Gottfried Wilhelm Leibniz ist als der universalste Denker der deutschen Geistesgeschichte bekannt. Nur wenig bekannt ist die Tatsache, daß dieser Philosoph als einer der wenigen seines Faches in die Politik seiner Zeit aktiv eingegriffen hat. — Seine Tätigkeit führte zwar nicht zu konkreten „Ergebnissen"; aber die Gedanken, die diese Aktivität trugen, wirken bis in unser Jahrhundert fort: Internationales Schiedsgericht, Vereinte Nationen, Weltregierung Europa. Stets galt seine Sorge Deutschland. Sein Vermächtnis für die Zukunft und damit für unsere Gegenwart aber heißt: Die Staatsraison zu zügeln, Maß zu halten und die Macht dem Frieden dienstbar zu machen. „Bei der Bösartigkeit der wenscklichen Natur ist es doch sehr zu verwundern, daß das Wort „Recht“ aus der Kriegspolitik noch nicht als pedantisch hat verwiesen werden können."
Dieser ironische Satz stammt von Immanuel Kant. Der große Königsberger Philosoph traf damit in den Kern des nie verstummenden Problems von Moral und Politik, Recht und Gewalt, Unordnung und Harmonie. Kant sagte das 1795, als der Sturm der französischen Revolution mit erhabenen Idealen und grausamer Realität über Europa hereinbrach. Dieser Sturm, dessen geistige und politische Wirbel durch eineinhalb Jahrhunderte wirkten, und unsere Gegenwart noch immer bestimmen, sie bereichern und bedrohen.
Kant schrieb den oben zitierten Satz in seiner Schrift, die den Titel „Zum ewigen Frieden" trägt — wie ein holländisches Wirtshausschild, auf das in satirischer Absicht ein Kirchhof gemalt war. Kant bezieht sich auf dieses Schild und läßt die Frage offen, ob der Hinweis auf den Kirchhofsfrieden den Staatsoberhäuptern gilt, „die des Krieges nicht satt werden können", oder den Philisophen, „die jenen süßen Traum" vom ewigen Frieden träumen . . .
Ewiger Friede, Harmonie auf Erden — das ist der immer wiederkehrende Traum der Menschheit, ihrer großen Geister. Achtzig Jahre vor Kant hat ihn der französische Abbe de Saint Pierre geträumt, ein barokker Schwärmer, dem ein europäischer Völkerbund, ja ein Staatenbund vorschwebte, in dem unparteiische Schiedsgerichte über Streitfragen entscheiden sollten. 1716 entwarf er sein viel belächeltes Projekt. Es war das gleiche Jahr, in dem zu Hannover einsam ein verbitterter, als schrullig verschriener Hof-Historikus starb: Gottfried Wilhelm Leibniz. Der Mann, der wie kein anderer Denker der Neuzeit versucht hatte, die universale Zusammenschau der Welt, die Synthese von Theorie und Praxis, die Harmonie der Gegensätze, die Versöhnung von Philosophie und Politik zu erzwingen. Er hatte das Projekt des französischen Abbe für den ewigen Frieden noch gelesen und sarkastisch dazu notiert: „Nur die Toten schlagen sich nicht mehr. Die lebenden Großen respektieren keine Gerichtshöfe. Allezeit wird, der da hat, mehr haben wollen."
Das war für Leibniz freilich nicht erst späte, nüchterne Erkenntnis. Der Philosoph war niemals blind gegenüber der Realität gewesen, ja er hatte sich bewußt wie kein anderer Gelehrter seiner Zeit aktiv in den Strudel des politischen Geschehens gestellt. So konnte er von sich sagen: „Da ich alles auf irgendeinen Nutzen auszurichten pflege, habe ich mehr geistige Mühe auf die politische Praxis verwandt als auf kritische Spitzfindigkeiten. Man soll nicht mir reden, ja nicht nur denken, sondern practice denken, das ist tun, als wenn’s wahr wäre."
Mit anderen Worten: das, was sich geistig als richtig ergibt, soll auch praktiziert werden. Die Philosophie, die Jurisprudenz, die Moral — Leibniz wollte sie aus dem Wölkenkuckucksheim ihrer Spekulationen herabholen, mit der rauhen Wirklichkeit konfrontieren, damit sie diese prägen. Die Harmonie der Welt liegt — wie Leibniz sagt — in der richtigen „Proportion zwischen Verstand und Macht".
Eine solche Proportion von Macht und Weisheit blieb allerdings zur Zeit, in der Leibniz lebte, ebenso in die Sterne geschrieben wie vor ihm und nach ihm. Doch der Konflikt zwischen beiden, der unentwegt solcher Proportion widerspricht und den Prozeß der Geschichte bestimmt — dieser Konflikt war es, der Leibniz faszinierte, der seinen Geist provozierte und aus der Studierstube in die Politik trieb, denn er sagte sich: „Denen, die mit Verstand ohne Macht von Gott versehen sind, denen gebühret zu raten. Gleichwie denen, denen die Macht gegeben, gebühret, gütig Gehör zu schenken.“
Als politischer Ratgeber, als Diplomat, Ökonom, Publizist, Historiker, Sprachforscher und Religionsphilosoph, ja auch als Mathematiker und Physiker — immer ist sich Leibniz bewußt, daß alles Bemühen nur der praktischen Bewältigung seiner konkreten historischen Situation zu dienen hat. Nur im geschichtlichen Raum, wo die Wirkungszentren des Lebens den Menschen Leibniz unentwegt in Anspruch nahmen, seine Aufmerksamkeit erregten, seine Erkenntnis förderten und zugleich sein Eingreifen herausforderten — nur hier war seine Universalität, die oft wie Geschäftigkeit schillert, sinnvoll gebunden.
Die politische Situation seiner Zeit
Wie sah nun die konkrete politische Situation aus, in die sich der große Philosoph gestellt sah?
Leibniz ist zwei Jahre vor dem Ende des 30jährigen Krieges geboren — 1646. Es ist das Jahr, da in Osnabrück und Münster zwischen protestantischen und katholischen Reichsständen, zwischen Schweden, Fran zosen und Deutschen, zwischen Kaiser und Fürsten verhandelt wurde. Man wollte einen Weltkrieg beenden, der — nach dem Maßstab der Epoche — von unüberbietbarem Grauen gezeichnet war. Das Land wai verwüstet, Siedlungen zerstört, ein Drittel der deutschen Bevölkerung umgekommen, und es herrschte politische und geistige Verwirrung. Der Westfälische Friede von 1648 beendete den Religionskrieg, beschloß das Zeitalter des konfessionellen Prinzips in der Politik. Er eröffnete die Epoche der Aufklärung, der neuen rationalen Weltbetrachtung und Weltbemächtigung.
