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Von Lenin zu Chruschtschow | APuZ 43/1957 | bpb.de

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APuZ 43/1957 Von Lenin zu Chruschtschow

Von Lenin zu Chruschtschow

HERMANN WEBER

Zum 40. Jahrestag der Oktoberrevolution in Rußland „Revohttionen gab es aitdt m der Vergangenheit . . . Die Revolutionen der Vergangenheit beschränkten sich jedoclt auf den Übergang der Macht von einer Ausbeuterklasse auf die andere, es änderte sich nur die Form der Ausbeutung, die Ausbeutung aber blieb . . . Die Oktoberrevolution, die grandioseste in ihrem Umfang und die tiefste in ihren Aufgaben und Zielen, ließ die jahrhundertealten Träume der Werktätigen Wirklichkeit werden, setzte der Ausbeutung des Menschen durdt den Menschen und jeglicher sozialen und nationalen Unterdrüdtung ein Ende und verkündete nidu nur die großen Ideen des Sozialismus, des Friedens, der Gleidiberechtigung und der Völkerfreundschaft, sondern setzte sie auch in die Tat um . . . Der Aufbau des Sozialismus ist für unser Volk das Hauptergebnis der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution Der Aufbau der kommunistischen Gesellschaft in unserem Lande ist heute schon kein fernes Ziel mehr, sondern das unmittelbare praktische Ziel der gesamten heutigen Tätigkeit der Sowjetmenschen und ihrer führenden Kraft, der Kommunistisdien Partei der Sowjetunion" Diese Auszüge aus den „Thesen“ des Zentralkomitees der KPdSU zum 40. Jahrestag der bolschewistischen Oktoberrevolution zeigen das Bestreben der heutigen Sowjetführung, ihre Politik als konsequente Fortsetzung der Oktoberrevolution darzustellen und das heutige System als folgerichtiges Ergebnis der Zielsetzung dieser Revolution auszu-geben. Die Sowjetführung unternimmt alle Anstrengungen, diese Behauptung glaubhaft zu machen. Zur Erinnerung an den 40. Jahrestag werden im Ostblock Dutzende von Büchern veröffentlicht, Filme und Theaterstücke aufgeführt, feierliche Versammlungen abgehalten und „Selbstverpflichtungen" abgegeben — alle Manifestationen gipfeln in der These der siegreichen Fortführung der Ideen der Oktoberrevolution durch die Kommunistische Partei bis auf den heutigen Tag So mußte die Sowjetführung auch bestreiten, daß die auf dem XX. Parteitag gegebenen Enthüllungen über Stalin berechtigten, von einem besonderen System, dem Stalinismus, zu sprechen. „Stalinismus als besondere Richtung gibt es nicht“, stellte die Führung der KPdSU kategorisch fest, um damit jede Unterscheidung zwischen Leninismus und Stalinismus als falsch abzutun.

Doch zur selben Zeit, da diese Behauptungen erklingen, gibt es innerhalb des kommunistischen Lagers zahlreiche Stimmen, die ebenfalls unter Berufung auf die Oktoberrevolution und ihre Ziele nicht nur eine Abkehr vom Stalinschen Personenkult und einigen Methoden der stalinistischen Herrschaft fordern, sondern auch die Beseitigung des gesamten stalinistischen Systems. In Jugoslawien und Polen, unter den Studenten der Sowjetunion wie in der Plattform Harichs werden die Vorstellungen und Zielsetzung der Oktoberrevolution wachgerufen, um gegen die Praxis des Stalinismus anzukämpfen.

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I. Warum siegten die Bolschewik!?

Als das bolschewistische Zentralkomitee am 23. Oktober 1917 (dem 10. Oktober alten Stils) erklärte, daß der „bewaffnete Aufstand auf die Tagesordnung“ gestellt sei begann ein neuer Abschnitt der russischen Revolutionsgeschichte. Doch es war keineswegs die Verschwörung leitender Parteiführer, die es zu diesem Beschluß kommen ließ:

„Am 23.

Oktober tagte das Zentralkomitee die ganze Nacht. Anwesend waren alle Intellektuellen der Partei, die Führer und die Delegierten der Petrograder Arbeiter und der Garnison. Von den Intellektuellen waren nur Lenin und Trotzki für den Aufstand. Selbst die Militärfachleute lehnten ihn ab. Es wurde eine Abstimmung vorgenommen und der Aufstand verworfen.

Da aber erhob sich mit wutverzerrten Zügen ein Arbeiter: , Ich spreche für das Petrograder Proletariat', stieß er rauh hervor. , Macht was ihr wollt. Aber das eine sage ich euch, wenn ihr gestattet, daß die Sowjets auseinander gejagt werden, dann sind wir mit euch fertig'. Einige Soldaten sddossen sich dieser Erklärung an . . . Eine zweite Abstimmung wurde vorgenommen und — der Aufstand beschlossen"

Mit dem Zusammentritt des II. Allrussischen Sowjetkongresses erreichte die Revolution den Höhepunkt. Die letzten Versuche der Kerenski-Regierung, durch Truppenzusammenziehung und Verbot der bolschewistischen Zeitungen dem Aufstand zuvorzukommen, scheiterten. Das Militärrevolutionäre Komitee, ein Organ des überwiegend bolschewistischen Petrograder Sowjet, schickte revolutionäre Truppeneinheiten und die Rote Garde aus, welche die wichtigsten Plätze besetzten. In der Nacht vom 7. zum 8. November (25. /26 Oktober alten Stils, daher „Oktober“ -Revolution) wurde der Winterpalast, der Sitz der Regierung, gestürmt und die Provisorische Regierung verhaftet. Der II. Sowjetkongreß verwirklichte die bolschewistische Parole „Alle Macht den Sowjets“ und bildete die erste Räteregierung unter Lenin. Acht Monate nach dem Sturz des Zarismus hatte eine radikale Revolution die Machtverhältnisse in Rußland erneut verändert. Im Gegensatz zu ihren Auswirkungen war sie geradezu ruhig verlaufen. Ein Augenzeuge meinte:

„Als ich am nächsten Morgen erwachte, hatten die Bolschewiki bereits die Macht in den Händen. Ganz lautlos, fast ohne einen Schuß, war die Staatsumwälzung erfolgt. Man sollte kaum glauben, daß, während der Bürger ruhig in seinem Bett lag, eine Umwälzung erfolgte, die später ganz Rußland aus den Angeln hob . . .“

Wie konnte die bolschewistische Partei, die noch ein Jahr vor dem Aufstand unter den 140 Millionen Einwohnern des Riesenreichs nur 5 000 bis 6 000 aktive Mitglieder zählte und auch nach der Februarrevolution nur 40 000 Mitglieder hatte, die Macht erringen und schließlich auch halten?

Rußland war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein rückständiges Land. Politische Unterdrückung und Polizeiwillkür kennzeichneten das absolutistische Zarenreich. Politische Parteien konnten nur illegal wirken, jede oppositionelle Strömung wurde brutal unterdrückt und Sibirien, die Stätte der Verbannten galt als Wahrzeichen des Zarismus.

Nicht weniger groß war die wirtschaftliche Zurückgebliebenheit. Obwohl Rußlands Landmassen von Warschau bis nach Korea reichten, blieb die industrielle Produktion weit hinter der westlicher Länder zurück. Die LISA förderten z. B. um die Jahrhundertwende fünfundzwanzig mal soviel Kohle wie Rußland und produzierten zehn mal mehr Stahl. Selbst Deutschlands Kohleförderung war fünfzehn mal und die Stahlproduktion fünf mal so groß wie die des riesigen russischen Reiches. Pro Kopf der Bevölkerung produzierte Rußland nur den fünfzehnten Teil der USA. Rußland war damals ein Agrarland — 4/5 der Bevölkerung lebten von der Landwirtschaft — doch auch diese zählte zu den rückständigsten der ganzen Welt.

Hinzu kam eine unglaubliche kulturelle Zurückgebliebenheit, die sich in einem weit verbreiteten Analphabetentum und der sprichwörtlichen Weltabgeschiedenheit und Zivilisationsfeindlichkeit des russischen Dorfs besonders kraß ausdrückte. Doch auch in Rußland entwickelte sich der Kapitalismus, die Industrialisierung und damit eine neue Klasse, die Arbeiterschaft. Gab es in der Industrie um 1865 erst 700 000 Arbeiter, so waren es 1900 bereits über 21/2 Millionen. Diese Arbeiter bildeten ein neues Spannungsfeld in der russischen Gesellschaft. Sie mußten weit unter dem Niveau ihrer westeuropäischen oder gar amerikanischen Kollegen leben.

Die Industrialisierung machte besonders vor dem Krieg rasche Fortschritte. Zwischen 1910 und 1913 stieg die Kohle-und Stahlproduktion um 70 bis 80°/o. Mit dem Wachstum der Arbeiterschaft wuchs der Einfluß der Bolschewiki, die einen Teil der russischen Arbeiterbewegung bildeten. Ihre radikalen und revolutionären Ideen fielen auf fruchtbaren Boden. Im Ganzen gesehen blieb ihr Einfluß auf die Massen bis zur Februarrevolution, dem Ende des Zarismus, jedoch schwach. Mehr als alle theoretischen Vorstellungen und die Zielsetzung förderten die taktischen Maßnahmen der Bolschewiki ihren Sieg. Sie sind in Rußland an die Macht gekommen, „indem sie den kriegsmüden Massen . Frieden und Brot'in Aussicht stellten"

Es waren in erster Linie die taktischen Forderungen der Bolschewiki, die zwischen Februar und Oktober ihren Einfluß auf die Massen verständlich machen, die Parolen: Frieden, das Land den Bauern, Arbeiter-kontrolle und nationale Freiheit. Am Tage nach der Revolution wurden diese Parolen auch sofort zum Regierungsprogramm erhoben. Der II. Sowjetkongreß erklärte:

„Die Sowjetitiadtt wird allen sofortigen Völkern einen demokratischen Frieden und den sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten Vorschlägen. Sie sichert auch die entschädigungslose Übergabe aller guts-herrlichen Domänen und Klostergüter an die Bauernkomitees, sie wird für die Rechte der Soldaten eintreten . . . sie wird die Arbeiterkontrolle über die Produktion einführen, die rechtzeitige Einberufung der Nationalversammlung sichern . . . sie wird allen dem russischen Staat angehörenden Nationen das wahrhafte Selbstbestimmungsredit sichern“

Rußland war als rückständiges Land durch den Weltkrieg besonders in Mitleidenschaft gezogen worden und 1917 total erschöpft. Der Hauptgrund für den Sturz des Zarismus lag in der Kriegsmüdigkeit der Massen. Trotzdem führte die Provisorische Regierung an der Seite der Entente den Krieg gegen Deutschland weiter. Nach den Niederlagen an der Front im Juli 1917 wuchs der Einfluß der Bolschewiki sprunghaft, da sie als einzige bedeutende Partei den sofortigen Frieden forderte und versprach, ihn zu schließen, wenn sie die Macht erhielt. Die im Vordergrund der Agitation stehende Friedensparole trug so wesentlich zum Sieg der Bolschewiki bei.

Die Übernahme der Losung der Sozialrevolutionäre, den Boden zu nationalisieren und das Land der Großgrundbesitzer aufzuteilen, hat den Aufstieg der Bolschewiki nicht weniger gefördert. Die Millionen-massen der Bauern besaßen in Rußland 215 Millionen ha Land, die kleine Schicht der Großgrundbesitzer, Krone und Klöster aber verfügten über 152 Millionen ha 700 Großagrarier verfügten über dreimal soviel Boden als 600 000 Bauern

„Es muß zugegeben werden, daß die Haltung der provisorisdten Regierungen gegenüber der Agrarfrage den besten Anlaß zu einer Agitation gegen sie gab. Man konnte glauben, daß die Regierung des Fürsten Lwow, sowie die Regierung Kerenskys in vollem Verständnis für den Ernst der Lage für die schleunige Durchführung der Agrarreform eintreten würden. Leider bewahrheitete sidt die Vermutung nicht . . . Die Bauern wiederum, die inzwischen ihren Glauben an den ehrlichen Willen der Regierung verloren hatten, zogen es vor, die Agrarfrage , mit eigenen Mitteln zu lösen, indem sie ohne weiteres den Grund und Boden der Gutsbesitzer in Besitz nahmen" 9).

Das gab der bolschewistischen Partei, die die Bauernforderungen und Landnahme unterstützte, größeres Ansehen. Sie gewann damit auch die Unterstützung der in Soldatenröcken steckenden Bauern — der Armee!

Den Bolschewiki gelang es zwischen Februar und Oktober 1917 durch die radikalen Losungen: „Alle Macht den Sowjets", Herrschaft der Arbeiter, Arbeiterkontrolle in den Betrieben und Übergang zum Sozialismus im Rahmen der Weltrevolution, die Mehrheit der russischen Arbeiter zu gewinnen. Bei den Wahlen zur Konstituante (welche von den Bolschewiki später aufgelöst wurde) Ende 1917 bekamen die Bolschewiki nur 2 5 °/o der Stimmen, aber sie errangen im Zentralindustriegebiet 44 °/o, im nördlichen und westlichen Gebiet 40 °/o und bei der Armee an der Westfront 68 % der Stimmen Gerade in den Arbeiter-bezirken erhielten die Bolschewiki einen starken Stimmenanteil: im Gouvernement Petrograd 50 %, Moskau 56°/o, Livland 72 %, Twer 54 %, Wladimir 56 % usw.

Die 4. Parole der Bolschewiki, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bis zur Abtrennung vom russischen Staat zu unterstützen, blieb im Vielnationalitäten-Staat Rußland und der Erinnerung an die zaristische Unterdrückung der Ukrainer, Polen, Kaukasier und Turkvölker nicht ohne Widerhall.

Daneben wuchs der Einfluß der Bolschewiki mit den Angriffen der Gegenrevolution auf die Errungenschaften der Arbeiter in der jungen Demokratie. Versuche, wie der des Zaristengenerals Kornilow, die alten Zustände wiederherzustellen, trieben nicht wenige Arbeiter in die Arme der Bolschewiki, die am schärfsten gegen die Konterrevolutionäre opponierten. Die Halbheit, Schwäche und Zersplitterung ihrer Gegner ermöglichte den Bolschewiki am 7. November durch einen raschen Schlag die Machtübernahme.

russischen Die anderen Parteien (besonders die gemäßigten) brachten die Konsequenz der Bolschewiki in der Politik und die eindeutige Haltung zu den brennenden Fragen der russischen Bevölkerung, zum Frieden, Landverteilung, und zur zur Arbeiterkontrolle nicht auf. So schälte sich immer klarer die von Rosa Luxemburg gekennzeichnete Alternative heraus: „Sieg der Konterrevolution oder Diktatur des Proletariats, Kaledin oder Lenin“ Am 7. November und in den Jahren des Bürgerkriegs, als die Bolschewiki versuchten, ihre taktischen Versprechungen einzulösen, wurde die Frage endgültig entschieden — die Konterrevolution konnte den Parolen der Bolschewiki nichts Gleichwertiges entgegensetzen und so nicht siegen.

„So hatten die Bolschewiki, die als organisierte Anhänger nur einen Feil der Arbeitersdtaft hinter sich hatten, Millionen gewonnen, weil sie für den Frieden eintraten wie für die Liquidierung des Feudalismus . . . daher ergab sich, daß, als nadh der Februarrevolution die Massen, die für sofortigen Frieden und Agrarrevolution waren, zu den Bolsdtewisten strömten, diese nicht etwa nun eine Revolution gegen die russischen Kapitalisten und ihren Anhang zu führen hatten: denn die waren kaum vorhanden. Sondern sie hatten ein politisches \ akuum zu besetzen. Die eigentlidte Oktoberrevolution, die Machtübernahme aer Bolsdiewiken, ging daher ohne größeres Blutvergießen vor sidt H).

Die Partei Das Instrument der Machtergreifung war die Bolschewistische Partei. Die taktische Richtigkeit der Leninschen Politik allein genügte nicht, die Oktoberrevolution durchzuführen, die Partei selbst mußte sich als stark und geschlossen genug erweisen, die Macht zu übernehmen und vor allen Dingen zu halten. Ihre Bedeutung bei der Lenkung und Revo-lutionierung war erheblich, auch wenn die späteren Verherrlichungen der „Rolle der Partei“ stark übertrieben sind. Es war der ungestüme Wille der Massen nach Veränderung, der letztlich zur Revolution führte, aber es war die Partei, die ihn ausnützte und ihm die Richtung gab. Mit Recht schreibt Trotzki: „Ohne eine leitende Organisation würde die Energie der Massen verfliegen wie Dampf, der nicht in einen Kolbenzylinder eingeschlossen ist. Die Bewegung erzeugt indes weder der Zylinder noch der Kolben, sondern der Dampf“ Das Ziel der bolschewistischen Organisation war von Anfang an, den „Dampf“ der Massen in die Richtung der Revolution zu lenken, zunächst der Revolution gegen den Zarismus, später zur sozialen Revolution. Diesem Revolutionsideal wurde die Organisationsform der Partei völlig untergeordnet. Eine schlagkräftige, zentralisierte und disziplinierte Kaderpartei, die im Stande ist, die Revolution vorzubereiten und zu leiten, ihr Ziel und Richtung zu geben — so stellten sich die Leninisten die Form und die Aufgaben der Partei vor.

Das entsprach keineswegs den ursprünglichen marxistischen Ansichten über den Aufbau und die Rolle der Partei. Schon im Kommunistischen Manifest erklärten Marx und Engels: „Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den anderen Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen“ Aus einem Hinweis Engels'in der Vorrede zum „Manifest“ von 1888 ergibt sich, daß Marx und Engels der Arbeiterbewegung keineswegs dogmatisch ihr Programm und erst recht nicht irgendwelche Organisationsformen aufzwingen wollten. Schon 1847 traten sie dem Bund der Kommunisten erst bei, als dieser ein völlig demokratisches Statut bekommen hatte. In der Vorstellung von Marx und Engels war die Partei die breiteste Zusammenfassung der ganzen Klasse.

Dagegen glaubten die Leninisten, um in Rußland die Revolution durchführen zu können, müsse in der Partei nur eine „Vorhut“ des Proletariats zusammengefaßt sein. Sie wollten eine straff organisierte Partei von „Berufsrevolutionären“ aufbauen. Lenin erklärte bereits 1902 in seiner Schrift „Was tun?“ daß „ 1. keine einzige revolutionäre Bewegung ohne eine stabile und die Kontinuität wahrende Führerorganisation Bestand haben kann; 2.

je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, um so dringender ist die Notwendigkeit einer solchen Organisation und um so fester muß diese Organisation sein . . . 3. eine solche Organisation muß hauptsächlich aus Leuten bestehen, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen; 4. je mehr wir die Mitgliedschaft einer solchen Organisation einengen . . . um so schwieriger wird es in einem absolutistischen Lande sein, eine solche Organisation , abzufangen und 5. um so breiter wird der Kreis der Personen aus der Arbeiterklasse wie aus den übrigen Gesellschaftsklassen sein, die die Möglichkeit haben werden, an der Bewegung teilzunehmen und sich in ihr aktiv zu betätigen“

Durch das Prinzip des „demokratischen Zentralismus“ sollte ein Höchstmaß an Disziplin, Schlagkraft und Aktivität erreicht werden.

Der Zentralismus, der in jeder Frage politischen oder organisatorischen Charakters, der höheren Parteiinstanz das Eingreifen und die Entscheidungsgewalt gegenüber den unteren Parteieinheiten gibt, sollte (außer in Zeiten strengster Illegalität) mit der Parteidemokratie, den freien Wahlen von unten nach oben und der Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit vereinbart werden. Die einheitliche, straffe zentralistische Leitung der Partei und die eiserne Disziplin, gekoppelt mit der Entfaltung der politischen Initiative würde bei der Durchführung von Beschlüssen ein Höchstmaß an Kampfkraft gewährleisten. Da nach der Auffassung Lenins „sozialistisches Bewußtsein“ nur von außen ins Proletariat hineingetragen werden konnte, gewannen die „Berufsrevolutionäre“

eine zentrale Bedeutung. Seit der Spaltung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands auf dem II. Parteitag (1903) versuchten Lenin und seine Anhänger eben eine solche Partei aufzubauen. Dabei war die Spaltung gerade wegen des Organisations-Prinzips erfolgt.

Lenin erklärte:

„Wir bemühten uns zu beweisen, daß man den Begriff des Parteimitglieds einengen müsse, um die wirklich Arbeitenden von den Schwätzern zu trennen, um das organisatorische Chaos zu beseitigen, um mit dem Unsinn und Unfug aufzuräumen, daß es Organisationen geben könne, die zwar aus Mitgliedern bestehen, aber keine Parteiorganisationen sind“ 18).

Für Lenin war es die wichtigste Aufgabe, „dem ZK eine wirkliche Kontrolle in die Hand zu geben. Unsere Aufgabe ist es, die Festigkeit, die Standhaftigkeit, die Reinheit unserer Partei zu wahren“ Diese Vorstellung von der Partei, die in der Praxis mehr oder weniger verwirklicht wurde, ist nicht nur aus der russischen Illegalität zu erklären, sondern aus der Leninschen Ansicht, daß nur Teile der Arbeiterklasse, die „Vorhut“ für die Revolution zu organisieren sei. Die Diskussion ging damals um die Frage, ob sich das politische Bewußtsein der Massen von selbst, aus ihren „ökonomischen Verhältnissen“ entwickelt oder ob der Druck der „bürgerlichen Verhältnisse“ nicht auch das Bewußtsein beherrscht, „sozialistisches Bewußtsein“ also von außen hineingetragen werden muß. Lenin war von letzterem überzeugt. Nach seiner Ansicht sollte die Partei, d. h. die „Berufsrevolutionäre“ nicht nur das sozialistische Bewußtsein in die Massen „hineintragen“, sondern durch die feste Geschlossenheit der Partei, ihre einheitliche Willensbildung und Disziplin, selbst vor dem Druck der bürgerlichen Ideologie bewahrt bleiben.

Obwohl natürlich auch Lenin für die gesamte Parteiarbeit die Mittel der Propaganda und nicht des Zwanges vorsah, stieß er auf heftige Ablehnung anderer radikaler Marxisten. So schrieb Rosa Luxemburg:

„Der von Lenin befürwortete Llltra-Zentralismus scheint uns aber nicht vom positiven, schöpferisdten, sondern vom sterilen Nachtwächtergeist getragen zu sein. Sein Gedankengang ist hauptsächlich auf die Kontrolle der Parteitätigkeit und nicht auf ihre Befruchtung, auf die Einengung und nicht auf die Entfaltung, auf die Sdtuhriegelung und nicht auf die Zusammenziehung der Bewegung zugesdtnitten“ 20).

Für die Leninisten waren solche Einwände ohne Belang. Für sie hatte die Partei nur einen Sinn, wenn sie so aufgebaut war, daß sie das gesteckte Ziel erreichen konnte: . gebt uns eine Organisation von Revolutionären und wir werden Rußland aus den Angeln heben“

So wurde die Partei zum Mittel des Umsturzes, der festen Entschlossenheit, die Revolution zu gewinnen.

„. . . die Bolsdtewiki . . . haben dem Volk nidit nur Land und Frieden versprodten, wie waren auch aktiv, kurz entsdilossen, real hödist real. Lind darum mußte die Oktoberrevolution die Februarrevolution ablösen, nicht nur als eine mechanische, sondern auch als psychologische Notwendigkeit“

Die Partei war nicht nur das Mittel der Machtergreifung, durch ihren strukturellen Aufbau konnte sie die Macht auch halten.

„Wenn man bis zum Sdduß gerecht bleiben will, so muß man die übermenschliche Energie, Entschlossenheit, Organisiertheit und Disziplin der Kommunisten anerkennen. Während des ganzen Bürgerkriegs war die gesamte Partei im Kriegszustand und erfüllte mit Ehre ihre Aufgabe.

Auf jeden Ruf der Spitzen setzte sich sofort die ganze Organisation in Bewegung und fast immer funktionierte der Mechanismus ohne Stockung mit masdiinenartiger Präzision“ 23).

Doch mit der „maschinenartigen Präzision“ wurde nicht nur der Sieg gesichert, durch die Form der Partei war zumindest die potentielle Gefahr einer absolutistischen Ausübung der Macht gegeben — und diese Gefahr mußte um so größer sein, je weniger innerparteiliche Demokratie vorhanden war. Damit mußte aber das Mittel der Machtergreifung, die Partei, selbst auf die Zielvorstellung abfärben.

II. Die Leninistische Zielvorstellung

Die Zielvorstellung des Bolschewismus war „die radikalste und entschlossenste Fassung der sozialistischen Forderung“ Nach der Darstellung Lenins war die bolschewistische Theorie konsequenter Marxismus, erstrebte die Wiederherstellung der wahren Marxschen Lehre. Entsprechend war das Endziel der Leninisten der Sozialismus und der bedeutet:

Aufhebung jeder Form einer Herrschaft von Menschen über Menschen durch Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung und keine Unterdrückung gibt; höhere Produktivität der Arbeit als in allen vorhergehenden Gesellschaftsformationen, die die menschlichen Bedürfnisse befriedigen kann und die Armut ausschließt.

Die Produktionsmittel sind gesellschaftliches Eigentum, die Produktion wird zur Deckung der Bedürfnisse geplant; Entwicklung und Entfaltung aller Kräfte des Individuums in einer freien Gesellschaft.

