre, schrieb sie den ersten Brief nach Hause, und dieser Brief kam aus Karaganda. 18 Jahre hat also die im November 1937 aus einem ganz nichtigen Grunde Verhaftete in der Hölle von Karaganda zugebracht. Zwar lebt sie jetzt nicht mehr als Gefangene im Lager, sondern als sogenannte freie Verbannte in der Stadt Karaganda, aber sie hat das Lager nicht etwa nach Ablauf einer Haftzeit von fünf Jahren, wie ihr LIrteil es vorsah, verlassen, sondern nach 14 Jahren, nunmehr vor vier Jahren. Mit 14 Jahren Zwangsarbeit mußte die unglückliche Frau für einen einzigen harmlosen Satz bezahlen. Lind ihr Leben in der sogenannten „freien Verbannung" unterscheidet sich nicht sehr von ihrem Leben im Lager, mag sie auch die Erlaubnis haben, in der Stadt, die ihr zugewiesen ist, sich selber eine Unterkunft zu suchen. Allein der Widerspruch in der Bezeichnung „freie Verbannung" offenbart ihre ganze Verlogenheit.

Und in Mannheim-Viernheim, der Heimatstadt Änne Krügers, warten die Verwandten seit Jahr und Tag auf ihre Rückkehr. Das Leben eines völlig harmlosen Menschen ist ohne jeden stichhaltigen Grund zerbrochen worden.

Die Liste der Opfer des Stalinismus ist endlos. Nur einige dieser Opfer seien hier zum Abschluß noch erwähnt: Hermann Remmele, Mitglied des Politbüros der KPD, wurde 1937 mit seiner ganzen Familie in Moskau verhaftet. Sie sind bis heute verschollen. Verhaftet und tot oder verschol-len sind die kommunistischen Reichs-bzw. Landtagsabgeordneten und führenden Funktionäre Hugo Eberlein, August Creutzburg. Johanna Ludwig, Robert Neddermeyer, Gerhard Obuch, Hans Pfeiffer. Otto Schlag, Fritz Schulte, Hermann Schubert, Matthias Theesen, Rudolf Henning, Wilhelm Kerff, Julius Adler, um nur einige Namen zu nennen. Verschollen ist der ehemalige Leiter des RFB Willi Leow. Verhaftet wurden die kommunistischen Redakteure und Journalisten Heinrich Süßkind, Alfred Rebe, Heinrich Kurella, Werner Hirsch, und zahllose andere. Die Liste dieser Namen ist niemals auch nur annähernd zu vervollständigen. Ich habe diese Menschen zum Teil neben mir in Moskau verschwinden sehen, Nacht für Nacht, wenn die NKWD ihre unerbittliche Runde machte. Zum Teil habe ich sie später in der Untersuchungshaft und im Lager getroffen. Besonders in Erinnerung ist mir das Ende Hermann Schuberts geblieben, eine Begegnung während der letzten Tage, die er in der Freiheit war. Hermann Schubert war lange Mitglied des Zentral-komitees und Bezirkssekretär der KPD in Hamburg gewesen. Als der Schrecken der Großen Säuberung begann, lebte er mit Frau und Kind in einem Zimmer des Gemeinschaftshauses der Komintern. Er war damals schon lange ohne Arbeit. Dafür hatte Walter Ulbricht gesorgt, mit dem er von 193 3 bis 193 5 gemeinsam in der Emigrationsleitung, dem sogenannten Auslandskomitee der KPD, tätig gewesen war. Ulbricht hatte Schubert auf infame Weise bei der Komintern angeschwärzt und so seine Absetzung, sowie Abberufung nach Moskau und politische Diffamierung erreicht.

Nach der Verhaftung von Heinz Neumann, als ich in Moskau ängstlich jeden Kontakt mit dort lebenden alten Genossen mied, begegnete ich eines Tages der Frau von Hermann Schubert auf der Straße. Da ich nicht wußte, ob sie midi, die Hinterbliebene eines Opfers der Großen Säuberung, noch grüßen würde, blickte ich auf die andere Straßenseite. Sie aber blieb stehen, faßte mich beim Arm und fragte, was denn mit mir sei, weshalb ich denn niemals mehr zu ihnen käme? AIs ich ihr auseinandersetzte, daß ich es nicht mehr wagte, in ihr Zimmer zu kommen, um sie und ihren Mann nicht zu gefährden, meinte sie voller Bitterkeit, daß uns sowieso keinerlei Vorsicht mehr helfen würde und lud mich dringend ein, sie zu besuchen. Ich tat es.