Das Mittelalter und seine Daseinsformen waren nun erst eigentlich am Ende. Mit Renaissance und Humanismus hatte im 16. Jahrhundert schon die Auflösung der mittelalterlichen Welt begonnen. Die Reformation, die zwar aus dem Erwachen des religiösen Einzelmenschen erstanden war, hatte doch noch in der alten Ordnung gewurzelt. Nun begann auch sie als religiöse Erlebnismacht Gegenstand rationale! Durchsetzung zu werden. Seit der kopernikanischen Wende hatte die Erde aufgehört, Mittelpunkt des Weltalls zu sein. Seit Descartes bezog der Mensch die Erde nur noch auf sich und sein Denken. Das war eine Absage an die traditionelle Metaphysik, ein Verlust der alten Welt-harmonie. Der Politiker brauchte sich nicht mehr — nicht einmal theoretisch — an überweltlichen Ordnungsgesetzen zu orientieren. Er spannte nach mathematischen Gesetzen die atomaren Punkte der Untertanen in das Koordinatensystem seiner Herrschaftspläne. Man regierte „more geometrico" — nach mathematischer Vernunft. Macchiavelli, der Florentiner Staatsdenker, hatte das Rezept entworfen: allein die Staatsraison, die „Staats-Vernunft“ sollte nun das Handeln diktieren. Freilich, ein metaphysischer Restbestand blieb: man versuchte, den mittelalterlichen Rechtsgedanken und die Idee vom „Reich“ auch dem neuen Staatsgedanken irgendwie zu erhalten. Auch der selbstherrlich und absolut regierende Sonnenkönig konnte nicht auf die religiöse Gloriole verzichten. Denkgewohnheiten der Vergangenheit ragten in die neue Epoche vielfältig hinein, verstärkten deren Dissonanzen, weckten die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit, nach der Synthese.
Nirgends hat man das stärker als in Deutschland empfunden. Hier bestand noch das alte Reich. Der Westfälische Friede hatte zwar den Kaiser entmachtet und den Reichsverband in unzählige souveräne Einzelstaaten aufgesplittert. Aber trotz der „Libertät“, dieser Freiheit, der sich die Fürsten erfreuten, war in diesen Partikulargewalten noch der Reichsgedanke lebendig. Allerdings konnte das Reich als „Corpus Christianum“ im mittelalterlichen Sinne nicht wieder restauriert werden, denn die Geschichte war über diese Idee hinweggeschritten. Auf dem Reichsboden war zum letzten Male um Religion, zum ersten Male um „reine" Macht gekämpft worden. 1648 aber wurde das Dilemma Deutschlands offenkundig: es konnte sich weder nach französischem Vorbild in einen Absolutismus, etwa des Kaisers in Wien, retten, noch konnte seine alte ständische Struktur dem neuen Zeitgeist widerstehen. So kam es dann zur Zwittergestalt eines Absolutismus der Einzel-fürsten — mit der Reichsidee als ideologischem Überbau. In Deutschland gelang eben nicht, was in England damals glückte: nämlich das moderne rationale Denken der altehrwürdigen Reichsidee anzugleichen und so die politisch-geistige Harmonie im veränderten historischen Rahmen zu erneuern. Genau das aber strebte Leibniz sein ganzes Leben lang an. Er fühlte, daß er zwischen den Zeiten stand. Zwar war der Bruch mit dem Mittelalter vollzogen, aber noch schwang der alte Ordnungsgedanke im Zeitgespräch mit. Leibniz versuchte, die Kluft zu schließen, die zwischen Individuum und Gemeinschaft, Volk und Herrscher, Recht und Macht aufgebrochen war.
Werfen wir nun einen kurzen Blick auf seinen Lebensweg. In Leipzig und Jena hatte der junge Leibniz Philosophie und vor allem Iurisprudenz studiert. Der Zwanzigjährige mühte sich um neue Methoden der Rechtslehre. Im Gegensatz zur zeitgenössischen erstarrten Wissenschaftsmethodik stellte er den Gedanken der Realisierung des Rechts und der Rechtspraxis in den Vordergrund: Er warnte vor der Verwechslung von Recht und Gesetz. Nur die Macht könne aus dem Recht gesetzliche Tatsachen schaffen, beide aber — Recht und Macht — müßten im transzendenten Bereich, im Göttlichen verankert sein:
„Wer von den wahren Prinzipien des Rechtes in Politik, Moral und Theologie durchdrungen ist, dem allein kann auch der Staat anvertraut werden.“
Das klingt zwar theoretisch, für Leibniz jedoch heißt es nichts anderes, als daß die Rechtswissenschaft in die Staatspraxis, in die Politik einmünden muß.
Es hielt den jungen Gelehrten nicht lange in der Weltabgeschlossenheit der Universität Altdorf bei Nürnberg. Ungeduldig schreibt er;
„Nichts ist mehr an der Pedanterie der Studierenden Schuld als die Regeln, die noch vom Mönchswesen ihren Ursprung haben. Denn solche Gelehrsamkeit besteht mehrenteils in leeren Gedanken, Scltulgrillen ohne Erfahrung, Tat und Wirklichkeit.“
Zu dieser Wirklichkeit drängte es Leibniz. Lind er fand den Mann, der ihm den Absprung ermöglichte: Boineburg, der Minister des Mainzer Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn „entdeckte" den jungen Leibniz und brachte ihn im Jahre 1767 als Kurfürstlichen Rath nach Mainz.
Es war eine Zeit höchster Spannung in der europäischen Politik. Das Mainz des Kurfürsten Schönborn sah sich durch seine Mittelstellung am Rhein zwischen den beiden großen Rivalen, dem Frankreich der Bourbonen und dem Machtanspruch der Habsburger, zu einer Art Mittlerrolle berufen. Unruhe und Unsicherheit herrschte in Deutschland. Dem Reichstag, der in Regensburg tagte, gelang es nicht, die längst notwendigen Rechtsreformen durchzusetzen und zwischen den Interessen der Fürsten und des Kaisers auszugleichen. Die Fürsten fürchteten mehr die Möglichkeit einer habsburgischen Übermacht als den Drude des französischen Absolutismus. Als Sicherheitsgürtel, der das Gleichgewicht in Europa erhalten sollte, hatte Kurfürst Schönborn de rheinischen Fürsten zu einem Bündnis vereinigt. Er hatte, wie Leibniz später schrieb, nicht erkannt, daß sich das Gleichgewicht der europäischen Mächte zugunsten Frankreichs und nicht zugunsten des Kaisers in Wien verändern mußte. Im Frankreich Ludwigs XIV. hatte nämlich das Prinzip der Staatsraison gesiegt und das gesamteuropäische Bewußtsein verblassen lassen.
Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß beim Einfall der Türken sich nicht nur die Habsburger auf ihre alte Mission als Schützer des Reiches besannen, sondern auch die Hälfte des Aufgebotes in der siegreichen Schlacht von St. Gotthart aus Rheinbundtruppen und Franzosen bestand. Prestigegründe, aber auch moralische Verpflichtung mögen dabei mugewirkt haben. So wurde man in Wien dementsprechend dieses Sieges mit französischer Hilfe auch nicht recht froh und deckte sich eilig den Rücken durch einen Waffenstillstand mit den Türken. Nur drei Jahre vergingen, bis der französische Sonnenkönig die Reihe seiner Angriffskriege begann. 1667 fielen die Franzosen in den Niederlanden ein Nun schwenkte der Kurfürst Schönborn um und blickte nach Wien; der Rheinbund zerbröckelte, Frankreich stellte seine Zahlungen nach Mainz ein. Minister Boineburg schrieb verzweifelt: „Es ist das alte Lied: die Deutschen schreien nur und tun nichts. In Wien geht alles langsam zu, wird alles versdtleppt. Beim Reichstag kommt nichts heraus-, man hat ihn, aber weiß ihn nicht zu nutzen“.
Als Leibniz nach Mainz kam, fand er also eine politische Lage vor, die man angesichts des verzweifelten Zustandes im Reich nur noch mit Resignation betrachtete. Das Reich sei gar kein Staat mehr, sondern ein „Monstrum“ — das ist die These, die der bedeutendste Staatsrechtslehrer der Zeit, Samuel Pufendorf, in diesen Monaten vertrat.
Vorschläge zur Reichsreform — Einheit in der Mannigfaltigkeit
Leibniz aber stellte sich der ganzen zeitgenössischen Publizistik entgegen. weil er überzeugt war, daß die Grundlagen der Reichsverfassung wohl noch tragbar wären, wenn nur die Fürsten ihr neues Souveränitätsbewußtsein mit der alten Reichsidee verbinden würden:
„Ich aber habe allezeit dafür gehalten und bin noch nicht davon abzubringen, daß das Reich wohl geordnet ist. Der Zustand des Reiches ist zwar beschämend, aber nicht in der Verfassung, sondern bei uns selbst liegt die Ursache; bei der Unbekümmertheit, mit der man in Deutschland in Zeiten regiert, in denen Himmel und Erde beben.“
Von dieser Anschauung sind seine großen Denkschriften zur Reichs-reform getragen, durch die er als Ratgeber des Mainzer Kurfürsten und später des Herzogs von Braunschweig Einfluß auf die Politik zu nehmen suchte. Er knüpfte an das System der Allianzen, der Fürstenbündnisse an. Die meisten waren vorher gegen das Reich gerichtet, Leibniz aber gab ihnen einen neuen Sinn:
„Die Form der Allianz muß so eingerichtet werden, daß möglichst alle Mängel, die die Form des Reiches beschmutzen und die Reichstage so nutzlos machen, verbessert werden-, ja, die Allianz soll den Reichstag ersetzen.“
Das Direktorium des Fürstenbundes, den Leibniz sich als eine Art Bundesstaat vorstellte, sollte an die Stelle des Reichstages treten. In diesem Direktorium könnten Mehrheitsbeschlüsse gefaßt werden, deren Durchführung ein stehendes Heer des Reiches ermöglichen sollte. Der Vorsitz im Direktorium sollte wechseln, damit — wie Leibniz betonte — kein Diktator daraus hervorginge. Dem Kaiser, als „primus inter pares", stände jedoch das Vorschlagsrecht zu. Aus dem Reich konnte auf solche Weise ein Staat werden, ohne daß die Fürsten ihre im Westfälischen Frieden gewonnene eigene Souveränität verlieren würden. Der Kaiser sollte seine alte Würde wieder erhalten, ohne Alleinherrscher wie Ludwig XIV. zu werden.
Leibniz war sich bewußt, daß er mit seiner Meinung gegen den Strom schwamm:
„Ich weiß, daß einige, die sich klug dünken, meiner hier spotten werden. Bald sagen sie, der Kaiser habe die Fürsten unterdrückt, bald wol len sie uns einreden, die Fürsten unterdrückten die kaiserliche Majestät. Die solches reden, sind aber Brunnenvergifter, sie sollten die Wunden des Reiches lieber mit Öl mildern als mit Salz und Essig reiben.“Leibniz war sich der Gefahr des Utopischen in seinen Plänen bewußt. Er wollte beiden Partnern im Reich gerecht werden. Einerseits verteidigte er mit leidenschaftlichen Worten die fürstliche Libertät; er sah, daß diese Teilung des Reiches die deutsche Kultur dezentralisierte, daß an den Höfen überall Mittelpunkte von Bildung und Kunst entstanden, gespeist aus den Quellen des fürstlichen Mäzenatentums. Doch ebensosehr verehrte er das Kaisertum, in dem sich für ihn die Heiligkeit, die Weihe des Reiches verkörperte, eines Reiches freilich, daß er nicht nur als „teutsches“ begriff, sondern als christlich-europäische Kulturgemeinschaft.