Unterdrückung, Ausbeutung und Klassengesellschaft solle durch eine Gemeinschaft ersetzt werden, in der die Selbstentfremdung des Menschen überwunden wird.

„Bei dieser KoiunruHistiscken Gesellschaftsordining sitzen die Menscltett einander nicht auf dem Nacken. Da kennt man keine Reichen und Emporkömmlinge, keine Vorgesetzten und Untergebene; da wird die Gesellschaft nicht in Klassen eingeteilt, von denen die eine über die andere regiert. Und gibt es einmal keine Klassen mehr, so heißt das, daß es auch keine verschiedenen Sorten von Menschen gibt (arme und reiche), die gegeneinander die Zähne fletschen. Da hört infolgedessen auch eine solche Organisation wie der Staat auf, denn es gibt ja keine herrschenden Klassen mehr, die einer besonderen Organisation bedurften, um ihre Klassengegner im Zaume zu halten. So fällt auch die Verwaltung der Menschen und die Gewalt des Menschen über den Menschen weg; es bleibt nur noch eine Verwaltung der Dinge und der Maschinen und die Gewalt der menschlichen Gesellsclraft über die Natur. Das menschliche Geschlecht ist nicht mehr in verschiedene, feindliche Lager geteilt; durch gemeinsame Arbeit und gemeinsamen Kampf gegen die äußeren Naturkräfte ist es geeinigt. Die Grenzpfähle sind geschleift.

Die einzelnen Vaterländer sind aufgehoben"

Diese Zielvorstellung wurde nicht als Utopie, sondern — auf Grund des „historischen Materialismus“ — als wissenschaftliche Anschauung betrachtet. Für den Leninismus war die Epoche der Umwandlung des Kapitalismus in den Sozialismus nicht mehr ein fernes Ziel, sondern „Gegenwartsaufgabe“. Damit wurden aber die Fragen des Weges und der Mittel immer vorrangiger und die Zielvorstellungen selbst gerieten in den Hintergrund. Die Untersuchung der Übergangsgesellschaft schien den Leninisten aktuell und Lenin versuchte kurz vor der Oktoberrevolution (besonders in seiner Schrift „Staat und Revolution") die Prinzipien dieser „Übergangsgesellschaft“ festzuhalten. Der Staat, in erster Linie ein Instrument „zur Niederhaltung der unterdrückten Klasse“, erhält nach Lenin neue Funktionen: „Der Übergang von der kapitalistischen Gesellschaft . . . zur kommunistischen Gesellschaft ist unmöglich ohne eine . politische Übergangsperiode' und der Staat in dieser Periode kann nur die revolutionäre Diktatur des Proletariats sein . . . Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsame Niederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, das heißt ihre Ausschließung von der Demokratie — diese Modifizierung erfährt die Demokratie bei ihrem Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus . . . Erst in der kommunistischen Gesellsdtaft . . . hört der Staat auf zu bestehen . . . wenn die Ausbeutung fehlt, wenn nichts vorhanden ist, was sie (die Mensrdten) empört, zu Protesten und Auflehnung herausfordert, was die Notwendigkeit der Niederhaltung schafft"

Dabei stellte Lenin fest, daß schon beim „Übergang“ der „alte bürokratische Apparat" zerschlagen werden muß. Als die geeignete Form der Diktatur des Proletariats sahen die Leninisten dabei die Sowjets, d. h. die Räte an, welche die legislative und exekutive Macht besitzen und bei indirekter Wahl jederzeit wählbar und absetzbar sind.

„Das Programm unserer Partei ist das Programm der proletarischen Diktatur“ kennzeichnete Bucharin diese Idee. Es war gewissermaßen ein sozialistisches Sendungsbewußtsein, das die Leninisten nach Rußland hineintrugen, doch es waren weniger die sozialistischen Vorstellungen von der Überwindung der Selbstentfremdung des Menschen als die der Diktatur des Proletariats, d. h. weniger die Vorstellung vom Ziel als die vom Übergang zu diesem Ziel.

Die theoretische Vorstellung von der Diktatur des Proletariats wurde ergänzt durch die Ansicht, daß die Veränderungen der Eigentumsform der wesentliche Schritt zum Libergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung sei. Die Engels’sche Definition von 1847 wurde von den Leninisten wörtlich aufgefaßt:

„Die Abschaffung des Privateigentums ist sogar die kürzeste und bezeichnendste Zusammenfassung der aus der Entwicklung der Industrie notwendig hervorgehenden Umgestaltung der gesamten Gesellschaftsordnung und wird daher mit Recht von den Kommunisten als Hauptforderung hervorgehoben"

Die Notwendigkeit der Revolution wurde als Notwendigkeit der Machtablösung der alten Klassen angesehen — in erster Linie um die Wirtschaftsordnung zu ändern

„Die Bolschewiken . . . hatten nun in den kollektivistischen Theorien des Sozialismus deren ideelle Perspektiven geflissentlich ignoriert; sie ließen alles, was in den marxistischen Lehren über die nüchterne Zwed^mäßigkeit hinausging unberücksichtigt und machten sidr vom Sozialismus nur solche Gedanken von der ökonomischen Kollektivität zu eigen, in welchen sie die . . . Besitzergreifung der Welt durch die früher Entrechteten erblickten" 30).

Die Weltrevolution

Marx und Engels waren überzeugt, die sozialistische Revolution beginne in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern. Auch Lenin war nie der Meinung, in einem rückständigen Land wie Rußland sei der „Sozialismus“ isoliert zu errichten. „Rußland ist ein Bauernland, eines der rückständigsten europäischen Länder. Der Sozialismus kann dort nicht sofort und unmittelbar siegen“

Aber Lenin gelangte zu der Auffassung, die soziale Revolution könnte in Rußland beginnen. Da nach Lenin im Imperialismus „Weltwirtschaft“ besteht, die Welt zu einer Einheit zusammengeschweißt ist, wird die sozialistische Revolution nicht nur für einige fortgeschrittene Länder, sondern im Weltmaßstab aktuell. Die Entwicklung läuft nach Leninscher Auffassung „in der Richtung auf einen einzigen, alle Unternehmungen und Staaten ausnahmslos umfassenden Welttrust“, doch werde der Imperialismus „unvermeidlich zusammenbrechen“, ehe es zu dieser „ultra-imperialistischen Weltvereinigung" komme Für Lenin bricht dabei die Revolution nicht (wie Marx glaubte) im kapitalistisch entwickeltsten Lande aus, sondern „im schwächsten Kettenglied“. Nicht dort, wo die Industrie am höchsten entwickelt ist, sondern dort, wo die gesellschaftlichen Widersprüche am höchsten entwickelt sind, wo aber gleichzeitig die „Kette des Imperialismus" am schwächsten ist, sind für Lenin die Bedingungen einer sozialistischen Revolution gegeben.

Während des Kriegs und nach dem Ausbruch der Februarrevolution in Rußland sah Lenin die Möglichkeit „unsere Revolution in den Prolog der sozialistischen Weltrevolution zu verwandeln“ Damit näherte sich der Leninismus 1917 der Theorie der „permanenten Revolution“ Trotzkis, der bereits 1905 in Rußland den Übergang der bürgerlichen Revolution in die proletarische Revolution als möglichen Beginn der Weltrevolution angesehen hatte „In dieser . bürgerlichen'Revolution ohne revolutionäres Bürgertum wird das Proletariat durch den inneren Gang der Dinge zu der Führerschaft über die Bauernschaft und zu dem Kampfe um die Staatsgewalt getrieben“ Die russische Revolution wurde damit als ein Teil der Weltrevolution gesehen, welche eine sozialistische Umgestaltung auch im rückständigen Rußland ermöglichen konnte. Diesem Gedanken näherte sich Lenin schon 1915 als er schrieb:

„Der imperialistische Krieg hat die revolutionäre Krise in Ritflland, die Krise auf dein Boden der bürgerlich-demokratischen Revolution, mit der wachsenden, proletarischen, sozialistischen Revolution im Westen verbunden. Diese Verbindung ist derart unmittelbar, daß keinerlei Einzellösung der revolutionären Aufgaben in diesem oder jenem Lande möglich ist: die bürgerlidre demokratische Revolution in Rußland ist heute schon nicht mehr nur der Prolog, sondern ein unzertrennlicher Bestandteil der sozialistischen Revolution im Westen"

Das war eine Seite der Leninschen Theorie, die eine „sozialistische Revolution" im zurückgebliebenen Rußland auch mit marxistischen Kategorien erklärlich macht. Die andere Seite war die Frage, wie das rückständige Rußland aus seiner Barbarei herausgeführt werden könne, die Überlegung, ob das überhaupt über den klassischen Weg des Kapitalismus möglich sei.

Die Überwindung der Rückständigkeit

Während die Menschewiki, sich auf Marx berufend, erklärten, daß kein Land eine historische Epoche überspringen könne, behaupteten die Bolschewiki, daß es unmöglich sei, auf dem klassischen Wege des Kapitalismus die Rückständigkeit Rußlands zu überwinden und das Niveau Westeuropas oder Amerikas einzuholen. Der langwierige Weg einer „ursprünglichen Akkumulation“ schied — ohne Kolonialbesitz — faktisch aus. Es blieb nur die Möglichkeit vom Ausland Kapital zu bekommen und sich damit in Abhängigkeit zu begeben (im Vorkriegs-Rußland war das bereits Wirklichkeit, 1912 z. B. waren 66 °/o der Metallurgie in ausländischen Händen). Für Lenin war die „Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen“ ohnedies ein Merkmal des Imperialismus. Aus dieser Perspektive war die Rückständigkeit Rußlands nicht anders zu beseitigen als durch die Machtergreifung In ihrer Ansicht wurden die Leninisten vor allem durch den Krieg und die angenommene „Ausweglosigkeit“ des Kapitalismus bestärkt. Nach der Revolution schrieb Lenin über das Argument, Rußland sei für den Sozialismus doch noch gar nicht reif:

„Und niemand kommt es in den Sinn, sich zu fragen, aber konnte denn nidtt ein Volk, das eine revolutionäre Situation vorfand, . . . konnte es sich da nicht unter dem Eindruck der Ausweglosigkeit seiner Lage in den Kampf stürzen, der ihm dodt immerhin irgendwelche Chancen . . . eines weiteren Fortsdiritts der Zivilisation bot? . . . Wenn zur Errichtung des Sozialismus ein bestimmtes Niveau der Kultur erforderlich ist . . . warum sollten wir dann nicht zunächst mit der Eroberung der Voraussetzungen für dieses bestimmte Niveau auf revolutionärem Wege anfangen und dann, auf der Grundlage der Arbeiter-und Bauernmadit und der Räteordnung, uns schon aufmachen, um die andern Völker einzuholen“

Die Leninisten gingen von der Auffassung aus, die Arbeiter müßten die Revolution durchführen und (um ihre Macht zu festigen, das Land vor wirtschaftlichem Chaos zu bewahren) eben gleich die ersten Schritte zu einer sozialistischen Transformation gehen. Nach ihrer Meinung wäre Rußland einfach zu einer Beute des ausländischen Kapitals geworden, das bestimmt nicht , reifer'und nicht berufener ist, „das zerrüttete Land im Interesse seiner Volksmassen zu . ordnen'als das junge, aber energische Proletariat“

Diese offizielle Darstellung machte die leninistische Erklärung von einer „sozialistischen Revolution“ in einem rückständigen Rußland verständlich, wenn man sie im Zusammenhang mit der These der Welt-revolution sieht, aus der gefolgert wurde:

„Die Notwendigkeit der kommunistischen Umwälzung wird vor allem dadurch hervorgerufen, daß Rußland allzusehr in das System der Weltwirtschaft hineingezwängt ist. Und wenn gefragt wird, wie denn Rußland zur kommunistischen Gesellschaftsordnung übergehen könne, da es doch ein zurüdtgebliebenes Land sei, so muß diese Frage vor allem mit dem Hinweis auf die internationale Bedeutung dieser Revolution beantwortet werden. Die Revolution des Proletariats kann jetzt nur eine W e 11 r e v o l u t i o n sein . . . und in dieser Richtung entwickelt sie sich auch“

III. Die Ergebnisse der Revolution

„Vor der Machtergreifung hatten die Bolschewiki dem russischen Volk Freiheit und Land, Frieden und Brot versprochen. Sie gingen sofort daran, ihre Versprechungen zu erfüllen. Die bolschewistische Regierung beseitigte die alten Behörden und Offiziere und gab überall die ausübende Gewalt den Räten. So sollte die Freiheit verwirklidtt werden. Die neue Regierung setzte die Arbeiterkontrolle über die Betriebe in Kraft, um die Produktion wieder zu beleben und so die Städte mit Lebensmitteln und dem übrigen Bedarf zu versorgen. Sie bot den feindlichen Mächten Frieden an, und sie ermächtigte die Bauern, alles Land den Gutsbesitzern fortzunehmen" 42).

Mit diesen Maßnahmen wollte die Lenin-Regierung nicht nur ihre taktischen Versprechungen einlösen, mit denen sie an die Macht ge-langt war, sondern zugleich den Übergang zu einer sozialistischen Umwälzung anstreben.

Die ersten Dekrete befaßten sich mit „Grund und Boden" (Nationalisierung des Bodens und Aufteilung des Großgrundbesitzes) und der Forderung nach einem „Frieden ohne Annexionen fremder Gebietsteile ohne die gewaltsame Angliederung fremder Volksstämme und ohne Kontributionen“

In diese Richtung wiesen auch die übrigen Revolutions-Gesetze. Am 16. November wurde der 8-Stundentag eingeführt und die Jugendarbeit verboten; am 25. November alle Ränge und Stände für abgeschafft erklärt und damit „ständische Vorrechte und Beschränkungen . . . aufgehoben“ Am 29. November trat das wichtige Dekret „Über die Arbeiterkontrolle“ in Kraft, das in allen Wirtschaftszweigen, die Lohnarbeiter beschäftigen „die Arbeiterkontrolle über Produktion, Kauf und Verkauf von Erzeugnisse und Rohmaterialien, über ihre Aufbewahrung sowie über die finanzielle Seite des Unternehmens" einführte. „Die Arbeiterkontrolle wird ausgeübt von allen Arbeitern des betreffenden Unternehmens durch ihre gewählten Organe“ Örtliche und zentrale Räte der Arbeiterkontrolle wurden gebildet und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet. Im Dezember wurden die Banken verstaatlicht. „Alle Banken werden zum Staatsmonopol erklärt . . . die Interessen der kleinen Sparer werden vollständig garantiert,“ verfügte die Sowjet-Regierung.

„Die Revolution schaffte sofort das Schulgeld ab, der Staat übernahm Beköstigung und Bekleidung der Schüler und gab ihnen Lehrbücher umsonst“

Das war die allgemeine Linie der Politik nach der Revolution, die keine sofortige Sozialisierung bringen sollte, wohl aber die Richtung einer sozialistischen Transformation einschlug. Die Revolution ging im weiteren Verlauf jedoch über diese Vorstellungen hinaus. Es blieb nicht bei der Arbeiterkontrolle, sondern es kam zur Nationalisierung der Industrie. „Denn die bewaffneten, über ihren Sieg begeisterten Arbeiter waren in den Schranken einer solch maßvollen Reform nicht zu halten.

Sondern sie jagten überall die Unternehmer fort und bemächtigten sich der Betriebe“ Der Staat unter Führung der Kommunistischen Partei griff selbst zur Nationalisierung, um den ständigen Niedergang der Produktion aufzuhalten War bis Mai 1918 noch kein ganzer Industriezweig nationalisiert, so wurden durch Dekret vom Juni 1918 alle Großbetriebe mit über 1 Million Rubel Kapital verstaatlicht und im November 1920 waren alle Betriebe mit mehr als fünf Beschäftigten nationalisiert.

Das war keineswegs das einzige Beispiel der bolschewistischen Praxis, in der die leninistische Theorie durch die Macht der Verhältnisse korrigiert wurde. Sehr rasch zeigte sich, (besonders weil die Weltrevolution im erwarteten Zeitpunkt ausblieb) eine ungeheure Diskrepanz zwischen den leninistischen Zielvorstellungen und realen Möglichkeiten von Wirtschaft, Politik und Kultur. Die russische Rückständigkeit, die Isolierung Rußlands und der Jahre dauernde Bürger-und Interventionskrieg prägten die Praxis des Leninismus. Beobachter der verschiedensten politischen Ansichten waren sich darüber einig, daß die Kommunisten eine völlig zerrüttete Wirtschaft in einem ohnehin rückständigen Land übernahmen. Schon 1918 war bei Steinkohle ein Fehlbetrag von 78%, bei Rohmetallen von 8 8%, bei Webwaren von 50% usw. festzustellen.

Die Arbeitsproduktivität betrug nur noch ein Drittel der sowieso niedrigen Vorkriegs-Produktivität. Im für Rußland entscheidenden Donezbecken war die Kohleförderung auf 1/6 gesunken „Die Hinterlassenschaft des Zarismus und der kurzlebigen Interimsregierung war ein in jeder Hinsicht zerrüttetes Land“ Noch 1921 litt Rußland unter diesen Auswirkungen, es war „dergroße Selbstausverkauf. Nichts, nichts Neues“

Durch Mißernten nahm die Hungerkatastrophe unaussprechliche Formen an. Der dem Regime durchaus nicht feindlich gegenüberstehende Däne Kirkeby schrieb wenige Jahre später von einem Museumsbesuch, in dem Andenken über den Kannibalismus gezeigt wurden:

„ . . . hier sind Blitzlichtaufnahmen von den unbegrabenen Leichenmassen der Friedhöfe, die den Rekord der Schlachtfelder des Weltkrieges schlagen, hier sind Gruppen von Menschenfressern, brave Bauernfamilien, umringt von ihrer zahlreidten Kinderschar, von der man einträchtig ein paar verzehrt hat, Kinder die ihre kleineren Geschwister geschlachtet und gegessen haben, eine Mörderbande zwischen einem Dutzend zerlegter, für die Wurstfabrikation bestimmter Leichen . . .“ 53).

Die Produktion der Betriebe mit mehr als 16 Arbeitern sank im Jahre 1920 auf 18% gegenüber 1913, die Roheisenerzeugung betrug 1920 noch 2, 4% der Produktion von 191 3

In diesem Chaos versuchten die Bolschewiki natürlicherweise die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen, besonders nachdem der Bürgerkrieg nicht mehr alle Kräfte beanspruchte. Dies sollte nun durch die „persönliche Leitung der Betriebe“ erreicht werden. Damit war aber die erste Einschränkung der Arbeiterselbstverwaltung gegeben. Auf dem IX. Parteitag (1920) wurde bereits gefordert „die Verwaltung der Industrie dem Prinzip der Individual-Leistung anzunähern“ Im März 1920 lehnte die kommunistische Fraktion der Gewerkschaft (unter Leitung Tomskis) die Individual-Leitung noch ab, doch kurze Zeit später setzte sich diese Form durch. Die Einschränkung der Arbeiterkontrolle war ein weiterer Schritt, der die kommunistische Partei von ihren Prinzipien wegführte. Audi die Diktatur des Proletariats (das in Rußland eine Minderheit bildete), die durch die Sowjets, die Räte, verwirklicht werden sollte, veränderte sich in der Praxis. Nach der Verfassung von 1918 stand diesen Räten zwar alle Macht zu: „Die russische Republik ist eine freie sozialistische Gesellschaft aller Werktätigen Rufllands. Die ganze Macht innerhalb der Grenzen der RSFSR gehört der gesamten werktätigen Bevölkerung des Landes, die in Stadt-und Dorfsowjets vereinigt ist. Die oberste Gewalt gehört in der RSFSR dem Allrussischen Kongreß der Sowjets“ Voraussetzung zu einem demokratischen Rätesystem waren natürlich freie Wahlen, eine Auswahl zwischen verschiedenen Kandidaten und die Möglichkeit verschiedener Parteien, durch eine eigene Presse und freie Versammlungen ihren Standpunkt darzulegen. Llnter den Verhältnissen des Bürgerkriegs schwand die Möglichkeit der freien Kandidatenwahl. Zunächst wurden die bürgerlichen Parteien als gegenrevolutionär verboten. Am 14. Juni 1918 wurden die Menschewiki und Sozialrevolutionäre aus den Sowjets ausgeschlossen, so daß 1918 nur zwei legale Sowjet-Parteien, Bolschewiki und linke Sozialrevolutionäre, übrigblieben, bis auch die letzteren nach ihren Aufstandsversuchen ausgebootet wurden Die Sowjets wurden immer mehr zu Instrumenten der bolschewistischen Partei, die in ihnen die Mehrheit besaßen, statt der Sowjets herrschte so die kommunistische Partei. Schon 1919 erwies sich, daß die zentrale Macht von einer kleinen Schar bolschewistischer Führer ausgeübt wurde, während die Partei das Land beherrschte. Auf dem VIII. Parteitag 1919 sagte Lenin: „Wenn einmal der künftige Historiker die Daten darüber zusammenstellen wird weldre Gruppen während dieser siebzehn Monate in Rußland regiert haben, wieviel hunderte oder tausende Menschen die ganze Arbeit, die ganze unglaubliche Last der Regierung des Landes getragen haben, wird niemand glauben wollen, daß man dies mit einer so verschwindend kleinen Zahl von Kräften erreichen konnte. Diese Zahl war deshalb so verschwindend klein, weil es in Rußland nur eine kleine Zahl verständiger, gebildeter, befähigter politischer Führer gab“ Wie in der gesamten Politik wurde die bolschewistische Führung auch hier von der Wirklichkeit mehr gedrängt, als sie selbst freier Herr ihrer Entscheidungen war. Trotzki rechtfertigte das später: „Was das Verbot der anderen Sowjetparteien betrifft, so entsprang es jedenfalls nicht aus der . Theorie“ des Bolsdnewismus, sondern war eine Maßnahme zum Schutz der Diktatur in einem rückständigen und erschöpften, von allen Seiten von Feinden umgebenen Land. Den Bolschewiki war es von Anfang an klar, daß diese Maßnahmen, die später durch das Verbot von Fraktionen innerhalb der herrschenden Partei selbst ergänzt wurde, eine gewaltige Gefahr ankündigte. Jedoch die Quelle der Gefahr lag nicht in der Doktrin oder Taktik, sondern in der materiellen Schwäche der Diktatur, in den Schwierigkeiten der inneren und der Weltlage"

Als der Bürgerkrieg beendigt war, hatte der Bolschewismus gesiegt, aber der Sieg war erkauft durch das Aufgeben vieler theoretischer Vorstellungen und Errungenschaften der Revolution. Statt der allgemeinen Volksbewaffnung und der Forderung nach Abschaffung der Armee, war eine straffe und disziplinierte Rote Armee aufgestellt worden, die sogar die alten Offiziere übernahm Die Polizei sollte ihren politischen Charakter verlieren, statt dessen war zur Bekämpfung der Gegenrevolution die Tscheka, eine neue Geheimpolizei mit großen Befugnissen, geschaffen worden. Die Konstituante, deren Einberufung die Bolschewiki vorher gefordert hatten, wurde auseinandergejagt, als sie nicht sofort die Ergebnisse der Oktoberrevolution bestätigte.

Der Bürgerkrieg hatte die bolschewistische Alleinherrschaft, eine rigorose Niederhaltung aller Gegner gebracht, auch wenn das zunächst nicht bedeutete, daß jede andere Meinung unterdrückt wurde. Auf dem dritten Gewerkschaftskongreß 1920 konnte z. B.der Führer der Menschewiki, Martow, noch das Korreferat halten Auf öffentlichen Kundgebungen konnten 1920 die Menschewiki-Führer ebenfalls noch sprechen

Die Praxis des Leninismus führte vor allem im Jahre 1921 zu entscheidenden Veränderungen. Auf dem X. Parteitag wurden die Fraktionen innerhalb der Kommunistischen Partei, dem einzigen politischen Forum des Lands, verboten; damit begann die Ausschaltung der letzten Reste von politischer Demokratie. 1921 war zugleich das Jahr, in dem der Kronstädter Aufstand die Unzufriedenheit breiter Massen mit der bolschewistischen Herrschaft widerspiegelte. Die Leninisten änderten daraufhin die Wirtschaftspolitik, führten mit der NEP ein bedingte Zulassung des Kapitalismus ein, und gaben mit diesem Rückzug dem Druck von unten nach

Zugleich hielten die Bolschewiki an der politischen Macht fest, zogen hier die Zügel fester an, weil sie noch immer allein die sozialistische Zukunft zu verkörpern glaubten und die Weltrevolution erwarteten.

Der Rückzug zur NEP sollte mit geschlossener Kraft vollzogen werden.

So war das Fraktionsverbot hier auch nur ein Rädchen der Politik — wobei eine Maßnahme die andere bedingte, und sich die Praxis immer weiter von den theoretischen Vorstellungen entfernte. Die sich auftürmenden Schwierigkeiten konnten den Glauben der Kommunisten an das sozialistische Sendungsbewußtsein und an die Weltrevolution nicht erschüttern. Zum Aufbau der neuen Gesellschaft schienen alle Mittel gerechtfertigt. Die Führung sah die Sowjetunion immer noch als Vorhut der Weltrevolution und des Sozialismus an und wollte dieses Bollwerk als isolierte Festung verteidigen.

