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Die veränderte Stellung Kanadas in der Weltpolitik | APuZ 1-2/1958 | bpb.de

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APuZ 1-2/1958 Geschichte Europas als Problem Die veränderte Stellung Kanadas in der Weltpolitik

Die veränderte Stellung Kanadas in der Weltpolitik

TOM KENT

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir aus der amerikanischen Zeitschrift „Foreign Affairs" den folgenden Artikel von Tom Kent:

In weniger als einer Generation hat sich Kanadas Stellung in der Welt grundlegend gewandelt. Man kann tatsächlich ohne Übertreibung sagen, daß sich die Kanadier in ihrem Denken und in ihren Gefühlen seit knapp zehn Jahren zu wandeln begonnen haben.

Die neue Ära, in der Kanada eine Stellung in der Weltpolitik eingenommen hat. die auch nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit früheren Zeiten aufweist, nahm ihren Anfang im Jahre 1939. Während des Krieges und in den ersten Nachkriegsjahren vermochte jedoch niemand mit Gewißheit zu sagen, inwieweit es sich um vorübergehende Erscheinungen, oder um wirklich grundlegende Veränderungen handelte. Wir alle brauchten eine gewisse Zeit, um uns geistig und emotional den veränderten Umständen anzupassen. Noch im Jahre 1950 konnte ein so eminenter Historiker und Diplomat wie George P.de T. Glazebrook in den Schlußbetrachtungen eines Aufsatzes über die traditionellen Faktoren der kanadischen Außenpolitik folgende Feststellung treffen: „Durch den nationalen Reifnngsprozeß Kanadas wurden weder die weltpolitisclren Interessen des Landes, noch die Prinzipien verändert, nach denen sich die Politik gerichtet hatte. Die Veränderung bestand vielmehr in der immer mehr um sich greifenden Erkenntnis der Notwendigkeit, sich auch wirklidt verantwortlidt dafür zu fühlen, daß die Prinzipien, die sich aus der ge-sduchtlichen Entwicklung Kanadas von alters-her ergeben haben, konsequent befolgt werden.“

Die mit solchen Worten zum Ausdruck gebrachte Kontinuität der kanadischen Entwicklung entspricht selbstverständlich den Tatsachen. In den letzten Jahren kam den Kanadiern jedoch noch vielmehr zum Bewußtsein, daß sie in der Befolgung ihrer althergebrachten Interessen und Prinzipien einer völlig veränderten Umwelt Rechnung tragen müssen. Was es mit diesen Veränderungen im einzelnen auf sich hat, das ist im Grunde jedermann so deutlich, daß wir darauf hier nicht länger einzugehen brauchen. Wir wollen in diesem Aufsatz vielmehr versuchen abzuschätzen, welchen Einfluß diese Veränderungen auf die weltpolitische Stellung gehabt haben, die Kanada einzunehmen sich heute anschickt.

Lebenswichtiges Interesse Kanadas: Die Sicherheit der Vereinigten Staaten

Wir können diese Stellung am besten umreißen — und dabei gleichzeitig auch die durch diese neue Stellung hervorgerufenen Probleme der kanadischen Politik andeuten — indem wir eine These an den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen stellen. Obwohl diese These an sich mehr oder weniger selbstverständlich ist, wehren sich viele Kanadier doch gegen diese Selbstverständlichkeit. Die These lautet: Das primäre lebenswichtige Interesse Kanada's in der Welt von heute ist die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika. Diesem Faktor der kanadischen Außenpolitik muß vor allen anderen eine unbedingte Priorität eingeräumt werden.

Das ist nun in der Tat eine Aussage von revolutionärem Charakter. Man braucht die Geschichte Kanadas nicht sehr weit zurückzuverfolgen, wenn man sehen will, bis zu welchem

Zeitpunkt die Vereinigten Staaten noch als der unfreundliche Nachbar schlechthin galten. Früher mochte zwar oft die Südgrenze Kanada’s unbewacht gewesen sein; dennoch stellten die USA die einzig denkbare Gefahr für Kanada dar. Die kurze Geschichte des Staates Kanada ist beinahe ausnahmslos gekennzeichnet gewesen von Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Nachbarn, nicht aber von einer Identität ihrer Interessen. Selbst als die Spannungen zwischen den beiden Ländern so gut wie verschwunden waren, hatte Kanada als Mitglied des britischen Commonwealth weltpolitisch gesehen immer noch wenig gemeinsam mit einem Nordamerika, das isolationistischen Vorstellungen huldigte. An dieser Situation änderte sich auch nichts in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen, obwohl Kanada damals das volle Recht erlangte, seine eigene Außenpolitik unabhängig von Großbritannien zu betreiben. In den 30er Jahren waren auch in Kanada ähnlich mächtige Strömungen am Werk, wie sie in den USA zu einem Isolationismus und anderswo zu einem Zusammenbruch jeder kollektiven Sicherheit im Namen einer „Beschwichtigungspolitik“ führten. Als dann der Zweite Weltkrieg ausbrach, war die Rolle Kanadas natürlich für die Kanadier genau so vorgezeichnet wie im Jahre 1914.

Kurz vorher hatte der Ministerpräsident Mackenzie King mit einer seltenen Beredsamkeit die Seelenqualen einer ganzen Nation zum Ausdruck gebracht: „Die Idee,“ so erklärte er damals, „daß sich unser Land alle 20 Jahre automatisdt und ganz selbstversändlidt an einem überseeischen Krieg beteiligt, die Vorstellung, daß wir, die wir alle Hände voll mit uns selbst zu tun haben, uns in regelmäßigen Abständen zur Rettung eines Kontinentes genötigt sehen, der mit sidt selbst nicht fertig werden kann, und daß dafür dann das Leben unseres Volkes, ein Bankrott und vielleicht auch die politische Uneinigkeit des Landes riskiert werden sollen — diese Idee erscheint vielen von uns als ein Alptraum und heller Wahnsinn“. Genau wie eine Generation zuvor setzte dann aber Kanada mehr als zwei Jahre lang, nämlich von 1939 bis 1941, sein Blut und sein Vermögen in dem großen Kampf ein, Während der nachbarliche Riese im Süden zwar voller Sympathien war, aber dennoch zunächst Gewehr bei Fuß stand.