Einheit in der Mannigfaltigkeit, Harmonie der monadischen Kräfte — das ist die Idee, die Leibniz aus seiner Philosophie in den politischen Raum hineintrug. Lind umgekehrt: seine politische Erfahrung wirkte auf sein philosophisches Denken zurück. Das Reich, um dessen Reform er rang, war ihm nicht nur staatlich-politische Institution, sondern universales Bildungswesen. Aus der tagespolitischen Zielsetzung einer Allianz, eines Staatenbundes oder Bundesstaates weitete sich sein Blick ins Universale: „Wenn unser Reich zu solch einem realen Bande gelanget, dann werden auch viele anderen zur Wohlfahrt und allgemeinen Ruhe nötigen Dinge gehoben: die Streitigkeiten unter den Ständen, das unordentliche Justizwesen, der Handel und die Polizei, ja man wird auch zur Mäßigung und Duldung in Religionssachen gelangen. Wer sein Gemüt aber höher schwinget und den Zustand Europas durchgeht, der wird mir Beifall geben, daß diese Allianz eines von den nützlichsten Vorhaben ist, die jemals zum allgemeinen Besten der Christenheit ins Werk gesetzt wurde . . . Das Reich nämlich hält der Christenheit die Balance, es ist das Hauptglied, die Mitte von Europa, der Zankapfel, den jene einander zuwerfen, die um die Vorherrschaft spielen; der Kampfplatz, darauf man um die Meisterschaft in Europa gefochten.“
Gute Reichspolitik ist gute europäische Politik
Ein starkes und einiges Deutschland würde, davon ist Leibniz überzeugt, Europa die Ruhe bringen. Gute Reichspolitik werde immer auch gute europäische Politik sein. Die Maxime heißt:
„Sich in nichts weiter als was das Reich angeht zu mischen, denn kein Mensch außerhalb des Reiches hoffet oder begehret von uns verteidigt zu werden“.
Leibniz empfiehlt in diesem Sinne, vor allem Frankreich keine Gelegenheit zur Feindschaft zu geben, es auf keinen Fall zu provozieren. Wenn Deutschland so eine starke Mittelstellung beziehe, könne es sich leisten, gute Beziehungen zu Frankreich und zu einer antifranzösischen Koalition zu unterhalten.
Bewaffnete Neutralität, Selbstbeschränkung der Macht im Bewußtsein ihrer Stärke: das ist die politische Konzeption, die Leibniz dem Reich im europäischen Kräftespiel empfahl. Er sagt: „Was ist untadeliger, als ausländischer Händel sich zu entschlagen und nur für uns sorgen zu wollen. Ganz Europa wird sich zur Ruhe begeben und in sich zu wüten aufhören. Die Kriegslust der Nachbarn wird sich nach eines Stromes Art, der wider einen Berg trifft, auf eine andere Seite wenden.“
Leibniz verharrte nicht im Theoretisieren, sondern unternahm einen praktischen diplomatischen Vorstoß, der allerdings phantastisch anmutet. Um den französischen Expansionsdrang von Mitteleuropa abzulenken, reiste er 1672 im Auftrag Boineburgs von Mainz nach Paris und ließ dem Sonnenkönig einen Plan überreichen, der unter dem Namen „Consilium Ägyptiacum“ in die Geschichte eingegangen ist. Da Frankreichs Vorherrschaft in Europa verhindert werden mußte, wollte ihm Leibniz das orientalisch-byzantinische Kaisertum anbieten. In Nordafrika, in Ägypten sollte Ludwig XIV. mit seinem Heer Fuß fassen — so wie es später Napoleon versucht hat, der sich 1799 den Plan von Leibniz vorlegen ließ. Leibniz arbeitete den Plan in allen Einzelheiten aus, er machte ihn den Franzosen mundgerecht mit dem Hinweis auf die Verdienste, die sich der „allerchristlichste König“ Frankreichs bei einem solchen Feldzug erwerben würde, bei einem Kreuzzug, der bis zu den heiligen Stätten in Palästina führen und die Türken im Rücken fassen würde. Doch der französische Minister Pomponne antwortete nur ironisch:
„Mir scheint, die heiligen Kriege sind seit den Zeiten Ludwigs des Heiligen aus der Mode gekontmen“.
Vor seiner Abreise nach Paris hatte Leibniz noch in einem Brief geschrieben: „Mein Zweck aber ist es, nicht etwa mit leeren Grillen und in die Luft geschriebenen Büchern die Läden zu füllen, sondern womöglich einen Nutzen zu schaffen.“
Seine Denkschrift über die Reichsreform schien gerade Früchte zu tragen. In der sogenannten Marienburger Allianz fanden sich sechs Fürsten mit dem Kaiser zusammen. Aber es blieb ein unvollkommener Versuch ohne Wirkung. Zur gleichen Zeit nämlich hatte der Kaiser bereits einen Geheimvertrag mit Ludwig XIV. geschlossen, in dem er den Franzosen Neutralität zusicherte. Von dieser Abmachung wußte aber Leibniz ebenso wenig etwas wie von einem Geheimvertrag, den Ludwig schon mit den Engländern geschlossen hatte, die bis dahin mit Holland und Schweden gegen Frankreich verbündet gewesen waren. So gründet der ägyptische Ablenkungsplan, mit dem Leibniz nach Paris reiste, bereits auf einer irrigen Lagebetrachtung im Reich wie in Europa. Deutschland war nicht so stark, wie es sein mußte, um „den Strom abzulenken". Lind der Sonnenkönig fühlte sich sicherer und stärker denn je. Noch während Leibniz in Paris weilte, schlug der König los, griff Holland an und dann auch das Reichsgebiet. Erst zwei Jahre später raffte sich der Reichstag zu wirksamer Verteidigung auf. Leibniz aber blieb vier Jahre lang in Paris, in der Hauptstadt des Reichs-feindes. Hier hörte er von der Verwüstung der Pfalz, vom schwedischen Einfall in den Rücken der Reichsarmee, vom Sieg des Brandenburger Kurfürsten bei Fehrbellin und der danach aufbrechenden Rivalität zwischen Wien und Berlin, dem dunklen Vorzeichen der Zukunft.
Es ist verständlich, daß sich Leibniz enttäuscht anderen Dingen zu-wandte: mathematische und philosophische Studien beschäftigten ihn nun. Daß er während des Reichskrieges gegen Frankreich ungestört als Deutscher in Paris leben und die Grundlagen zur Infinitesimalrechnung legen konnte, zeugt von der universalen Verbundenheit der Wissenschaft. Sie anerkannte damals noch keine Trennung durch politische Grenzen und bildete ein eigenes „Reich", ein Reich, dessen Harmonie auch den Politiker Leibniz inspirierte. Seine Verstimmung ist freilich deutlich zu spüren: „Ich habe nicht wenige Bedenken, mich in Deutschland noch in öffentlichen Angelegenheiten gebrauchen zu lassen, weil eine große Veränderung im Reich folgen kann und dann einer den anderen anklagen dürfte. Dann hat allemal der Sieger recht. Diejenigen aber, die beizeiten einige Mittel und Wege getroffen haben und nicht alles blind tun wollten, was einige hitzige Köpfe des einen oder anderen Teils Vorschlägen, die sind dann beiderseits in Gefahr“.