„Unsere Aufgabe, als wir als sozialistische, proletarische, komwunistische Partei an die Macht gelangten in einem Moment, da in den anderen Ländern noch die kapitalistische bürgerliche Herrschaft aufrecht erhalten blieb, — unsere nächste Aufgabe war, ich wiederhole es, diese Macht zu behaupten, diese Fackel des Sozialismus, damit sie weiterhin möglichst viele Funken für den stärker werdenden Brand der sozialistischen Revolution gebe"

Wachsender Terror und Zwang waren nicht allein aus diesem Bewußt sein zu erklären, sondern zunächst aus dem Druck der politischen Gegner.

Stand als Ziel die Erhaltung der Macht im Vordergrund, um der sozialistischen Revolution zu dienen, so mußte diese Macht mit allen Mitteln und um jeden Preis gehalten werden Aus dieser Anschauung resultierte die Tatsache, daß jeder Kritiker als Feind angesehen und bekämpft wurde. Die wirkliche Gegenrevolution um Koltschak und Denikin griff allerdings nicht weniger terroristisch zu. Schon im Dezember 1918 wurden von den Koltschak-Truppen alle linken Kräfte (z. B. neun sozialistische Mitglieder der Konstituante) erschossen

Der Fanatismus, die „Sehnsucht nach dem neuen Land“ wurde zur Unduldsamkeit. Damit wurden auch die theoretischen Äußerungen des Leninismus schroffer, selbst als nach dem Bürgerkrieg die unmittelbare Gefahr geringer geworden war. Im März L 922 drohte Lenin den Menschewiki an, mit ihnen wie mit den „schädlichsten Elementen der Weißgardisten umzuspringen“ Als einige Oppositionelle in der Kommunistischen Partei aus Furcht vor der wachsenden Bürokratisierung und der Erlahm ing des politischen Lebens Pressefreiheit forderten, verstieg sich Lenin zu der Behauptung, im isolierten Rußland wäre das Freiheit für die Gegenrevolution und sagte: „Wir wollen nicht Selbstmord begehen, und deshalb werden wir das nicht tun“ Die Betonung, das „historische Recht“ auf der Seite zu haben, wurde immer öfter verwandt

Die Praxis in Rußland zwischen 1921 und 1923 riß die Widersprüchlichkeit zwischen den vorgeblichen Zielen und Grundvorstellungen des Leninismus noch stärker auf. Als Lenin während seiner schweren Krankheit nach 1922 nur noch hin und wieder in die Politik eingriff, zeigten sich auch bei ihm tiefe Resignation und Pessimismus.

Das Dilemma schien unauflösbar. Während des Bürgerkriegs wurden die Freiheiten und Rechte der Massen immer stärker eingeschränkt, die Prinzipien und die Zielvorstellungen den politischen „Notwendigkeiten“ geopfert, um zu siegen. Nach dem Sieg und der Festigung der Macht zeigte sich jedoch, daß diese Einschränkungen ihre eigene Gesetzlichkeit hervorgebracht hatten und sich bedrohlich eine Herrschaft der Apparate abzeichnete.

Im März 1922 hatte Lenin erklärt:

„Wenn man Moskau nimmt — 4 700 verantwortliche Kommunisten — und dieses bürokratische Ungetüm, diesen Haufen, wer leitet da und wer wird geleitet? Ich zweifle sehr, ob man sagen könnte, daß die Kommunisten diesen Haufen leiten. Um die Wahrheit zu sagen: nicht sie sind die Leiter, sondern sie werden geleitet“ 71).

Lenin mußte das Anwachsen des Bürokratismus konstatieren, sogar zugeben, „unser Staat ist ein Staat mit bürokratischen Auswüchsen“ Er sprach vom „Tropfen im Meere, der sich Kommunistische Partei nennt“ erklärte, mit dem Staatsapparat,, steht es bei uns derart traurig, um nicht zu sagen abscheulich“ daß man überall „Wirrwar und Liederlichkeit" findet. Er forderte, daß unbedingt „die Aufgabe der Umgestaltung unseres Apparates, der garnichts taugt“ in Angriff genommen werden müsse.

Lenins Warnung vor Stalin, der Bürokratie und dem Apparat, die verzweifelten Versuche des Todkranken, mit untauglichen Mitteln (Erhöhung der Mitgliedszahl des ZK, Ausbau der Kontrollkommission usw.)

die gefährliche Entwicklung zu bremsen, zeigt, daß er zuletzt wohl doch die Gefahr erkannt hatte, die aus der stückweisen Opferung des Ziels an die Notwendigkeit der Politik erwachsen war.

Aber noch immer war der mögliche Übergang zu diesen Zielvorstellungen nicht völlig verbaut. Die Bolschewiki hatten nicht versucht, aus der Not eine Tugend zu machen, sie hatten es im großen und ganzen zugegeben, wenn sie von ihren Prinzipien abweichen mußten. Noch immer waren die alten Revolutionäre vonden sozialistischen Vorstellungen überzeugt und suchten Wege ihrer Verwirklichung.

Niemand hatte zu Beginn des Bürgerkriegs den Bolschewiki eine Chance gegeben Lind doch gingen sie aus der blutigen Auseinandersetzung siegreich hervor. Aber um welchen Preis!

Ihre treuesten Anhänger waren zu Tausenden gefallen, die Wirtschaft paralysiert, die Ideale verdrängt und eine neue Schicht, die Bürokratie, bemächtigte sich aller wichtigen Positionen.

Der Sieg der Bürokratie

Die Praxis des Leninismus bereitete durch die fast unüberwindliche Diskrepanz zwischen Zielvorstellungen und wirtschaftlichen und politischen Möglichkeiten einer neuen Schicht den Weg zur Macht — der Bürokratie. Die Herrschaft der Bürokratie, also die Herrschaft derjenigen, die vom Büro aus befehligen, kann nicht mit dem üblichen Bürokratismus, den „schlechten" Gewohnheiten der Büromenschen, gleichgesetzt werden. Es ist die Herrschaft einer neuen Oberschicht, die sich der Kontrolle der Massen entzogen hat. Lenin bezeichnete die Bürokratie als „den Massen entfremdete, über den Massen stehende privilegierte Personen" Im jungen Sowjetstaate waren es vor allem die Führungsspitzen und die Apparate von Partei, Staat, Wirtschaft, Armee und die politische Polizei, aus welcher sich die neue bürokratische Oberschicht rekrutierte.

Die Formen des Machtanstiegs waren recht mannigfaltig. Voraussetzung war der Niedergang der revolutionären Epoche, die Ermattung und Erschöpfung der Massen durch Entbehrung, Krieg, Hunger und Chaos und damit das Nachlassen von Bereitschaft und Fähigkeit, die formalen Möglichkeiten der Selbstbestimmung und Kontrolle der Apparate auszunutzen.

Die Tätigkeit der Massen kreiste fast ausschließlich um die Verbesserung der individuellen Lebenslage und das Beamtentum wurde zum bestimmenden Faktor des wirtschaftlichen Lebens. Überdies zählten die Arbeiter um 1922 nur noch 50 °/o der Vorkriegs-Arbeiterschaft Die Staatsbürokratie, die durch Nationalisierung der Industrie auch Einfluß auf die Wirtschaft erhielt und sich mit der Wirtschaftsbürokratie verschmolz, hatte bald gegenüber der übrigen Bevölkerung eigene soziologische und politische Interessen. Auch innerhalb der Partei verdrängten mit dem Abflauen der Revolution die Beamten und Bürokraten die Revolutionäre.

Es gelang der Bürokratie, die von der Revolution geschaffene Kontrolle, die ihr natürlich lästig war, nach und nach abzuschaffen. Ursprünglieh zur Niederhaltung der Gegenrevolution gedacht, wurde die Diktatur immer mehr gegen die Arbeiter selbst gerichtet. Mit ihrer Machtausweitung schuf sich die Bürokratie im hungernden Rußland auch wirtschaftliche Privilegien, was zur weiteren Verschärfung der Gegensätze führte.

Das Analphabetentum, das eine wirkliche Volkskontrolle über Staat und Wirtschaft illusorisch machte, bildete ebenfalls eine Grundlage des Aufstiegs der Bürokratie. Schon 1919 sah sich Lenin gezwungen, auf die Gefahr des Bürokratismus hinzuweisen, die das „niedrige Kulturniveau“

hervorruft

Noch mehr hat zweifellos der Mangel an Lebensgütern die Herausbildung der Bürokratie als besondere und später als herrschende Schicht beschleunigt. Grundlage des bürokratischen Kommandos ist die Armut an Verbrauchsgegenständen.

„Wenn genug Waren im Laden sind, können die Käufer kommen, wann sie wollen. Wenn die Waren knapp sind, müssen die Käufer Schlange stehen. Wenn die Schlange sehr lang wird, muß ein Polizist für Ordnung sorgen. Das ist der Ausgangspunkt für die Macht der Sowjetbürokratie. Sie „weiß“, wem zu geben, und wer zu warten hat. . . .

Während sie die Vorteile der Minderheit einführt und beschützt, schöpft sie selbstredend den Rahm für sich selber ab. Wer Güter verteilt ist noch nie zu kurz gekommen. So erwächst aus dem sozialen Bedürfnis ein Organ, das die gesellschaftlich notwendige Funktion weit überragt, zu einem selbständigen Faktor und damit zur Quelle großer Gefahren für den gesamten Organismus der Gesellsdiaft wird“

Wurde die Vormachtstellung der Bürokratie ursprünglich durch die Armut, Not und Rückständigkeit Rußlands geboren, so war sie doch mehr als eine bloße Widerspiegelung dieser Tendenzen. Die Bürokratie entwickelte sich zu einer besonderen sozialen Schicht mit eigenen sozialen Interessen: ihre politischen und materiellen Privilegien zu schützen. Der Apparat wurde nicht mehr von den Massen kontrolliert, wie es theoretisch vorgesehen war, der Apparat hatte sich verselbständigt und begann die Massen zu beherrschen. Die Bürokratie wuchs auch zahlenmäßig ständig. Schon unter Lenin hatte ein kritischer Beobachter festgestellt: „Die Zentralisierung des politischen und wirtschaftlichen Verwaltungsapparates gebiert eine maßlose, alle Begriffe überschreitende, jeder Kontrolle allmählich entschlüpfende Beamtenschaft“

Der Bürgerkrieg und die Versuche, das wirtschaftliche Chaos durch straffe Zentralisierung zu überwinden, hatte das Gewicht des Apparats vermehrt. Als in der Partei (die als Gegengewicht zum Staats-und Wirtschaftsapparat dienen sollte) der Apparat unter Stalin auch die innerparteiliche Demokratie beseitigte, war die Bürokratie fest an der Macht.

Mit dem Machtanstieg des Appartats unter Stalin wuchs die Bürokratie noch rascher. 1927 betrug sie 4 Millionen, während der ersten Fünfjahrespläne stieg sie auf 9 Millionen und umfaßte vor dem Krieg beinahe 14 Millionen Menschen“

Mit dem Sieg der Bürokratie war eine neue Oberschicht an die Stelle der durch die Revolution verdrängten alten herrschenden Klasse getreten. Die politischen und wirtschaftlichen Formen, welche die Oktoberrevolution als Übergang zum Sozialismus geschaffen hatte, wurden mit neuem Inhalt gefüllt oder verändert und eigneten sich so abgewandelt auch zur Herrschaft der Bürokratie.

Die nationalisierte Industrie wurde zum Machthebel der Bürokratie, nachdem Arbeiterkontrolle und Mitbestimmung ausgeschaltet waren. Die Sowjets, die schon zu Lenins Lebzeiten immer mehr ihre ursprüngliche Funktion verloren, wurden zu bürokratisch gegängelten Verwaltungsinstanzen. Der Zentralismus diente der hierarchisch aufgebauten Bürokratie bei ihrer Machtausübung. Die Industrialisierung, von der Bürokratie geleitet, gab dieser Bürokratie neue Machtmittel in die Hände.

Zwischen 1921 und 192 3 noch kaum sichtbar, nach 192 3 aber unverkennbar, wurde die Periode der leninistischen Praxis, die noch verschiedene Möglichkeiten offenließ, vom Stalinismus, der Herrschaft der Bürokratie abgelöst. Die völlige Entrechtung der Massen, die Privilegierung der Bürokratie, die Umwandlung der Partei, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die Veränderung der Ideologie usw. führte immer deutlicher und weiter von den sozialistischen Zielvorstellungen weg. Durch Ausschaltung der Arbeiterkontrollen, durch Erbrecht und Unterrichtsgesetzgebung und durch eine neue Ideologie versucbte die Bürokratie ihre Herrschaft zu stabilisieren. Zur Erhaltung der Macht genügten indes diese durchgeführten Maßnahmen und der gegen jeden Wider-stand angewandten Terror nicht.

Die Bürokratie, der Oktoberrevolution und ihren Forderungen nach Sozialismus entwachsen, mußte eine sozialistische Entwicklung versprechen und den Anschein erwecken, aus der Revolution rechtmäßig hervorgegangen zu sein, um auf diese Weise ihre Stellung gegenüber den Arbeitern zu festigen.

Der „Aufbau des Sozialismus"

Die historische Notwendigkeit, das rückständige Agrarland Rußland zu industrialisieren, zu zivilisieren und damit das Kulturniveau zu heben, war nicht nur eine theoretische Nahvorstellung des Leninismus, sondern wurde von allen Gruppen nach der Revolution anerkannt. Aber da die Industrialisierung und Überwindung der Rückständigkeit parallel mit dem Übergang zum Sozialismus verlaufen sollte, spielte der „Aufbau des Sozialismus“ bei allen Auseinandersetzungen eine nicht geringe Rolle.

Nach Überwindung des Bürgerkriegs trat ein immer stärkerer Glaube an die Technik und die Meisterung der Wirtschaft hervor. Eine fast mythische Rolle wurde der „amerikanischen Zivilisation“ zugeschrieben, die man nun nach Rußland verpflanzen wollte. Damit fand die Vorstellung vom „Sozialismus in einem Land“ in Rußland von dieser Warte aus den Boden vorbereitet.

Die erste theoretische Veränderung, die Stalin am Leninismus vollzog, und sein erster Auftritt mit einer eigenen Ideologie überhaupt war die These vom „Sozialismus in einem Land“. Dahinter steckte die Behauptung, Rußland könne den Sozialismus — später ging Stalin weiter und erklärte: auch die höhere Stufe, den Kommunismus — allein errichten. Lenin hatte zwar die Auffassung vertreten, die sozialistische Revo1 u t i o n könne in einem Land siegen, aber keineswegs der Sozialismus dort „vollendet“ werden. Schon am 8. November 1918 erklärte Lenin:

„Genossen, mit Beginn der Oktoberrevolution ist die Frage der Außenpolitik und der internationalen Beziehungen für uns die allerwichtigste Frage geworden . . . weil der volle Sieg der sozialistischen Revolution in einem Lande undenkbar ist, weil er die aktivste Zusammenarbeit mindestens einiger fortgeschrittener Länder erfordert, zu denen wir Rußland nicht zählen können“ 85).

Noch 1922 stellte Lenin dazu fest:

„Wir haben jedoch noch nicht einmal das Fundament der sozialistischen Ökonomik zu Ende geführt . . . wir haben stets die Abc-Wahrheiten des Marxismus verkündet und wiederholt, daß zum Sieg des Sozialismus die gemeinsamen Anstrengungen der Arbeiter mehrerer vorgeschrittener Länder notwendig sind“

Lenin meinte, es „ist absolut sicher, daß wir ohne die deutsche Revolution zugrunde gehen“

Selbst Stalin mußte 1924 noch zugeben:

„ . . . kann man den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erreichen ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder? Nein, das kann man nicht. . . . Zum endgültigen Siege des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion, genügen nidrt die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Rußland . . 88).

Erst Ende 1925 revidierte Stalin seine eigene frühere Haltung und behauptete, man könne und werde den Sozialismus in Rußland allein aufbauen.

Die Praxis des „Aufbau des Sozialismus in einem Lande“ bewies, daß Stalin damit den Leninismus keineswegs nur theoretisch revidiert hatte. Was unter Stalins Losung in Rußland entstand, war nicht der Sozialismus, das leninistische Zielbild. Rußland holte zwar seine wirtschaftliche Rückständigkeit auf, aber zugleich beseitigte die Herrschaft der neuen bürokratischen Kaste und ein totalitäres Staatsgebilde die politischen Grundlagen der Revolution.

Da Rußland unter dem Stalinismus aus einem rückständigen Agrarland zur zweitmächtigsten Industriemacht der Welt wurde, versuchte die stalinistische Führung diese Industrialisierung zugleich als Sozialismus auszugeben und behauptete, mit jeder neuen Fabrik und jeder mehr geförderten Tonne Stahl den sozialistischen Zielvorstellungen der Oktoberrevolution nähergekommen zu sein. Die Fünfjahrespläne, die seit 192 8 die sowjetische Wirtschaft umstülpten, haben angeblich den Sozialismus gebracht. Seit 1936 besteht offiziell die sozialistische Gesellschaftsordnung, die Sowjetunion befindet sich danach sogar auf dem Wege zur höheren, kommunistischen Ordnung.

Was erreichte die Industrialisierung in Rußland tatsächlich? Zunächst die Überwindung der wirtschaftlichen und technischen Rückständigkeit, der kulturellen Zurückgebliebenheit (Ausmerzung des Analphabetentums). Doch die Industrialisierung führte zu neuen Widersprüchen. 1928 hatte die Sowjetunion 4, 3 Millionen to Stahl produziert, 195 5 das Zehnfache, 45, 3 Millionen to Gegenüber der rasch wachsenden Schwerindustrie blieb die Konsumgüter-Industrie ungleich weit zurück — z. B. wurden 1928 103 Millionen Meter Wollgewebe produziert, 195 5 aber nicht viel mehr als das Doppelte, 251 Millionen Meter Die Landwirtschaft stagnierte, es gab 1928: 66, 8 Millionen Rinder, 1955: 67, 1 Millionen (die Zahl der Kühe ging sogar vor 3 3, 2 Millionen auf 29, 2 Millionen zurück Eine Folge der Industrialisierung war die soziologische Umwandlung des ehemaligen Agrarlandes. 1928 gab es in der UdSSR nur 17, 6% Arbeiter und Angestellte, 195 5 aber bereits 5 8, 3%, die Stadtbevölkerung stieg von 17, 9 % auf 43, 4 % Die Industrialisierung brachte trotz des ungeheuren Wachstums der Schwerindustrie für die Massen keine fühlbare Erleichterung des Lebens, da die Konsumgüterindustrie und besonders die Landwirtschaft, die für den Lebensstandard ausschlaggebend sind, weit zurückblieben. Noch mehr, die Industrialisierung wurde auf Kosten und zu Lasten der breiten Bevölkerungsschichten durchgeführt und verschlechterte die Lebenslage der Arbeiter. Der Reallohn der Arbeiter war 1953 fast um die Hälfte niedriger als 1928

Der technischen und kulturellen Revolution steht außerdem eine völlige Änderung des politischen und gesellschaftlichen Lebens gegenüber. Ein Teil der Vorstellungen der Revolution, die Überwindung der Rückständigkeit, ist auf Kosten der Preisgabe der sozialen Ideen erreicht worden. Das bedeutet die Unterdrückung der Massen durch eine neue Oberschicht.

Doch mit dem soziologischen Wandel geriet die bürokratische Herrschaftsform in einen immer größeren Widerspruch zur Wirklichkeit. Es war in der Mehrzahl nicht mehr der analphabetische Muschik, der unterdrückt und ausgebeutet wurde, sondern der qualifizierte Facharbeiter, der nicht nur lesen und schreiben kann, sondern die „moderne Technik beherrscht“ und der ein ganz anderes Selbstbewußtsein besitzt. Auf die Dauer gesehen konnte man diese neue Mehrheit der Bevölkerung nicht mit den primitiven stalinschen Herrschaftsmethoden unterdrücken.

Die Entwicklung unter dem Stalinismus vollzog die unausweichliche Überwindung der Rückständigkeit, aber sie vollzog sie durch die Bürokratie gehemmt und vergrößerte zugleich die Widersprüche des Systems.

Der Stalinismus

Die Periode der leninistischen Praxis war ein Übergangsstadium. Die Möglichkeit, die Ziele der Revolution zu verwirklichen, wurde durch den Rücklauf der Revolution, den Machtanstieg der Apparate, das wirtschaftliche Chaos, die mangelnde demokratische Tradition, die russische Isolierung, kurz, durch den Widerspruch zwischen Zielsetzung und den Möglichkeiten in Rußland immer geringer. Durch die allmähliche Machteroberung, bei der die Bürokratie jeden Widerstand erstickte, konnte sie Rußland auf einen anderen Weg bringen. Die seitherige Politik wurde im Interesse dieser herrschenden Bürokratie und unter ihren Zeichen durchgeführt. Der so entstandene Stalinismus unterscheidet sich grundsätzlich von der leninistischen Theorie, aber auch von der kurzen Epoche der leninistischen Praxis.

Der Stalinismus ist gekennzeichet durch die Herrschaft des Apparats, durch die wirtschaftlichen und politische Privilegierung der bürokratischen Oberschicht, durch große soziale Differenzierung, das Fehlen jeder ernsthaften Mitbestimmung der Arbeiter in Politik und Wirtschaft und im Betrieb, die völlige Unterordnung der Gewerkschaften unter den Staat, die Festsetzung von Löhnen und Normen durch den Staat und die Einmannherrschaft im Betrieb wie in der gesamten Wirtschaft. Die politische Seite des Stalinismus ist das Einparteiensystem, in dem die gesamte politische Macht in den Händen einer kleinen Parteispitze liegt, die vermittels des Apparats herrscht, bloße Scheinfunktionen der Volksvertretungen, Fehlen jeder politischen Freiheit und Diskussion in Staat und Partei, straffer Zentralismus, Beherrschung des Lebens durch die Geheimpolizei, chauvinistische Nationalitätenpolitik und eine neue Ideologie, welche die Herrschaft der Bürokratie verschleiern soll und im Personenkult gipfelt.

Stalin prägte zwar den Namen des Systems, das aus den Wandlungen der Oktoberrevolution erwuchs, aber noch mehr wurde er selbst von diesem System geprägt. Mit dem Machtanstieg und dem wachsenden Einfluß der Bürokratie, wuchs der Einfluß Stalins, der ein Mann des Apparats war und seit 1922 als Generalsekretär dem Parteiapparat vorstand. Diese Funktion war zunächst eine reine Hilfsfunktion zur Ausführung der Politik. Stalin war während und nach der Oktoberrevolution keineswegs der Mann, der „zusammen mit Lenin“ die Partei leitete und folglich als Lenins Nachfolger gelten konnte Doch wie gelangte Stalin, der damals nur eine zweitrangige Rolle in der Organisation spielte, zur Macht?

Stalin baute sich durch zähe Arbeit in der Organisations-und Personalpolitik schrittweise ein Machtsystem auf. Er war weder mit den Arbeitermassen noch mit der revolutionären Bewegung vertraut, aber der Apparat war sein Element. Als an die Stelle der politischen Auseinandersetzungen die Dekrete traten und als in der Partei und im Staat die Bedeutung des Apparates größer wurde, begannen die Beamten und Bürokraten überall die Revolutionäre zu verdrängen. Stalin stellte sich an die Spitze dieser Kräfte — er wurde Repräsentant der Bürokratie, mit deren Macht auch die seine wuchs, bis er „Führer“ Rußlands war.

Bezeichnend ist, daß Stalin, um zum Diktator aufzusteigen, vor Intrigen und Verrat nicht zurückschreckte. Obwohl Lenin in seinem „Testament“

vor Stalin gewarnt hatte, galt er als gehorsamer Schüler des Meisters und machte sich diesen Nimbus geschickt zu eigen.

Doch entscheidend für Stalins Machtaufstieg waren die gesellschaftlichen Veränderungen, die zum eigentlichen Stalinismus, zur Herrschaft der Bürokratie führten.

Diese Herrschaft der Bürokratie ruht im wesentlichen auf drei Säulen:

Der Partei-, Staats-und Wirtschaftsführung mit ihren Apparaten. Als Machtorgane stützten die Geheimpolizei und die Armee das System.

Der Parteiapparat dürfte heute bei über sieben Millionen Parteimitgliedern mehr als eine halbe Million Menschen umfassen. Es gibt z. Z. in der Sowjetunion 212 000 staatliche und 115 000 genossenschaftliche Industriebetriebe, das bedeutet cirka 650 000 Betriebsdirektoren und Stellvertreter. Hinzu kommen in über 5 000 Staatsgütern, 9 000 MTS und 87 000 Kolchosen mehr als 200 000 Vorsitzende und Stellvertreter. Rechnet man dazu die zentrale und lokale Wirtschaftsführung und Planungsleitung, die hohen Ingenieure, die Millionen Staats-und Verwaltungsangestellten, die Angehörigen der Geheimpolizei, das Offizierskorps usw. so sieht man eine Armee von mehreren Millionen Menschen, die in den Apparaten herrschen und als Bürokratie über die 200 Millionen Einwohner der Sowjetunion bestimmen.