Heute wäre ein solches Verhältnis zwischen Kanada und einem südlichen Nachbar undenkbar. Kanadas Stellung in der Welt und die beherrschenden Faktoren seiner Außenpolitik veränderten sich durch eine ganze Reihe von verschiedenen Umständen. Jeder einzelne dieser Umstände hätte an sich schon ausgereicht, um Kanadas alte Stellung in der weltpolitischen Gesamtkonstellation umzustoßen, zusammen genommen mußten diese Umstände geradezu revolutionär wirken. Wir müssen hier vier von ihnen herausstellen:

Zunächst ist in diesem Zusammenhang auf den großen Wandlungsprozeß in der kanadischen Volkswirtschaft zu verweisen, — hervorgerufen durch eine gesteigerte Nutzbarmachung der Roh-stoffquellen des Landes. Letzteres wurde vor allem durch amerikanisches Kapital ermöglicht und kam auch in erster Linie dem amerikanischen Markt zugute.

Zweitens hat genau zu derselben Zeit das Vereinigte Königreich in seiner Geltung als Weltmacht — und nebenbei bemerkt auch als Markt für den kanadischen Export — Einbußen erlitten.

Drittens hat sich die militärische Strategie entscheidend gewandelt, so daß jetzt ein direkter Angriff auf das Gebiet der USA mit Atomwaffen in den Bereich des Möglichen gerückt ist, und es eigentlich nur noch zwei Großmächte in der Welt gibt. Keine Kombination von „mittleren“ Mächten — nicht einmal unter Einschluß von Großbritannien — verfügt heute über genügend militärische Machtmittel, um zu bestimmen, ob es nochmals zu einem totalen Weltkrieg kommt oder nicht. Diese Entscheidung liegt ausschließlich in den Händen der amerikanischen und russischen Regierungen. Kanada ist nun aber das einzige Land, das genau auf dem Luftweg zwischen der Sowjetunion und Amerika liegt. Das nördliche Gebiet von Kanada ist daher in einem modernen Krieg lebenswichtiger Bestandteil der amerikanischen Verteidigung.

Sollte es jemals zu einem solchen Krieg kommen, dann kann Kanada ganz unmöglich als Zuschauer zwischen den Parteien stehen.

Der vierte Faktor, der unter dem Gesichtspunkt sowohl der Reihenfolge wie der allgemeinen Bedeutung eigentlich an erster Stelle genannt werden müßte, ist dadurch gegeben, daß die Vereinigten Staaten dem Isolationismus heute abgesagt haben. Auch diese Entwicklung gehört zu dem Gesamtbild der gemeinsamen amerikanisch kanadischen Verteidigungsfront von heute. Mit anderen Worten: daß die Vereinigten Staaten jemals in einen größeren Krieg ohne eine Beteiligung Kanada’s verwickelt werden, ist heute gnau so undenkbar wie die Möglichkeit, daß Kanada jemals wieder in einen Krieg, oder überhaupt in eine an den Rand des Krieges führende, größere politische Aktion verwickelt sein wird ohne seinen amerikanischen Bundesgenossen. An dieser Tatsache wird sich jedenfalls so lange nichts ändern, wie Amerika das Bündnis der freien Welt gegen die kommunistische Expansion anführt.

Wie eng Kanada und Amerika miteinander verbündet sind, wird deutlich an eben dieser Feststellung, die ich genau auf den Tag 25 Jahre nach einer Vorlesung niederschrieb, die J. W. Dafoe, damals Herausgeber der „Winnipeg Free Press“ vor der Columbia Universität hielt. Dafoe sprach damals von der „Möglichkeit eines Einverständnisses, ja vielleicht sogar eines Bündnisses“ zwischen den USA und Kanada

und fügte hinzu: „etwas derartiges mag vielleicht notwendig werden, wenn wir die nord-anterikanisclre Zivilisation — unseren gemeinsamen besitz — erhalten wollen.“ 1934 waren nur

wenige Menschen zu beiden Seiten der Grenze von der Bedeutung dieser Worte überzeugt. Wahrscheinlich wäre selbst Dafoe auf das äußerste überrascht gewesen, wenn man ihm hätte voraussagen können, welch ein enges Bündnis bald darauf zwischen den beiden Ländern nicht nur in einem Kriege, sondern auch in den darauf folgenden Jahren des Friedens bestehen würde.

Der Einfluß Kanadas

Wir haben im obigen die Faktoren skizziert, die Kanadas neue Stellung in der Welt hervorgerufen haben. Welcher Art aber ist nun diese Stellung im einzelnen? Was bedeutet es tatsächlich, wenn immer wieder behauptet wird, die Bedeutung und der Einfluß Kanadas seien immer im Wachsen begriffen? Wie kann man von einem echten Einfluß sprechen, wenn Kanadas neue Rolle im wesentlichen von seinem Interesse an der Sicherheit der Vereinigten Staaten bestimmt wird, auf deren Macht Kanada dann natürlich auch angewiesen is't? Welche echte Bedeutung kann der kanadischen Diplomatie zugesprochen werden, wenn diese sich in allen Fragen eng an die Diplomatie der Vereinigten Staaten anlehnen muß? Liegt die eigentliche Wahrheit hinsichtlich der neuen weltpolitischen Stellung Kanadas einfach in der Tatsache, daß dieses Land mehr oder weniger zu einem Protektorat der Vereinigten Staaten geworden ist? Es ist ja ganz schön und gut, wenn der kanadische Außenminister bei den Vereinten Nationen oder bei anderen internationalen Konferenzen eine gute Figur abgibt: ist er aber in Wirklichkeit mehr als ein „Nachbeter“ der USA?

