Erschienen in Band I der „Forschungen zur osteuropäischen Geschichte“ des Osteuropa-Instituts der Freien Universität Berlin. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Kommissionsverlages O. Harrassowitz, Wiesbaden.
Die hier zur Diskussion gestellte Frage nach den historischen Voraussetzungen des politischen Denkens in Rußland läßt sich im Hinblick auf das heutige Rußland scheinbar mit einem Satz beantworten: Die Voraussetzungen liegen im westeuropäischen Marxismus. Diese Antwort ist richtig, aber nicht erschöpfend. Man spürt heute allgemein, daß Lenins Lehre und der russische Kommunismus auch andere Elemente aufweisen, daß der Marxismus in Rußland durch sie eine nachhaltige Umformung erfahren hat. Dementsprechend hat sich für ihn in unserem Sprachgebrauch auch eine besondere Bezeichnung, Bolschewismus, eingebürgert. So nachdrücklich auch Lenin und die russischen Kommunisten behaupten, nur Interpreten von Marx zu sein, so sehr spricht sich in der von ihnen gebrauchten westeuropäischen Terminologie auch spezifisch Russisch aus. Doch wird hier kein eingehender Vergleich der lenin-stalinschen Theorie mit der marxschen angestrebt; das wäre eine gewaltige, noch immer nicht befriedigend gelöste Aufgabe für sich. Es sollen vielmehr einzelne, spezifische russische Züge des politischen Denkens in Rußland dargelegt werden. Dem stellen sich besondere Schwierigkeiten entgegen, weil das russische Denken sehr zeitig seine entscheidende Formung erfuhr, ohne einen theoretischen Niederschlag zu finden. Frühestens läßt er sich für das 15. und 16. Jh. nachweisen, wo der Ausbau der Autokratie Erörterungen über Begründung und Umfang der Zarenmacht hervorruft. Ein kontinuierliches theoretisches Arbeiten über Probleme der Politik setzt erst bei der Ülber-nähme des Vernunftrechtes aus Westeuropa im Ausgang des 18. Jhs. ein Im folgenden kann also nicht von russischen politischen Theorien gesprochen werden, auf die etwa die Bolschewisten zurückgreifen, sondern von historischen Verhältnissen, aus denen eine bestimmte politi'die Mentalität erwuchs.
Der Versuch einer solchen historischen Erhellung politischen Denkens geschieht einmal in der Überzeugung, daß er für das politische Handeln wertvoll sein kann. Nicht in dem Sinn, daß der Politiker aus der Vergangenheit ein Rezept für das Handeln in bezug auf die Zukunft gewinnt, sondern in dem Sinn, daß er einerseits die Kraft der Vorstellungen besser abschätzen kann, wenn er weiß, wie tief sie verankert sind; andererseits möge er innewerden, daß politische Vorstellungen geworden sind, daß sie nicht Ausdruck etwa eines unveränderlichen Volksgeistes oder eines alles bestimmenden Raumes sind, daß sie also auch wandelbar sind. Der Versuch geschieht zum andern und vor allem in der Überzeugung, daß man nur so der Größe und der Eigenart einer fremden Kultur gerecht wird, daß man nur so eine andere menschliche Möglichkeit echt erfahren kann. Bei der Zuwendung zu westeuropäischen Kulturen mag für das Verständnis eine Gegenwartsanalyse genügen, weil diesen Kulturen im großen und ganzen das gleiche historische Geschick wie uns selbst zuteil wurde. Rußland, das etwa vom Ausgang des 12. bis zur Mitte des 16. Jhs. einen eignen Weg gegangen ist, läßt sich ohne ein historisches Bemühen einfach nicht verstehen.
Mit der bei uns gängigen Bezeichnung sollen vier Eigentümlichkeiten des russischen politischen Denkens erörtert werden, die uns besonders befremden: zuerst das tiefe Mißtrauen gegenüber Westeuropa, sodann die Pflege eines Kollektivempfindens, ferner die Anerkennung einer uneingeschränkten Macht der Obrigkeit über die Gesellschaft und schließlich ein Auseinanderfallen der ideellen Zielsetzungen und der politischen Praxis. Alle diese Eigentümlichkeiten, die sich heute im bolschewistischen Gewände präsentieren, reichen mit ihren Wurzeln weit in die russische Vergangenheit zurück.
Das russische Mißtrauen gegenüber Westeuropa
Das russische Mißtrauen gegenüber Westeuropa wurde zum ersten-mal auf religiösem Gebiet geweckt: es war das Mißtrauen der Griechen gegen die Lateiner als Verfälscher der Lehre der ersten sieben Konzilien, ein Mißtrauen, das die christlichen Lehrmeister der Russen auf ihre neue Kirchenprovinz übertrugen. Das Kiever Reich entstand als ein Glied in der Kette, die die Normannen in ihrer Expansion um ganz Europa legten. Der Verkehr Rußlands mit Skandinavien und Byzanz war in der Frühzeit besonders lebendig, aber auch mit dem übrigen Europa war Rußland dynastisch, kommerziell und kirchenpolitisch verbunden, freilich nicht so kontinuierlich und intensiv wie die westeuropäschen Länder untereinander. Dieser selbstverständliche Kontakt, der in der Regierungszeit Jaroslavs des Weisen (1019— 1054) seinen Höhepunkt erreicht hatte, flaute im 12. Jh. ab. Parallel dazu verwandelte sich eine relativ geschichtsbewußte und auch politisch bezogene Frömmigkeit in eine asketische Weltgleichgültigkeit, ja Weltfeindschaft. Schon in der zweiten Hälfte des 11. Jh. s, noch während des im Vergleich zur späteren Entwicklung lebhaften Verkehrs mit Westeuropa, drängt nun die griechische Kirchenleitung in Kiev auf einen Abschluß gegen die lateinischen Ketzer des Westens, offensichtlich eine Folge der Kirchenspaltung von 1054. Die Fürsten wurden nicht nur über die Unterschiede in der Lehrmeinung aufgeklärt, sie wurden auch angehalten, ihre Töchter nicht an die Lateiner zu verheiraten; das Volk sollte sich der Gemeinschaft mit ihnen enthalten, insbesondere in den Grenzgebieten für die rechte Lehre eintreten. Zu Unrecht versucht man neuerdings, die Bedeutung der konfessionellen Trennung für Rußland zu bagatellisieren. Vielmehr war es von weittragender Bedeutung, daß der Ausbau der russischen Kirche gerade zu der Zeit erfolgte, in der sich Ostrom und Westrom endgültig trennten, und so streng übernahmen die Russen unter ihren griechischen Metropoliten diese 1 rennung, daß sie bis in unsere Tage die Stammverwandschaft mit den katholischen oder protestantischen Westslawen auflöste und durchschnitt. Die Grenze des Abendlandes war die Ostgrenze eines katholischen Polens, so wie sie auch im Baltikum mit der konfessionellen Grenze zusammenfiel.