Ihre Herrschaft wird auf recht differenzierte Art ausgeübt. Der direkte Terror richtet sich gegen jede aktive oppositionelle Strömung und jeden Versuch, ernsthaft Kritik zu üben. Fast periodische Säuberungswellen sollen außerdem jeden Gedanken eines Aufbegehrens in einer Flut von Angst und Schrecken ersticken, und sie vernichten auch jede potentielle Opposition. Gegenüber der breiten Masse wird die Methode der „Neutralisierung“ angewandt, d. h.der Versuch, sie durch ideologische Beeinflussung, von den wesentlichen politischen Fragen abzulenken, durch „Kritik und Selbstkritik" zweitrangige Probleme in den Mittelpunkt zu stellen, durch einen bewußt gezüchteten Nationalismus die gegnerische Stimmung in andere Bahnen zu lenken und durch langsame Hebung des Lebensstandards keine ernsthafte Gegnerschaft hervorzurufen. Das Monopol der Meinungsbildung und die Ideologie helfen nicht nur das System gegenüber den Massen abzusichern, sondern sie sollen auch die Oberschicht zusammenhalten und die Kader zur Leitung befähigen. Die Ideologie wird durch verschiedene Kanäle (allgemeinbildende Schulen, Universitäten, Schulung in den Massenorganisationen usw.) in die Massen geschleust. Die Parteifunktionäre werden auf Internatsschulen, im Parteilehrjahr und durch »theoretisches Seibstudium'ständig mit der Ideologie infiziert. Durch die Prinzipien der „Kaderarbeit“, d. h.der Auswahl und dem Einsatz nach Befähigung und Linientreue, der ständigen Kontrolle ihrer Arbeit und ihre ideologische „Qualifikation“ soll erreicht werden, daß der Parteiapparat, der führende Kern der Bürokratie, bedingungslos die Anweisungen der Führungsspitze durchführt und das System in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen, seine Macht zu erhalten.

IV. Die Wandlungen

Die Zielsetzung der Oktoberrevolution wird von der Führung des neuen Systems, des Stalinismus, auch heute noch sehr lautstark als die eigene ausgegeben. Nach wie vor wird in der Ideologie behauptet, daß die klassenlose Gesellschaft, der Kommunismus, das Ziel der . Partei'sei. Lim diese Behauptung glaubhaft erscheinen zu lassen, wird auch die alte Terminologie weiterhin angewendet.

Die Leninisten erklärten den Marxismus — den sie orthodox vertraten — als Theorie des Sozialismus, dessen Ziel die Abschaffung aller Verhältnisse ist, in denen Menschen durch Menschen ausgebeutet, unterdrückt und entrechtet werden können. Klassengesellschaft und Privilegien, Unterdrückung und Ausbeutung sollen durch eine klassenlose Gesellschaft ersetzt werden.

Durch die direkte Zielsetzung von der Machtübernahme und vor allen Dingen durch die Machtübernahme selbst, traten diese Vorstellangen im Leninismus in den Hintergrund. Im Stalinismus sind sie vollends beiseite geschoben worden und spielen höchstenfalls die Rolle eines verzierenden Ornaments der Ideologie. Noch mehr. Schon formal ist bei den Stalinisten Sozialismus keine humanistische Idee mehr, sondern eine mit Industrialisierung und Planerfüllung gleichgesetzte Wirtschaftsordnung. Die Bürokratie, erwachsen aus einem System, das die Abschaffung der Privilegien und möglichste Gleichheit auf seine Fahnen geschrieben hatte, schuf gerade neue Vorrechte und große soziale Ungleichheit. Ihre eigene Existenz als privilegierte Kaste, steht im krassen Widerspruch zu den Zielen der Revolution aber auch zur Theorie, auf die sie sich mit Lippenbekenntnissen beruft. Die Bürokratie ist gezwungen zu heucheln, wenn sie eine „Übereinstimmung“ ihres Systems mit dem Geist der Revolution „beweisen“ will.

Unter Lenin wurde nicht nur offen die Diktatur zugegeben, sondern auch mit derselben Offenheit Niederlagen eingestanden. Die Leninisten hielten sich an die Worte des Kommunistischen Manifests, die Kommunisten „verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen" Im Gegensatz dazu versucht der Stalinismus seine Ziele zu verheimlichen, seine Absichten zu verschleiern, durch „Tarnorganisationen" unter fremder Flagge zu segeln und Niederlagen in Siege umzudeuten. Ein Beispiel ist Lenins offenes Eingeständnis, die höhere Bezahlung für die Dienste von Spezialisten, wie man sie nach der Revolution wieder durchführen mußte, sei eine durch die Not hervorgerufene Abkehr von den theoretischen Vorstellungen und vom sozialistischen Ziel Dagegen erklärte Stalin, das Stachanow-System, das zu einer schroffen Differenzierung der Arbeiter und ihrer Lebenshaltung führte, bereite „den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus vor“

Ein typisches Beispiel stalinistischer Phraseologie findet sich in Stalins Bericht an den XVII. Parteitag (1934). Unter der Parole „Der Aufschwung der Landwirtschaft" mußte Stalin die katastrophale Verringerung des Viehbestandes durch die Kollektivierung zugeben, z. B. daß die Zahl der Pferde von 34 Millionen Stück (1929) auf 16, 6 Millionen, der Rinder von 68, 1 Millionen auf 38, 6 Millionen absanken

Schon Marx wies auf die allgemeinen Kennzeichen der Bürokratie „des Handelns, Grundsätze, Mechanisviius eines fixen, formellen fixer Anschauungen, Überlieferungen" hin

Wenn diese Bürokratie heute immer noch formal verkündet, ihr Endziel seien die Marxschen und Leninschen Vorstellungen, so handelt es sich um eine Floskel der Ideologie, die ohne Bezug zur praktischen Politik ist und der Anfeuerung der Kader und der Massen für die bürokratische Politik dienen soll. Die Gleichsetzung der mit barbarischen Mitteln in der Sowjetunion durchgeführten Industrialisierung mit einem angeblichen Aufbau des Sozialismus führte in der stalinistischen Ideologie zu einer Gleichsetzung von Sozialismus mit Rechtlosigkeit der Arbeiter, mit Privilegien für eine bürokratische Oberschicht.

„Unsere neue Sowjetverfassung legt die staatliche Form der Diktatur der Arbeiterklasse auf einer neuen Stufe ihrer Entwicklung fest, die bereits keine Übergangsperiode mehr, sondern die sozialistische Gesellschaft selbst ist."

Entgegen der Leninschen Theorie vom „Absterben“ des Staates (und natürlich auch der Partei) im „höheren“ Stadium, dem Kommunismus, wird von den stalinistischen Ideologen behauptet, als Bedingungen für den Aufbau des Kommunismus seien notwendig: eine „Staatsmacht“ wie sie in der Sowjetunion besteht; das „Bestehen einer geschlossenen einheitlichen Partei.“ Eine solche „Partei ist eben die Partei der Bolschewik:“. Damit sind angeblich alle Bedingungen für den Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus „in der LIdSSR vorhanden“.

Ursprünglich war aber über die neue Gesellschaftsordnung gesagt worden, sie sei eine „kameradschaftliche Arbeitsgenossenschaft“ aller Menschen der Gesellschaft, in deren Organisation die Ausbeutung vernichtet und die Klassenteilung aufgehoben sei.

„Man kann sich ja die Organisation der Produktion z. B. auf folgende Art vorstellen: eine kleine Kapitalistengruppe beherrscht alles, beherrscht es aber g e m e i n s c h a f t 1 i c h ; die Produktion ist organisiert, kein Kapitalist bekämpft den anderen . . . Hier gibt es zwar eine Organisation aber auch eine Ausbeutung einer Klasse durch die andere. Es gibt hier wohl ein Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, doch im Interesse bloß einer Klasse, der Ausbeuterklasse. Dar-um ist das kein Kommunismus, trotzdem hier eine Organisation der Produktion vorliegt . . . Unter dem Kommunismus wird es z. B. keine ständigen Fabriksverwalter geben oder Leute, die ihr Leben lang eine und dieselbe Arbeit verrichten.“

Die Stalinisten versuchen mit der Feststellung, daß es heute in der Sowjetunion keine Kapitalisten und Großgrundbesitzer mehr gibt, anscheinend logisch zu folgern, daß damit die Ausbeutung überhaupt aufgehoben sei.

Doch der staatliche Besitz an Produktionsmitteln allein reicht in keiner Weise aus, um die Gesellschaft im marxistischen Sinne als sozialistisch zu bezeichnen 0_ Während der Stalinismus in Wirklichkeit neben der Industrialisierung zugleich die Aufhebung aller Rechte der Arbeiter -

politische Gegenrevolution — und damit Entfernung vom Sozialismus bedeutet, setzte ihn die Ideologie mit Sozialismus gleich. Damit erweist sich der Ausgangspunkt der stalinistischen Ideologie als Verschleierung der Wirklichkeit, setzt Unterdrückung und Ausbeutung an die Stelle des Leninschen Ausgangspunktes zur Überwindung dieser Verhältnisse. Praktisch sieht das so aus, daß als Übergangsbedingung des Sozialismus zum Kommunismus die ... Stachanow-Bewegung bezeichnet und ein neues Arbeitsethos proklamiert wird, der auch die stumpfsinnigste Arbeit zur Sache „des Ruhms und der Ehre“ macht, um die Industrialisierung voranzutreiben. Das Schicksal des einzelnen Arbeiters wird nichtig gegenüber Norm und Planerfüllung. Das Leninsche Zielbild stützte sich aber auf Marx, der genau umgekehrt erklärte:

„Das Reich der Freiheit beginnt . . . erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußre Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört; es liegt also der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion . . . Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, . . . ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den, ihrer menschlichen Natur würdigsten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der Freiheit, das aber auf jenem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühn kann. Die Verkürzung des Arbeitstages ist die Grundbedingung.“

Der stalinistische Ausgangspunkt ist nicht nur umgekehrt die Behauptung, daß das „Reich der Notwendigkeit“, die materielle Arbeit, allein wesentlich ist (einfach weil die Oberschicht mit den materiellen Lebensbedingungen steht und fällt), selbst die Forderung, daß innerhalb dieser Notwendigkeit der Arbeit die der „menschlichen Natur würdigsten“ Bedingungen geschaffen sein müssen, ist durch die stalinistischen Arbeitsgesetze zunichte gemacht.

Vom Marxschen Humanismus ist im Stalinismus nichts zu finden. Marx erklärte, daß „der Mensch das höchste Wesen für den Menschen“ sei. Das bedeutet den „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“

Auch die Leninsche Vorstellung, die sozialen Unterschiede, die Privilegien und Klassen zu überwinden, ist aus dem Stalinismus verschwunden. „Bei Lenin . . . kann man immer das gleiche Lied hören: das von der Notwendigkeit, die sozialen Unterschiede zwischen den Menschen von Grund auf zu ändern und vor allem von den geeigneten Mitteln dieses Ziel zu erreichen“

Stalin dagegen verglich die Menschen mit „Zahnrädern“, sprach nur von „Kadern“, nannte die Schriftsteller „Ingenieure der menschlichen Seele“. Der Stalinismus mit den Millionen Sklaven in den Zwangsarbeiterlagern hatte jeden humanistischen Zug verloren.

Das Ziel der Oktoberrevolution war die Befreiung der Arbeiter und darüber hinaus des Menschen durch die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaftsordnung. Das Ziel des Stalinismus ist unter allen Umständen die Macht der bürokratischen Oberschicht und ihre Privilegien zu erhalten — die Zielsetzung hat sich in ihr Gegenteil verkehrt.

Neue Privilegien

Als eines der entscheidenden Ziele hatte Lenin die Abschaffung der Klassen und Privilegien, das Streben nach sozialer Gleichheit vertreten.

Nicht ohne Grund unterstrich er in seinem Werk „Staat und Revolution“ die Bedeutung der Marxschen Forderung, alle Staatsbeamten nicht höher als die qualifizierten Arbeiter zu entlohnen. Auch er vertrat diese Ansicht und verlangte, für alle beamteten Personen ein Entgelt, das den Lohn eines qualifizierten Arbeiters nicht übersteigt. Nach der Revolution wurden verschiedene Maßnahmen zur Abschaffung der sozialen Ungleichheit durchgeführt vor allem sollte verhindert werden, daß politische Ämter mit Privilegien verbunden sind. Auch als die Lenin-Regierung später die gleiche Entlohnung aufgeben mußte und den Spezialisten höhere Löhne zahlte, blieb für die Partei-Mitglieder ein Maximum der Entlohnung bestehen („Parteimaximum“), so daß sie weiterhin nicht höher als qualifizierte Arbeiter bezahlt wurden.

Gegenüber diesem Gleichheitsstreben des Leninismus ist die StalinÄra durch eine wachsende Lingleichheit und soziale Differenzierung gekennzeichnet. Theoretisch war Stalin schon 1925 gegen die soziale Gleichheit aufgetreten. Auf dem XV. Parteitag lehnte er Sinowjews These ab, der „Gedanke der Gleichheit" sei die „Philosophie unserer Epoche" und behauptete, „man darf nicht mit der Phrase (!) von der Gleichheit spielen, weil dies ein Spiel mit dem Feuer ist“

Ende der zwanziger Jahre wurde die Gleichheit immer stärker zurückgedrängt. Trotzdem durfte damals ein Mitglied der Kommunistischen Partei nicht mehr als 225 Rubel (in der Ukraine sogar nur 210 Rubel)

Gehalt beziehen. „Hohe Regierungsbeamte leben so tatsächlich sehr eingeschränkt“ Schließlich erhielten aber nicht nur Staatsangestellte und Wirtschaftsfunktionäre immer größere Vorrechte, die Beschränkungen für Parteimitglieder wurden ebenfalls aufgehoben. Seitdem Stalin 1931 gegen die „linkslerische Gleichmacherei“ auftrat, das Gleichheitsstreben scharf verurteilte und erklärte, man müsse die „Gleichmacherei ausmerzen" wurden mit sozialistisch drapierten Phrasen die Privilegien der Bürokratie immer offener verteidigt. Von Lenins Forderung in „Staat und Revolution" nach „Reduzierung der Gehälter aller Amtspersonen im Staat auf das Niveau des Arbeiterlohns’ ist so längst nichts mehr übriggeblieben. Die Realität des Stalinismus ist, daß z. B.der Vorsitzende des Obersten Sowjets schon vor dem Krieg 300 000 Rubel im Jahr erhielt — d. h. das Neunzigfache eines „durchschnittlichen Arbeiterlohns“ — (ca. 3 500 Rubel). Seit dem Kriege gibt es, wie die Stalinisten mit Stolz betonen, auch „Sowjet-Millionäre“. Der Direktor des Staatsgutes in Kasachstan, Berdjebekow, wurde der erste amtlich proklamierte Sowjet-Millionär und die Stalinisten scheuten nicht davor zurück, dabei die alten rührseligen Geschichten vom „selbsterarbeiteten“ Geld aufzuwärmen, die Marx im „Kapital“ so beißend verspottete

In der Lebenshaltung vergrößerte sich allenthalben die Kluft zwischen der Oberschicht und der breiten Masse. Die Gehälter der Direktoren, Oberingenieure und Verwalter in der Spitzengruppe der Industrie waren schon vor dem Zweiten Weltkrieg bis zu hundertmal höher als der Durchschnittslohn des Arbeiters. Die wachsende Lingleichheit und die Privilegierung der neuen Oberschicht drückt sich nicht nur und nicht einmal in erster Linie in dem krassen Unterschied der Entlohnung aus. In der Sowjetunion beherrscht eine kleine Gruppe der Parteiführung alle politischen Lebensfragen. Die Bürokratie leitet die Wirtschaft, bestimmt die Planung, ist Herr im Betrieb usw. Die Vorrechte dieser Bürokratie (vom hohen Lohn, Prämien, besseren Wohnungen und Luxusautomobil bis zum Sondersanatorium für „Verantwortliche Arbeiter", d. h. Bürokraten) stellen diese soziale Schicht sichtbar über das „Volk“. Auf der anderen Seite besteht keine wirkliche Mitbestimmung der Produzenten weder politisch noch wirtschaftlich.

Die Differenzierung wird auch rein äußerlich durch wieder eingeführte Rangabzeichen, Epauletten und Dienstgrade offen zur Schau gestellt.

Es wurden damit nicht nur die von der Oktoberrevolution abgeschafften Ränge wieder hergestellt, sondern auch das Leben des Landes erneut regelrecht militarisiert.

Die Militarisierung des Lebens ist für den Stalinismus überhaupt bezeichnend. Nicht nur, daß Militär und Polizei eine entscheidende Rolle im Leben der Sowjetgesellschaft spielen, auch die Zivilbevölkerung wird entsprechend reglementiert. Das fängt bei der (in Rußland schon vor der Revolution üblichen) Uniformierung der Schüler an, geht über vormilitärische Ausbildung bis zur Unterordnung im Betrieb, ja selbst in der Partei. Fast überall wurden militärische Dienstränge und Rangabzeichen eingeführt. 1943 geschah das im Verkehrswesen, 1947 beim leitenden und technischen Personal im Kohlenbergbau, im Geologischen Dienst, der Eisen-und Stahlindustrie, 1948 in der Buntmetallindustrie, im Finanz-, Bank-und Kreditwesen usw.

Die Oktoberrevolution hatte im April 1918 das Erbrecht abgeschafft, um damit allen Kindern die gleiche Chance der Berufsausbildung und -laufbahn zu geben 1. Die Verfassung von 1936 erklärte das Erbrecht jedoch wieder „durch das Gesetz geschützt" (Artikel 10), und stellte die Ungleichheit von der Geburt an wieder her. Natürlich war auch die ursprünglich „gleiche Chance“ der Kinder bei ungleichen Einkommen der Eltern ziemlich theoretischer Natur. Da aber die Stalinisten die zunächst unvermeidliche Ungleichheit nicht verringerten, sondern durch die neuen Privilegien „von der Wiege an“ vergrößerten, entfernte man sich noch weiter von den Zielen der Oktoberrevolution.

Die Ungleichheit wurde auch auf die Ausbildung übertragen. Ursprünglich sollte den Arbeiterkindern eine größere Chance gegeben werden. An Hoch-und Fachschulen bestand die Bedingung, daß 65% der Studenten der Arbeiterklasse angehörten. Diese Studenten bezahlten keine Gebühren, sondern erhielten eine LInterhaltsbeihilfe Bereits 1932 wurde diese Klausel abgeschafft und damit den Kindern der Oberschicht der Weg freigemacht. 1940 wurde für höhere Schulen sogar wieder ein Schulgeld eingeführt. Die Gebühren für das erste Semester mußten innerhalb eines Monats nach der Verkündung des Gesetzes entrichtet werden. 600 000 Kinder armer Eltern, welche die Gelder nicht bezahlen konnten, mußten die Schule verlassen. Die höhere Schulbildung wurde fast zum Privileg für die Kinder der Bürokratie. Der Anteil der Studenten aus Handarbeiterkreisen fiel von 41% (1933) auf 27%. Auf allen Gebieten wuchs mit der Allmacht der Bürokratie in der Sowjetunion in schroffem Maße die soziale Ungleichheit.

Die Sowjetunion, in der angeblich der Sozialismus, wie ihn Marx und Lenin verstanden, verwirklicht wurde, ist ein Beispiel der ständig wachsenden Ungleichheit, der Vergrößerung der Privilegien der Oberschicht. Im angeblichen Stalinschen „Sozialismus“ haben Lohn-und Gehaltsdifferenzen ungeheure Dimensionen angenommen, es gibt „Sowjetmillionäre“ auf der einen und Bettler auf der anderen Seite. Der Trend geht keineswegs in Richtung auf Beseitigung der Ungleichheit, also in Richtung der Leninschen Vorstellungen. Mit dem Kampf gegen die „Gleichmacherei“, mit der Erhebung des Akkordlohns zum „sozialistischen Prinzip“ versuchten die stalinistischen Ideologen die wachsende Ungleichheit und die neuen Vorrechte der Oberschicht „theoretisch“ zu verteidigen. Sie stellten sich damit in Widerspruch zum Programm der russischen KP von 1918, in dem es hieß, daß die Rätemacht „eine gleiche Entlohnung jeder Arbeit und vollständigen Kommunismus anstrebt“

Es war die „wachsende Ausbeutung der Arbeiter und der Bauern, die zu einem entscheidenden Wandel im sozialen Gehalt der russischen Diktatur führte. War sie in der Epoche der Oktoberrevolution selbst noch im wesentlichen eine Diktatur gegen die ehemaligen herrschenden Klassen gewesen, gegen die Feudalen und gegen die kleine Schicht der industriellen Kapitalisten, so wurde sie nunmehr zu einer Diktatur gegen die Majorität der russischen Bevölkerung, gegen die Arbeiter, gegen die Bauern“

Der Staat in Theorie und Praxis

Chruschtschow hat auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die Stalinsche Behauptung wiederholt, in der Sowjetunion sei seit 1936 der „Sozialismus aufgebaut“. Eine Voraussetzung dafür wäre nun in marxistischer Sicht, daß der Staat verschwindet, abstirbt. Auch Lenin vertrat in „Staat und Revolution“ (1917) diesen Standpunkt. Der Staat ist nach Lenin in erster Linie ein „Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klassen“ und müßte daher im Sozialismus wo es keine Klassen zu unterdrücken gibt, „absterben“. 1906 schrieb selbst Stalin:

„Wo es keine Klassen gibt, wo es keine Reichen und Armen gibt, da bedarf man auch keiner politischen Gewalt, die die Armen bedrängt und die Reichen beschützt. Folglich wird die sozialistische Gesellschaft auch nicht der Existenz einer politischen Gewalt bedürfen."

Diese als selbstverständlich geltenden marxistischen Grundsätze konnte Stalin im „aufgebauten Sozialismus“ der Sowjetunion nach 1936 nicht aufrechterhalten. Die Praxis des allmächtigen Staatsapparates in der Sowjetunion und die Macht der Geheimpolizei standen im krassen Gegensatz zur Theorie. Stalin sah sich gezwungen, eine neue „Staatsphilosophie“ zu entwickeln. Nach Stalin war der Staat wegen der „kapitalistischen Einkreisung“ weiter notwendig, aber „nach außen“ gerichtet. Chruschtschows Enthüllungen über die Zwangsverschickung ganzer Völker, die Massensäuberungen 1936-1938 und nach dem Kriege, die „Verletzung der sozialistischen Gesetzlichkeit“, kurz, der ungeheure Drude des Staates „nach innen" entlarvten die Stalin-These als Verschleierung der tatsächlichen Verhältnisse.

Die Veränderungen der Ideologie waren durch die stalinistische Praxis notwendig geworden. Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands von 1919 forderte „allmähliche Heranziehung der ganzen werktätigen Bevölkerung ohne Ausnahme zur Arbeit in der Staatsverwaltung“ und „Verantwortung und Rechenschaftslegung für Amtspersonen“

Bereits im Jahre 1927 stellte eine Oppositionsgruppe der KPdSU fest, daß sich der Staat keineswegs nach diesem Prinzip entwickelte und die Bürokratie den Staat beherrschte:

„Die Bedeutung der riesigen Beamtenarmee wächst fortwährend, da diese Armee unangreifbar und vor der Arbeiterklasse unverantwortlich ist und die sozialisierten Produktionsmittel ebenso wie die staatlichen Vollzugsorgane ihr unterstehen, so erstarkt diese Armee ökonomisch und politisch und ist an der Erhaltung und Verstärkung des Bürokratismus interessiert. Sie verwandelt sich immer mehr in eine besondere selbständige soziale Schicht"

Das war vor 30 Jahren! Inzwischen ist die Entwicklung weitergegangen und hat jede Spur von Mitbestimmung der Arbeiter ausgetilgt. Der stalinistische Staat ist von jeder Mitbestimmung von unten „gesäubert“.

Der heutige Sowjetstaat widerspricht genau den Forderungen, die für Lenin (in „Staat und Revolution“) ein „Arbeiterstaat“, der in der sozialistischen Gesellschaft „abstirbt“, erfüllen muß. Statt allgemeiner Wahl und Besoldung aller Beamten nach Arbeiterlohn herrscht in der Sowjetunion die vom Volk unabsetzbare Bürokratie mit riesigen Privilegien, statt allgemeiner Volksbewaffnung gibt es ein stehendes Heer mit einem hierarchischen Offizierskorps, statt Dezentralisierung herrscht strengster Zentralismus, an Stelle freier Wahlen und jederzeit möglicher Absetzbarkeit der Abgeordneten durch die Wähler haben die Massen im stalinistischen System keinerlei politischen Einfluß.

Der heutige Sowjetstaat ist längst der Zwangsapparat der bürokratischen Oberschicht zur Erhaltung ihrer Macht geworden und hat auch mit der Diktatur der Periode unter Lenin nichts mehr zu tun. Er ist im wahren Sinne nicht einmal mehr ein Sowjetstaat. Die Oktoberrevolution siegte unter der Parole „Alle Macht den Sowjets“. Die Sowjets (Räte) waren in der ersten russischen Revolution von 1905 entstanden. Sie waren die von den revolutionären Massen eines Betriebes, eines Gebietes usw. gewählten Organe, die die legislative und exekutive Gewalt in sich vereinigten. Die spontan entstandenen Räte waren frei gewählt und konnten jederzeit von ihren Wählern abgesetzt werden.

Nach Ausbruch der demokratischen Februarrevolution 1917 spielten die Räte eine bedeutende Rolle und standen als zweite Macht neben der provisorischen Regierung. Nach der Oktoberrevolution wurde (in der Verfassung von 1918) den Sowjets „die ganze zentrale und lokale Gewalt“ übertragen. Das entsprach den theoretischen Darlegungen Lenins in seiner Schrift „Staat und Revolution“, in der er die Räte als demokratischste Form einer Regierung bezeichnete. Die Bolschewiki gaben nach der Revolution offen zu, daß sie die Sowjets als „Klassenorgane“

betrachteten. Dem Bürgertum wurde das Wahlrecht entzogen, die Arbeiter erhielten in den Sowjets relativ mehr Deputierte als die Bauern, um deren Mehrheit aufzuwiegen.