So schrieb er an seinen Freund Ägidius Strauch. Zum Mißerfolg kam noch das Mißtrauen, das er erntete. Er, der nie leidenschaftlich Partei ergreifen, der nach allen Seiten ausgleichen wollte, mußte sich seine Toleranz als Charakterschwäche auslegen lassen. Sein Bruder warf ihm in Briefen nach Paris mangelnden Patriotismus vor. Leibniz antwortete:
„Ich bin so abergläubisch teutsch nicht! Wir müssen uns nach der Welt richten, die sich nach uns nicht richten wird. Wer wider den Strom schwimmen oder wider eine Mauer rennen will, wird sich seiner Beständigkeit nicht lange rühmen können. Denn ein wahrer Patriot hat dahin zu trachten, wie seines Vaterlandes Glüd'cseligkeit nicht durch ohnmädttige Wünsdte oder blinden Eifer, sondern durch wohlüberlegte yorschläge und deren getreulidie Vollstred^ung befördert werden“.
Man spürt aus diesen Sätzen, daß Leibniz bei all seiner Resignation, bei aller Ernüchterung von der Politik nicht ablicß. „Das Proponieren ist gleichwohl niemandem verboten. Man hat leider bisher mehr gesagt, daß man etwas tun solle als wie man’s tun solle. Teutsdrland wird nicht aufhören, seines und fremden Blutvergießens Materie zu sein als bis es aufwachet und sidt vereint. Was ist edler als seinem im Todeskampfe liegenden Vaterlande solche Herstarkung widerfahren zu lassen“.
Der warme, nationale Ton, den Leibniz hier anstimmt, ruht noch ganz im Gefühl, hat kaum etwas mit dem historisch viel später auf-brechenden Nationalbewußtsein zu tun. Es ist das Gefühl, das Vaterland als die Wiege von Sprache und Kultur verteidigen zu müssen.
„Gort hat den Deutsdcen Stärke und Mut gegeben, ihre ist ungefärbt und ihr Herz und Mund stimmet zusammen.“
Ein liebevolles Bild, das Leibniz nicht hinderte hinzuzufügen: „Es ist ein Donnerschlag nötig, die Deutsdcen munter zu madten, damit sie sich nicht zu ewiger Schmach in den Historien nachsdtreiben lassen müssen, durch Trägheit oder Zagheit und weibisches Faulenzen sei die Freiheit ihres Vaterlandes zugrundegegangen“.
Das Nationalgefühl, die Vaterlandsliebe stimmen also durchaus auch mit bitterer Selbstkritik überein, ja gerade in der Kritik, die politisch fruchtbar wird, bewährt sich für Leibniz der wahre Patriot.
Der Gelehrte, der während des Reichskrieges in Paris weilte, ließ sich auch später nicht von antifranzösischen Ressentiments beherrschen — so sehr er die französische Politik der Zeit ablehnte und bekämpfte. Haßtiraden, überschäumende, oft widerwärtige Pamphlete überschwemmten Deutschland, meist anonyme Flugschriften, die „unfehlbare" Rezepte gegen den bösen Feind anpriesen. Leibniz hatte für solche Regungen eines ungesunden Nationalismus nur Verachtung: „Man muß ladren, wenn man die ungereimten Grillen betraditet, die diese vermeintlichen Staatsmänner sich beim Bierglas oder bei der Tabakspfeife machen. Ohne sich zu ärgern aber kann man nicht betraditen, daß eben diese Leute, indem sie ihren Zorn gegen Frankreich ausgießen und damit ihrem Vaterland einen Dienst zu tun vermeinen, gerade Frankreich und anderen Feinden des Reiches einen großen Dienst tun — diese Pedanten, die sich aus etlicher Zeitungsschreiber ungereimter Glossen und unzeitigen Urteilen ihre Chimären trösteit!
Die „Gelehrtenrepublik"
Der Philosoph, obwohl von der Politik fasziniert, erhob sich über die Froschperspektive des Tages:
„Wir, die wir unseren Geist über die Bestrebungen und Affekte der Parteien erheben und das gemeiitschaftliche Vaterland des menschlichen Geschlechtes betrachten, wir wollen lieber Argumente gegen Argumente zum Kampfe führen, gleid'i nach welcher Seite auch der Sieg sich neige, wenn nur die Erkenntnis der Wahrheit vermehrt wird.“
Über der Nation steht die Menschheit, die Harmonie der Nationen, die Kulturgemeinschaft Europas, das „Reich der Geister“, wie Leibniz die Wissenschaft nennt.
Lind Wissenschaftler sind es, von denen Leibniz in jedem Augenblick der politischen Enttäuschung die politische Rettung erhoffte. Sie, die Philosophen, sollten Könige werden, die Staatsgeschäfte besorgen. Denn sie verkörpern die Vernunft, die allein die große Harmonisierung der Gegensätze vollbringen kann — in Deutschland zwischen Reich und Fürsten, in Europa zwischen den Staaten, in der Kirche zwischen den Konfessionen. Dazu muß freilich die Kluft zwischen dem Wissen der Gelehrten und dem Tun des Volkes geschlossen werden Sie müssen eine gemeinsame Sprache finden. Wenn schon von den Berufspolitikern und Fürsten nichts Gescheites zu erwarten sei, schreibt Leibniz, dann müßten eben die Gelehrten zusammenstehen und etwas prak-tisch brauchbares ausarbeiten. So standen die Pläne für eine weltweite Akademie der Wissenschaften, für eine „Sozietät“, wie Leibniz es nannte, ganz unter dem politischen Aspekt. Diese Pläne tauchten während seines ganzen'Lebens immer wieder auf, von den Jugendschriften um 1670 bis zu den letzten Entwürfen von 1715. Verwirklicht wurde nur der Plan für die Berliner Akademie im Jahre 1700, und nach seinem Tode die Petersburger Akademie, die Leibniz für den Zaren Peter den Großen geplant hatte.
Was Leibniz vorschwebte, war natürlich viel mehr als eine solche lokale Vereinigung der Wissenschaft. Vor allem in der trostlosen Situation seiner Pariser Jahre klammerte er sich an die Hoffnung einer „Gelehrtenrepublik“, die endlich die Theorie mit der Praxis verbinden sollte und schon deshalb nicht zu den Utopien vom Schlage der des Thomas Morus gehören dürfte. Unmißverständlich postulierte er: „Es muß dafür Sorge getragen werden, daß die Glieder unserer Akademie in die höchsten Staatsstellen gelangen, damit alles durch ihre Hände geht."