Im Norden von finnischen Heiden, im Osten von den mohammedanischen Bulgaren und z. T. mosaischen Chazaren und im Westen von den polnischen Schismatikern begrenzt, glich Rußland am Anfang seiner Geschichte einer Halbinsel der Orthodoxie und wurde zu einer Insel, als im 13. Jh. die Tataren den breiten Kontakt mit Byzanz auf den Verkehr der Kirchenleitungen und dei Pilger reduzierten. Seit dem Florentiner Unionskonzil (1439) war bekanntlich auch die Glaubensreinheit der Byzantiner für die Russen in Frage gestellt, so daß sich Rußland im 16. Jh. als der letzte Hort der reinen christlichen Lehre, als das neue Israel, als das Heilige Rußland empfand.
Bis zu diesem Zeitpunkt gab es nur wenig Verbindungen mehr zu Westeuropa, aber immer waren sie so zustande gekommen, daß die Westeuropäer nach Rußland vordrangen, daß die Hanse und die Genuesen, der Deutschritterorden und die Schweden, die Habsburgerdiplomatie und die englischen und holländischen Kaufleute Rußland aufzuschließen suchten. Immer wieder fühlte sich Rußland von Westeuropa angegangen und beunruhigt, zu Auseinandersetzungen gezwungen. Ruß-land fürchtete, die ihm Sicherheit verleihende Tradition preisgeben zu müssen. Selbst in einem statischen Denken befangen, mußte sich Rußland als Objekt der abendländischen Dynamik empfinden. Für ein solches Ausgreifen, für ein solches abenteuerlustiges Aufreißen des geographischen und kulturellen Horizontes fehlte auf der russischen Seite das religiöse Anerkennen einer Betätigung in der Welt. Aber in dem Maße, wie der Westen Rußland immer intensiver in sein Denken und seine Unternehmungen einbezog, mußte man in Rußland die Überlegenheit des Westens in der materiellen und in der geistigen, auf die Bewältigung der Welt ausgerichteten Kultur anerkennen. Im 17. und 18. Jh. verhielt sich die Masse des russischen Volkes — nicht die Regierung — ablehnend gegen die Aufnahme von geistigen Werten aus dem schismatischen Westen. Da man jedoch die westliche Kultur brauchte, da man allmählich einsehen mußte, daß man nicht nur Fertigkeiten, sondern auch die ihnen zugrunde liegenden Gedanken übernehmen mußte, wollte man nicht unterliegen, verschärfte sich das bisherige religiöse Fremdheitsgefühl zu einem tiefen Kulturressentiment. Das ein Jahrhundert währende mißtrauische Beobachten der westlichen Kultur hatte Peter der Große entschieden verändert, indem er von Staats wegen deren Annahme, das Ersetzen des bisherigen historisch-religiösen Fundaments durch ein willentlich-naturrechtliches Prinzip zu verwirklichen trachtete. Er vollzog die große Revolution von oben her, die mit konservativen Aufständen von unten her beantwortet wurde. Damals begann Westeuropa kraft seines die konfessionellen und historischen Besonderheiten außer acht lassenden Vernunftsglaubens die Eingliederung Rußlands in ein modernes Europa. Am eindrucksvollsten zeigt sich das bei Leibniz, für den der Russe zunächst ein Barbar, der Türke des Nordens war, für den Rußland dann im Vergleich zum geschichtsbeschwerten Abendland zu einer tabula rasa, zum Land der großen Hoffnung auf eine allgemeine Erneuerung wurde, zur einzigartigen Möglichkeit, eine neue, eigentlich menschliche Gesellschaft zu begründen. Die westliche Publizistik lieferte Peter dem Großen das politische Rüstzeug für den Anspruch auf Gleichberechtigung; Friedrich der Große zwang Katharina II. förmlich das Einmischungsrecht in Deutschland und die Garantie der deutschen Verfassung auf; ein aus der westlichen Aufklärung stammendes Empfinden für Völkerbeglückung, ein pietistischer Vorsehungsglaube und die Tätigkeit deutsch-patriotischer Emigranten drängten Alexander I. in den Kampf gegen Napoleon und in die Rolle eines Befreiers von Europa — bis Ruß-land im 19. Jh. eine europäische Großmacht wurde.
Das alles geschah nur zum geringsten aus eigener russischer Initiative, die sich allenfalls auf die Erwerbung der anrainenden Gebiete erstreckte. Man darf nicht vergessen, daß die Expansion Moskaus nach dem Westen, daß noch die dritte Teilung Polens in russischen Augen als Rückerwerb altkiever Gebiete gerechtfertigt erscheint.
Die europäische Politik Pauls I. und Alexanders I. wurde vom Volk als fremd empfunden, als eine Angelegenheit der Regierung, nicht als Ausdruck des noch von eigenen Traditionen bestimmten Volkswillens. Im 19. Jh. empfanden nur die romantischen Kreise in Rußland noch die tröstliche Gewißheit, religiös reiner und kulturell heiler als der Westen zu sein, und leiteten sogar hieraus eine besondere geschichtliche Sendung Rußlands für ganz Europa ab. Im allgemeinen aber begann man mit westeuropäischen Maßstäben zu messen und konnte dann nur noch eine einfache Rückständigkeit gegenüber der westeuropäischen Fortschrittskultur und der kapitalistischen Wirtschaftstechnik feststellen. Von den siebziger Jahren bis zum Weltkrieg beeilte sich Rußland, diesen Abstand aufzuholen, indem es sich weit dem Kapitalismus und der zeitgenössischen westlichen Zivilisation öffnete. Aber diese Angleichung war von zu kurzer Dauer und führte zu keiner Verschmelzung des altrussischen Erbes mit dem fremden rationalistisch-technischen Denken des Westens.