Dessen ungeachtet vertraten die Sowjets damals die Mehrheit des russischen Volkes. Sie waren (weder auf der unteren Ebene noch in der Spitze) keineswegs die „Ja-Sager" -Kulisse der späteren Zeit. Während des Bürgerkriegs schlossen die Bolschewiki die Menschewiki und Sozialrevolutionäre von den Sowjets aus. Damit wurde die Rolle der Sowjets stark eingeschränkt, doch noch immer besaßen sie Machtbefugnisse.

Erst im Zuge des Sieges der stalinistischen Bürokratie verloren die Sowjets allen wirklichen Einfluß. Die Wählbarkeit und Absetzbarkeit von unten wurden faktisch aufgehoben und die Sowjets wurden zu Befehlsempfängern und -vollstreckern der Partei, d. h.der Spitze der stalinistischen Bürokratie. Bereits 1926 ließ Stalin diese neue Stellung der Sowjets unter die Flerrschaft des Apparats erkennen:

„Die Partei verwirklidue die Diktatur des Proletariats. Aber sie verwirklichte sie nidit unmittelbar, sondern mit Hilfe der Gewerksdtaften, durch die Sowjets (!) und deren Verzweigungen. Ohne die Transmissionen wäre eine einigermaßen feste Diktatur unmöglich“

Der Stalinismus ließ vom Instrument der Arbeiter und Bauern, den Räten, nichts übrig. Was blieb, war eine bürokratisch gegängelte Hilfsorganisation der herrschenden Oberschicht.

Die Verfassung von 1936 hat dieses Ergebnis der stalinistischen Politik sanktioniert. Vom ursprünglichen Charakter der Räte, unmittelbarer Ausdruck des Volkswillens zu sein, ist nichts mehr vorhanden. An die Stelle des Rätesystems trat ein nominell-parlamentarisches System mit „allgemeinem und gleichem Wahlrecht“.

Während unter Lenin der Klassencharakter der Sowjets offen zugegeben wurde, soll durch das Stalinsche „gleiche“ Wahlrecht verschleiert werden, daß die Sowjets nur eine Attrappe für die Herrschaft der Bürokraten bilden. Dabei sind die Wahlen mit 99 °/o „Ja-Stimmen“ natürlich weder frei noch geheim, sondern höchstenfalls Anlaß für große Propagandafeldzüge der Stalinisten.

Offiziell nennt man die Verfassung noch immer eine „Sowjet-Verfassung“, den Staat einen „Sowjet-Staat“, obwohl der ursprüngliche Aufbau der Sowjets abgeschafft wurde, die heutigen „Sowjets“ ganz andere Aufgaben erfüllen und auch das Prinzip der freien Wahl und Absetzbarkeit von unten nicht mehr gilt. Die Stalinisten sind auch hier wieder gezwungen, die alte Terminologie auf ihre veränderte Wirklichkeit anzuwenden.

Doch nicht die Buchstaben der Verfassung, sondern die realen Zustände sind entscheidend.

Aus diesen Zuständen aber ist ersichtlich, daß die „Sowjets“ sich in ständische Vertretungen der neuen Oberschicht verwandelten.

So hat sich der Sowjetstaat immer weiter von den theoretischen Vorstellungen Lenins entfernt Darüber hinaus sind auch die Ansätze zur Verwirklichung der Theorie in der Periode der Leninschen Praxis durch die Ausschaltung jeder Selbstbestimmung von unten verschwunden.

Die Rechte der Arbeiter

Die Oktoberrevolution stand unter dem Zeichen der Arbeiterkontrolle. Die Arbeiterkontrolle sollte den Übergang zum Sozialismus bilden. Lenin behauptet zum ersten Jahrestag der Revolution: „. . .der erste grundlegende Schritt, der nicht nur für jede sozialistische, sondern auch für jede Arbeiterregierung obligatorisch ist, müßte die Arbeiterkontrolle sein“ Auch das Programm der Bolschewiki von 1918 forderte eine „wirkliche Volkskontrolle“ gegen jede „Bürokratisierung des wirtschaftlichen Apparats“ Es gelang den Arbeitern „die Herrschaft über das gesamte Wirtschaftsleben durch die Eroberung der Betriebe zu erlangen“ Zunächst hatten die Betriebsräte, später die Gewerkschaften eine wirkliche Kontrolle in den Betrieben inne.

Unter dem Stalinismus zeichnete sich aber gerade eine umgekehrte Entwicklung ab — der Einfluß der Arbeiter im Betrieb wurde immer ge-ringer. Die Rechte der Arbeitervertreter wurden eingeschränkt. Die „Troika“ (Betriebsdirektor, Parteisekretär und Gewerkschaftssekretär')

übernahm die Leitung des Betriebes. Doch schon zu Beginn des ersten Fünfjahresplans (1928) war der vom Staat eingesetzte Betriebsdirektor der bestimmende Mann im Betrieb. Die „Ein-Mann-Führung", die jede Mitbestimmung der Belegschaft und jede Arbeiterkontrolle ausschließt, wurde vom Stalinismus zum „sozialistischen Prinzip" erhoben; die alleinige Macht des Betriebsdirektors löste die „Troika“ ab. Stalin forderte diese Direktoren schon 1931 auf: „Bist Du Direktor eines Betriebs — so mische Dich in alle Dinge, dringe in alles ein, lasse Dir nichts entgehen“

In einer offiziellen Verlautbarung hieß es 1947:

„Die Ein-MaHH-Fiihrung in der Industrie bedeutet, daß an der Spitze der Betriebe und der Wirtschaftsorgane einzelne Führer stehen, die von den bevolhiiächtigten Staatsorganen ernannt sind. Sie sind mit allen Volhuachten ausgerüstet, die für eine erfolgreiche Tätigkeit des Betriebes und der Wirtschaftsorgane notwendig sind“

Ein sowjetischer Wissenschaftler erläuterte dieses Prinzip:

„Der Grundsatz der individuellen Leitung wird bei uns auf allen Ebenen der Volkswirtschaft von unten bis nach oben durchgeführt. Der Minister, der Leiter der Hauptverwaltung, der Vorsteher der Eisenbahnen, der Betriebsdirektor, der Abteilungsleiter in der Fabrik, der Meister, der Brigadier, alle Kommandeure der Produktion, die Großen wie die Kleinen, sind auf ihrem Gebiet Leiter mit vollen Rechten“

Damit ist den Arbeitern nicht nur das Recht der Arbeiterkontrolle, das Mitspracherecht, genommen, sie sind völlig rechtlos den „Vorgesetzten“

ausgeliefert. Die Stalinisten berufen sich auf die Tatsache, daß auch unter Lenin die Einzelleitung in der Wirtschaft eingeführt wurde. Doch gerade Lenin hat immer wieder betont:

„Je entsddossener wir jetzt für eine rüd^sichtslos starke Macht, für die Diktatur einzelner Personen in bestimmten Arbeitsprozessen, in b e s t i m m t e n Momenten lediglich ausführende Funktionen eintreten müssen, desto mannigfaltiger müssen die Formen und Methoden der Kontrolle von unten sein, um jede Spur einer Möglichkeit der Entstellung der Sowjetmacht zu paralysieren, um das Unkraut des Bürokratismus unaufhörlich, unermüdlidt auszureißen“

hinter dem Stalinismus war nicht nur eine allgemeine soziale Differenzierung erfolgt, auch innerhalb der Arbeiterschaft selbst wurden — besonders durch das Stachanow-System, — die Entlohnungs-Unterschiede immer größer. Nach der Revolution hatte man dem Gedanken einer möglichst großen Lohngleichheit der Arbeiter gehuldigt. Der verhaßte Akkordlohn wurde abgeschafft. 80 °/o der Petrograder Lohnarbeiter waren 1918 im Zeitlohn beschäftigt.

Seit 193 5 ist das Stachanow-System als eine neue Form des Akkords zur Erzielung höherer Leistungen der Arbeiter eingeführt. Der Häuer Alexej Stachanow hat am 31. August 193 5 in einer Schicht 102 Tonnen Kohle abgebaut und damit die Norm um 1 300 °/o übererfüllt. Natürlich war das vorbereitet und eine Ausnahme. Aber von diesem Tag an begann die „Stachanow-Bewegung“, durch die sich eine bevorrechtete Minderheit in der russischen Arbeiterklasse bildete. Damit wurde eine scharfe Differenzierung der Arbeitereinkommen erreicht. Während 1928 der höchstbezahlte Arbeiter etwa zweieinhalbmal soviel verdiente wie der am niedrigsten Entlohnte, war 193 8 der Spitzenlohn eines Stachanow-Arbeiters 121/2mal höher als der Durchschnittslohn. 1940 war der Spitzenlohn bereits 30mal höher als der durchschnittliche Lohn. Dieses System schraubte zugleich die Akkorde in die Höhe und preßte aus den Arbeitern das Letzte heraus. Ein Stachanow-Arbeiter kann immer noch hoffen, einen guten Posten zu bekommen und so in die gehobene Schicht aufzusteigen — für die Masse der Arbeiter ist das ganz unmöglich.

Durch die Stachanow-Bewegung konnte die Bürokratie nicht nur die Normen nach oben treiben und die Arbeiter gegeneinander ausspielen. Mit der Auszeichnung der Stachanowisten, die einen ungleich höheren Lohn haben als die Durchschnittsarbeiter, schafft die Bürokratie eine neue privilegierte Schicht unter der Arbeiterschaft, eine Art Arbeiteraristokratie, die als feste Stütze des Staats-und Regierungsapparates innerhalb des Betriebes wirkt und ein geschlossenes Eintreten der Arbeiter für ihre Forderungen erschwert.

War bei der Industrialisierung die Rationalisierung der Arbeit, zweifellos eine Seite des Stachanowsystems, ebenso unvermeidlich wie gewisse Lohndifferenzierungen, so ist die Übersteigerung nur aus dem Interesse der Bürokratie erklärlich, die Arbeiterschaft zu spalten. Das Stachanow-System gar als „etwas spezifisch Sozialistisches“ (Kaganowitsch) oder als Übergangsmethode zu dem Leninschen Zielbild des Kommunismus (Stalin) darzustellen, konnte nur bedeuten, mit der alten Terminologie die Wirklichkeit apologetisch verschleiern zu wollen.

Die Rechte der Arbeiter im Betrieb wurden unter dem Stalinismus immer geringer, die gegen sie gerichteten Gesetze immer härter. Auf die Auswirkungen der „Ein-Mann-Führung“ wurde bereits hingewiesen. Sie bedeutet aber nicht nur die Ausschaltung der Mitbestimmung, sondern die völlige Entrechtung des Arbeiters, da er keinerlei Interessenvertretung besaß. Im Betrieb selbst hieß es: „Die Anordnung eines Vorgesetzten ist für die ihm Unterstellten Gesetz. Sie ist vorbehaltlos, genau und pünktlich zu befolgen“ Es gibt unzählige Beispiele auf allen Gebieten des Arbeitsrechts, welche veranschaulichen, wie die herrschende Bürokratie die Arbeiter Schritt für Schritt versklavte. Im Arbeitsgesetzbuch von 1922 war noch ausdrücklich festgehalten: „Die Auferlegung irgendwelcher Geldstrafen auf den Arbeitnehmer nach Ermessen des Arbeitgebers oder der Verwaltung des Unternehmens ist verboten . . .

Damit distanzierte sich die Sowjetrepublik von der zaristischen Ära, in der dem Arbeiter wegen der geringsten „Fehler" Geldstrafen auferlegt wurden. Unter dem Stalinismus gehören Geldstrafen wieder zur Tagesordnung. Unter anderem wurde die „Ausschußerzeugung“ sehr streng ausgelegt und bestraft, nachdem Malenkow die Wirtschaftsfunktionäre auf der XVIII. Parteikonferenz (1941) zu schärfstem Durchgreifen aufgefordert hatte

Durch Arbeitsgesetze vom November 1917 war ein Verbot von Überstunden für Jugendliche unter 18 Jahren ausgesprochen worden, im Juni 1951 wurde das Verbot außer Kraft gesetzt.

Im Arbeitsgesetzbuch von 1922 war festgelegt, daß bei Krankheit und zeitweiligen Verlust der Arbeitsfähigkeit die LInterstützung „in jedem Falle nicht unter dem tatsächlichen Arbeitsverdienst des Arbeitsunfähigen bis zum Verlust der Arbeitsfähigkeit“ liegen darf d. h.der Lohn wurde bei Krankheitsfall zu 100 % weitergezahlt. Seit im Dezember 193 3 „Maßnahmen zur Hebung der Arbeitsdisziplin“ als Gesetz verkündet wurden, muß der Arbeiter sechs Jahre im gleichen Betrieb gearbeitet haben, um in diesen Genuß zu kommen, sonst erhält er nur 50% seines früheren Lohns. 1917 wurde die Frauenarbeit im Untertagebetrieb der Bergwerke verboten — im Oktober 1940 wurde dieses Gesetz aufgehoben. Ein anderes Beispiel der Beschneidung der Rechte der Arbeiter sind die verschiedenen Gründe, nach denen die Arbeiter entlassen werden können. Nach dem Arbeitsgesetzbuch von 1922 konnte der Arbeitgeber den Arbeiter wegen „Schwänzens“ entlassen, „falls der Arbeitnehmer für länger als drei Tage hintereinander oder für länger als sechs Tage im Monat im ganzen ohne wichtige Gründe nicht zur Arbeit erscheint“ Durch eine Bestimmung vom August 1927 genügte schon ein unentschuldigtes Fernbleiben von der Arbeit während dreier beliebiger Tage des Monats als fristloser Entlassungsgrund. Seit dem 15. November 1932 ist der Arbeitgeber verpflichtet (nicht wie vorher berechtigt!), bei unentschuldigtem Fehlen an einem Tag den Arbeiter zu entlassen Am 20. Dezember 1938 beschloß die Regierung, daß eine einzige Verspätung von 20 Minuten zur fristlosen Entlassung des Arbeiters führen müsse. Dieses Gesetz erwies sich jedoch für die Bürokratie als ein zweischneidiges Schwert, da es den Bestrebungen, den Arbeiter an den Betrieb zu binden, zuwiderlief. Wollte der Arbeiter den Arbeitsplatz wechseln (was ständig erschwert wurde), so kam er einfach 20 Minuten zu spät . . . Das berüchtigte (1956 wieder aufgehobene) Arbeitsgesetz vom 26. Juni 1940 löste die Frage völlig im Sinne der Bürokratie

Das Arbeitsgesetzbuch von 1922 verbürgte dem Arbeiter weitgehend die Freiheit der Lösung des Arbeitsverhältnisses und jederzeitigen Vertragskündigung (Artikel 34, 46 u. a.).

Die Versuche, den Arbeiter an den Betrieb zu binden, waren während der ersten Periode der Industrialisierung, d. h.seit 1927 verstärkt worden, um die Fluktuation zu beenden. Zunächst sollte durch Anprangerung der „Wanderlustigen“ eine „freiwillige Bindung“ erreicht werden. Am 3. September 1930 forderte das Zentralkomitee der KPdSU bereits eine „Boykottierung der böswilligen Produktionsdeserteure“

In den folgenden Jahren wurde zu drakonischeren Maßnahmen gegriffen. r Die Höhe der Krankenunterstützung wurde nach der Länge der regelmäßigen Beschäftigung in ein und demselben Betrieb festgelegt. Bei Arbeitsplatzwechsel mußten Betriebs-oder Genossenschaftswohnungen sofort geräumt werden, bei Altersrenten usw. traten Verschlechterungen ein. Schließlich wurden sogar Arbeitsbücher eingeführt (Beschluß des Rats der Volkskommissare vom 20. Dezember 1938). Das brachte „eine beträchtliche Schmälerung der Bewegungsfreiheit der Arbeiter“ es war ein Schritt auf dem Wege zur Zwangsorganisation der Arbeit.

Das Ende des freien Arbeitsverhältnisses brachten die Arbeitsgesetze vom Juni 1940, die dem Arbeiter keinen eigenen freien Arbeitsplatzwechsel mehr zubilligten. In den entscheidenden Passagen hieß es:

„Das eigenmächtige Weggehen eines Arbeiters oder Angestellten von Unternehmungen und Behörden der Regierung, der Genossenschaften und der Gesellschaft, ebenso das eigenmächtige Hinüberwechseln von einer Unternehmung oder Behörde zu einer anderen ist verboten . . . Ein Arbeiter oder Angestellter, der eigenmächtig von einer staatlichen, genossenschaftlichen, öffentlichen Unternehmung oder Behörde weggeht, soll gerichtlich verurteilt und entsprechend dem Urteil des Volksgerichts Gefängnis für die Zeit von zwei bis vier Monaten erhalten"

Durch dieses Gesetz wurde außerdem der Arbeitstag verlängert, eine Verspätung des Arbeiters um 20 Minuten und jedes Arbeitsversäumnis „mit Erziehungsarbeit am Arbeitsplatz bis zu sechs Monaten, wobei bis zu 25% des Lohnes einbehalten werden können“ geahndet Diese mittelalterlich anmutende Gesetzgebung wurde durch die Auslegung noch verschärft, da als „eigenmächtige Aufgabe des Arbeitsplatzes“ auch galt (in der offiziellen Darstellung):

,, a) die Nichtbefolgung einer durch das Ministerium , . . ausgesprochenen Versetzung in einen anderen Betrieb oder in eine andere Dienststelle,

b) die Verletzung der Arbeitsordnung in der Absicht, damit die Entlassung zu bewirken . . .“

So mußte nun der Arbeiter jede zwangsweise Versetzung befolgen, sonst wurde er ins Gefängnis geworfen.

Gegen die ständige Verschlechterung ihrer Lage konnten sich die Arbeiter nicht zur Wehr setzen. Streik galt und gilt im stalinistischen System als Verbrechen. Unter dem Leninismus gab es diese Kampfmethode der Arbeiter noch. Selbst 1926 wurden noch 337 Streiks, davon 202 in staatlichen Betrieben verzeichnet. Doch sie dauerten in der Regel nur kurze Zeit Später war es den Arbeitern überhaupt nicht mehr möglich, sich mit dieser Waffe gegen die Bürokratie zur Wehr zu setzen.

Den Arbeitern fehlte nicht nur der politische Einfluß und das Mittel des Streifes, um sich gegen die Macht der Bürokratie zu wehren; ihnen fehlte auch die entscheidende Waffe einer Interessenvertretung, die Gewerkschaften.

Was heute dem Namen nach als Gewerkschaft in der Sowjetunion existiert, ist lediglich eine Stütze der herrschenden Bürokratie. Vor der Revolution waren die Gewerkschaften in Rußland nicht sehr stark, nach „dem Siege der Oktoberrevolution waren sie gewaltig gewachsen“ Sie hatten nach der Oktoberrevolution eine wichtige Bedeutung. Im Programm der russischen KP war vorgesehen, daß die Gewerkschaften die gesamte Wirtschaft leiten sollten:

„Da die Gewerkschaften nach den Gesetzen der Räterepublik und der eingebürgerten Praxis bereits an allen lokalen und zentralen Verwaltungsorganen der Industrie teilnehmen, so müssen sie soweit kommen, daß sie tatsächlich die gesamte Verwaltung der ganzen Volkswirtsd' taft als einer wirtschaftlichen Einheit in ihren Händen konzentrieren . . . Die Teilnahme der Gewerksdtaften an der Wirtschaftsführung und die Heranziehung der großen Masse bildet zugleich auch das beste Kampfmittel gegen die Bürokratisierung des wirtschaftlichen Apparats der Rätemacht und bietet die Möglidtkeit, eine wirkliche Volkskontrolle der Produktionsergebnisse einzusetzen"

Durch die Arbeiterkontrolle und über die Betriebsräte hatten die Gewerkschaften in der Praxis wichtige Befugnisse, in jedem Fall führten sie „die Kontrolle über das Unternehmen" In der leninistischen Periode gaben führende Sowjetgewerkschafter freimütig eine gewisse Abhängigkeit der Gewerkschaften vom Staat zu und meinten, dies sei „nicht schmählich“. Doch konnten sie damals darauf verweisen, daß der Staat auch von den Gewerkschaften „abhängig“ war:

„Wir sehen nichts Schmähliches in der Abhängigkeit der Gewerkschäften vom Arbeiterstaat. Diese Abhängigkeit ist eine gegenseitige; die Gewerksdtaften sind in demselben Maße abhängig vom Sowjetstaat, wie der Sowjetstaat von den Gewerkschaften abhängig ist“

Die Bolschewik! unter Lenin hatten 1920 jede „Verstaatlichung“ der Gewerkschaften zurückgewiesen. Lenin sprach von der „Verteidigung der Arbeiter gegen ihren Staat“ er erklärte das Rentabilitätsprinzip der Staatsbetriebe „. . . erzeugt unausbleiblidt eine gewisse Gegensätzlidikeit der Inter-essen in den Fragen der Arbeitsbedingungen im Betriebe zwischen der Arbeitermasse und den leitenden Direktoren der Betriebe bzw.den Ressorts, denen sie unterstellt sind. Deshalb haben die Gewerksdtaften in bezug auf die sozialisierten Betriebe die unbedingte Pflicht, die Inter-essen der Werktätigen zu verteidigen, nach Möglidtkeit für eine Hebung ihrer materiellen Lage Sorge zu tragen und die Fehler und Übertreibungen der Wirtschaftsorgane, die sich aus einer bürokratischen Entstellung des Staatsapparates ergeben, ständig zu korrigieren"

Unter dem Stalinismus hörten die Gewerkschaften auf, die Interessen der Arbeiter gegenüber Staat und Bürokratie zu vertreten Die „Verstaatlichung“ wurde stillschweigend durchgeführt und die Gewerkschaften in Organisationen verwandelt, die dem Staat und der Partei untergeordnet und von ihnen abhängig sind. „Eine gleichgültige, zuweilen sogar feindselige Einstellung der Arbeiterschaft zu den Gewerkschaften ist als Massenerscheinung festzustellen“, konnte man schon 1927 in einer Erklärung lesen. Das war nicht verwunderlich. Die Gewerkschaften in der Sowjetunion unterstützen nicht die Arbeiter gegen die sie ausbeutenden Direktoren, Partei-und Staatsfunktionäre, sondern halfen dieser Bürokratie bei allen gegen die Arbeiter gerichteten Handlungen. Sie tragen im besonderen Maße die Verantwortung für die verschlechterten Arbeitsbedingungen. So wurden z. B. die Gewerkschaften benutzt, die Arbeiter durch das Stachanow-System zu spalten und höhere Leistungen aus ihnen herauszupressen.

Die Gewerkschaften waren und sind keine Vertretungen der Arbeiter für ihre Rechte, sondern Hilfsorgane der Bürokratie. Es genügt, darauf hinzuweisen, daß es die Gewerkschaften waren, die 1940 in der Sowjet-Union die arbeiterfeindlichen Gesetze (Verbot des Arbeitsplatzwechsels usw.) „vorschlugen“.

Anfang der zwanziger Jahre herrschte innergewerkschaftliche Demokratie, damals konnten noch die verschiedenen Richtungen mit ihren politischen Ideen auftreten (z. B. hielten 1920 die Menschewiki Korreferate auf Gewerkschaftskongressen, usw.) 1928 fanden auf einem Gewerkschaftskongreß letztmals ernsthafte Diskussionen statt. Tomski, bis dahin Führer der Gewerkschaft, forderte freie Wahlen in den Gewerkschaften und griff die Bürokratisierung an. Er wurde abgesetzt, die Gewerkschaftsleitung vollkommen ausgewechselt (während der Säuberung 1936/38 liquidiert) und Schwernik wurde Gewerkschaftsführer. Derselbe Schwernik, der auf dem XX. Parteitag die völlige Abhängigkeit der Gewerkschaften von Partei und Staat zugegeben hatte und weitere Folgsamkeit, versprach: „Die Gewerkschaften waren in allen Etappen des Aufbaus der neuen Gesellschaft zuverlässige Vollstred^er der Politik der Partei . . . Gestatten Sie mir, dem XX. Parteitag zu versichern, daß die Sowjetisdien Gewerkschaften auch in Zukunft treue Helfer der Kommunistischen Partei . . .sein werden“

Auch die Tatsache, daß unter Stalin Millionen Zwangsarbeiter in Arbeitslagern dahin vegetieren mußten, zeigt den Unterschied zur Lenin-Epoche und widerlegt das Gerede von der „Verwirklichung der Leninschen Theorie“ unter Stalin

Der Stalinismus, die bürokratische Herrschaft, führte zum Gegenteil dessen, was der Bolschewismus in der Oktoberrevolution auf seine Fahnen geschrieben hatte, nicht zur Befreiung der Arbeiter, sondern zu ihrer Versklavung.