Diese wissenschaftliche Sozietät sollte alle Bereiche des öffentlichen Lebens leiten, koordinieren und harmonisieren: Studien, Unterricht, Erziehung, Handel, Wirtschaft, Diplomatie, Verwaltung, Militärwesen, ja selbst die Theologie. Leibniz erwartete davon wahrhaft weltumwälzende Folgen: „Die Sozietät kann auf diese Weise dazu kommen, die Leitung des ganzen Staates innezuhaben. Die Welt kann ihr unterworfen werden, und das alles nicltt mit gewaltsamen Mitteln. Erst dann aber wird die Welt überall gebildet sein, wenn diese Sozietät mehr als die Hälfte beherrscht. Warum soll sie nicht auch Kriege durch Schiedspruch entscheiden und der Welt Sicherheit vor ungerechter Gewaltanwendung verbürgen? Besonders wenn sie überall die wiclttigsten Posten besetzt, die Menschheit sich gefügig macht und über die Machtmittel der Welt verfügt. Strahlender Tag, der dann für die Menschheit anbricht!“
Dieser emphatische Ausruf verrät etwas von dem fortschrittsgläubigen Optimismus der Aufklärung, der in Leibniz lebendig war. Einem Optimismus, der sich hundert Jahre später in der französischen Revolution erst eigentlich politisch ausmünzen sollte — in Freiheit und Despotie, in Krieg und Frieden. Ja, bis in unser Jahrhundert wirken die Gedanken von den vereinten Nationen, von der Weltregierung, der Welt-polizei, vom internationalen Schiedsgericht, von der Synthese zwischen Macht und Weisheit. Manches ist Wirklichkeit geworden, doch zugleich ist die Skepsis, durch Enttäuschungen genährt, wacher denn je. Wir sahen die Schreckensbilder vergeudeter Ideale, mißbrauchter Macht So hat sich der Zweifel an der Weisheit der Mächtigen erhoben.
Unentwegt tätig und Kraft ausstrahlend
Zweifelte nicht auch Leibniz? Waren seine Erfahrungen weniger bitter? Die Akademie als politische Sozietät wurde keine Wirklichkeit. Leibniz aber hat — nach einem Wort Friedrichs des Großen — in sich selbst eine ganze Akademie verkörpert. Aus Paris berief ihn der Herzog von Hannover an seinen Hof: als Rat und Bibliothekar. Hier entfaltete Leibniz vierzig Jahre lang eine emsige Tätigkeit, von deren Vielseitigkeit sich heute noch die Geschichtsforschung nur ein ungefähres Bild machen kann. Noch immer lagern, von der Forschung unbearbeitet, zehntausende von Manuskriptblättern, Entwürfen, Briefen, Notizen von Leibniz in den Archiven. Sein weltweiter Briefwechsel, der bis Rußland, China und Indien reicht, diese Korrespondenz, die die bedeutendsten Geister der Zeit ansprach und zu Diskussionen herausforderte, ist kaum überschaubar. Es gibt kein Gebiet des öffentlichen Lebens, mit dem sich Leibniz nicht befaßt hat.
So widmete er der Wiedervereinigung der getrennten christlichen Kirchen theologische Schriften, wie er als Jurist die Staatsverfassungen untersuchte. Er kümmerte sich um das Schul-und Erziehungswesen, begann eine Geschichte des Weifenhauses, die ihn in die Weltgeschichte, ja in die Erdentstehungsgeschichte abschweifen ließ. Er gab historische Quellen heraus, versuchte sich am Entwurf einer universalen Weltsprache, die endlich das Aneinandervorbeireden, auch in der Politik, verhindern sollte. Er trat für anatomische Studien in der Medizin ein, für eine soziale Krankenversicherung, für die — damals noch unbekannte — Hygiene. Er konstruierte Windmühlen-Pumpwerke für den Harzer Bergbau, wollte das Geldmünzen-Wesen und den Warenverkehr reformieren, eine deutsche, ja europäische Wirtschaftsgemeinschaft einführen, wobei er kleinste Einzelheiten berücksichtigte — von der Seidenraupenzucht bis zur Einführung der Kartoffel. Darüber hinaus beschäftigten ihn chemische, physikalische, mathematische Studien, die Erfindung einer Rechenmaschine, optische Verbesserungen, die Differentialrechnung, die er gleichzeitig mit Newton entdeckte.
Immer aber dominierte das politische Interesse — sogar noch in der Mathematik. Aus ihr gewann er beispielsweise den Begriff der Kontinuität, der in seinem historisch-politischen Denken eine so bedeutsame Rolle spielte. Wie es bei der Bildung des Differentialquotenten keine „Sprünge gibt (denn die eine Größe bewegt sich, kleiner und kleiner werdend, auf die andere zu) so vollziehen sich für Leibniz auch die politischen Strukturwandlungen als kontinuierliche Entwicklungsprozesse. Kleinste, unscheinbare Impulse können entscheidende Wirkungen zeitigen: „Eine Fliege an der Wand kann eines großen Staatsmannes Gedanken verstören.“
Immer wieder versuchte Leibniz auf die politischen Tagesereignisse Einfluß zu nehmen. Blättert man die Titel seiner politischen Gelegenheitsschriften durch, so überrascht das zusätzliche Pensum an Arbeit, das er sich zu all seinen anderen Projekten noch auferlegte: 1688 — Betrachtungen über die Kriegserklärung Frankreichs an das Reich; 1691 — Lagebetrachtung zum Ende des Feldzuges; 1692 — Projekt über die spanische Erbfolge; 1700 — Der Zustand Europas am Anfang des neuen Jahrhunderts; 1701 — Zur Anfeuerung der Gerechtigkeit gegen die Schikanen und Drohungen eines Bourbonen; 1703 — Manifest zur Verteidigung der Rechte Karls III.; 1713 — Über die Unentschuldbarkeit des Utrechter Friedens; 1714 — Reflexion über den Frieden von Rastatt.