Der Bolschewismus riß 1917 wieder den Graben zwischen Rußland und Westeuropa auf, indem er die verbindende kapitalistische Gesellschaftsordnung stürzte, ohne jedoch die Weltrevolution verwirklichen zu können. Zugleich aber wurden die in der revolutionären Opposition konservierten Bestandteile des bürgerlichen Denkens des 19. Jh. s uneingeschränkter, als sie je in Westeuropa geherrscht hatten, zur Entfaltung gebracht. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als Westeuropa begann, diese Denkweise zu überwinden. So wurde aufs neue eine Mißtrauen schaffende Verschiedenheit konstituiert. Die Hoffnung auf die Weltrevolution schlug fehl, die Alliierten von gestern wurden zu gefährlichen Feinden, die den Bestand des Reiches bedrohten. Lind trotz der Interventionskriege gegen Deutsche, Franzosen, Amerikaner, Engländer und Japaner blieb man auf dieses Ausland angewiesen, um mit seinen Anleihen und mit seinen Spezialisten das wirtschaftliche Chaos zu meistern. Dadurch wurde das alte Ressentiment gegen den Westen wieder neu begründet und vertieft. Man glaubt, soweit man keine Vergleichsmöglichkeiten hat, das fortschrittlichste Land der Welt zu sein, und muß immer wieder spüren, daß die anderen dieses Fortschritts nicht teilhaftig werden wollen. Man hält sich für das mächtigste Land der Welt und gewinnt doch keine innere Sicherheit gegenüber dem Westen. Seit dem 16. Jh. mußte man infolge eines Lebens letztlich im reinen Transzendenzbezug die innerweltlichen Werte des Abendlandes anerkennen: jetzt ist es umgekehrt, jetzt vertritt man uneingeschränkt die innerweltlichen Werte und spürt, daß der Westen noch von etwas anderem weiß, das über die meßbaren Werte hinausgeht. Man fühlt sich wie der fromme Altrusse im Besitz der einen Wahrheit, aber sie umfaßt so wenig wie damals die menschliche Totalität. Deshalb bleibt das Gefühl der Isoliertheit und damit das Mißtrauen gegen den Westen weiter bestehen. — Lim dieses Mißtrauen zu überwinden, müßte eine gemeinsame Bezugsgröße für Rußland und Westeuropa gefunden werden, die über den politischen Konfessionen liegt, so wie einst die Feindseligkeiten zwischen den religiösen Konfessionen des Abendlandes im Licht der Vernunft gegenstandslos wurden.
Pflege des Kollektivbewußtseins
AIs zweite Eigentümlichkeit des politischen Denkens in Ruß-land ist die Pflege des Kollektivbewußtseins zu erörtern. In bezug auf unsere Situation sprechen wir heute von der Gefahr der Vermassung und meinen damit gemeinhin die Befürchtung, daß der Einzelne seine Eigenart preisgibt zugunsten einer allgemeinen Verhaltensweise, daß sich eine Differenzierung der Gesellschaft verwischt, die wir in ihrer Mannigfaltigkeit als Reichtum empfinden. Dem liegt ein ständisch-personales Bewußtsein als Erbe zugrunde, ein Erbe, das freilich heute und erst recht für die Zukunft keine tragende Macht darstellt, das aber verhindert, die Vermassung als etwas Selbstverständliches hinzunehmen, und die Bildung einer personalen Gemeinschaft auf neuer Grundlage erleichtert. Ein solches ständisch-personales Erbe hat Rußland nicht besessen und es auch beim Hinblick auf Westeuropa niemals vermißt.
In Abwehr der slavophilen Geschichtsschreibung hatte die liberale Schule in Rußland und später die sowjetrussische die gleiche Entwicklung für Rußland wie für Westeuropa behauptet, wobei sie nur eine zeitliche Verzögerung zugestand. So hatte man auch für Altrußland eine feudale und ständische Struktur nachzuweisen versucht: dieses Bemühen blieb erfolglos. Die letzte großartig vergleichende Aussage hierüber traf O. Hintze in seiner bekannten Abhandlung über Wesen und Verbreitung des Feudalismus. Er zählt hier Rußland zu den wenigen Ländern außerhalb des romanisch-germanischen Kulturkreises, die einen Feudalismus aufweisen. Der Nachweis eines Feudalismus in Rußland ist u. E. nicht geglückt, aber das Problem des Feudalismus in Rußland soll hier nicht aufgerollt werden. In unserem Zusammenhang aber ist jedoch wichtig, daß Hintze die Verbindung des feudalen mit dem ständischen Element nur auf die romanisch-germanische Welt beschränkt wissen will, d. h., daß seiner Ansicht nach in Rußland das ständische Element fehlt. Tatsächlich lassen sich in Rußland keine Stände nachweisen, wenn man nicht den Bevriff verwässert verwenden will, wie er etwa im 19. Jh. gebraucht wurde. Es gab natürlich in Altrußland sozial verschiedene Gruppen, Freie und Unfreie, Reiche und Arme, und innerhalb dieser Gruppen weitere Differenzierungen, die ihren Ausdruck in besonderen Bezeichnungen, in der verschiedenen Höhe der Gerichtsgebühren und anderswie finden; aber sie alle gelangten zu keiner rechtlichen, klaren und dauerhaften Ab-schließung, sie alle gelangten zu keiner bleibenden politisch bedeutsamen Machtposition aus eigener Rechtskraft.
Die Gründe hierfür sind verschiedenartig. Bis ins 15. Jh. fehlte eine monarchische Gewalt, gegen die sich die Stände hätten abgrenzen müssen. Bis ins 12. Jh. waren die Fürsten nicht einmal seßhaft gewesen, weder waren sie Stammesfürsten noch Territorialfürsten, sondern die wechselnd berufenen und verabschiedeten militärischen und politischen Leiter der Stadtbezirke. Der den Fürsten umgebende Adel hatte erst recht keinen Rückhalt im Land, blieb als Gefolgsmann auf den Fürsten angewiesen und konnte auf keine ihm eigentümlichen Rechte pochen. Nach dem Zusammenbruch des Kiever Reichs bildeten sich im 12. bis 15. Jh. eine Reihe von Teilfürstentümern im heutigen Zentralrußland; aber sie blieben, so klein sie auch sein mögen, immer in der Hand von Mitgliedern der einen Dynastie Rjurik. Niemals hatte die Dynastie die Gesamtheit der Hoheitsrechte an einen anderen Stand delegiert. Ein der Dynastie gegenüberstehender mit eigenem Recht versehener Fürstenstand fehlte somit Der Adel gewann in diesem Zeitraum einen halbfeudalen Charakter, indem er von Teilfürsten Land zur Nutznießung mit Arbeitskräften als Entlohnung für Kriegsdienste erhielt, ohne daß jedoch hiermit Vasallität und erblicher Besitz von Ämtern verknüpft wurde. Jeder Teilfürst konnte nach seinen Kräften diese Gruppe von Diensttuenden jeweils um Neuaufgenommene vermehren, so daß es nie zu einem rechtlichen und sozialen Abschluß nach unten kam. Für den Mangel an rechtlicher Verfestigung spricht die den Historiker zur Verzweiflung treibende Vieldeutigkeit der Beziehung sozialer Gruppen. Auch ist es charakteristisch, daß ein Dauerhaftigkeit und rechtliche Ordnung bezeichnender Begriff entsprechend ordo oder Status fehlt. Im 15. Jh. kam als zusammenfassende soziale Gruppenbezeichnung der Ausdruck soslovie (syllogos, Versammlung) auf. neben der aus tartarischer Zeit die Bezeichnung ein (Rang) bestand. Seit der Errichtung der Moskauer Autokratie, vollends seit Peter dem Großen, wurde der Adel zu einer von der Bürokratie in der Residenz sorgfältig verwalteten, vom Herrscher völlig abhängenden Krieger-und Beamtenkaste. Man war adlig, soweit man Staatsdienste leistete, ja ein jeder konnte sich den erblichen Adel erdienen. Daher hatte auch der Adel den Staatsdienst niemals als sein gutes Recht anzusehen vermocht, sondern als eine lästige Pflicht. Lind umgekehrt hatte der Adel in den Augen der Bevölkerung seine Existenzberechtigung verloren, als er sich im 18. und 19. Jh. vom Staatsdienst zurückzog.