Die „vergessenen" Losungen des Oktober

Die Bolschewiki siegten unter der Losung des Friedens „ohne Annexionen und Kontributionen“ in Rußland. Die Stalinisten haben nach dem Zweiten Weltkrieg eine offene Politik der Annexionen betrieben (Ostpreußen, Sachalin, usw.). Sie haben die Leninschen Theorien über die Ursachen von Kriegen durch die „Kollektivschuld-These“ ersetzt, um die Reparationen ideologisch zu rechtfertigen. Die Stalinisten haben die Sowjets entmannt und die Arbeiterkontrolle beseitigt. Sie haben konsequenterweise auch den Bauern das Land und den Nationalitäten das Selbstbestimmungsrecht genommen. Audi die Kommunisten z. Z. Lenins sahen den Zusammenschluß der Bauern als eine „höhere Form“ gegenüber den Einzelwirtschaften an. Aber sie versuchten nicht, die Bauern durch Gewalt zum Zusammenschluß in die Kollektivwirtschaften zu zwingen. Lenin nannte jeden Versuch einer Gewaltanwendung gegen die Bauern „unsinnig“. Bei Lenins Tod betrug der Anteil der Kollektivwirtschaften nicht mehr als 0, 9 °/o aller russischen Bauernwirtschaften.

Auch 1928 waren es nicht mehr als 1, 7 °/o.

Doch unter der Führung der Stalin-Fraktion hat die Bürokratie jahrelang eine Politik betrieben, die sich im Dorf auf die Groß-und Mittelbauern stützte und einen neuen Differenzierungsprozeß auf dem Lande hervorrief. 1926 befanden sich 5 8 % aller, die persönlichen Bedürfnisse übersteigenden Getreidemengen in den Händen von nur 6 % der bäuerlichen Betriebe

Als die Stalinisten 1928 das Steuer herumwarfen und zur überstürzten Industrialisierung übergingen, fürchteten sie die von ihnen geschaffenen Verhältnisse auf dem Land. Wenn die „Kulaken“ kein Getreide liefern wollten, waren die Industrialisierungspläne bedroht. Eine „Enteignung“

der „Kulaken“ und die „durchgängige Kollektivierung“ war die Antwort der Stalinisten. Die damit durchgeführte Zwangskollektivierung war „ebenso grausig . .. wie der furchtbarste Bürgerkrieg“

Als Stalin Ende 1929 und Anfang 1930 mehrmals die Parole der „Liquidierung des Kulakentums als Klasse“ ausgab wurden über fünf Millionen Bauern als „Kulaken“ enteignet, z. T. nach Sibirien verbannt und die Mehrheit der Bauern in die Kolchosen gepreßt. 1929 betrug der Anteil der Kolchosen am Boden bereits 4, 9 °/o, 1930 aber 33, 6% und 1931 sogar 67, 8 % Allein in den sechs Wochen zwischen dem 20. Januar und dem 1. März 1930 stieg die Zahl der in Kolchosen aufgegangenen Bauernbetriebe von 4, 4 auf 14, 3 Millionen (von 21, 6% auf 5 5%) und es ist selbstverständlich, daß nur ein harter Druck die Bauemmassen zu diesem Schritt zwingen konnte.

Natürlich wurde mit diesen Terrormethoden keine „sozialistische Landwirtschaft"

geschaffen.

„Ebensowenig wie man einen transatlantisclren Ozeandampfer durch Zusammenbinden von hunderten oder tausenden Fischerbooten herstellen kann, sind moderne landwirtschaftliche Großbetriebe dadurch zu scltaffen, daß man kleine Bauern zwingt, ihre Pflüge, Ochsen und Hühner zusammenzulegen“

Die Stalinsche Zwangskollektivierung brachte die Landwirtschaft an den Rand des Abgrunds. Die Bauern schlachteten das Vieh ab, bevor sie in die Kolchose getrieben wurden (vgl. Stalins Eingeständnis: Seite 3 3).

Eine Hungersnot war das Ergebnis der bürokratischen Kollektivierung, die von oben geplant wurde (im vollen Sinne des Wortes, denn man legte fest, bis wann die verschiedenen Gebiete „durchgängig“ kollektiviert sein mußten! Z. B. war als „Termin“ für den Nordkaukasus das Frühjahr 1931, für die Likraine das Frühjahr 1932 anberaumt worden.).

Damit begann die Einordnung der Bauern in das bürokratische Gesamtgefüge.

Auch sie haben seither ihre „mit allen Vollmachten“ ausgerüsteten Vorgesetzten, die bedeutend besser leben als der einzelne Bauer, auch in den Kolchosen gibt es die verschiedenen bürokratischen Spitzen.

Den Bauern war nicht nur gewaltsam der Boden entrissen worden, den sie durch die Oktoberrevolution erhalten hatten, sie waren auch als rechtlose „Zahnrädchen“ in das bürokratische System des Stalinismus eingegliedert.

Die Revolution 1917 hatte die großrussische Unterdrückung der nationalen Minderheiten beendet. Unter dem Leninismus war der russische Chauvinismus bekämpft und in den Hintergrund gedrängt worden. Die Bolschewiki sahen nicht nur die Oktoberrevolution als einen Teil der Weltrevolution an, ihr ganzes Denken war durch und durch international.

„Man darf nicht aus Moskau dekretieren“ dieser Ausspruch Lenins galt auch für das Verhältnis der verschiedenen Nationalitäten in der Sowjetunion und war vor dem Stalinismus Programm. Schon die Stalinsche These des „Sozialismus in einem Lande“, die wiederholte Beteuerung, Rußland „zu einem Land des Metalls, einem Lande der Automobilisierung, einem Land der Traktorisierung“ zu machen ließen erkennen, wie der Internationalismus zurückgedrängt wurde.

Doch erst seit Mitte der dreißiger Jahre, besonders aber im und nach dem Krieg wurde der russische Nationalismus bewußt gezüchtet und als Teil der Ideologie betrachtet.

Die Verherrlichung der (von den Leninisten als barbarisch abgelehnten)

russischen zaristischen Tradition, die Herausstellung alles Russischen, der verschärfte Kampf gegen „nationalistische Abweichungen“ in der Ukraine, im Kaukasus usw. waren auffallende Veränderungen gegenüber der Lenin-Periode. Daß unter Stalin alle Erfindungen — vom Grammophon bis zum Düsenjäger — von Russen gemacht wurden, ist nur die komische Seite des russischen Nationalismus dieser Periode. Schlimmer war schon die Tatsache, daß in Wirtschaft und Verwaltung der nichtrussischen Unionsrepubliken die Russen die Einheimischen verdrängten, die Russen überall führten und auch in den Randgebieten die russische Sprache forciert wurde.

Als Stalin nach dem Krieg das russische Volk als „führend" den anderen Nationen der UdSSR gegenüberstellte war das ein deutliches Abrücken von der Leninschen Theorie. Aber tragisch war die Konsequenz dieser antileninistischen Nationalitätenpolitik, wie sie Chruschtschow auf dem XX. Parteitag enthüllte: Ende 194 3 wurden sämtliche Karatschajer aus ihrem angestammten Land deportiert, Ende Dezember 1943 ereilte die gesamte Bevölkerung der autonomen Kalmückenrepublik dieses Schicksal. Im März 1944 wurden sämtliche Tschetschenen und Inguschen nach Sibirien deportiert, ihre autonome Republik aufgelöst. Das waren allein fast eine halbe Million Menschen! Chruschtschow erklärte weiter:

„Im April 1944 wurden alle Balkaren aus der Autonomen Republik der Kabardiner und Balkaren in entlegene Gebiete verschleppt und die Autonome Republik selbst wurde in Autonome Kabardinisdte Republik umgetauft. Die Ukrainer entgingen diesem Sdtid^sal lediglich deshalb, weil sie zu zahlreidi sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können. Sonst hätte er audt sie deportiert. (Gelächter und Heiterkeit im Saal.)

Kein Marxist-Leninist und überhaupt kein vernüftiger Mensdt kann verstehen, wie es möglich ist, ganze Völker, samt Frauen und Kindern, alten Leuten, Kommunisten und Komsomolzen, für feindliche Handlungen verantwortlidi zu machen, Massenrepressalien gegen sie anzuwenden und wegen der Schädlingsarbeit einzelner und kleinerer Gruppen der Not und dem Elend auszusetzen“ 163).

Im Geheimbericht Chruschtschows sind die 700 000 Krimtataren und die Wolgadeutschen, die ebenfalls deportiert wurden, gar nicht erwähnt. Der authentische Bericht ist auch ohnedies erschreckend genug, er verdeutlicht, daß die menschenfeindliche stalinistische Nationalitätenpolitik nicht in einem Atemzug mit den ursprünglichen Forderungen nach Freiheit aller Nationalitäten zu nennen ist, — selbst wenn die nachstalinistische Führung versucht, von Stalin abzurücken und hier einen anderen Weg zu gehen.

Der Änderungen vom Leninismus zum Stalinismus sind viele.

„Alles hat sidi gewandelt. Das Ziel: von der internationalen sozialistischen Revolution zum Sozialismus in einem Land. Das politische System: von der Arbeiterdemokratie der Sowjets . . . zur Diktatur des Generalsekretärs, der Funktionäre der GPU. Die Partei: von der Organisation mit der innerparteilicl'ien Freiheit . . . zur Hierarchie der Bürokraten

..." 164).

Unter dem Stalinismus hat sich die Zielsetzung gewandelt, in ihr Gegenteil verkehrt: die Losungen, mit denen die Bolschewik! die Massen für die Oktoberrevolution gewannen, wurden auf den Kopf gestellt, die Politik verändert und selbst die Methoden der Machterhaltung und die Ideologie zeigen in der Stalin-Ära ein anderes Gesicht.

Die Wandlungen der Ideologie Trotz der Dogmatisierung und Verflachung, trotz der willkürlichen Auslegung scheinen die Werke von Marx und Engels, besonders aber von Lenin, maßgebend für die Ideologie des Stalinismus zu sein. Schließlich werden ihre Arbeiten (wenn auch zensiert und nach bestimmten Gesichtspunkten ausgewählt) in Millionen-Auflagen herausgebracht, kommentiert, die Terminologie des Marxismus verwandt und sie werden besonders oft zitiert. Doch bereits hier liegt der Widerspruch. Die Zitate der Klassiker (Marx, Engels, Lenin, bis vor kurzem auch Stalin), nicht nur ihre grundsätzlichen Ansichten, sondern fast jeder Ausspruch, gelten im allgemeinen als unantastbar, sind der Weisheit letzter Schluß — doch nur solange sie der gerade gültigen und durchgeführten Politik entsprechen. Wenn es die stalinistische Politik erfordert, so werden nicht nur „Zitate“, sondern auch Schlußfolgerungen und Grundsätze des Marxismus und Leninismus einfach über Bord geworfen. So wird aus dem Marxismus in der stalinistischen Ideologie eine Zusammenstellung von Zitaten, die je nach den politischen Augenblicksinteressen der Bürokratie ausgewechselt werden.

Dies geschieht entweder durch a) Verschweigen, b) Verfälschung, c) weitere, aber nur tarnende Gültigkeit der widersprechenden Thesen, d) offene Revision.

Hier einige kurze Beispiele der Veränderungen:

a) Zu Lebzeiten Stalins war das sichtbare Kriterium für die ideologische Abweichung vom klassischen Marxismus der Personenkult um Stalin, der zu einem Führerkult überhaupt gedieh — überall wurden kleine „Führer“

gezüchtet. Die Rolle der Persönlichkeit wurde ungeheuer aufgebauscht.

Ein Brief von Marx an Blos, in dem Marx von seinem „Widerwillen gegen allen Personenkult" sprach, oder Engels Stellungnahme „gegen jede Manifestation zu Ehren von einzelnen" wurden ebenso wie Marx'Erklärung gegen den Panslawismus meist verschwiegen, erst recht eine Reihe von Lenins Dokumenten, in denen dieser gegen Stalin Stellung genommen hatte (Testament, usw.).

b) Direkte Fälschungen wurden besonders in der Geschichtsschreibung durchgeführt. Die „Geschichte der KPdSLI (B) — Kurzer Lehrgang“, jahrzehntelang die Bibel der stalinistischen Ideologie, steckt voller Entstellungen und Lügen.

c) Nicht selten gelten Thesen offiziell weiter, auch wenn sie der stalinistischen Praxis widersprechen. Das gilt z. B. für Lenins Schrift „Staat und Revolution“. Obwohl Lenin dort der stalinistischen Praxis entgegengesetzte Theorien über den Staat, das Absterben des Staats, die Bezahlung der Beamtenschaft usw. aufstellte, wird diese Schrift (wenn auch nicht auf breiter Basis) zur Schulung verwendet. Doch die Widersprüche zur stalinistischen Praxis sind tabu — sie dürfen nicht herausgestellt werden!

d) In einigen Fällen geht man auch bis zur offenen Revision, doch im allgemeinen wird das vermieden, um das Odium des „orthodoxen Marxismus“, der angeblich vertreten wird, nicht zu zerstören. Wo allerdings solche Revisionen offen vorgenommen werden, bleibt vom Leninismus nichts übrig. Z. B. hat Stalin 1938 die Staatstheorie revidiert und erklärt, der Staat, also ein Herrschaftsinstrument von Menschen über Menschen, bleibe in der Sowjetunion auch im Sozialismus, u. LI. sogar im Kommunismus, d. h. in der klassenlosen Gesellschaft, in der alle Herrschaft von Menschen über Menschen abgeschafft ist, bestehen. Seine „theoretische Begründung" dieser offenen Revision des Marxismus und Leninismus war die Feststellung, der Staat richte sich in erster Linie „nach außen“, außerdem sei er notwendig, um „das sozialistische Eigentum vor Dieben und Plünderern zu schützen" 165). Um diesen antimarxistischen Thesen über den Staat die Krone aufzusetzen, erklärte es Stalin zur Aufgabe des „Unterdrückungsinstrumentes“ Staat, die „kulturelle Erziehung" zu leiten!

Der Stalinismus benützt so die verschiedensten Möglichkeiten, vom Verschweigen bis zur offenen Revision (wobei plötzlich betont wird, der Marxismus sei nicht dogmatisch, sondern „schöpferisch“) 166), um den „Marxismus-Leninismus“ der Politik der Bürokratie anzupassen.

Die Beugung des Marxismus-Leninismus auf die gerade gültige oder benötigte politische Linie ist ein wesentliches Merkmal der stalinistischen Ideologie.

Es braucht nicht besonders betont zu werden, daß eine solche ständige Wandlung und Veränderung der Grundlagen der Ideologie nur in einem System funktionieren kann, welches die Meinungsbildung in den Händen einer kleinen Schicht monopolisiert hat. Das ist im stalinistischen Bereich die Parteispitze selbst. Sie bestimmt (durch ihre Agitprop-Abteilung)

die jeweilige Form der Ideologie, d. h. bringt sie mit der tagespolitischen Linie in Einklang. Dabei kann sie sich auf das Monopol der Presse, des Rundfunks, aller Schulungseinrichtungen usw. stützen und* verhindert durch die drohende Wachsamkeit der Geheimpolizei jedes Aufbegehren gegen die ständigen Änderungen. Jede „Abweichung“ von der offiziellen „Linie“ wird daher streng geahndet. Schon 1932 wurde in einem „theoretischen“ Werk behauptet:

Duldung bürgerlichen Einflusses innerhalb der Partei, die die proletarische Klassenpartei sein sollte“

Durch das Monopol der Auslegung der Ideologie bleibt der Schein gewahrt, die marxistische Theorie bilde die Grundlage der stalinistischen Ideologie, ja der stalinistischen Politik. Dafür nur ein Beispiel. In den Jahren 1944/45 erklärten die Stalinisten den „unterschiedlichen Weg zum Sozialismus“ für verbindlich, da schon Lenin diese Theorie vertreten habe. Zum Beweis wurde ein Lenin-Zitat in den Mittelpunkt gestellt, in dem es hieß:

„Alle Völker werden zum Sozialismus gelangen, das ist unausbleiblich, aber sie werden dahin nicht auf ganz dem gleichen Wege gelangen, jedes Volk wird dieser oder jener Form der Demokratie, dieser oder jener Abart der Diktatur des Proletariats, diesem oder jenem Tempo der sozialistischen Umgestaltung der verschiedenen Seiten des gesellschaftlichen Lebens seine Eigenart verleihen“

Nach 1948 dagegen wurde der „besondere Weg“ zum Sozialismus (in der Sowjetzone, der „eigene Weg zum Sozialismus“, wie ihn Ackermann entwickelte) für ketzerisch erklärt und seine Anhänger verfolgt. Andere Lenin-Zitate, die das Schwergewicht auf die Übereinstimmung in der „Entwicklung zum Sozialismus“ betonten, verdrängten das angeführte Zitat.

Auf dem XX. Parteitag aber erklärte Chruschtschow wieder, daß die „Formen des Übergangs zum Sozialismus immer mannigfaltiger werden“

und stellte das oben angeführte Zitat erneut in den Mittelpunkt. Nach den Revolutionen in Polen und Ungarn sicht es fast so aus, als ob in dieser Frage eine erneute Schwenkung bevorstünde.

Die Hintergründe sind einfach. 1944/4 5, im Rahmen der Zusammenarbeit mit den Westmächten, sollte „theoretisch“ untermauert werden, daß die Sowjetunion nicht beabsichtige, anderen Ländern ihren politischen Status aufzuzwingen. Zugleich sollte im Rahmen der „Volksfront“

den verschiedenen kommunistischen Parteien des Westens die Regierungsbeteiligung erleichtert werden. 1948 schlug die Ideologie zurück, als Tito den „unterschiedlichen Weg“ wörtlich nahm und Moskau den Gehorsam verweigerte. In andern Ländern (z. B. in Polen) bahnte sich ähnliches an. Ohne Skrupel wurde die Ideologie umgestellt, die Nachahmung des russischen Beispiels wurde auch „theoretisch“ begründet.

Auf dem XX. Parteitag öffnete Chruschtschow die Ventile des zum Zerreißen gespannten Kessels, den die Russifizierungspolitik in den Volksdemokratien hervorgebracht hatte, und stellte die Theorie von 1944 wieder in den Mittelpunkt. Es war zu spät. Die polnische und ungarische Revolution waren nicht zu verhindern und es scheint, als müsse die Ideologie erneut das Gesicht ändern. Während so der Anschein erweckt wird, als lasse sich die Politik der Sowjetunion von der leninistischen Theorie leiten (Lenin-Zitate oder Grundsätze Lenins wurden ja immer herausgestellt und dabei wird erklärt, deswegen betreibe man diese Politik), ist es genau umgekehrt, sind die Lenin-Zitate oder Prinzipien, die man nach den Augenblicksinteressen auswählt, nichts weiter als die ideologische Verschleierung der Politik, die sich nach den Interessen der herrschenden Oberschicht, der Bürokratie, richtet!

Das Fehlen jeden echten Meinungsstreits, die geistige Unfreiheit, die aus solcher stalinistischen Handhabung der Ideologie erwächst, hat reale Hintergründe. Die vollkommene Erstarrung des geistigen Lebens, die solche Ideologie hervorbrachte, wuchs mit dem Machtanstieg der Bürokratie.

Nach der Revolution gab es nicht nur verschiedene Richtungen des Marxismus-Leninismus, sondern selbst Wirkungsmöglichkeiten für andere Ideologien und Theorien. Auf dem Gebiet der Philosophie z. B. herrschte in den ersten Jahren nach der Revolution „sogar ziemlich große Freiheit . . ., so daß nicht nur die materialistische Philosophie, sondern auch verschiedene idealistische Systeme vertreten und gelehrt werden konnten“

Diese Freiheit wurde in den folgenden Jahren eingeschränkt und nach dem Sieg der stalinistischen Bürokratie durch einen „Beschluß des ZK der KPdSU“ (!) vom Januar 1931, der auch die letzten Strömungen innerhalb des Marxismus-Leninismus unterdrückte, ganz aufgehoben. Der Beschluß forderte den Kampf an zwei Fronten, gegen die „Mechanisten“ (die besondere Betonung auf den Materialismus legten, u. a. Bucharin) und die „Idealisten“ (die mehr auf Hegels Dialektik zurückgriffen, u. a. Deborin, Sten), die damaligen Diskussionen wurden nicht nur als theoretische, sondern auch als politische Kämpfe gewertet.

„Der Mechanismus ist von den Kommunisten als philosophische Grundlage der , rechten Opposition Bucharins, der von A. M. Deborin repräsentierte , menschewisierende Idealismus'als Philosophie der trotzkistischen , linken Opposition bezeichnet worden“ 170).

Durch ihr Diktat beendete die stalinistische Partei nicht nur jeden philosophischen Meinungsstreit, überhaupt jede ernsthafte theoretische Auseinandersetzung, sondern sie „bestimmte“ selbstherrlich für alle Wissensgebiete die „richtige Linie“ und schuf ein ideologisches Monopol, das jede freie Entwicklung der Wissenschaft und Kunst verhinderte. (Ein krasses Beispiel dieser Meinungsdiktatur waren die Lyssenko-Debatten“ in der Biologie.)

Die Bürokratie fürchtet abergläubisch alles, was ihr nicht unmittelbar dient oder was sie nicht versteht. Darum wird von der Partei in der Art militärischer Befehle in der Wissenschaft und Kunst, in der Architektur ebenso wie in der Nationalökonomie, dekretiert. So liefert nicht die Wissenschaft Material für theoretische Schlußfolgerungen, sondern ordnet sich den Befehlen und Erfordernissen der bürokratischen Politik und ihrer Ideologie unter.

Eine Kontrolle oder Lenkung von Wissenschaft und Kunst durch Partei oder Staat war für Marx und Engels undenkbar. Es war Engels, der 1891 eine Kontrolle durch die Partei lächerlich machte und schrieb:

„Es ist in der Tat ein brillanter Gedanke, die deutsche sozialistische Wissenschaft, nach ihrer Befreiung vom Bismarckschen Sozialistengesetz, unter ein neues, von den sozialdemokratischen Parteibehörden selbst zu fabrizierendes und auszuführendes Sozialistengesetz zu stellen. Im übrigen ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen“

Auch Lenin war weit davon entfernt, etwa der Kunst eine bestimmte Richtung diktieren zu wollen. Obwohl er persönlich einen sehr „konservativen“ Kunstgeschmack besaß, kam er nie auf den Gedanken, seinen Geschmack zum Gesetz erheben zu wollen. Unter Lenin konnte Lunatscharski, damals Volkskommissar für Kultur, gerade die modernen Kunstrichtungen protegieren. Erst unter Stalin bekamen die Künstler Anweisungen, was und wie sie zu schreiben oder zu malen hätten, wurden Kunst wie Wissenschaft von der Ideologie und damit von der Politik abhängig.

Die Widersprüche

Die stalinistische Bürokratie behauptet, daß der Marxismus ihre Weltanschauung ist — in Wirklichkeit wurde im stalinistischen „dialektischen Materialismus“ ein System gebildet, wurden mit dem Marxismus unvereinbare Dogmen geschaffen. Die stalinistischen Ideologen berufen sich auf den historischen Materialismus — in der Praxis wird der historische Materialismus aber einer „Naturphilosophie“ untergeordnet und nicht angewandt.

Die Gesellschaftswissenschaft" vertuscht die Rolle der Bürokratie in der Sowjetunion, gibt an Stelle wissenschaftlicher Untersuchungen der 167

Sowjetgesellschaft rosarot gefärbte Rechtfertigungen. Die dogmenartig angewandte Politökonomie stagniert. Je näher die Ideologie an die politische Ebene heranreicht, desto mehr ist die Bürokratie gezwungen, die Widersprüche zwischen marxistischer Theorie und stalinistischer Praxis zu verschleiern und den Marxismus-Leninismus entsprechend zu verändern.

Statt der Diktatur des Proletariats Diktatur der Bürokratie und der Apparate; der Staat stirbt nicht ab, sondern erhält immer größere Macht; anstelle des marxistischen Prinzips der Abschaffung von Privi-Seite Schicht; statt Sozialismus, d. h. Leitung der Produktion durch und für die Produzenten, Allmacht der Betriebsdirektoren; Zwang anstelle der Überzeugung; blutige Säuberungen usw. usf. Das ist die unüberbrückbare Kluft zwischen marxistischer Theorie und stalinistischer Wirklichkeit.

Es ist letztlich der Sinn der stalinistischen Ideologie, diesen Widerspruch zu vertuschen, um die Herrschaft der Bürokratie zu verschleiern und zugleich zu verteidigen. Das ist weit mehr als eine „Revision des Marxismus“, wie oft angenommen wird.

„Die stalinistische Bürokratie ist wie jede Usurpatorenkaste ein Feind jeder Theorie. Ihre soziale Rolle eines Parasiten kann sie weder vor sich selbst noch vor andern theoretisch rechtfertigen. Wo sie den Marxismus revidiert tut sie es nicht mit der Feder des Theoretikers, sondern mit den Revolvern der NKWD. Diese Haltung des Stalinismus steht in solch eklatantem Gegensatz zu dem pedantisch gewissenhaften Verhalten Lenins in Fragen der Theorie, daß man sich nur wundern muß, wieviele „Theoretiker“ es gibt, die . . . Leninismus und Stalinismus einfach gleichsetzen“

So gesehen verwandelt sich die Ideologie des Stalinismus in den Versuch, der Herrschaft der Bürokratie durch Beibehaltung der alten Terminologie und durch formale Anerkennung des Marxismus-Leninismus eine „theoretische Grundlage“ zu geben. Es ist zugleich der Versuch, die Wandlungen seit der Oktoberrevolution zu leugnen.