Solcherlei Fragen werden in Kanada nicht oft diskutiert. Das verbietet die dezente Zurückhaltune des Nationalstolzes. Solche Fragen sind aber deshalb für alle diejenigen, die sich über außenpolitische Probleme Gedanken machen, keineswegs nur hypothetischer Natur. Angerührt werden diese Fragen nämlich nur dann nicht, wenn eine objektiv gegebene Lage zur Debatte steht. Hingegen werden sie zum Zwecke der innerpolisehen Auseinandersetzung sehr rasch von den Kritikern der kanadischen Regierung im Sinne eines Vorwurfes ins Feld geführt. Solche Kritiker behaupten dann, nicht die neue weltpolitische Stellung habe Kanada zwangsläufig zu einem Satilliten der USA gemacht, sondern die kanadische Regierung habe diesen Weg aus mangelndem Willen und Verstand selber gewählt. Der Verfasser ist der Ansicht, daß solche Fragestellungen falsch sind, da sie von einer wirklichkeitsfremden Betrachtung unserer heutigen Welt ausgehen. Aber schon allein die Tatsache, daß solche Fragen überhaupt gestellt werden unterstreicht den wirklich paradoxen Charakter der kanadischen Nation von heute.

Gleichzeitig liegt hier auch der Schlüssel zu einer ganzen Reihe von Entwicklungstrends des kanadischen politischen Lebens, — Trends, die unsere amerikanische Freunde im Laufe der nächsten Jahre unter Umständen überraschen, beunruhigen, ja vielleicht sogar verärgern könnten.

Wenn wir auf diese Diskussion nähet eingehen wollen, so müssen wir zunächst einmal das hier gezeichnete Bild noch etwas mehr vervollständigen. Wir müßten dann sagen: die Kanadier werden die Welt, in der sie heute leben, nur dann schön finden, — wenn die Vereinigten Staaten mächtig bleiben und es zu keinem Krieg kommen lassen. Sollten diese beiden Voraussetzungen einmal nicht gegeben sein, dann kann den kanadischen Interessen durch nichts anderes mehr gedient werden. Es ist richtig, daß ohne den Faktar der amerikanischen Sicherheit die gesamte Weltlage nicht so sein kann, wie sich die Kanadier dies wünschen. Dennoch ist mit der Sicherheit Amerikas nicht die einzige, und auch nicht eine alleine schon ausreichende Voraussetzung gegeben. Eine Welt, in der nur der amerikanische Kontinent vor einem Angriff sicher ist, wäre selbst dann kein Idealzustand, wenn wir auf eine Ära des Friedens hoffen könnten. Mag dabei unsere kanadische Sicherheit auch noch so groß sein, wir wären dennoch unglücklich, wenn es zu einer weiteren Schwächung der Freiheit und Demokratie in Europa kommen sollte, oder wenn die Völker Südasiens die Hoffnung aufgeben würden, sich jemals zu freien Gesellschaften entwickeln zu können. Auch wären wir Kanadier im Grunde keineswegs „sicher“, es sei denn, man betrachtet eine solche Sicherheit unter ganz kurzsichtigen Gesichtspunkten. Auch die perfektesten Radar-Systeme und die vernichtendsten Kernwaffen würden unsere eigene Sicherheit nicht auf alle Zeiten garantieren können, wenn sich die großen Staaten des europäischen Kontinentes als hilflos erwiesen gegenüber einer kommunistischen Infiltration oder irgendeiner anderen Verfallserscheinung.

Das eben Gesagte gilt für die Amerikaner nicht weniger als für die Kanadier. In der öffentlichen Meinung der Vereinigten Staaten sind jedoch mächtige Strömungen in Richtung auf eine moderne Form des kontinentalen Isolationismus vorhanden. Dieser Isolationismus basiert auf der Theorie, daß Nordamerika in eine uneinnehmbare Festung verwandelt werden kann, und die Frage eines Angriffes auf diese Festung indiskutabel ist, weil dadurch ungeheuer vernichtende Vergeltungsmaßnahmen ausgelöst würden. Nach dieser Theorie brauchen die Vereinigten Staaten außer Kanada überhaupt keine andere Bundesgenossen und sollten daher ihr Kräftepotential nicht durch eine Auslandshilfe für Europa und andere überseeische Gebiete verzetteln.

Die wenigsten Kanadier glauben, daß diese Ansicht jemals in Washington die Überhand gewinnen wird. Immerhin wird dadurch doch die amerikanische Außenpolitik von Zeit zu Zeit nicht unwesentlich beeinflußt. Zugegeben:

dieser Einfluß macht sich mehr in den Äußerungen verschiedener amerikanischer Politiker als in tatsächlichen Maßnahmen der Vereinigten Staaten bemerkbar. Immerhin genügen solche Äußerungen aber, um sich auf die übrigen Mitglieder der NATO zuweilen ausgesprochen demoralisierend auszuwirkest.

Keine isolationistischen Richtungen

Es ist ein glücklicher Umstand für Kanada, daß es bei uns so gut wie keine isolationistischen Richtungen gibt. Im denken der Kanadier hat sich viel mehr als in dem Denken der Amerikaner die Anschauung festgesetzt, daß freundschaftliche Beziehungen zu den anderen freien Nationen wichtig sind. Für diesen Umstand gibt es drei Erklärungen: Die erste liegt im Bereich der Geschichte. Als relativ junger Nationalstaat hat Kanada viel länger als sein südlicher Nachbar eine gewisse Führungsrolle von den überseeischen Staaten, insbesondere von Großbritannien erwartet. Durch das Commonwealth bleibt die Verbindung nicht nur mit Großbritannien, sondern auch mit den anderen Dominion-Staaten weiterhin viel enger.