Der Adel hat in der neueren Geschichte Rußlands immer wieder darum gekämpft, zu einem festen Abschluß, vor allem zu einer Überwindung der petrinischen Rangtabelle zu gelangen. Die Krone hat ihm die Befreiung von der Staatsdienstpflicht gewährt, sie hat ihm eine korporative Organisation zugebilligt (178 5), die Verleihung des erblichen Adels schließlich auf die obersten Rangklassen beschränkt (18 56), aber stets einen klaren rechtlichen Abschluß verhindert.
Ebensowenig hatte sich in Rußland ein eigener Bürgerstand entwickelt. Dabei gab es im Kiever Rußland bis ins 12. Jh. eine starke städtische Gewalt, repräsentiert in der Volksversammlung, dem vece, aber sie war immer verbunden mit der fürstlichen Gewalt, der man die militärische und politische Führung übertrug, freilich so, daß der Fürst in Abhängigkeit von der Stadt blieb. Zur Entwicklung eines reinen Stadtrechtes war es nicht gekommen. Seit dem 12. Jh. war die Stadt zu einem fürstlichen Verwaltungs-, Markt-und Festungsplatz geworden oder so neu gegründet worden. Es fehlte dieser Stadt die Gerichts-und Finanzhoheit und eine ausdrückliche rechtliche Absonderung der Bürger gegenüber aen jenseits des Weichbildes Wohnenden. Die Verbindung von Volks-und Fürstenrecht der Kiever Zeit hatte sich nur in Novgorod am Ilmensee dank der Macht und des Reichtums dieser Stadt bis ins 15. Jh. gehalten. An seinem Ausgang sank auch sie zu einem Verwaltungszentrum Moskaus herab. Im 17. Jh. wurde die Stadt vom Dorf geschieden, jedoch nicht durch ein besonderes Recht, sondern durch die Auferlegung besonderer Verpflichtungen hinsichtlich der Staatssteuer. Dabei wurde die Eintreibung den reichen Kaufleuten übertragen, die also nicht als Bürger-vertreter, sondern als Regierungsfunktionäre tätig waren. Peter der Große (1699, 1721/22) und Katharina (1785) deklarierten eine städtische Selbstverwaltung, bezeichnenderweise unter Verwendung ausländischer, deutscher Termini. Da die Stadtbewohner keine Steuerhoheit erhielten und da sie — bis auf die Kaufleute (1775), Gebildete und Unternehmer (178 5) — auch weiterhin wie die Bauern der Kopfsteuer-und Militärpflicht genügen mußten, konnte sich kein echter Bürgersinn entwickeln. Erst in der Reformzeit (1870) erhielten die Städte eine freiere bürgerliche Ordnung und erst mit dem gleichzeitig einsetzenden Kapitalismus erlangte das Stadtwesen eine wirtschaftliche Bedeutung. Allen Be-mühungen der Regierung um die Schaffung einer Stadt durch obrigkeitliche Reglementierung stand der Mangel an bürgerlicher Tradition und echtem Bürgersinn gegenüber, der auch im 19. Jh. durchaus fehlte.
Am längsten erfreute sich der Bauer einer gewissen Selbstverwaltung. Noch im 19. Jh. besaß und bearbeitete die Gemeinde, der „mir“, den Boden, übte eine beschränkte polizeiliche Funktion aus, legte die vorgeschriebene Steuer um und wählte die zu stellenden Rekruten aus. Von dieser Gemeindeverfassung erhofften sich nicht nur die Konservativen eine Erneuerung Rußlands, sondern auch die vormarxistischen Sozialisten: die einen sahen in ihr den christlich-patriarchalischen Kern einer spezifisch russischen Gesellschaftsordnung, die anderen eine noch vorhandene kommunistische Urform der menschlichen Gesellschaft. Die russischen Marxisten hatten aber recht, als sie auf die Uneinheitlichkeit und Verelendung dieser Gemeinde hinwiesen. Seit dem 17. Jh. war der Bauer faktisch Leibeigener und schied damit aus dem Untertanenverband aus. Die Gemeinde-verfassung war eine praktische Verwaltungsmaßnahme der Obrigkeit, keine einem Standesrecht entspringende Ordnung. Denn dem Staat, dem Gericht, der Steuer-und Militärbehörde gegenüber war nicht die Gemeinde, sondern der Gutsbesitzer bzw. die Verwaltung der Staatsgüter verantwortlich.
Man kann mit Recht von einem Stand in Rußland nur in bezug auf die Geistlichkeit sprechen. Sie verfügte von der Frühzeit her über einen deutlichen rechtlichen Abschluß des zu ihr gehörenden Personenkreises und über eine eigene ständische Gerichtsbarkeit. Bis 1869 wurde der Klerus nur aus den Popenfamilien ergänzt. Freilich war der Stand insofern gespalten, als sich das Episkopat aus der Mönchsgeistlichkeit rekrutierte. Auch hatte dieser Stand eine politische Bedeutung dadurch gehabt, daß die Kirche bis zur Entstehung der Autokratie die einzige das ganze Land umfassende zentralisierte Organisation darstellte. Sie war im Nachleben des byzantinischen Vorbildes das kräftigste Element bei der Herausbildung der Autokratie, verlor jedoch ihre politische Bedeutung, als sich jene gefestigt hatte. In Einzelfällen hat die Leitung der russischen Kirche auch politisch gehandelt, in Notzeiten sogar das politische Regiment verwaltet, jedoch fehlt jede bleibende Verbindung von weltlichen und geistlichen Aufgaben und Rechten. Ein politisch wirken wollender Stand war auch die Geistlichkeit nicht gewesen, zumal ihr Interesse an der Welt, ihr kulturelles Niveau und in der Neuzeit auch ihr Ansehen gering war.
Es fehlt also zu allen Zeiten und für alle Schichten in Rußland die rechtliche Voraussetzung für die Entwicklung eines Standesbewußtseins, einer Standeswürde und Standeskultur, für eine prägende und mannigfaltige ständische Gesittung, Geselligkeit und Erziehung, was auch für den geistlichen Stand gilt, da er diese Voraussetzung aus inneren Gründen nicht fruchtbar gemacht hat. Die soziale Differenzierung der russischen Gesellschaft ergibt sich aus der Einordnung des Einzelnen in die von der Obrigkeit festgesetzten verschiedenen Gruppen von Staatsdienst-pflichtigen.