Im Gegensatz zur marxistischen Theorieist der Stalinismus damit eine I d e o 1 o g i e , d. h. Verschleierung der Rolle einer neuen Oberschicht, u. a. durch Funktionswandel der Begriffe, wie es Karl Mannheim aufzeigt:

„Wadtsen neue Schichten in Ideengehalte von bereits vorhandenen Schichten hinein, so wird es sich immer zeigen lassen, daß dieselben Worte für sie etwas anderes bedeuten werden, weil die Strebungsrichtung und der Existenzzusammenhang, aus dem diese neüen Schichten denken, auch ein anderer ist“

Da es sich auch bei der stalinistischen „Theorie“ nicht nur um bewußte Lügen handelt, sondern eben eine solche Ideologie, braucht den Einzelnen der Widerspruch nicht immer bewußt zu sein, kann er sich für einen „Marxisten“ halten, ohne daß an den Fakten etwas geändert wird. Schon Marx erklärte: . . . „wie man im Privatleben untersdteidet zwischen dem, was ein Mensch von sidt meint und sagt, und dem, was er wirklich ist und tut, so muß man noch mehr in geschichtlichen Kämpfen die Phrasen und Einbildungen der Parteien von ihrem wirklichen Organismus und ihren wirklichen Interessen, ihre Vorstellung von ihrer Realität unterscheiden“

174).

Das gilt mehr denn je für die stalinistische Ideologie und ihre Anhänger.

Lim dabei die Widersprüchlichkeit nicht offenbar werden zu lassen, mußte in der stalinistischen Ideologie anstelle des kritischen Denkens der Autoritätenglaube treten Nach seinem Lieblingsmotto befragt, antwortete Marx: „De Omnibus dubitantum (An allem ist zu zweifeln)“

Dieser kritische und selbstkritische Grundgedanke durchzieht den Marxismus. Drastisch erklärte Lenin 1921:

„Man muß das eine wie das andere (d. h. beide Seiten) studieren und dabei unbedingt möglichst genaue, gedruckte, der Nachprüfung von allen Seiten zugängliche Dokumente fordern. Wer aufs Wort glaubt ist ein hoffnungsloser Idiot . . .“

Gerade zu einem „Glauben“ aber hat die stalinistische Ideologie geführt und die ganze Schulung soll dazu erziehen. Ob dabei an den einen „großen Stalin“ (der in Hunderten von Gedichten und Geschichten als Götze gefeiert wurde) geglaubt wird oder an das „weise Zentralkomitee“, ist von untergeordneter Bedeutung, in beiden Fällen zeigt sich ‘der grundsätzliche Unterschied zum Marxismus und Leninismus.

„Lenin, der Heldenverehrung haßte und die Religion als Opium für das Volk bekämpfte, wurde im Interesse der Sowjet-Politik kanonisiert und seine Schriften wurden der Heiligen Schrift gleichgestellt“

Doch die stalinistische Ideologie enthält gezwungenermaßen (um ihre Rolle der Verschleierung aller Veränderungen erfüllen zu können) marxistische Elemente, muß auch Marx (wenn auch den zensierten Marx) in ihr „Schulungsprogramm“ aufnehmen. Trotz aller Verbalhornung, Verflachung, Verfälschung und Kastrierung enthielt der Marxismus selbst in dieser, von den Stalinisten gelehrten Form noch kritische und revolutionäre Ansatzpunkte genug, um bei der ersten Regung kritischen Den-kens (nach dem XX. Parteitag) marxistische und leninistische Gegner des Stalinismus in Masse (man denke an Polen und Ungarn) hervorzubringen.

Die Schwäche des Stalinismus wurde in seiner eigenen widerspruchsvollen Ideologie sichtbar.

Zurück Lenin?

Nach Stalins Tod und besonders nach dem XX. Parteitag der KPdSU bahnt sich eine Änderung der stalinistischen Ideologie an. Mit der Kritik an Stalin (zu seinen Lebzeiten war jedes seiner Worte für andere unanfechtbar) und dem Ruf „Zurück zu Lenin!“ scheint eine Renaissance des ursprünglichen Marxismus-Leninismus einzusetzen. Bis jetzt kann davon allerdings nur auf einigen Gebieten gesprochen werden. So etwa bei der Kritik an Stalins Systematisierung des dialektischen Materialismus, dem Dogmatismus der „vier Grundzüge“ der Dialektik usw. Selbst die SED kritisierte:

„Es bürgert sich immer mehr die Praxis ein, Zitate aus Werken des Gen. Stalin für ausreidtende wissenschaftliche Beweise zu halten. . . . Die Verabsolutierung der vom Gen. Stalin formulierten philosophischen Leitsätze und Grundzüge führte schließlich zu einer gewissen Stagnation des Philosophisdien Denkens. . . . Dementsprechend beschränkten sich die marxistischen (!) Philosophen mehr und mehr darauf, die für absolut unanfeditbar geltenden Formulierungen des Gen. Stalin zu interpretieren und zu popularisieren . . .“

Sind die politischen Veränderungen des Stalinismus (die „Entstalinisierung“) durch die Veränderungen der modernen russischen Industriegesellschaft und den Massendruck von unten zu erklären, so sind die ideologischen Wandlungen letztlich Auswirkung der geänderten Politik. Auch die Notwendigkeit, bessere Ergebnisse der Wissenschaft zu erreichen und die durch den Dogmatismus und Druck der Stalin-Ära gehemmten Kräfte zu entwickeln, machte ideologische Lockerungen notwendig, wie sie von den Wissenschaftlern und selbst den Ideologen schon länger erhofft wurden.

Doch so wenig mit der „Entstalinisierung" bisher die Bürokratie verschwunden ist, so wenig hat sich ihre Ideologie grundlegend geändert. Das (zeitweilige!) Annähern an die historische Wahrheit bei der Geschichtsbetrachtung, die Ablehnung der Stalin-These vom „verschärften Klassenkampf“ im „Sozialismus“ usw. sind keineswegs zu unterschätzende Fakten. Diese Veränderungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß auf wichtigen Gebieten (Politökonomie, Staatstheorie u. a.) die stalinistische Ideologie unverändert fortbesteht. Das Prinzip der stalinistischen Ideologie, mit allen Mitteln eine ideologische Rechtferti-gung der stalinistischen Praxis zu erreichen, ist nach wie vor gültig — und das ist entscheidend!

Ein Beispiel dafür ist das Werk „Politische Ökonomie — Lehrbuch“, dazu bestimmt, die jetzt kritisierte „Geschichte der KPdSU — Kurzer Lehrgang“ als Hauptquelle der Schulung und Verbreitung der Ideologie zu ersetzen. (Die erste Auflage der „Politischen Ökonomie" betrug in der SU drei Millionen Exemplare!) Dieses Buch, das in der Sowjetunion, den Volksdemokratien und in der „DDR“ zur Grundlage der ideologischen „Neu" ausrichtung gemacht wird, zeigt zweierlei:

1. Während zu Stalins Lebzeiten die ideologische Ausrichtung besonders an Hand der Geschichte betrieben wurde (besser gesagt, einer verlogenen stalinistisch umfrisierten Geschichte!), um den Personenkult und seine Autokratie zu fördern, steht heute die Politökonomie im Vordergrund. Auf dem XX. Parteitag hat Chruschtschow für diese Umstellung (indirekt) die realen Gründe genannt: ein Zurückbleiben der Funktionäre hinter den wirtschaftlichen Erfordernissen.

2. Im Lehrbuch der Politischen Ökonomie ist die Betrachtungsweise des Kapitalismus weiterhin stalinistisch-dogmatisch und damit un-marxistisch; die Untersuchung des sogenannten Sozialismus also der bürokratischen Sowjetgesellschaft ist nach wie vor ein Rechtfertigungsund Verschleierungsversuch der wirklichen Verhältnisse durch die Ideologie. Das gilt für fast alle Gebiete der Ideologie auch nach Stalins Tod und nach dem XX. Parteitag. Die Untersuchung der Rolle Stalins z. B. geschah durchaus unmarxistisch, gegen die Methode des historischen Materialismus: die bürokratischen Entartungen sollten quasi aus den „negativen Charakterzügen“ Stalin erklärt werden! Trotzdem hat die teilweise Kritik des früheren Idols Stalin bei den geschulten jüngeren Kadern, für die die Ideologie vorher eine Glaubensangelegenheit war, zum kritischen Denken überhaupt angeregt. Die Widersprüche der stalinistischen Ideologie und die unüberbrückbare Kluft der stalinistischen Praxis zum Marxismus ist einem nicht geringen Teil der geschulten Jungarbeiter aufgegangen. Der Ruf „Zurück zu Lenin!“ von dieser Seite hat einen ganz anderen Charakter als die offizielle Version. Von ihnen wird eine wirkliche Herrschaft der Arbeiter, Absterben des Staates, Selbstverwaltung und mehr Freiheit verlangt. Die leninistische Theorie wird als Ausgangspunkt der eigenen Praxis gegenübergestellt, um letztere zu beseitigen. Die theoretischen Diskussionen in Polen zeigen, daß diese Kräfte unter „zurück zu Lenin“ ein Vorwärts zu höheren Formen meinen, als es die leninistische Praxis unter den besonderen LImständen im isolierten und rückständigen Rußland von 1920 war.

Die bürokratische Ideologie

Die stalinistische Ideologie, der „Marxismus-Leninismus“ stalinistischer Prägung ist die Ideologie der herrschenden Oberschicht der Sowjetunion, des Apparats, der Bürokratie. Entsprechend ist der Charakter der Ideologie.

1. Es handelt sich um eine Verschleierungsideologie. Die wirklichen Verhältnisse sollen durch eine nicht mehr berechtigte Terminologie und verbalhornte Theorie, den „Marxismus-Leninismus“, verdeckt werden. (Bezeichnung der Bürokraten-Herrschaft als Sozialismus, der Partei als „Arbeiterpartei“ usw.).

2. Wie die Ideologie im Einzelnen auszusehen hat, d. h. wie der „Marxismus-Leninismus“ verändert wird, bestimmt die oberste Parteispitze, (zu seinen Lebzeiten Stalin).

Kriterium ist, daß die Ideologie der gerade durchgeführten Politik der Bürokratie entspricht, sie rechtfertigt. Die jeweilige Politik richtet sich nach den Interessen der Bürokratie, ihre Augenblicksinteressen bestimmen also auch das Gesicht der Ideologie.

3. Nach außen aber hat die Ideologie, die als Theorie ausgegeben wird, die Politik zu „begründen“. Durch diesen Salto mortale wird der Anschein erweckt, als lasse sich die stalinistische Politik und Wirtschaft von einer Theorie leiten. Hier hat der häufige Trugschluß seine Wurzeln, die „Kommunisten“ in der Sowjetunion richteten sich nur nach der Theorie.

Die Scholastik, der Begriffsdogmatismus, der Zitatenstreit verstärken diesen Eindruck ebenso wie die Tatsache, daß natürlich die Ideologie, einmal vorhanden, ebenfalls die Beschlüsse der Sowjetpolitiker mitbestimmt — nur ist eben die Ideologie Ausdruck bestimmter Interessen und wird von der Notwendigkeit der politischen Augenblicksinteressen geprägt.

4. Die Vorspiegelung, daß sich die stalinistische Partei nach der Theorie des Marxismus-Leninismus richtet, nach der, wie immer wieder betont wird, einzig richtigen Theorie handelt, soll den Anschein erwekken, daß die Führung nicht irren kann, immer recht hat. Da sie die „wissenschaftliche“ Theorie anwendet, führt sie auch die richtige und einzig mögliche Politik durch.

5. Die dem Marxismus innewohnende Fortschritts-und Zukunftsidee wird besonders herausgestrichen, ja überbetont, um zu behaupten, nur wer die Partei unterstütze, verschließe sich nicht der „historischen Notwendigkeit“, die sich absolut durchsetze. Zugleich wird ein ständiger Aufstieg verheißen, eine bessere Zukunft „wissenschaftlich“ prophezeit, wobei natürlich allein die nach der richtigen Theorie handelnde Partei (also die organisierte Bürokratie) die Gesellschaft zu diesem Ziel führen kann.

6. Die Geschlossenheit des ideologischen Systems, die Unkenntnis jeder andern außer der herrschenden Ideologie und die Überzeugungskraft der in der Ideologie formal enthaltenen marxistischen Thesen machen die Ideologie zu einer starken Stütze der bürokratischen Herrschaft, da es der Bürokratie durch die Schulung gelingt, breitere Kreise für das stalinistische System zu gewinnen. Durch die Ideologie wird so nicht nur der Widerspruch zur marxistischen Theorie verhüllt, sondern auch die Herrschaft der Oberschicht, ja durch ideologische Überzeugung anderer Kreise wird die Position der Bürokratie gestärkt. Doch die in der Ideologie formal enthaltenen (revolutionären!) marxistischen Thesen und der Widerspruch von Ideologie und Praxis des Stalinismus zum eigentlichen Marxismus und der Gegensatz zur Arbeiterklasse wird gerade durch die weite Verbreitung der Ideologie zur Gefahr für den Stalinismus. Die Kritik, einmal geweckt, ist kaum aufzuhalten, die Widersprüche werden Sprengstoff in der Herrschaft der Bürokratie, die „ihre eigenen Totengräber“ gezüchtet hat, wie das Marx im Kommunistischen Manifest von der herrschenden Klasse feststellte.

Stalinistische Parteigeschichte

Ein besonders bezeichnendes Beispiel für die Apologie der stalinistischen Ideologie stellt die sowjetische Geschichts-und vor allen Dingen die Parteigeschichtsschreibung dar. Bis in die jüngste Zeit wird gerade hier deutlich, daß das Prinzip der stalinistischen Ideologie (und somit auch ihre Historie) noch immer ein Rechtfertigungsinstrument der Partei-und Staatsführung für ihre jeweilige Politik ist. So nahmen denn auch die Wandlungen der Sowjetgeschichtsschreibung unter dem Stalinismus immer umfangreichere und groteskere Formen an.

Einen krassen Einschnitt bildet dabei der berüchtigte Brief Stalins an die Redaktion der „Proletarskaja Rewoluzija" vom Oktober 1931. LInter dem Titel „Über einige Fragen der Geschichte des Bolschewismus“ verdammte Stalin den Parteihistoriker Sluzki als „Trotzkisten“. Stalin betonte, es gebe „Axiome des Bolschewismus“, über die keine Diskussion zulässig sei. Er erklärte jeden zum „Trotzkisten“, der aus der Parteigeschichte nicht genehme Schlußfolgerungen zog. Die Konsequenz war:

„Der Trotzkismus ist ein Vortrupp der konterrevolutionären Bourgeoisie. Deshalb ist der Liberalismus gegenüber dem Trotzkismus, audr wenn dieser geschlagen ist und sich maskiert, eine Torheit, die an ein Verbredten, an einen Verrat an der Arbeiterklasse grenzt.

Deshalb müssen die Versuche mancher . Literaten und . Historiker in unsere Literatur maskierten trotzkistischen Plunder einzuschmuggeln, auf'die entsdiiedeiie Abfuhr der Bolschewiki stoßen. Deshalb darf man keine literartische Diskussion mit trotzkistischen Schmugglern zulassen"

Mit diesem Brief wurde offen die „Parteilichkeit“, d. h. faktisch die Zweckmäßigkeit für die Parteilinie, zum Prinzip für die Geschichtsschreibung erhoben. Die Linie der Parteigeschichtsdarstellung wurde von oben festgelegt und jede Diskussion darüber war verboten.

Was sind nun die Kennzeichen und „Notwendigkeiten“ der stalinistischen Fälschung der Parteigeschichte, wie sie besonders nach Stalins „Brief“ gang und gäbe wurde?

In erster Linie war die Stalin-Legende ein Grund der ständigen Änderungen und „Überarbeitungen“ der Parteigeschichte Die laufenden Umdeutungen und Veränderungen bei der Darstellung der Parteigeschichte haben jedoch noch weitere Gründe. Geschichte ist für den stalinistischen Historiker nur noch in die Vergangenheit projezierte Gegenwart oder Geschichte ist Vergangenheit im Spiegel der (gegenwärtigen) Politik geworden. Entsprechend der in der Gegenwart durchgeführten Politik, wird die Vergangenheit umgeschrieben, die „richtige Linie“ der Gegenwart hat die richtige Linie der Geschichtsbetrachtung zu sein, der gegenwärtige Führer muß schon immer Führer gewesen sein und die einzig richtige Politik vertreten ha-ben, entsprechend müssen gegenwärtige Feinde zu Feinden überhaupt gestempelt werden. Die daraus entstehende Schwarzweiß-Malerei ist das Kennzeichen der stalinistischen Geschichtsschreibung.

Charakteristisch für die stalinistische Geschichtsbetrachtung ist die Behauptung, daß „die Partei“ und erst recht Stalin oder die Führer immer die richtige Politik machten, als „Leninisten“ nie grundsätzliche Fehler begingen.

Dabei mußte die historische Tatsache der „Umrüstung“ der Bolschewiki im März-April 1917 vertuscht werden. Es handelt sich dabei um den Versuch der „alten Bolschewiki“, die Strategie und Taktik Lenins von 1905 auch nach der Februarrevolution von 1917 beizubehalten. Die „alten Bolschewiki“

befürworteten eine bedingte Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung, während Lenin die Losung der Weiterbetreibung zur sozialistischen Revolution aufstellte. Erst eine Weile nach Lenins Rückkehr nach Rußland schwenkte Stalin zu Lenin über, der auf der Aprilkonferenz einen festen Sieg seiner Linie verbuchen konnte.

1923 hatte Sinowjew noch freimütig von der „Evolution des Bolschewismus“

geschrieben und ohne Umschweife ausgesprochen:

„Diese Evolution unserer Ansichten im Laufe der Zeit von 1905 bis 1917 können wir nicht leugnen, ebenso wie wir audt nicht leugnen können, daß sie nicht ohne gewisse Reibungen vor sich gegangen ist"

Lenin selbst hatte auf der Petrograder Stadtkonferenz der Bolschewiki Ende April 1917 klargestellt: „Den alten Bolschewismus muß man aufgeben“.

Er bestätigte auch: „Linser Unglück aber ist, daß die Genossen „alte’ Bolschewiki bleiben wollen“

Ein Augenzeugenbericht des führenden Bolschewiki Raskolnikow macht die Situation bei Lenins Rückkehr deutlich:

„Als die Rednerliste ersdwpft war, kam Lenin sofort wieder zu sich, stand auf und kam sofort zur Sache. Er griff die Taktik scharf an, die von den führenden Gruppen der Partei und von einzelnen Genossen bis zu seiner Ankunft angewendet worden war . . .

Die hier vertreten waren, das waren die verantwortlichen Funktionäre der Partei, dod'i audi für sie war die Rede Lenins eine wirklidte Offenbarung. Sie setzte zwisdien die Taktik des gestrigen Tages und die Taktik des heutigen Tages einen unauslöschlidien Trennungsstrich . . .“

Noch 1928 wurde von einer neuen „taktischen Linie" gesprochen und indirekt zugegeben, daß damit Trotzkis These der „Machteroberung“

von 1905 übernommen worden war

Stalin hatte 1924 selbst bestätigt:

„Diese irrige Auffassung teilte ich damals mit andern Parteigenossen und habe midi von ihr erst Mitte April vollständig losgesagt, als ich mich den Thesen Lenins anschloß. Es war eine neue Orientierung erforderlich, diese neue Orientierung gab Lenin der Partei ..."

Die Tatsachen mußten trotz Stalins Eingeständnis von 1924 vergessen gemacht werden Schon Jaroslawski wandte sich gegen die Bezeichnung einer „ideologischen Umrüstung des Bolschewismus“ Da er auf Stalins „Selbstkritik“ von 1924 hinwies, mußte er scharfe Angriffe einstecken und sein Werk einmal mehr umschreiben! In Popows Parteigeschichte sieht es danach bereits so aus, als habe nur Kamenew eine andere Position als Lenin gehabt Popow erwähnte nun nebenbei, daß „eine neue strategische Etappe begann“. Im Jahre 5, als die 2. Auflage der Parteigeschichte von Knorin erschien, waren die Tatsachen noch mehr verdreht: „Genosse Stalin, der Ende März aus der Verbannung zurückkehrte, schrieb in der , Prawda‘, daß man die Revolution vorwärtstreiben müsse“ 193). Die Geschichtsklitterung ging bei Knorin noch weiter:

„Von den grundlegenden bolschewistischen Ridrtlinien geleitet, begann die Partei schon in den ersten Wodten der Februarrevolution, noch vor der Ankunft Lenins, wenn auch tastend, mit der Herausarbeitung einer neuen Orientierung . . . Die Partei mit Lenin und Stalin an der Spitze zersdimetterte . . . die redttsopportunistische Gruppe Kamenews"

Im „Kurzen Lehrgang“ von 193 8 wandelte sich die historische Wahrheit endgültig in die „parteiliche“ Betrachtung. Stalin hatte angeblich „Kamenew und einige Mitglieder der Moskauer Organisation, z. B. Rykow, Bubnow und Nogin", die einen „halbmenschewistischen Standpunkt“ vertraten, bekämpft

In der offiziellen Stalin-Biographie schließlich wurde die Geschichte ganz auf den Kopf gestellt:

„In dieser verantwortungsvollen Periode schließt Stalin die Partei zum Kampf für das Hinüberwachsen der bürgerlich-demokratisd'ien Revolution in die sozialistische zusammen. Stalin leitet gemeinsam mit Molotow die Tätigkeit des ZK . . ."

Diese Geschichtsklitterung wurde erstmals nach dem XX. Parteitag von Sowjethistorikern, besonders von Burdshalow, dem damaligen stellvertretenden Chefredakteur der Historikerzeitschrift (der deswegen bereits abgesetzt ist) angegriffen. Er enthüllte besonders den Gegensatz Lenin-Stalin, wenn er auch die Umrüstung noch nicht beim Namen nannte Das erklärte aber die Teilnehmerin der März-Konferenz von 1917, Drabkina, in der Zeitschrift „Kommunist“ ohne Umschweife:

„Die Ankunft Lenins und die Annahme seiner historisd-ien April-Thesen bedeuteten eine jähe Wendung im Leben der Partei"

Der Generalangriff gegen die Historiker, welche die stalinistischen Fälschungen zu überwinden trachteten, erfolgte in Nr. 4 des „Kommunist" 1957. War früher von „Schwankungen“ die Rede, so wurde nun gegen Burdshalow und die Zeitschrift „Fragen der Geschichte“ im alten stalinistischen Jargon polemisiert:

„Der Verfasser schafft keine Klarheit über die Taktik der Bolsdtewiki im März-April 1917. Ihm liegt mehr daran, einzelne Fehler und Mißgriffe Stalins herauszusuchen und Sinowjew zu preisen. Die bedenklidien Fehler des Historikers Burdshalow erklären sich durdt seine Preisgabe der marxistisch-dialektischen Forsdutngsmethode und des Prinzips der Parteilichkeit in der Gesdüchtswissensd^aft“

Mit dieser Rückkehr zur stalinistischen „Parteilichkeit“, d. h. zur Fälschungsmethode der Stalin-Ära ist die Auseinandersetzung um die Einschätzung und Darstellung dieses Einzelbeispiels der Geschichte der bolschewistischen Partei sicher nicht beendet. Es dürfte mehr als schwer sein, nach den Enthüllungen und der Kritik auf dem XX. Parteitag alle Historiker wieder unter einen Hut zu bringen. Andererseits zeigt sich, daß die Partei den Historikern nach wie vor die Aufgabe stellt, die Geschichte apologetisch auszulegen und dies als „Parteilichkeit“ zu verdecken.

Namen sind Schall und Rauch

Die Verfälschung historischer Fakten nach den „Bedürfnissen" der stalinistischen Tagespolitik läßt sich am besten bei der Darstellung von Persönlichkeiten und Führern der Parteigeschichte erkennen. Es ist interessant, wie sich z. B. die Gründer und Mitarbeiter der 1912 ins Leben gerufenen bolschewistischen Tageszeitung „Prawda“ in der stalinistischen Geschichtsschreibung „veränderten“. Noch 1928 wurden in der (deutsch erschienenen) „Illustrierte Geschichte der russischen Revolution“ 23 Personen als Redakteure und Mitarbeiter der ersten Nummern der Prawda angeführt: Lenin, Kamenew, Sinowjew, Schlapnikow, Krupskaja, Stalin, Pokrowski, Uljanowa, Poletajew, Demjan Bjedny, Kisselew, Schmidt, Eremejew, Kalinin, Sawaljew, Raskolnikow, Olminski, Molotow, Semlja-tschka, Krylenko, Danilow, Jenukidse und Rjasanow In der Parteigeschichte von Popow bleiben davon nur sehr wenige übrig: „An der Redaktion der Zeitung nahmen teil: die Genossen Stalin, Kamenew, Olminski, Molotow, Jeremejew, Samojlowa, die Mitglieder der sozialdemokratischen Fraktion der III. Duma Pokrowski und Poletajew und die Arbeiterdeputierten der IV. Duma Petrowski, Muranow u. a.

Während Sinowjew, Schlapnikow, Rjasanow, Schmidt usw., also inzwischen als „Parteifeinde“ verfemte Mitglieder, verschwiegen wurden, tauchten einige neue Namen auf. Doch auch diese Liste wandelte sich. Bei Knorin hieß es: „An der Leitung der Prawda nahm Genosse Stalin . . .

den engsten Anteil. Aktive Mitarbeiter der Prawda waren auch die Genossen Molotow, Bubnow, Olminski, Solz, Demjan Bjedny, Krylenko, Jenukidse u. a.“

Kamenew, Pokrowski und andere Stalin unbequeme Personen waren „aus der Geschichte gestrichen“ und durch Stalinisten, wie Solz ersetzt, Stalin als „Führer“ extra herausgestellt. Den Vogel schoß bei dieser Umwandlung der Redaktion der „Kurze Lehrgang“ der Geschichte der KPdSU ab, in dem es über die Prawda kategorisch hieß: „Begründet wurde sie gemäß der Weisung Lenins, auf Initiative Stalins, Olminski und Poletajews“ Seitdem Knorin seine „Liste“ der Gründer geliefert hatte, war auch Bubnow verbannt, Krylenko und Jenukidse — ebenso wie Knorin selbst — erschossen worden und so war für sie kein Platz mehr in den Annalen der stalinistischen Geschichtsschreibung!