Der zweite Grund liegt im wirtschaftlichen Bereich. Es ist richtig, daß sich der kanadische Handel seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mehr und mehr nach den Vereinigten Staaten hin orientiert hat. Im Laufe der Zeit dürfte sich diese Tendenz eher noch verstärken. Das alte handelspolitische Dreiecksverhältnis — demzufolge Kanadas negative Handelsbilanz -mit den USA durch erhöhte Exporte nach Europa wieder ausgeglichen wurde — ist durch ein neues Verhältnis ersetzt worden, wonach das eben erwähnte Handelsdefizit zum großen Teil wieder wettgemacht wird durch einen Export von US Kapital nach Kanada. Obwohl auf diese Weise die Prosperität Kanadas in zunehmendem Maße mit der Prosperität der Vereinigten Staaten gekoppelt ist, wird Kanada auch in Zukunft viel mehr von seinem überseeischen Handel abhängig sein als Amerika. Der Weizenhandel zum Beispiel ist heute nicht mehr von der selben Bedeutung wie früher, bleibt aber nach wie vor ein wichtiger Teilausschnitt der kanadischen Handelspolitik, die in der Welt nach Märkten jenseits des Atlantischen Ozeans und des Pazifik, niemals aber im Süden des eigenen Kontinentes streben muß. Kanada kann es sich daher niemals leisten, seine außeramerikanischen Wirtschaftsbeziehungen zu vernachlässigen.

Diese historischen und wirtschaftlichen Gründe für Kanadas Engagement im Nordatlantischen Bündnis sind jedoch noch nicht als solche schon ausschlaggebend. Es gibt noch eine dritte Motivation, die für die Kanadier sogar noch wichtiger ist, und zwar ist sie mit der Frage gegeben, ob Kanada als ein unabhängiger Staat politisch überleben wird. Wir sind uns durchaus bewußt, was für ein Juniorpartner Kanada sein würde, wenn es ein enges Bündnis zur Verteidigung des amerikanischen Kontinentes allein mit den LISA einginge. Dergleichen Gefühlsmomente haben aber noch nichts mit einer Amerikafeindlichkeit zu tun, wie sie heute in Europa und anderen überseeischen Staaten existiert. Die Kanadier — besonders aber die englicher Abstammung — kennen die Amerikaner im Grunde viel zu gut, als daß irgendwelche derartigen Gefühle sehr weit verbreitet sein könnten. Außer vielleicht in Augenblicken der Verärgerung wissen die Kanadier ganz genau, daß sie sich keinen freundlicher eingestellten und rücksichtsvolleren „Riesen" zum Nachbarn wünschen können. Aber auch der freundlichste aller Riesen kann nicht umhin, das Gefühl zu haben, daß sich Kanada neben ihm ausgesprochen klein ausmacht. Man kann es ihm nicht übel nehmen, wenn er manchmal kaum in Betracht zieht, wie sich seine Maßnahmen auf den kanadischen Nachbarn auswirken. Noch weniger wird man es ihm übel nehmen können, wenn dieser Riese nicht zu begreifen vermag, was Kanada von seinen Maßnahmen hält. können. Aber auch der freundlichste aller Riesen kann nicht umhin, das Gefühl zu haben, daß sich Kanada neben ihm ausgesprochen klein ausmacht. Man kann es ihm nicht übel nehmen, wenn er manchmal kaum in Betracht zieht, wie sich seine Maßnahmen auf den kanadischen Nachbarn auswirken. Noch weniger wird man es ihm übel nehmen können, wenn dieser Riese nicht zu begreifen vermag, was Kanada von seinen Maßnahmen hält.

Engagement in der Nato

Auf der anderen Seite der Gleichung ist es daher keineswegs ein Zeichen der mangelnden Freundschaft gegenüber den Vereinigten Staaten, wenn Kanada sich nicht mit dem Gedanken befreunden kann, zu sehr mit dem nachbarlichen Riesen alleine gelassen zu werden. Kanada zieht es vielmehr vor, in einer größeren Gesellschaft zu sein. Es sucht sozusagen eine Geborgenheit inmitten der größeren Zahl. Ich möchte hier nicht versuchen, die Dinge so darzustellen, als ob sich Kanada in der Rolle eines unschuldigen jungen Mädchens befindet, und Amerika etwa in der Rolle eines alten Mannes mit möglicherweise ungehörigen Absichten. Das wäre in keiner Weise ein zutreffendes Bild der Nationalcharaktere oder der diplomatischen Vertreter beiden Staaten. Es geht mir vielmehr um folgendes:

Relativ gesehen ist Amerika einfach zu groß und Kanada einfach zu klein, als daß wir Kanadier ein zu intimes Verhältnis mit Amerika wünschen können, ohne dabei gleichzeitig noch, mit anderen Staaten befreundet zu sein. Bei solchen anderen Staaten kann es sich gut und gerne um noch kleinere handeln. Hat Kanada kleinere Staaten zu Freunden, dann entsteht nämlich eine sehr zweckmäßige, optische Täuschung, da ja der Faktor „Größe“ immer ein relativer ist. Die Kanadier haben das Gefühl, in den Augen des Riesen ein wenig größer dazustehen — und sie fühlen sich selber größer — wenn andere, noch kleinere Staaten auf derselben Seite „mitspielen“.