Was den Personalismus angeht, so hat er gleichfalls keine echte Verwurzelung in Rußland erfahren. Hierfür fehlen die religiösen und humanistischen Voraussetzungen. Das Gewissen des Einzelnen, das Augustin zuerst als Quelle der Frömmigkeit in den Mittelpunkt gerückt hat, hat in der Ostkirche kein ausschlaggebendes Gewicht. Es wird eher als Absonderung, als Ansatz zur Willkürlichkeit empfunden. Die Kraft, die der Protestantismus aus dem Frömmigkeitsansatz bei Augustin zieht, wird als Sprengung der Kirche erst recht zurückgewiesen. Lind alles personale Denken und Empfinden, das sich von Luther aus weit über die konfessionelle Grenze ausgewirkt hat, ist in Rußland fremd geblieben. Dafür aber weiß sich der russische Gläubige aufs engste mit dem Nächsten in der seienden, nicht erst zu schaffenden, unveränderlichen Kirche der Tradition und der unverminderten eschatologischen Hoffnung verbunden, in der jeder personale Glaubensansatz eine verwerfliche menschliche Selbstbehauptung ist. Daraus resultiert ein starkes, brüderliches Gemeinschaftsempfinden, um das wir die Ostkirche mit Recht beneiden können. Die Gefahr der menschlichen Selbstverherrlichung in der Persönlichkeit und die Gefahr des Individualismus treten weit zurück. — Für eine Pflege des humanistischen Persönlichkeitsideals fehlte aber in Rußland die Verbindung zur Antike. Wohl lassen sich dank des byzantinischen Einflusses in den Formen der Malerei und der Literatur, sogar in denen des politischen Denkens griechische Züge nachweisen, jedoch reichen sie an keiner Stelle hinter das neuplatonisch-christliche Denken zurück und erfahren niemals eine bewußte und systematische Pflege. Die antike Gelehrsamkeit, die antike Kunst und Literatur, ihre Verherrlichung der menschlichen Würde im Typus und im Einzelcharakter sowie die scholastische Verarbeitung des antiken Geistesgutes waren in Rußland unbekannt. Auch Humanismus und Renaissance vermochten Rußland nicht entscheidend zu beeinflussen. Die innere Einheitlichkeit der altrussischen Kirche stiftete also ein starkes frommes Gleichheitsgefühl, das durch keine außerkirchlichen Einflüsse gestört wurde.
Als man nun am Ausgang des 18. Jhs. begann, sich die westeuropäische Geistesart anzueignen, erfuhr dieses tradierte Gleichheitsgefühl auf der profanen Basis eine neue Bestätigung im vernunftrechtlichen Denken. Wieder erschienen alle Menschen, jetzt durch ihre vernünftige Natur, gleich, lind dieses vornehmlich aus Frankreich gewonnene Men-
schenbald erhielt in Rußland seine besondere Bedeutung dadurch, daß es zum Leitbild der an Westeuropa orientierten Opposition wird. Da die Kirche nicht imstande war, echte Gegenkräfte zu entwickeln, die dieses Denken auffingen, und da es im Rußland des 19. Jh. s keine offene Diskussion und keine politische Erprobung für die Opposition gab, wurde dieses Gedankengut von ihr konserviert. Es verwandelte sich in ein profanes Dogma und blieb nicht länger eine von vielen Deutungsweisen des Menschen. Viel einseitiger und uneingeschränkter als je in Westeuropa wurde im revolutionären Rußland der Mensch als von der ratio bestimmt angesehen, die vor allem als naturwissenschaftliches oder als interessenbezogenes Denken verstanden wurde. An ihm orientierte man sich ausschließlich, da das herkömmliche Denken keine richtungweisenden Elemente für die Bewältigung der weltlichen Aufgabe entwickelt hatte.
Die bolschewistische Revolution bringt dieses Denken eben als ein nicht anzutastendes Dogma zur Herrschaft, und wie eine profane Kirche wacht die Staatspartei darüber, daß — bei aller zugebilligten Kritik an Institutionen und Maßnahmen des Regimes im einzelnen — die Richtigkeit und Allgemeingültigkeit dieses uns schon antiquiert vorkommenden Denkens des 18. und 19. Jh. s nicht angezweifelt wird. Der Marxismus hatte, wie gezeigt wurde, in Rußland faktisch und ideell anders als im Westen kaum einen ständisch-personalen Widerstand zu überwinden. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jh. s rasch angewachsene russische Bourgeoisie wurde von der Autokratie ins Leben gerufen und blieb von ihr abhängig. Da sie keine in sich starke, in einem Bürgertum der Vergangenheit verwurzelte Größe darstellte, richtete Lenin dementsprechend auch seinen Angriff vornehmlich gegen die Autokratie, in der Gewißheit, daß im Ernstfall die Bourgeoisie auf ihre Seite treten muß. Die Solidaritätsforderung, der Hinweis auf die Gleichheit der Menschen, das Bild einer homogenen Endgesellschaft trafen dabei auf die sehr alten, ehemals religiös begründeten ähnlichen Vorstellungen. So entsteht ein starkes und bejahtes Kollektivempfinden, das man mit Recht, ob man es nun verwirft oder verherrlicht, als Eigentümlichkeit des russischen politischen Denkens anerkennt. Wir wissen, daß es heute wieder faktisch sozial verschiedene Gruppen gibt: etwa das politische Führer-korps, das Militär, die Staats-und Parteiangestellten, den städtischen und ländlichen Arbeiter, die Zwangsarbeiter. Aber das sind keine rechtlich-ständischen Gliederungen, sie sind ohne feste Grenzen, ohne eigenen politisch-ideellen Belang und ohne kulturelle Eigentümlichkeit. Es fehlt aber auch die Pflege einer individuellen politischen Meinungsbildung. Eine so geartete Gesellschaft erfordert eine Staatsform, in der die Regierung die allein politische Macht und Verantwortung tragende Größe ist, wie umgekehrt die Regierung einer Autokratie und einer Diktatur einen politisch rechtlosen Untertanen wünschen muß. Di heute in der Sowjetunion zweifellos vorhandene relative Begünstigung der nationalen Besonderheiten darf nicht unterschätzt werden, aber sic ist eher im Rahmen der Frage Dezentralisation oder Zentralisation zu sehen, der Frage, die auch schon zur Zarenzeit die Leitung dieses Riesenreiches bewegt hat, im Rahmen der Frage nach einer zweckmäßigen Verwaltung. Im Grunde wird von der bolschewistischen Regierung die Herausbildung des unpolitischen und von allen personalen, ständischenund nationalen Eigentümlichkeiten freien Untertanen angestrebt. Alles, was heute in Rußland mit einem gewissen Pathos ausgezeichnet ist und uns erschreckt, die Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen, seine Auswechselbarkeit, der Glaube, daß jeder zu jeder Funktion erziehbar und verwendbar sei, die Geringschätzung der individuellen Freiheit, hat seine Wurzel im Fehlen eines ständisch-personalen Erbes. Es bewirkt seit jeher eine starke politische Einheitlichkeit und Geschlossenheit der russischen Gesellschaft. Diese innere Gleichförmigkeit hat in der Neuzeit auch die russische politische Meinung über Westeuropa sehr entscheidend beeinflußt. Die staatliche Vielfältigkeit und die nationalen Verschiedenheiten, die sozialen Spannungen, das Nebeneinander zahlreicher Konfessionen und das Gewährenlassen individueller Anschauungen in Westeuropa mußten, gemessen am eigenen Zustand, nur fremdartig erscheinen und konnten von den Russen nur als Auflösungsund Zerfallserscheinungen gedeutet werden. Daß Differenzierungen und Spannungen der Gesellschaft fruchtbar sein können, mußte dem russischen Betrachter verschlossen bleiben. Es ist auch von hier aus ver-stündlich, daß die russische Außenpolitik mit besonderer Vorliebe derartige soziale Schwierigkeiten für ihre Interessen auszunützen trachtet und daß sie leicht in Gefahr geriet, dieses Scheinsystem als Machwerk einer Schwäche zu überschätzen
Im Ganzen fehlt im Bolschewismus die Polarität zwischen der natürlichen und transzendenten Bestimmung des Menschen. Es bleibt bei einem einfachen egalitären Menschenbild, das durch keine faktischen oder ideellen Voraussetzungen der Vergangenheit aufgelockert wird.