Unentwegt begleitete seine Stimme das politische Tagesgespräch. Unentwegt fühlte er sich im Dienst des Reiches, während er gleichzeitig auch für die Interessen der Fürsten, etwa für die hannoveranische Kurwürde und für die preußische Königskrone eintrat. Nach allen Seiten hin Projekte schmiedend, jedem das Seine wünschend, immer ausgleichend und vermittelnd — geriet er immer mehr auch in die Gefahr, sich zwischen alle Stühle zu setzen. In Hannover sah man die Wiener Ambitionen des Herrn Reichshofrats ungern, in Wien verhielt man gegenüber e sich reserviert dem h a n n o v ra n i s c h e n Hofrat. Gegen vieler Leute Unverstand hatte er sich zu wehren, denn bald warfen sie ihm Untergrabung des Reichsansehens, bald Gefährdung der fürstlichen Stellung vor. „Diese Querulanten reizen mich zum Lachen“, sagte er. „Das sind die Stimmen von Heuchlern, die sich anmaßen, Patrioten zu sein und vaterlandsliebende freie Männer zum Schweigen bringen wollen. Davon aber wird nur alles schlechter, denn die Staatsmänner erfahren so die Wahrheit nicht, und die Folgen entlarven dann die Dummheit, die am Werke ist . . . Was habe iclt doch alles zum Wohl von Kaiser und Reich unternommen, doch allmählich ekelt es mich, Worte in den Wind zu reden.“
Ein Ton zunehmender Bitterkeit kam schließlich in seinen Briefen auf. Er sehnte sich danach, „selbst Hand anzulegen", wie er einmal schreibt. Aber er vermochte sich nur immer wieder in die theoretische Arbeit zu stürzen. Reisen, Begegnungen, Gespräche kamen dazu. Aber die meiste Zeit saß er in seiner Studierstube in Hannover, die Projekte türmten sich auf vor ihm und er fühlte sich belastet von der Arbeit „. . . wie von einem bösen Weib, an das man mich verheiratet hat“.
Ein treffender Vergleich im Munde des vereinsamten Junggesellen, der selbst immer mehr das Prinzip der Monade — den Zentralbegriff seiner Philosophie — verkörperte: nämlich unentwegt tätig und Kraft ausstrahlend, ein universeller Spiegel des „Draußen“ und doch zugleich „fensterlos“ zu sein. Nur sein Ethos der Pflicht, das im Religiösen gründet, ersparte ihm die Verzweiflung. Er, der sich über den Konfessionen stehend fühlte und als Historiker zu den traditionsreichen Formen der katholischen Kirche neigte, kehrte gegen Ende seines Lebens immer eindeutiger zu seinem lutherischen Ursprung zurück; in unmittelbarer Verantwortung wußte er sich an Gott gebunden, in Gott geborgen. Die Gewißheit einer höheren Harmonie, in der sich die Dissonanzen auflösen, ließ ihn auch sein Scheitern an der Politik ertragen:
„Es gibt kein größeres Einzelinteresse, als die allgemeinen Interessen zu den eignen zu machen. Mag man nun Erfolg haben oder nicht: man fügt sich Gottes Willen ein, wenn man weiß, was er tut. Das ist das Beste. Bei einer solchen Haltung werden wir durch Mißerfolge nicht zurückgestoßen“.
Vermächtnis an die Zukunft
Das klingt schlicht, fast kindlich. Doch wenn man auch darin so etwas wie metaphysische Kompensation vermuten mag, Leibniz machte es sich nicht leicht. Mit aller Anstrengung des Begriffs erzwang er gleichsam die Harmonie in seinem philosophischen System. Mit dem Begriff der Kraft, den er aus seiner Theorie der Bewegung entwickelte, fügte er in das mechanisch-statische Weltbild der cartesianischen Philosophie ein dynamisches Element ein. Er überwand den Dualismus von Denken und Sein, indem er das eine zur Funktion des anderen machte, Denken und Sein in ein wechselseitiges dynamisches Verhältnis setzte. Die Harmonie wird dadurch nicht spannungslos. Die Leibnizsche „Cite de Dieu", der Staat Gottes, in dem sein philosophisches System gipfelt, bleibt nicht im Olymp des Abstrakten
Dieser „Gottesstaat“ ist nicht ein „himmlischer“, der in ständigem Kampf mit dem „irdischen“ steht — wie etwa beim Kirchenlehrer Augustinus. Das „Reich Gottes“ ist für Leibniz in ständiger Begegnung mit der konkreten Geschichte, die unentwegt fortschreitet. Das Vergangene bleibt im Gegenwärtigen erhalten, es ist darin aufgehoben und trägt das Gegenwärtige in das künftige Neue hinüber. Konkret gesprochen: das mittelalterliche Reich, die europäische Christenheit, die durch eine lange historische Entwicklung geworden sind, müssen hin-übergeleitet werden in eine neue Entwicklungsstufe des Geistes, wo Rechtsidee und Staatsraison, Universalismus und Individualismus, mittelalterliches und modernes Denken in „unendliche Annäherung“ gebracht werden. Für Leibniz kann dieser Prozeß niemals ganz abgeschlossen sein. Rückschläge und LInvollkommenheiten werden gerade zu treibenden Momenten. Die Spirale, die auch in scheinbarer Abwärts-begegnung aufwärts strebt, wählte Leibniz als Symbol dieser Über-zeugung.
Die Philosophie wurde so zu seinem eigentlichen Trost. Sie war die Kuppel, die sich bindend und schützend über all sein Tun wölbte und es erst sinnvoll werden ließ. Die konkreten Konflikte der politischen Umwelt, die Leibniz immer wieder in ihren Bannkreis zwangen, lösten sich aus der Perspektive der Metaphysik für ihn auf: „Es gibt nidtts Ödes, nichts Unfruchtbares, nichts Totes in der Welt, kein Chaos, keine Verwirrung — außer nur scheinbarer!“
Hegel, der preußische Staatsphilosoph, nannte später das philosophische System von Leibniz einen „metaphysischen Roman“. Lind doch weist vieles bei Leibniz schon voraus auf Flegel, der in einer neuen Epoche dem System der universalen Synthese die logische Form der Dialektik gab. Hegel freilich beharrte auch auf der Antithese, auf der antagonistischen Struktur der Geschichte; er lieferte dem Mann, der seine Philosophie „vom Kopf auf die Beine stellen“ wollte, nämlich Karl Marx, das methodische Gerüst zur proletarischen Fortsetzung jener Großen Revolution, die 1789 als bürgerliche begann. Jener „allgemeinen Revolution", die Leibniz schon vorherahnte und von der er fürchtete, daß sie alles zerstören würde, was an gesunder politischer Gesinnung noch in der Welt sei.