Nur in diesem Zusammenhang kann man meiner Ansicht nach von dem einzigen ernsten Fehler in der kanadischen Außenpolitik der Nachkriegsjahre sprechen. Die Schuld daran hat wohl mehr unsere militärische Führung als unsere Diplomatie gehabt. Kanada hätte nach meinem Empfinden darauf bestehen sollen, daß die Verteidigungslinie im Norden des Landes — die DEW-Linie und alles, was damit zusammenhängt — funktionell als ein Teil der NATO angesehen wird. Das nördliche Randgebiet des Atlantischen Ozeans ist nicht nur kanadisches Grenzgebiet. Dieses Gebiet reicht schließlich von den Aleutischen Inseln bis nach Spitzbergen und ist somit eine für die Sicherheit aller Länder der freien Welt lebenswichtige Verteidigungslinie. Man sollte sie als einen nördlichen Kommandobereich innerhalb der NATO betrachten. Damit dieser Tatsache symbolisch Rechnung getragen wird, sollte diese Verteidigungslinie eigentlich von Truppen besetzt werden, die sich nicht nur aus Kanadiern und Amerikanern, sondern mindestens auch aus Norwegern, Dänen und Briten zusammensetzen. Aus der Sicht des Pentagon oder des Kanadischen „National Defence Headquarters" würde eine solche Zusammensetzung der Truppen die Dinge nur unnötig kompliziert haben. Vom Gesichtspunkt der auswärtigen Beziehungen Kanadas ist es jedoch außerordentlich zu bedauern, daß man die Militärs nicht zu einer Rücksichtnahme auf politische Notwendigkeiten bewegen konnte. Gerade deshalb ist es aber um so wichtiger, nach anderen Richtungen hin herauszustellen, wie sehr Kanada an seinen europäischen Bündnispartnern, aber auch an seinen asiatischen Freunden gelegen sein muß.

Was ich mit diesen Bemerkungen zum Ausdruck bringen will, hat ganz eindeutig nichts zu tun mit der Frage nach den entscheidenden Motiven für unser Engagement in der NATO.

Kanada hat hier seinen Teil auf sich genommen und wird dies auch weiterhin tun, weil wir der Ansicht sind, daß es für uns weder risikolos noch letzten Endes möglich wäre, den Ereignissen auf dem europäischen Kontinent tatenlos zuzusehen. Dieser Grundgedanke trifft auf die Vereinigten Staaten genau so zu wie auf Kanada. Warum aber ist er allen Schattierungen der kanadischen öffentlichen Meinung stets geläufiger als der amerikanischen? Mir geht es hier im Augenblick um den Grund für diesen Unterschied.

Wir sollten uns nicht zu der Annahme verleiten lassen, daß dieser Grund etwa in einer größeren Intelligenz oder Tugend auf Seiten der Kanadier zu suchen ist. Auch nicht — was einige Amerikaner anzunehmen scheinen — in Über-resten „imperialistischer“ Bande zwischen Kanada und Großbritannien. Es ist vielmehr so, daß ganz abgesehen von dem allgemeinen Nutzen der NATO die europäischen Bündnispartner für Kanada noch von ganz besonderem Nutzen sind.

Dies hat im Grunde garnichts zu tun mit Kanadas Zugehörigkeit zum Commonwealth, sondern ergibt sich vielmehr aus dem gesteigerten Nationalgefühl der Kanadier. Daher wird dieser ganze Trend auch eher stärker als schwächer werden, wenn Kanadas Bande mit dem „Mutterland“ durch wirtschaftliche und andere Faktoren in den kommenden Jahren weiter gelockert werden.

Die Bedeutung Kanadas für das westliche Bündnis

Bisher haben wir untersucht, warum das gesamte westliche Bündnis-System für Kanada von so großer Bedeutung ist, obwohl die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten vor allen anderen Gesichtspunkten eine absolute Vorrangstellung einnehmen. Jetzt müssen wir die andere Seite der Medaille betrachten: die Bedeutung Kanadas für das westliche Bündnis.

Diese Bedeutung ist nun gerade auf einen Faktor zurückzuführen, der oft viele Kanadier gegen den Stachel locken läßt, das heißt eben darauf, daß Kanadas Sicherheit so völlig von der Macht der Vereinigten Staaten abhängt. Die kanadisch-amerikanischen Beziehungen sind aber nicht ganz einseitiger Natur. Das gute Einvernehmen mit Kanada — auf dem Gebiete der Verteidigung, des Handelns und vieler politischer Fragen — ist auch von beträchtlichem Wert für die USA. Amerika kann sich restlos auf Kanada verlassen, wenn immer sich irgendeine weltpolitische Streitfrage zu einer Krise ausweitet. Die Vereinigten Staaten können der Haltung Kanadas absolut sicher sein. Wäre dies nicht der Fall, dann könnte Kanada unter keinen Umständen für sich beanspruchen, was es in NATO-Fragen oft ausübt: ein Mitspracherecht, das auch nicht annähernd in einem richtigen Verhältnis zu der militärischen Bedeutung des Landes steht.

Genau diese Grundwahrheit wird nicht immer begriffen, wenn die Leute fragen: „Wozu das ganze?“ Oder: „Da die kanadische Außenpolitik in wesentlichen Fragen doch nicht von der amerikanischen Politik abweichen kann, warum dann so viele Umstände machen?“ Ein solcher Zynismuß läßt das einfache Faktum außer acht, daß in der Welt von heute kein Staat nur für sich alleine leben kann. Die alte Konzeption von der nationalen Souveränität ist in der Praxis nur noch von geringer Bedeutung. Jeder Staat ist heute in seiner Handlungsfreiheit drastisch eingeschränkt. Zugegeben: vielleicht bedeutet Kanadas Handlungsfreiheit im Grunde nicht mehr, als daß wir die Freiheit haben, unter dem Schutz des Regenschirmes unseres großen Nachbarn gratis und franko einige Ratschläge zu erteilen, wie man den Regenschirm am besten halten sollte. Das Entscheidende aber ist eben, daß wir die Ratschläge erteilen und man diese uns auch abnimmt. Ja manchmal werden die Ratschläge sogar befolgt, obwohl es eigentlich für Leute, die einen Regenschirm zu halten haben, nichts Störenderes gibt, als sich solche Ratschläge anhören zu müssen. Diese Rolie erfordert schon heute — und das wird in zunehmendem Maße der Fall sein — ein erhebliches Taktgefühl.

Kanada könnte diese Rolie jedoch überhaupt nicht zu spielen versuchen, wenn nicht allein schon die Tatsache, wie der Regenschirm gehalten wird, von so ausschlaggebender Bedeutung für uns wäre. Daraus dürfen wir unser Recht, ja unsere Verpflichtung ableiten, in der allgemeinen Politik der USA und der gesamten freien Welt ein Wort mitzureden.