Übermacht der Obrigkeit über die Gesellschaft
Die Anerkennung der uneingeschränkten Übermacht der Obrigkeit über die Gesellschaft führt die Erörterung gleichfalls weit zurück, mindestens bis zum Ausgang des 15. Jhs. Seit den Anfängen der russischen Geschichte bis 1 598 regierte in Rußland die eine Dynastie Rjurik. Niemals war die ’ Zustimmung des Volkes für die Wahl eines Herrschergeschlechts notwendig; die Herrschaft wurde ausgeübt von unzählig vielen Mitgliedern der Dynastie. Als jedoch eine der Linien, das Haus Moskau, stark genug war, die anderen Teilfürsten zu unterwerfen, stand diesen kein Recht, keine grundsätzliche Sicherung zur Verfügung. Nachdem Moskau erst einmal die politische Übermacht gewonnen hatte, vermochte es daher erstaunlich schnell die Vielherrschaft in eine Einzelherrschaft überzuführen. Auch die anderen sozialen Gruppen hatten, wie wir sahen, keine rechtliche Basis für einen Kampf mit der Krone. Ein politisches Widerstands-recht war in Altrußland nicht entwickelt worden. Die Kirche wiederholte durch die Jahrhunderte den Satz, daß ein unchristlicher Herrscher ein Tyrann sei und daß man ihm nicht zu gehorchen brauche. Aber das war mehr eine fromme Ermahnung an den Fürsten als eine politische Lehre. So stellten schon im 16. Jh. die westeuropäischen Gesandten mit Staunen fest, was für ein geeinter, zentralisierter Staat Moskau sei. Das damalige Moskau mußte ihnen fortschrittlich erscheinen, denn das Reich oder auch das benachbarte Polen etwa waren durch den dauernden Kampf zwischen dem Herrscher und den Ständen auf schwerste erschüttert. Freilich, die Aufgabe einer Vereinheitlichung unter Wahrung ständischer Freiheiten, die sich der Westen stellte, entfiel n Rußland. Der Moskauer Großfürst wurde in Anlehnung an die byzantinischen Kaiser zum Zaren, zum Autokrator; er erhielt fast wie jener eine sakrale Würde, zumal er der Herrscher über das einzige, letzte orthodox-christliche Reich war. Es ist bezeichnend und keineswegs zufällig, daß mit dem Aussterben der Dynastie Rjurik am Ende des 16. Jhs. ein politisches Chaos entsteht, da es keine Normen und keine Traditionen für die Herrscherfindung gab. Erst 1613 wurde eine neue Dynastie gewählt, und zwar durch große, ungefüge und zufällig zusammengesetzte Landesversammlungen, sobory, der Mitglieder aller Bevölkerungsschichten angehörten. Aber nachdem die neue Dynastie gefunden worden war, verloren die sobory sofort wieder an Bedeutung und schliefen ein. Es wurde kein Recht auf eine Volksvertretung irgendwelcher Art entwickelt. Dem Autokrator gegenüber mußten alle sozialrechtlichen Unterschiede belanglos erscheinen.
Der Terminus gosudarstvo, der bis heute für Staat gebraucht wird, ist erstmalig im 15. Jh. für ein Teilfürstentum nachweisbar: er heißt Herrschaft, Besitz des Herrschers. Die russischen Teilfürsten vom Ausgang des 12. bis zum Ausgang des 15. Jhs. betrachteten ihr Fürstentum als otcina, als Vätererbe, als erblichen Privatbesitz, während die Kiever Zeit die otcina nur als Anspruch auf die erbliche Regierung in einem Land verstand. Die Vorstellung nun, vom gosudarstvo als otcina, vom Staat als erblichem Privatbesitz, dehnten die Moskauer Autokraten auf das ganze russische Reich aus. Der Staat blieb damit in Altrußland aufs engste mit dem Herrscher verknüpft und entwickelte sich nicht zu einer selbständigen Größe.
Das petrinische Imperium, überhaupt das russische Kaiserreich des 18. Jh. s, näherte sich wohl am meisten dem modernen westlichen Staats-begriff in seiner zeitgenössischen Ausprägung. Freilich muß man daran erinnern, daß auch alles getan wurde, um in Westeuropa als gleichartiger absolutistischer Staat zu erscheinen, und daß sich auch damals der russische Herrscher beispielsweise keiner Theorie von der Volkssouveränität gegenüber oder gegenüber einem Widerstandsrecht oder einem Ständewesen zu behaupten hatte. Peter selbst unterhöhlte das Bestreben, den Staat als eigene Größe, abgelöst vom Herrscher, herauszustellen, da er für sich bei der Durchführung seiner Neuerung die absolute Freiheit und das Einmischungsrecht in alle staatlichen Bezirke glaubte wahren zu müssen.
Im 19. Jh. versuchte die Autokratie den Zustand des 18. Jh. s zu erhalten. Das nationale Prinzip, das der politischen Geschichte Westeuropas im 19. Jh. zugrunde lag, war in Rußland zur Unfruchtbarkeit verdammt. Entweder mußte es den Vielvölkerstaat auflösen oder eine Nation zur Bedrückerin der anderen machen. Zugleich erwies sich die Autokratie als unfähig, die Beteiligung des Volkes an der Regierung überhaupt irgendwie zu ermöglichen. Sie bot keinen Ansatz zur Fortentwicklung in national-demokratischer Richtung.