Bei meinem Besuch erzählte mir Schubert, daß er jede Nacht auf seine Verhaftung warte und, so lächerlich es auch sei, bereits das kleinste Stückchen beschriebenes Papier verbrannt habe, obgleich er ebenso unschuldig sei, wie Heinz und alle anderen, die man schon geholt hätte, und auch jene, die noch drankommen würden. „Wir sind Opfer der russischen faschistischen Politik. Man serviert uns ab, weil sie uns alte Kommunisten jetzt nicht mehr nötig haben!“ Sein Gesicht war verfallen und gelb, und während er sprach, zitterten die Hände dieses großen starken Arbeiters wie die eines Greises. Beim Abschied bat er, ich solle mich nach seiner Verhaftung um die Frau und das Kind kümmern, weil sie doch nicht Russisch sprächen . . . Eine Woche später holte ihn die NKWD, und seine Frau wurde aus dem Zimmer geworfen.

Aber, wird man mir entgegenhalten, es hat auch Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion gegeben, die ganz anders verliefen. Allerdings. Es gab solche, die davonkamen. Es gab Überlebende, die noch heute überzeugte Kommunisten sind. Aber durch welche Opfer wurde dieses Überleben erkauft, welche Opfer an Selbstachtung, Würde und Persönlichkeit! Gewiß, es gab kommunistische Funktionäre vom Schlage eines Ulbricht, die von Anfang an charakterlose Intriganten und Emporkömmlinge waren. Es gab aber auch solche, die erst im Laufe der Zeit zerbrachen. Immer mehr gewöhnten sie sich daran, um ihrer eigenen Sicherheit willen ihre, nächsten Gefährten über die Klinge springen zu lassen. Zum Lohn hat ihnen Moskau heute eine Scheinmacht verliehen, die ihnen zwar erlaubt, ihr Mütchen an unschuldigen Menschen zu kühlen, die aber letzten Endes auch für sie bar jeder echten Sicherheit ist. Moskau hat es gefallen, sie am Leben und für sich arbeiten zu lassen. Wie, wenn es Moskau eines Tages gefallen sollte, ihrem Leben die Lizenz zu entziehen? Wie sie heute willenlose Werkzeuge sind, werden sie morgen willenlose Opfer sein, denn das Rückgrat hat ihnen Moskau in jahrelanger Prozedur zerbrochen. Die letzten 30 Jahre in der Geschichte des Bolschewismus haben sich als eine der furchtbarsten negativen Auslesen aller Zeiten erwiesen. Alle diejenigen, die etwas taugten, die sich auch nur eine Spur von persönlicher Freiheit, von persönlichem Mut bewahrt hatten, wurden erbarmungslos ausgerottet. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN: * * * „Die Opposition gegen den Stalinismus in Mitteldeutschland"

G. F. Hudson: vChruschy’s Komet"

Percy Ernst Schramm: „Polen in der Geschichte Europas"

Georg Stadtmüller: „Die sowjetische Umdeutung der deutschen Geschichte"

Fussnoten

Weitere Inhalte

Anmerkung: Margarete Buber-Neumann, geb. in Potsdam am 21. Oktober 1901. In der KPD bis 1937; Lebensgefährtin des Mitgliedes des Politbüros der KPD, Heinz Neumann; 1938 in Moskau verhaftet und zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt; 1940 an Deutschland ausgeliefert und bis Kriegsende im KZ Ravensbrück. Veröffentlichungen: „Als Gefangene bei Stalin und Hitler", Verlag der Zwölf, München 1948; „Von Potsdam nach Moskau", Deutsche VerlagsAnstalt, Stuttgart, 1957; zahlreiche Artikel über Ost-West-Probleme. 1950 52 Gründerin und Leiterin des „Befreiungskomitees für die Opfer totalitärer Willkür" und des Instituts für politische Erziehung“ sowie Herausgeberin der Zeitschrift „Aktion". Mitglied der deutschen Exekutive des Kongresses für kulturelle Freihei.