Die Sicherheit aller Staaten des Westens ist von der Stärke der Vereinigten Staaten abhängig. Kanada ist jedoch dasjenige Land unter ihnen, dessen Schicksal am direktesten und engsten mit dem des großen Partners verquickt ist. Das bringt Kanada mehr als irgendeinem anderen Alliierten der Vereinigten Staaten eine besondere Stellung und Verantwortung ein. Kanada ist von allen Bündnispartnern auch am meisten im Nordatlantik-Pakt engagiert. Nur daraus erklärt sich der besondere Einfluß Kanadas bei den Beratungen unter den Verbündeten.

Scharnier zw ischen alter und neuer Welt

Es ist Usus geworden, von einer Mittlerrolle Kanadas zu sprechen: Kanada könne, so sagt man, Amerika den Engländern und England den Amerikanern interpretieren; es sei — um eine berühmte Formulierung anzuwenden — das Scharnier zwischen der alten und der neuen Welt, und insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Eine’solche Konzeption entspricht zwar ein wenig der Realität, ist aber wie alle Halbwahrheiten auch gefährlich.

Ein Vermittler verkehrt mit beiden Parteien auf einer absolut unparteiischen Basis; ein Scharnier läßt sich von beiden Teilen, die es bei aller Beweglichkeit zusammenhält — loslösen. An diesem Punkt versagt die Analogie: im letzten ließe sich Kanada — wenn auch nur unter sehr großen Verlusten für alle Beteiligten — von seinem überseeischen Verbündeten lösen. Von seiner Allianz mit den Vereinigten Staaten jedoch nicht. Die Bande des gemeinsamen Interesses und der gemeinsamen (amerikanisch-kanadischen) Sicherheit sind heute so eng, daß sie nicht mehr verglichen werden können mit den Schrauben, die ein Scharnier halten. Vielleicht kann man der Analogie ein wenig Gewalt antun und in Kanada mit mehr Anspruch auf Genauigkeit nicht das Scharnier selber sehen, sondern denjenigen Teil des nordamerikanischen Raumes, an dem sich ein Scharnier mit der übrigen freien Welt am sichersten befestigen läßt. Kanadas besonderer Einfluß rührt eben von der Tatsache her, daß dieses Land zwar nicht die Vereinigten Staaten, aber eben ein Teil von Nordamerika ist.

Wir wollen durchaus zugeben, daß nicht alle Kanadier mit der hier von uns umrissenen Stellung ihres Landes konform gehen. Das Gefühl der gemeinsamen Bande mit Großbritannien und der Zugehörigkeit zum Commonwealth ist stark. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Außerhalb Kanadas machen sich jedoch die wenigsten — vor allem nicht die Engländer — klar, wie sehr Kanadas Beziehungen zu den übrigen Commonwealthstaaten von einem besonders freundschaftlichen Gefühl für die asiatischen Mitglieder des Commonwealth, besonders aber für Indien, bestimmt werden. Auf dem Felde der Diplomatie lassen sich nun aber die Faktoren Indien und Großbritannien kaum miteinander auf einen Nenner bringen. Die Suez-Krise des vergangenen Jahres dürfte doch wohl endgültig mit der Vorstellung aufgeräumt haben, daß Kanada wegen des Commonwealth immer noch eine Art von Satellit Großbritanniens ist.

Es ist wichtig, daß man sich hier nicht durch die in Kanada selber zutagetretende Kontroverse in bezug auf die Suezpolitik verwirren läßt. Die in der Opposition stehenden politischen Kreise — allerdings mehr die Zeitungen als die Politiker selber — haben hier und da den Vorwurf erhoben, daß die Regierung Großbritannien im Stich ließ. Probritische Gefühle sind immer noch so stark, daß die Politiker eine Gelegenheit, solchen Gefühlen ein wenig huldigen zu können, nicht vorübergehen lassen. Das Bedeutsame an der Sadie ist jedoch, daß die Oppositionsparteien diesen Vorwurf nicht gerade mit einer besonderen Lautstärke vortrugen. In Wahrheit stieß Kanadas Versuch, im Rahmen der LINO das britische Suez-Abenteuer mit einem Minimum an Mißstimmung für alle Beteiligten zu liquidieren und dadurch das anglo-amerikanische Bündnis wieder zu kitten, in der kanadischen öffentlichen Meinung auf allgemeine Hochachtung und Zustimmung. Daß Kanada hier seine Rolle so vorzüglich spielte, ist mehr auf den Zufall der Persönlichkeit zurückzuführen. Die gleiche Rolle hätte u. LI. bei einem weniger fähigen Außenminister als Mr. Pearson zu negativeren und weniger erfolgreichen Resultaten geführt. Es ist jedoch nicht gut denkbar, daß Kanadas Politik bei irgendeiner anderen innenpolitischen Konstellation grundsätzlich anders ausgesehen hätte.

In der Suez-Krise übte Kanada einen größeren Einfluß in einer weltpolitisch bedeutsamen Frage aus, als dies je zuvor der Fall gewesen ist. Daß der kanadische Einfluß in Zukunft auf eine ähnliche Weise zur Geltung kommen wird, haben eigentlich die „Aufräumungsarbeiten“ nach Suez, und insbesondere die Änderungen deutlich gemacht, die daraufhin in der Verteidigungsplanung Großbritanniens vorgenommen wurden. Diese Änderungen laufen im Grunde auf das Zugeständnis hinaus, daß es England die ihm heute zur Verfügung stehenden Mittel nicht mehr erlauben, auf dem Gebiet der Verteidigung und der Diplomatie eine Rolle von dem Ausmaß zu spielen, wie das Inselreich dies bislang versucht hat. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich Großbritannien in eben diesem Versuch übernommen. Heute beginnt seine Stellung im westlichen Bündnis-system ein wenig an Gewicht einzubüßen.