Die Autokratie, seit dem Krimkrieg offensichtlich nur ein Hemmschuh der politischen Entwicklung, brach zusammen, zwang aber ihren großen Gegner Lenin, seiner Partei unter ausdrücklichem Bezug auf die durch die Autokratie in Jahrhunderten geschaffene Situation eine eigentümliche, von den westeuropäischen sozialistischen Parteien abweichende Gestalt zu geben. Die bolschewistische Partei zeichnet sich durch schärfsten Zentralismus, strengste Unterordnung unter die Parteileitung und durch eine nur taktische Berücksichtigung des proletarischen Willens aus. Anders als Marx rechnete Lenin mit einer dauernden proletarischen Herrschaft, die er proletarischen Staat nannte. Aber in der Nachfolge von Marx war auch für Lenin der Staat keine in sich selbst wurzelnde Institution, sondern nur das notwendige Machtmittel einer Klasse im Klassenkampf. Damit mündete der Bolschewismus wieder in die traditionelle russische Auffassung vom Staat ein. Der Staat bleibt die Herrschaftsorganisation einer keine Rechte des Volkes anerkennenden Obrigkeit, er ist kein aus sich heraus existierendes Rechtsinstitut, er ist frei von sittlichem Wert. Was außerhalb der Zwangsmittel der Autokratie bzw.
des Diktaturstaates die Gesellschaft zusammenhält, ist der einheitliche religiöse bzw. weltanschauliche Glaube. Seit 1936, seit der Deklarierung des klassenlosen Zustandes in der Sowjetunion, ist mit einer Neubewertung des Staates zu rechnen. Die zu derselben Zeit anhebende Pflege des patriotischen Empfindens ist ein erster emotionaler Ansatz hierzu. Für eine Ablösung der Parteidiktatur durch eine Regierung der für sozialistisch mündig erklärten Gesellschaft fehlen freilich die Anzeichen.
Diskrepanz zwischen politischer Praxis und ideeller Zielsetzung
Bei der Besprechung des letzten der hier zur Erörterung gestellten Probleme muß von vornherein ein mögliches Mißverständnis abgewehrt werden. Wenn von der Diskrepanz zwischen politischer Praxis und ideeller Zielsetzung gesprochen wird, so handelt es sich keineswegs um die Behauptung, daß man in Rußland häufiger als in Westeuropa in der Politik ideelle Werte nennt und den praktischen Nutzen meint. Vielmehr handelt es sich um die verschiedene Art, in der man beides typischerweise miteinander verbindet. Im Westen hatte man seit dem Mittelalter dem politischen Tun, den Politikern und den politischen Institutionen einen relativen Wert zuerkannt. Indem man sie als notwendig hinstellte, versuchte die Kirche zugleich, Normen und Aufgaben dem politischen Leben zu setzen. Am Beginn der Neuzeit wurde von Luther die Gleichwertigkeit eines jeden Berufes, also auch des politischen, vor Gott gelehrt Daneben entstand gleichzeitig die Lehre Macchiavellis von der Staatsräson, d. h. es wurde eine Eigengesetzlichkeit des Politischen herausgestellt und dem Politiker für Ausnahmefälle, in denen man politisch richtig nur handeln kann, ohne zugleich fromm und gut handeln zu können, ein neutraler Zwischenbereich abgegrenzt. Bis in unsere Tage hinein fühlt sich der Westen bei einer reinen Interessenpolitik nicht recht wohl; er gesteht sie nicht gern ein, er hat ein schlechtes Gewissen dabei und sucht eigentlich eine sittliche, wenn nicht gar religiöse Rechtfertigung. Von hier aus bis zur Verwandlung der sittlich-religiösen Begründung in einen bloßen Vorwand ist nur ein Schritt.
In Rußland war das von Anfang an anders. Hier sah die altrussische Frömmigkeit gar keine Aufgabe in der Welt, die sowieso verloren ist. Sie wirkte in die Welt hinein, um die Gläubigen aus ihr zu lösen, ohne ein Geschichtsbewußtsein zu stiften. Es gab kaum geistliche oder gar weltliche Äußerungen über das rechte politische Regiment, über das Erlaubte und Vorbildliche im politischen Handeln. Die Politik blieb im Religiösen eingebunden; die altrussischen Ermahnungen an die Fürsten von geistlicher Seite unterscheiden sich kaum von den Ermahnungen an die Christen überhaupt. In der Praxis blieb das politische Handeln sich selbst überlassen. Da ihm die Kirche eine relative Anerkennung seines Wertes und seiner Besonderheit versagte und es nicht zu beeinflussen trachtete, richtete es sich nach den Interessen und nach der Zweckmäßigkeit. Die kalte, erfolgreiche Konsequenz der Politik der Moskauer Groß-fürsten etwa läßt sich von hier aus verstehen. Sie paktieren mit den heidnischen Tataren, ohne daß sie selbst oder der berichtende Chronist hierbei etwas Anstößiges empfanden, so wie ihre Nebenbuhler, die Groß-fürsten von Tver, mit dem König von Polen, dem Schismatiker, paktierten. Lind als sich Moskau stark genug fühlte, sich gegen die Tatarenmacht aufzulehnen, geschah es nicht aus einem Missionsanliegen heraus. — Da die Kirche als einzige geistige Macht keine Normen für das gesellschaftliche Leben entwickelte, gewann es sie — und das ist die zweite Richtschnur des politischen Handelns — aus dem Herkommen. Ihm kam nicht nur in der altrussischen Geschichte eine bestimmende Bedeutung zu, sondern es blieb auch in der Neuzeit gewichtig — im 17. und 18. Jh. als Element der politischen Opposition, im 19. Jh. als Element der Regierungspolitik. Auch nach der Revolution von 1917 zeigte sich überraschenderweise, daß sich allmählich Grundvorstellungen der Vergangenheit immer stärker durchsetzten, genauer gesagt, daß man an Ideen des 19. Jh. s zäh festhielt. Das bedeutet, daß das politische Leben von der Tradition und vom Faktischen her bestimmt wurde.
Für die Entwicklung einer Lehre vom Politischen bleibt in Altrußland gar kein Raum. Zum vollen Bewußtsein dieser Situation gelangte im 16. Jh. Ivan der Schreckliche. Er weist entrüstet jeden religiösen oder sittlichen Vorwurf wegen seines blutigen innerpolitischen Vorgehens von sich. Als Sachwalter Gottes fühlt er sich hierbei den Menschen gegenüber völlig frei und gerechtfertigt und verbittet sich jedes Hinsinreden in die Politik, auch seitens der Geistlichkeit, das heißt, es gibt für ihn keine von ihm zu achtenden politischen Normen. Jedoch gibt es für ihn anders als im Westen keine Staatsräson, auf die er entschuldigend verweisen kann. Vor Gott fühlt er sich beladen mit großer Sündenlast. Ihr kann er sich nicht entziehen, und es sind von ihm Verzeichnisse seiner Opfer erhalten, lange Listen für die Abhaltung von Totenmessen für die von ihm im politischen Kampf Ermordeten. Bezeichnenderweise entschuldigt er sich nur damit, daß sein Handeln wie ein jedes Handeln in der Welt sündhaft und verdorben ist.