Diese Revolution hat tatsächlich den letzten Rest jenes Reiches zerstört, das für Leibniz geistiges, nationales und übernationales Ordnungsbild war. Leibniz wollte nicht wahrhaben, was er fühlte und was geschichtlich auch geschehen war: daß die alte Reichsidee, gemessen an den Begriffen der neuen politischen Raison, keine Zukunft mehr besaß, weil sie ihrem Wesen nach „unstaatlich" war. Sie war ein Opfer der Aufklärung geworden, und ihr Wiederaufleben in der Zeit der französischen Bedrohung und der Türkenkriege — also in der Zeit, da Leibniz lebte — war nur ein kurzes Aufflackern. Kurz vor seinem Tode schrieb Leibniz: „Indessen entwidteln sich die Dinge in der Politik so sdtlecht, daß man fast keine Lust mehr hat, daran zu denken. Weil uns Frankreich an guter Anstalt und Ordnung überlegen ist“. -Das Reich hatte den Franzosen keinen Staat entgegenzusetzen, keine Einheit, die den LIntertanen das Bewußtsein gab, daß das Reich ihr Staat war. Ein Bewußtsein, das sich das französische Volk schon unter den Bourbonenkönigen zu eigen machte. Einen Reichsabsolutismus konnte es nicht geben. Der Kaiser konnte nicht, wie der Sonnenkönig in Versailles, erklären: „Der Staat bin ich“.
Das wäre in seinem Munde als Lästerung erschienen, denn das Reich war zwar von dieser Welt, doch es gehörte auch zur anderen, überirdischen, deren Weihe es im Mittelalter erhalten hatte. Es war und blieb noch lange weit entfernt von der staatlichen Einheit Frankreichs, das viel eher zur Nation reifte.
Dem Reich war aber auch nicht gelungen, was England erreicht hatte. Dort waren ja ähnlich wie in Deutschland die fürstlichen Einzelinteressen nicht der englischen Krone erlegen. Aber in diesem England, das Leibniz so bewunderte, errangen der Adel, die fürstlichen Stände den Sieg nicht nur für das jeweils eigene Interesse, sondern für alle, für das Gesamtinteresse der Nation. In England war es möglich, Lords, Bischöfe, und Bürger in einem nationalen Parlament zu vereinen. Sie hatten aber auch nur ein politisches Interesse: protestantische Seepolitik zu treiben statt Kontinentalpolitik wie unter den katholischen Stuartkönigen. Die Insel war anglikanisch, die Form des Christentums und die Form der Politik bildeten eine Einheit.
In Deutschland, dem die Sorge von Leibniz galt, gab es kein gemeinsames Interesse. Wien blickte in den türkenbedrohten Süden, Berlin in die schwedische Einflußsphäre. Lind am Rhein mußte man — bald freundlich, bald feindlich — Frankreich das Gleichgewicht halten. Außerdem war die gemeinsame christliche Basis, um die sich Leibniz so bemühte, seit der Reformation unwiederbringlich verloren. Weder die Reformation noch die Gegenreformation hatte ganz den Sieg davongetragen. Frankreich vertrieb die Hugenotten, zerstörte die protestantischen Zellen. England schaltete den römischen Katholizismus aus. Beides war in Deutschland nicht denkbar. Politisch, geistig, religiös blieben die zentrifugalen Tendenzen im Herzen des europäischen Kontinents stärker. Das Scheitern von Leibniz an der Politik ist eng mit der Tragik der deutschen Geschichte verknüpft. Lind doch darf man nicht vergessen, daß in diesem Reich, das so „machtfremd" war, so ohne tragfähige politische Basis — daß in diesem Reich zur selben Zeit eine große europäische Musik, eine große Literatur und Philosophie erstand, eben weil hier die zentrifugale Tendenz eine Vielzahl kultureller Zentren schuf. Die Kulturnation, das Weltbürgertum der deutschen Klassik und des deutschen Idealismus kündigten sich an. Der Nationalstaat aber, das Glück des letzten und das Verhängnis unseres Jahrhunderts, lag noch in weiter Ferne.
Was ist nun das Bleibende der politischen Bemühungen von Leibniz?
Es sind die großen allgemeinen Prinzipien seines politischen Denkens, ein Vermächtnis für die Zukunft: Die Staatsraison zu zügeln, Maß zu halten, die Macht dem Frieden dienstbar zu machen. Nicht als utopisches Ziel wollte Leibniz diese Prinzipien verstanden wissen. Er wiegte sich nicht in der Illusion eines „ewigen Friedens". Dazu kannte er nur zu gut die Schwäche der menschlichen Natur. Aber er hoffte auf die Vernunft, die dem Menschen gebietet, sein eigenes Bestes anzustreben, wenn schon die Macht der Moral nicht mehr ausreicht.
Erst in unserer Zeit, da wir die chaotischen Folgen eines überspannten staatlichen Souveränitätsbegriffs immer neu erleiden — erst heute, da uns der wissenschaftliche Fortschritt sein unheilvolles Janusgesicht in der politisch mißbrauchten Technik zeigt — erst jetzt öffnet sich uns wieder ein Zugang zu der so „unstaatlichen“ Reichsidee, die der politischen Konzeption von Leibniz zugrunde lag. Wir verstehen besser als unsere vom Nationalbewußtsein des 19. Jahrhunderts getragenen Vorfahren, jenes Anliegen von Leibniz, dem er im übernationalen, weltweiten, gleichwohl politischen Kulturgefüge seiner Akademie Ausdruck geben wollte: Daß nämlich die Völker sich endlich als Glieder einer Gemeinschaft fühlen und daß die Mächtigen mit Weisheit herrschen sollten.
Drei Jahre vor seinem Tode hat Leibniz seinen großen Akademie-Plan zusammen mit einem Exemplar der „Monadologie“, seinem philosophischen System, in die Hände des Prinzen Eugen in Wien gelegt. Die Freundschaft, die Leibniz mit diesem letzten Repräsentanten des alten Reiches verband, mit diesem Mann, in dem sich italienisches Blut, französische Kultur und deutsche Gesinnung zu europäischer Bedeutung verbanden, — diese Freundschaft ist ein Symbol. Sie ist das Gleichnis der von Leibniz immer wieder beschworenen „Allianz zwisehen Theorie und Praxis“, die über alle historischen Bedingtheiten hinweg jede Zeit neu verpflichtet. Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:
Margarete Buber-Neumann: „Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion"
Iring Fetscher: „Das Verhältnis des Marxismus zu Hegel"
G. F. Hudson: „Chruschy's Komet"
Werner Philipp:
„Historische Voraussetzungen des politischen Denkens in Rußland"
Karl A.
Wittfogel: „Die chinesische Gesellschaft"
Josef Wulf: „Vom Leben, Kampf und Tod im Ghetto Warschau” „Indonesien-Politik und Weltanschauung des Präsidenten Dr. Achmed Sukarno"