Bisher hat sich Großbritannien gegenüber den Vereinigten Staaten immer so verhalten, als ob es der einzige Verbündete sei, der nach Macht und Bedeutung in etwa einem Vergleich mit den Vereinigten Staaten Stand halten könne. Von dieser Auffassung ging die oben erwähnte „Scharnier“ -Theorie aus. Im Atomzeitalter kann sich aber selbstverständlich kein Staat der westlichen Welt mit den Vereinigten Staaten messen. Vom Gesichtspunkt des tatsächlichen Kräfteverhältnisses ist selbst Englands Abstand von den LISA so groß, daß das Inselreich im Grunde mehr den „Mittelmächten" als einer Großmacht wie Amerika zugerechnet werden muß. Selbst der größte Hügel nimmt sich eben neben einer Gebirgsspitze immer noch als Hügel aus. Alles in allem ist somit Großbritannien dabei, etwas von der Vorrangstellung einzubüßen, die es bislang unter den Verbündeten der USA eingenommen hat.

Kanada -ein Unterpfand der lauteren Absichten Amerikas

In dem Maße, wie diese Entwicklung fortschreitet, wird nun aber das, was wir die Sonderstellung Kanadas nennen können, für dieses Land selber, wie auch für die übrige freie Welt noch wichtiger. Die neue Stellung Kanadas basiert nicht auf einem Machtpotential von irgendeiner vergleichbaren Größenordnung, sondern auf der Tatsache, daß die Beziehungen Kanadas zu den USA besonders enger Natur sind. Unter allen Verbündeten sind die Kanadier diejenigen, die mit den Amerikanern als Bewohner einunddesselben Kontinentes reden, dabei aber gleichzeitig die Vereinigten Staaten mit den Augen einer außenstehenden, kleineren Macht sehen können.

Kanadas besondere Aufgabe liegt somit darin, einmal als Sprecher dieser kleineren Mächte gegenüber den USA zu fungieren, und zum anderen, Amerika diesen anderen Mächten gegenüber zu interpretieren.

In Kanada, aber auch in Europa und Asien, gibt es immer noch viele Leute, die sagen würden, daß all das sich ja ganz gut anhöre, in der Praxis aber eigentlich so gut wie nichts bedeute.

Es sei — so wird argumentiert — ja ganz gut und schön, wenn sich Kanada als ein Vermittler betrachtet;

wenn dieses Land aber sc enge und immer wieder so stark betonte Bindungen zu den Vereinigten Staaten hat, warum sollte man dieser Vermittlerrolle dann überhaupt irgendeine Beobachtung schenken. Zum Teil ist die Antwort auf solcherlei Fragen einfach die, daß ja nun tatsächlich die besondere Rolle Kanadas respektiert wird, selbst wenn auch nur deshalb, weil die Vereinigten Staaten aus ihren freundschaftlichen Gefühlen für Kanada keinen Hehl machen. Dieser Grund ist real und durchschlagend genug.

Es gibt aber noch einen anderen: Kanadas Abhängigkeit von den LISA bedeutet nämlich nicht, daß es dem „Juniorpartner“ an Waffen fehlt, die auch von ihm in die Waagschale geworfen werden können. Solche Waffen stehen Kanada in der Tat bei Bedarf zur Verfügung.

Und zwar ergeben sich diese aus der Tatsache, daß die Vereinigten Staaten durch ihr gutes Verhältnis zu Kanada den besten und leichtesten Befähigungsnachweis dafür erbringen, auch mit allen anderen, kleineren Staaten gut auskommen zu können. Diesen Zustand hat einmal jemand sehr gut mit der Bemerkung zum Ausdruck gebracht.

daß Kanada für die übrige Welt ein Unterpfand der lauteren Absichten Amerikas sei. Kanada genießt in der freien Welt einen guten Ruf. Wenn Kanada also erklären würde, daß es von Amerika vergewaltigt werde, oder aber daß seine eigenen Interessen durch die USA ernstlich in Frage gestellt würden, dann wären die Sympathien der übrigen Welt zum allergrößten Teil auf Seiten Kanadas. Die Welt sieht in Kanada ein Volk, das dem amerikanischen nicht unähnlich ist, und das sich den Vereinigten Staaten genau so wie jeder andere freie Staat anpaßt. Wenn die Amerikaner sich nicht mit Kanada vertragen sollten, mit wem würden sie sich dann überhaupt vertragen können? Wer könnte ihnen dann noch trauen? Wer würde dann noch davon überzeugt sein, daß alles Gerede von einem amerikanischen Imperialismus reine Legendenbildung ist, der im Grunde nicht einmal der Kreml Glauben schenkt?

Kurz gesagt: Die Vereinigten Staaten sind außerordentlich interessiert an guten Beziehungen zu Kanada, und zwar an guten Beziehungen, die in einem Gedankenaustausch und in einer Kooperation, ja in einer wirklichen Politik des Gebens und Nehmens zum Ausdruck kommen.

Man sollte daher die Waffen, die Kanada in die Waagschale werfen kann, keineswegs unterschätzen.

Ganz im Gegenteil, sie sind so gewichtig, daß sie einigen Schaden anrichten könnten, wenn sich eine kanadische Regierung einmal zu einem Mißbrauch dieser Waffen entschließen sollte. In der weltpolitischen Praxis von heute sind sie jedoch nur ein stillschweigender Beweis dafür, daß Kanada eine wichtige Rolle bei der Festlegung der politischen Linie der freien Welt zufällt.

Solange sich an dieser Gesamtkonstellation nichts ändert, d. h. solange es nicht zu einer Auseinandersetzung kommt, bei der die guten kanadisch-amerikanischen Beziehungen ins Wanken geraten, solange ist eigentlich das einzige Land, dem Kanadas neue Stellung in der Welt ernsthafte Schwierigkeiten bereitet, — Kanada selber.