Diese Trennung zwischen einem frommen, nicht auf die Welt bezogenen Tun und einem politischen, nur auf die Welt bezogenen Tun ist die für das politische Verhalten in Rußland letztlich bestimmende Tatsache. Sie läßt es eigentlich nicht zu, daß man im Hinblick auf die neuzeitliche Geschichte Rußlands in Anlehnung an Westeuropa von einem Säkularisationsprozeß spricht, vielmehr tritt nur eine schon immer vorhanden gewesene Weltlichkeit in dem Maße zutage, als die Glaubens-stärke abnimmt. Die Übernahme des Gedankengutes der Aufklärung am Ausgang des 18. Jh. s brachte wenigstens für die oppositionellen Kreise Rußlands eine erste Verbindung von ideeller Zielsetzung und politischem Handeln. Sie erfuhr eine gewaltige Vertiefung durch die Aufnahme des Marxismus, der die entwürdigende Selbstentfremdung des Menschen im politischen Kampf zu überwinden aufforderte. In der Sehnsucht und dem Streben, das Reich der Freiheit und der Gerechtigkeit politisch zu realisieren, wird an vielen Stellen der revolutionären Bewegung des 19. Jhs. und der Revolution von 1917 erstmalig der Mensch in seinem transzendenten und zugleich in seinem immanenten Bezug angesprochen.
Aber die Verwirklichung des Marxismus in Rußland 1917 sah nun doch wieder anders aus. Die profan-eschatologische Erwartung von Marx, die auch weite Kreise der russischen Revolutionäre 1917 beflügelte, wurde von Lenin nur zögernd geteilt. Er faßte nicht wie Marx kurzes Zwischenstadium der proletarischen Diktatur ins Auge, über das hinweg der Blick hoffnungsvoll auf das endlich und bald heranbrechende Reich der Freiheit eilt, sondern rechnete schon am Vorabend der Revolution mit der Möglichkeit und Notwendigkeit eines proletarischen Staates. Indem er in genialer, nüchterner Erfassung der russischen politischen Wirklichkeit die Vorfrage, Übernahme und Behauptung der Macht, löste, drängte er die Lösung er eigentlichen Frage, die Realisierung des totalen menschlichen Anspruchs, zurück. Das Eschaton verwandelte sich in ein fernes, anzustrebendes Ideal. Vollends, nachdem sich die Weltrevolution, mit der man 1917 rechnete, nicht einstellte und man sich in der Isolierung weiter behaupten mußte, trat der Gedanke an eine währende Herrschaft, an das Sicheinrichten in der gegebenen Welt, in den Vordergrund. Die folgenreichste Tat Stalins, die eigentliche Zäsur der russischen Geschichte seit 1917, liegt dann, daß er dte Umwandlung von einem revolutionären, politischen Zwischengebilde in einen russischen Diktaturstaat vollendet hat. Aber zugleich hat sich die alte Zweiteilung wieder klar herausgestellt. Anerkannt wird der Mensch nur in seinem diesseitigen Bedingtsein und Wollen. Die Totalität des Menschen bleibt unberücksichtigt. Der prinzipiell rational deutbare Geschichtsprozeß verläuft daher spannungslos in einer Ebene. Auch ietzt werden die ideellen Werte der revolutionären Vergangenheit genannt. Jedoch wirken sie ebensowenig auf das politische Handeln ein wie einst die Werte einer rein jenseitsbezogenen Frömmigkeit. Nun ist es aber etwas anderes, eine religiöse Gewißheit zu haben oder nur eine idealistische Hoffnung, die, da sich immer wieder ihre Verwirklichung hinausschiebt, ermüdet und enttäuscht. Es ist bezeichnend, daß Stalin in seiner Ankündigung der neuen Verfassung von 1936 erklärt, daß jetzt in Rußland der klassenlose Zustand erreicht sei. Das geschieht aus dem richtigen politischen Empfinden heraus, man müsse die Zeit des Wartens durch Zäsuren unterteilen, die bedeuten sollen, daß man die Wirklichkeit einen Grad mehr dem Ideal angeglichen hat. Freilich wird damit zugleich die schließliche Ohnmacht des Ideals aufgezeigt. Der Bolschewismus ist ein Abschnitt der neurussischen Geschichte, die durch die sogenannte Europäisierung Rußlands, genauer: durch die Auseinandersetzung Rußlands mit Westeuropa, bestimmt ist. Der Bolschewismus lebt konservativ aus dem partiell übernommenen bürgerlichen Denken des westeuropäischen 19. Jh. s. Aber zugleich und verändert sprechen sich in ihm altrussische Grundvorstellungen vom Verhältnis Rußlands zum übrigen Europa, von der politischen Ordnung und vom politischen Handeln aus. Ein Leben im Glauben an das Absolute als Inbegriff religiöser, nicht geschichtsmächtig verstandener Werte ist im Bolschewismus abgelöst worden durch ein Leben im Glauben an das Absolute als Inbegriff rein innerweltlicher, geschichtsentleerender Werte. Diese die Totalität des Menschen in der religiösen Schicht auflösende Voraussetzung verhinderte bisher in der russischen Geschichte eine Über-windung der Differenz zwischen politischem Handeln und ideeller Zielsetzung.
Eine neue Epoche in der Geschichte Rußlands, in seinem politischen Denken und damit sicherlich auch in seinem Verhältnis zu Westeuropa wird anbrechen, wenn sich in Rußland ein echtes, Transzendenz und Immanenz des Menschen umschließendes Gewichtsbewußtsein bildet. Wann, wie und ob das geschehen wird, vermag wohl nicht nur der Historiker nicht zu sagen. Er sollte die Struktur des Gewordenen klarlegen können und damit dessen Ewigkeitsanspruch entkräften. Wie bei jedem politischen und historischen Problem wird ihm auch bei dem russischen eine Erhellung nur gelingen, wenn er sich in seinem Bemühen bis zur religiösen Wurzel des Problems durchfragt. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Margarete Buber-Neumann: „Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion"
Iring Fetscher: „Das Verhältnis des Marxismus zu Hegel"
G. F. Hudson: „„Chruschy’s Komet"
Karl A. Wittfogel: „Die chinesische Gesellschaft" „Indonesien — Politik und Weltanschauung des Präsidenten Dr. Achmed Sukarno’