Das kanadische Nationalgefühl

Es ist erst zehn Jahre her, daß Mr. St. Laurent, damals Kanadas Außenminister, bald danach sein Ministerpräsident, die Grundsätze der kanadischen Außenpolitik in einer berühmt gewordenen Rede niederlegte. Der erste Grundsatz, dem er vor allen „Absoluten" (von der unbedingten Herrschaft des Rechtes, von der politischen Freiheit und von der Bereitschaft zu einer weltpolitischen Verantwortung) den Vorrang gab, lautete: Kanada’s Außenpolitik darf nicht zu einer Zerstörung der nationalen Einheit führen.

In unserer heutigen Sicht mögen wir in dieser prinzipiellen Erklärung von Mr. St. Laurent eine unverständlich negative Grundeinstellung erblicken. Das Kanada, dessen nationale Einheit manchmal an einem seidenen Faden hing, gehört endgültig der Vergangenheit an. Innerhalb der letzten zehn Jahre sind ein Nationalgefühl und ein Bewußtsein der gemeinsamen Interessen und Ziele unter den verschiedenen Volksteilen in der ganzen, dünnbesiedelten Weite dieses Landes in einem Maße gestärkt worden, wie man dies früher nicht für möglich gehalten hätte.

Zeitlich betrachtet ist dieses kanadische Nationalgefühl jedoch eigentlich ein etwas seltsames Gebilde. Unter dem mächtigen Einfluß des Krieges und der Hochkonjunktur der Nachkriegsjahre — durch die das Selbstvertrauen dieses Volkes unerhört gestärkt wurde — haben die Kanadier ein Nationalgefühl entwickelt genau zu einer Zeit, die weltpolitisch sonst gekennzeichnet wurde durch eine zunehmende Einschränkung der Souveränitätsrechte einzelner Nationalstaaten.

Die Zusammenarbeit zwischen Bündnispartnern ist im Zeitalter der Wasserstoffbombe und der interkontinentalen Raketengeschosse viel zu eng geworden, als daß der nationalen Souveränität in der traditionellen Bedeutung dieses Begriffes noch allzuviel Realität innewohnen kann.

Eigenartiger Weise hat nun aber Kanada ein Nationalgefühl entfaltet und eine weltpolitische Stellung von Bedeutung erlangt, als sich die anderen Völker wie noch nie zuvor der Tatsache bewußt wurden, daß sie alle in einer Welt leben und daher von einander abhängig sind.

Vom Intellekt her läßt sich diese Grundtatsache unserer heutigen Zeit leicht begreifen.

Vom Intellekt her gesehen ist das Paradoxe der neuen Stellung Kanadas in der Welt nicht schwer zu verstehen, das Paradoxe nämlich, daß Kanadas Einfluß und Verantwortung nicht zum Erliegen kommen, nur weil sich die Außenpolitik des Landes in wesentlichen Fragen nicht in einen Gegensatz zu den Vereinigten Staaten setzen kann. Das Gegenteil ist ja der Fall: gerade in diesem scheinbaren Widerspruch liegt die Möglichkeit für Kanada begründet, bei der Festlegung einer gemeinsamen Politik unter den Verbündeten der Atlantischen Gemeinschaft eine besondere Verantwortung zu übernehmen und einen besonderen Einfluß geltend zu machen. Rationell betrachtet ist all dies verständlich genug — nicht aber emotional, und daher auch nicht politisch.

Da lassen sich die Dinge schon weniger plausibel machen.

Die emotionale Schwierigkeit zeigt sich am deutlichsten in folgendem: eine Haltung, die sich in den Augen unserer südlichen Nachbarn manchmal als eine gewisse — allerdings, wie wir hoffen, milde Form — der Amerikafeindlichkeit ausnehmen mag, ist zeitweilig vielleicht nur der sichtbarste Ausdruck des neuen kanadischen Nationalgefühls.

Bestenfalls könnte dadurch eine Außenpolitik erschwert werden, die der neuen kanadischen Weltgeltung Rechnung zu tragen versucht. Auf jeden Fall aber braucht eine solche Lage nicht allzu pessimistisch beurteilt zu wer-den. Die Schwierigkeit, die sich für die Gesamt-politik Kanadas auf Grund eines gewissen emotionalen Irrealismus in bezug auf unsere Beziehungen zu den LISA ergeben mögen, sind schließlich nur ein erst jetzt zu Tage tretender Beweis für eine schon seit langem gegebene Tatsache. Kanada ist eben seiner Geschichte und geographischen Lage nach ausgesprochen schwierig zu regieren. Bis heute hat diese Tatsache — von ganz seltenen Ausnahmen abgesehen — nicht verhindern können, daß unser Land erstaunlich gut regiert wurde. Es besteht eigentlich kein Grund, warum sich Kanadas neue auswärtige Beziehungen nicht ebenso positiv gestalten sollten.Politik und Zeitgeschichte AUS DEM INHALT UNSERER NÄCHSTEN BEILAGEN:

H. G. Adler: „Der Kampf gegen die Endlösung der Judenfrage'1

Margarete Buber-Neumann: „Schicksale deutscher Kommunisten in der Sowjetunion"

Hans Koch: vDie Zusammenarbeit Moskaus und Pekings während der europäischen Satellitenkrise"

Helmut Schäfer: „Entstehung der subarktischen Großstadt Workuta"

Markus Timmler: „Der wirtschaftliche Wettstreit um Asien und Afrika"

Heinrich Weinstock: „Die politische Verantwortung der Erziehung in der demokratischen Massengesellschaft des technischen Zeitalters"

Karl A. Wittfogel: „Die chinesische Gesellschaft"

Henri M. Wriston: „Erziehung und das Nationalinteresse"

Fussnoten

Weitere Inhalte

Tom Kent, Redakteur der „Winnipeg Free Press", früher Redaktionsmitglied von „The Economist', London.