Das 1912 gewählte ZK der Bolschewiki machte in der stalinistischen Historie ähnliche „Veränderungen“ durch. In einer offiziellen Sammlung von Parteidokumenten hieß es 1926-„Die Konferenz wählte ein neues ZK, das sich aus Lenin, Sinowjew, Ordshonikidse, Spandajan, Viktor, Malinowski und Goloschtschekin zusammensetzte“

Noch 193 3 hieß es in den Anmerkungen zur deutschen Lenin-Ausgabe:

„Die Konferenz wählte ein ZK ans sieben Mitgliedern (Lenin, Sinowjew, Ordshonikidse M. a.) und vier Ersatzmännern. Diese Zusammensetzung des ZK wurde bald nach der Konferenz durch die Hinzuziehung der Genossen Stalin und Bjelostozki ergänzt“

Während Popow noch zugab, daß Stalin kooptiert wurde, veränderte Jaroslawski die Zusammensetzung nach den opportunen Gründen der stalinistischen Linie:

„Non den Bolschewiki wurden auf der Prager Konferenz in das ZK gewählt: Lenin, Stalin, Sinowjew, Ordshonokidse, Goloschtschekin, ausserdem der parteitreue Menschewik Schwarzmann, sowie der später als Provokateur entlarvte Malinowski. Als Kandidaten wurden Bubnow, A. Smirnow, Kalinin, Stassowa und Spandarjan gewählt“

Bei Knorin ergibt sich bereits wieder ein anderes Bild:

„Die Konferenz . . . wählte ein neues bolschewistisches ZK mit Lenin an der Spitze. Dem ZK gehörten ferner an: die Genossen Stalin, Swerdlow, Ordshonikidse, Kalinin, Bubnow, Stassowa, Spandarjan und andere“

Swerdlow hatte nicht nur Sinowjew verdrängt, auch Goloschtschekin usw. waren verschwunden. In dem „Kurzen Lehrgang“ schließlich hieß es: „In dieses ZK wurden Lenin, Stalin, Ordshonikidse, Swerdlow, Spandarjan u. a. gewählt“ Außer Stalin wurden nur noch rechtzeitig verstorbene Funktionäre erwähnt!

Prinzipien stalinistischer Geschichtsschreibung

Die stalinistischen Historiker verwenden bei der „Umschreibung“ der Geschichte und ihrer „Anpassung“ an die jeweils gültige politische Linie hauptsächlich drei Methoden:

1. Verschweigen historischer Tatsachen und Fakten, 2. willkürliche Auswahl, Deutung und Verdrehung historische!

gebenheiten, 3. direkte Fälschung, Umlügen der Tatsachen.

Während der ersten Periode der stalinistischen Geschichtsschreibung (bis in die dreißiger Jahre) wurde die erste und zweite Methode benützt, um eine „parteiliche“ Darstellung der Geschichte zu geben. Durch Vertuschen und Umdeuten der Fakten wurde die Historie als Hilfsmittel im Kampf gegen die Opposition benutzt. Die Parteigeschichten von Popow und besonders die von Jaroslawski mit ihren Versuchen, die Opposition (besonders den „Trotzkismus") als „ewigen Feind" der „Partei" darzustellen, sind dafür Beispiele. Je nach der politischen Lage wurde der linken oder der rechten Opposition „historisch nachgewiesen“, daß sie immer „parteifeindlich und antileninistisch“ war, und Stalin das historische Recht auf seiner Seite habe.

Mit den Säuberungen begann eine zweite Periode mit plumpen Fälschungen und Darstellungen der Opposition als „kriminell“ und „volksfeindlich“. Knorins Parteigeschichte machte den Anfang, wurde aber rasch vom „Kurzen Lehrgang“ abgelöst, worin Stalin-Kult und Umfälschung der wirklichen Geschichte zur Perfektion gesteigert wurden.

Natürlich fand während dieser langen Etappen auch eine ständige Änderung von Einzelheiten der Parteigeschichte entsprechend den Änderungen der Politik statt. Lind was für die Parteigeschichte galt, war Kennzeichen der Geschichtsschreibung überhaupt. Mit dem XX. Parteitag begann eine dritte Periode, bei der bis jetzt noch die einheitliche Linie fehlt. Die Liberalisierung löst einerseits weitgehende Kritik an der stalinistischen Geschichtsschreibung aus; andererseits aber auch Gegenversuche, wenigstens die grundlegenden Methoden der stalinistischen Historie zu erhalten. Wenn auch die stalinistischen Prinzipien, d. h. die Auslegung der Geschichte nach politischen Gesichtspunkten noch besteht, so bedeutet das keine absolute Rückkehr zu den Methoden der zweiten Periode, zu bloßer plumper Verfälschung. Vielmehr soll offensichtlich auf die „feineren Methoden“ der willkürlichen Deutung und Verschleierung zurückgegriffen werden. Nach den Enthüllungen des XX. Parteitags über die Hintergründe der Säuberungen kann schlecht die Version „Spione und Volksfeinde“ aufrechterhalten werden. Andererseits würde eine objektive Darstellung der Parteigeschichte der Opposition (bei den gegenwärtigen Spannungen im Ostblock) Zündstoff bedeuten.

Zwischen objektiver Betrachtung und plumper stalinistischer Methode die richtigen Wege zu finden, wird damit zur Aufgabe der Historiker erhoben:

„Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ist nur möglich in unversöhnlichem Kampf gegen den bürgerlichen Objektivismus und Revisionismus, wie gegen die Erscheinungsformen des Dogmatismus und die Folgen des Personen-Kults“ 209).

Die Wandlung der Partei Unter dem Leninismus war die innerparteiliche Auseinandersetzung eine ständige Begleiterscheinung des politischen Lebens. Bereits vor der ersten Revolution, ja noch vor der Herausbildung der bolschewistischen Partei, kam es innerhalb der damaligen bolschewistischen Fraktion (die sich nach der Spaltung von 1903 innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands formierte) zu Auseinandersetzungen, ja zu Spaltungen, die nicht selten durch zweitrangige Diskussionspunkte hervorgerufen wurden. Die Gruppe der „Versöhnler“ (Krassin, Noskow u. a.) bekam 1904 die Mehrheit gegen Lenin, 1909 trennte sich die Gruppe „Wperjod“ (Bogdanow, Lunatscharski u. a.) von den Bolschewiki, 1911 standen die „Parteibolschewiki" (Rykow, Losowski u. a.) gegen Lenin usw.

Bei der „Umrüstung“ des Bolschewismus gab es ebenso ernsthafte Auseinandersetzungen innerhalb der Partei wie bei der Vorbereitung des Aufstands, gegen den sich die Sinowjew-Kamenew-Gruppe wandte. Der Charakter der Partei änderte sich mit ihrer Machtergreifung, erst recht, als nach dem Verbot aller übrigen Parteien die bolschewistische die einzige politische Partei Rußlands wurde. Die Widersprüche der russischen Politik und Gesellschaft mußten sich im einzigen politischen Forum widerspiegeln — innerparteiliche Kämpfe wurden deutliche Zeichen der verschiedenen Tendenzen im Lande. Schon am 17. November 1917 hatten Kamenew, Sinowjew, Rykow, Miljutin und Nogin ihren Austritt aus dem ZK erklärt, da sie eine Verständigung mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki für notwendig hielten. Am 18. November gab Nogin im Namen der Regierungsmitglieder Miljutin, Theodorewitsch, Schlapnikow, Rjasanow u. a„ die ihre Posten ebenfalls niederlegten, eine Erklärung, mit der Forderung ab: „Eine sozialistische Regierung aus allen Räte-parteien zu bilden“. Die Krise dauerte nicht allzu lange, da die Oppositionellen in der Partei kaum Anhang hatten und auf ihre Posten zurückkehrten. Eine drohende Spaltung stand schon 1918 (im Zusammenhang mit dem Abschluß des Brester Friedensvertrages) vor der Partei. Die „Linken Kommunisten", die sich gegen den Frieden wandten und in ihm einen „Verrat an der Weltrevolution“ sahen, verfügten über einen starken Anhang und bildeten eine festgefügte Fraktion. Eine weitere Fraktion unter Trotzki gab die Losung „Weder Krieg noch Frieden“ aus, d. h.

stellte fest, daß mit der zerschlagenen russischen Armee kein Krieg mehr zu führen sei, sah aber auch die Annahme der deutschen Friedensvorschläge als unmöglich an.

Lenin verteidigte (zunächst mit einer Minderheit) einen sofortigen Friedensschluß, um die Macht in Rußland zu halten. Die Linken Kommunisten (unter Bucharin, Ossinski, Jakowlewa, Lomow, Kuibyschew u. a.), die das gesamte Moskauer Gebietskomitee, das Petrograder Parteikomitee und die Parteiorganisationen des Urals und der Likraine hinter sich hatten, verlangten den sofortigen Abbruch der Friedensverhandlungen. Bei allen Abstimmungen bis Mitte Februar 1918 erlitt Lenin eine Niederlage und beugte sich der Mehrheit. Erst nach den erneuten Angriffen der deutschen Truppen am 18. Februar 1918 wendete sich das Blatt. Auf dem VII. Parteitag im März wurde Lenins Resolution mit dreizehn gegen zwölf, bei vier Stimmenthaltungen angenommen. Die Auseinandersetzungen wurden oft mit einer solchen Schärfe geführt, daß eine Partei-spaltung mehr als einmal im Bereich der Möglichkeiten lag. Da Lenins Politik zur Erhaltung der Macht sich als weitsichtiger erwies, zerfiel die Fraktion der linken Kommunisten sehr rasch. Als während der Periode des Kriegskommunismus und der NEP die Arbeiterkontrolle eingeschränkt wurde und innerhalb der Partei der Apparat ein immer er-drückenderes Gewicht erhielt, entstanden zwei neue Oppositionsfraktionen: die Demokratischen Zentralisten und die Arbeiteropposition.

Die Gruppe Demokratischer Zentralismus bildete sich z. Z.des IX. Parteitags (1920) und wurde von Sapronow, Maximowski und Ossinski geleitet. Die „demokratischen Zentralisten“ forderten die volle Freiheit der Fraktionen und Strömungen in der Partei, Partei-demokratie. Staatsapparat und Gewerkschaft sollten gegenüber der Partei selbständiger, die Macht der Apparate in der Partei gebrochen werden. Auf dem IX. Parteitag erklärte Sapronow:

„Wieviel wir audt vom Wal'ilred'it, von der Diktatur des Proletariats, vom Streben des ZK zur Diktatur der Partei reden, in Wirklichkeit führt uns das alles zur Diktatur der Partei-Bürokratie" 210).

Die Arbeiteropposition unter Führung der ehemaligen Metallarbeiter Schlapnikow und Lutowinow wollte den Arbeitern mehr Rechte eingeräumt wissen. Sie erstrebte die völlige Unabhängigkeit der Gewerkschaft von der Partei, wies auf den Bürokratismus im Staatsapparat hin und stellte die Losung der „Vergewerkschaftung des Staates“ auf.

Nach der Plattform der Arbeiteropposition werden einzelnen Betrieben große Rechte eingeräumt, wobei die leitenden Organe der Betriebe — die „Arbeiterkomitees“ — von den Arbeitern und Angestellten gewählt werden. Die Arbeiter und Angestellten sollten nach den Forderungen der Arbeiteropposition die „unmittelbare Verfügungsberechtigung über das unter ihrer Leitung befindliche Eigentum“ haben. Auch die Arbeiteropposition forderte „Gewährleistung der Diskussionsfreiheit, Anerkennung des Rechts der innerparteilichen Strömungen“

Die Parteiführung war bei Diskussionen über die Gewerkschaften in die verschiedensten Richtungen zersplittert, auf einer Sitzung der Moskauer Bezirke erwies sich, daß der Riß durch die ganze Partei ging. Diese Zersplitterung war einer der Gründe, aus dem man auf dem X. Parteitag ein Fraktionsverbot zur Erhaltung der Macht der Partei für notwendig hielt.

Das war eine schwerwiegende Entscheidung. Damit wurde auf dem X. Parteitag 1921 die innerparteiliche Demokratie, der letzte Hort politischer Demokratie nach dem Verbot der anderen Parteien, radikal eingeschränkt. Hier zeigt sich, wie schon zu Lebzeiten Lenins die Bürokratie und die Führung ihre Macht gegen jede Opposition mit allen Mitteln verteidigten. Die politischen Tendenzen, die sich wenigstens innerhalb der Kommunistischen Partei deutlich herauskristallisierten und sich gegenübergestanden hatten, fanden keine legale Möglichkeit zur Fraktionsbildung mehr. Auch wenn dieser Beschluß ursprünglich nur als vorübergehend angesehen und keineswegs mit absoluter Strenge durchgeführt wurde, bildete er doch die wesentliche Grundlage für die spätere „monolithische Einheit“ unter dem Stalinismus. Der Apparat hatte damit einen entscheidenden Sieg errungen — mit Unterstützung Lenins, der meinte, daß die KP durch ein Fraktionsverbot die Periode der NEP besser überstehen werde, als bei Freiheit der verschiedenen Strömungen in der Partei. In Wirklichkeit zeigte sich rasch, daß eine andere Gefahr viel größer war. Die Methoden der Unterdrückung führten dazu, daß die Gewalt und damit die Macht des Apparats auch in der Partei maßgebend wurden. Auf dem XL Parteitag mußte Schlapnikow erbittert feststellen:

„Genosse Frunse stellte in Aussicht, mich mit Maschinengewehren davon zu überzeugen, daß er recht habe"

Nachdem die Bürokratie die Macht immer stärker in ihren Händen konzentrierte und der Parteiapparat die Partei beherrschte, veränderten sich die Formen des innerparteilichen Kampfes. Abweichende Meinungen wurden schroffer unterdrückt, Oppositionelle ausgeschlossen, sogar verbannt. Auch die oppositionellen Richtungen verschärften ihre Angriffe, da sie bald merkten, daß die Auseinandersetzungen nicht um einzelne „Fehler“ in der Politik, sondern um Grundsatzfragen gingen. Das zeigte sich zuerst bei der oppositionellen „Arbeitergruppe“ und der „Arbeiterwahrheit“, die beide aus der Arbeiteropposition hervorgingen. Die Arbeitergruppe mit Mjassnikow an der Spitze entstand im Jahre 1923. Mjassnikow kam zu der Schlußfolgerung, daß wieder vollständige Pressefreiheit eingeführt werden müsse, da sonst der Sieg der Bürokratie nicht aufzuhalten sei. Auch die Selbständigkeit der Sowjets, wie sie 1917/18 bestand, sei wieder herzustellen.

Noch 192 3 wurden fast alle Mitglieder der Gruppe aus der KPdSU ausgeschlossen. Mjassnikow, immerhin eines der ältesten Mitglieder der bolschewistischen Bewegung, wurde bereits 1924 verhaftet und trat in den Hungerstreik.

Eine ähnliche Stellung wie die Arbeitergruppe nahm die „Arbeiterwahrheit“ ein. Die Anhänger dieser Gruppe wurden ebenfalls als „Konterrevolutionäre“ verhaftet.

Doch bis zur endgültigen Festigung der Macht des Stalinismus und damit der des Apparats mußten noch eine ganze Reihe von Gruppierungen innerhalb der Partei überwunden werden. Genauer gesagt, mußte die Partei erst völlig umgestülpt, mußten die Revolutionäre durch Apparat-leute ersetzt werden. Die Jahre von 1923 bis 1929, bis zur endgültigen Stabilisierung der Stalin-Herrschaft, sind daher auch die Zeit, in welcher der innerparteiliche Kampf am stärksten wütete. Dabei wurde die Politik des Apparats im wesentlichen von zwei Seiten, sowohl von links wie von rechts, angegriffen. Die Stalin-Fraktion stützte sich zur Erhaltung ihrer Macht auf die verschiedenen Gruppen, spielte die eine gegen die andere aus, um sie am Ende alle auszuschalten.

1923 kam es unter der immer erschreckender werdenden Zusammenballung der Macht in der Zentrale und im Apparat zur ersten breiteren Opposition von links. Am 15. Oktober 1923 veröffentlichten 46 bekannte Parteiführer die „Plattform der 46". Unterschrieben hatten u. a.

G. L. Pjatakow, erster Vorsitzender der Ukrainischen Sowjetregierung;

Preobraschenski und Serebrjakow, bis 1921 zentrale Parteisekretäre; Antonow-Owsejenko, einer der Führer der Oktoberrevolution; I. N. Smirnow, der Sieger über Koltschak; und weitere bekannte Parteiführer wie: Beloberodow, Muralow, W. Smirnow, Bubnow, Sapronow, u. a.; Rakowski, Krestinski und Radek erklärten sich mit der Plattform solidarisch. Die Bedeutung der Plattform wuchs durch die zunächst stillschweigende, später offene Unterstützung, die Trotzki ihr gab. In der Plattform wurde unter anderem festgestellt:

„Das Regime, das in der Partei errichtet worden ist, ist absolut unerträglich. Es erdrücht jede Initiative im Innern der Partei, es ersetzt die Partei durch den Apparat . .

Mit diesem Dokument war die Grundlage der linken trotzkistischen Opposition gelegt, deren wesentliche Forderungen waren: Entmachtung des Apparats, Ablösung der „entarteten" Führer, Stützung auf die Jugend und in der Politik, verstärkte Industrialisierung, größere Rechte für die Arbeiter.

Mit wütenden Angriffen zog die Parteimehrheit unter Führung Sinowjew, Kamenew, Stalin und Bucharin gegen den „Trotzkismus“ zu Felde.

Gewinner der Auseinandersetzung war einzig der Apparat unter Stalin, der seine Position festigte. Im Januar 1925 nahm das ZK eine Resolution an, in der es hieß, daß „der gegenwärtige Trotzkismus im Grunde genommen eine Verfälschung des Kommunismus ist im Sinne seiner Annäherung an die . europäischen'Vorbilder des Pseudomarxismus, d. h.

letzten Endes an die europäische Sozialdemokratie“

Bei der Differenz mit der linken Opposition spielte auch die Frage der weiteren Perspektive der Revolution eine Rolle. Da die erwartete Weltrevolution ausgeblieben war, kam die Losung der „Revolution in einem Lande" auf, die von den Trotzkisten scharf abgelehnt wurde.

Bei den Diskussionen und Abstimmungen erwies sich, daß die Opposition in der Partei keine Mehrheit besaß. Trotzdem hatte sie einen nicht geringen Einfluß. In Moskau stimmten z. B. 1924 auf den Bezirkskonferenzen etwa 1/3 für die Opposition, in einigen Stadtbezirken sogar die Hälfte Doch der Apparat erwies sich als stärker. Hinzu kam, daß nach Lenins Tod durch das sogenannte Lenin-Aufgebot die Partei ein neues Gesicht bekam. Waren am 1. April 1924 zirka 450 000 Mitglieder in der Partei, so zählte man am 1. Juli schon 911 000. Die neuen Mitglieder ohne Traditionen wurden zu Wachs in den Händen des Apparats, der über sie seinen Einfluß vermehrte.

Das mußten auch Sinowjew und Kamenew erkennen, als es Ende 1925 zu Differenzen innerhalb des „leitenden Kerns“ (Sinowjew, Kamenew und Stalin) kam. Stalin und der Apparat hatten (gestützt auf die Rechten Bucharin, Rykow usw.) bereits Macht genug, die „Neue Opposition“

unter Sinowjew rasch zu isolieren. Nur die Leningrader Parteiorganisation und der Kommunistische Jugendverband unter Safarow standen zunächst geschlossen hinter der „Neuen Opposition“. Auf dem XIV.

Parteitag (1925) war die „Neue Opposition“ schon in der Minderheit.

Auf diesem Parteitag traten sie ebenfalls gegen die Theorie vom Sozialismus in einem Lande auf. Besonders bekämpften sie die Macht des Sekretariats unter Stalin. Nach dem Parteitag gelang es dem Apparat in kürzester Frist, auch den Einfluß der „Neuen Opposition“ in Leningrad auszuschalten. Die Anhänger Sinowjews wurden abgesetzt.

Im Frühjahr 1926 schloß sich die geschlagene Sinowjew-Kamenew-Gruppe mit den Trotzkisten zum „Oppositionsblock“ zusammen, um eine letzte Kraftanstrengung gegen die Herrschaft des Apparats zu unternehmen.

In der „Plattform der 83“ und einer von 13 Mitgliedern des ZK und der ZKK zum XV. Parteitag herausgegebenen Erklärung wurde unter anderem geschrieben:

„Der Einfluß des Staatsapparats wächst, es wächst aber auch mit ihm zusammen die bürokratisclte Entartung des Arbeiterstaats. . , . Der aufgeschwollene und privilegierte Apparat der behördlichen Leitungen jrißt einen sehr bedeutenden Teil des Mehrwerts auf . . . das innere Regime in den Betrieben verschlechtert sich . . .“

Eine ähnliche Plattform veröffentlichte die ehemalige Gruppe „Demokratischer Zentralismus", die feststellte:

„Die Partei wird bürokratisiert, — die Gewerkschaften werden bürokratisiert, — beide werden in Hilfsorgane der Wirtschaftsorganisation verwandelt — es wird eine Einheitsfront der Gewerksdtafts-und Wirtschaftsparteiorgane gegen die parteilose Arbeiterschaft gesdtaffen . . .“ 217).

Als die linke Opposition zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution versuchte, eigene Demonstrationen durchzuführen, wurde sie vom Apparat mit Hilfe der GPLI vollends unterdrückt. Im November und Dezember 1927 schloß die Stalin-Führung 75 leitende Mitglieder der Opposition (u. a. Trotzki, Sinowjew, Radek, Rakowski, Laschewitsch, Jewdokimow, Preobraschenski, Serebrjakow, I. N. Smirnow, Smilga, W. Smirnow) aus. Nach dem XV. Parteitag wurden weitere 1500 Trotzkisten ausgeschlossen

Die Sinowjew-Opposition kapitulierte vor Stalin, gab der Parteiführung recht und ihre Anhänger wurden wieder in die Partei ausgenommen, ohne bedeutende Funktionen zu erhalten. Die Trotzkisten wurden verbannt, — die linke Opposition war geschlagen. Doch bereits ein Jahr später zeigten sich die ersten Anzeichen einer erneuten Opposition! Die Parteiführung unter Stalin begann eine „linke“ Politik zu verfolgen und führte die Forderungen der ehemaligen linken Opposition überstürzt und verzerrt durch: eine rasche Industrialisierung und Kurs gegen die „Kulaken“. Schon im Sommer 1928 trat der ehemalige Volkskommissar für Finanzen, Frumkin, gegen eine Wendung auf. Im Herbst 1928 schlug Bucharin vor, das Entwicklungstempo der Industrie herabzusetzen. Die Auseinandersetzungen wurden zunächst hinter verschlossenen Türen ausgetragen. 1929 traten Bucharin, Rykow und Tomski offen gegen den Apparat auf. Doch viel schneller als die linke Opposition wurden die Rechten von dem inzwischen allmächtig gewordenen Apparat geschlagen. Im April 1929 verlor Bucharin den Vorsitz in der Komintern, Tomski den Vorsitz der Gewerkschaft. Am 17. November 1929 wurde Bucharin aus dem ZK ausgeschlossen, Rykow und Tomski letztmals verwarnt. Schon am 25. November kapitulierten Bucharin, Rykow und Tomski in der „Prawda“ und erklärten:

„Unsere Ansichten in den bekannten Dokumenten niedergelegt, sind als irrig erwiesen“ Schon vorher hatten sich LIglanow, Michailow und andere rechte Oppositionsführer unterworfen. 1929 kapitulierte auch der Großteil der trotzkistischen Opposition (Serebrjakow, Radek, Preobraschenski, Smilga u. a.) vor Stalin. Trotzki selbst wurde aus der Sowjetunion ausgewiesen.

Die Stalinisten konnten triumphieren:

„Der XVI. Parteitag (1930) war der erste Parteitag nach dem Tode Lenins, auf dem es keinerlei Opposition gab, die irgendeine feste Form angenommen und der Parteilinie ihre eigene politische Linie entgegengestellt hätte.

Zwei Führer der rechten, Rykow und Tomski, bekannten von der Tribüne des Parteitags ihre Fehler . . .“

Die absolute Herrschaft des Apparats in der Partei nach dem Sieg der Stalin-Fraktion führte wohl dazu, daß die verschiedenen Richtungen in der KPdSLI unterdrückt, ihre Anhänger verbannt oder zur Kapitulation gezwungen, ja sogar erschossen wurden; die Widersprüche wurden damit nicht aus der Welt geschafft. Diese Gegensätze wiederum zeigten sich in den vielfältigsten Formen, auch in der KPdSLI — als die verschiedenen Richtungen ihr Haupt nicht offen erheben konnten, versuchten sie im geheimen gegen die Macht Stalins anzukämpfen.

Kaum hatte Stalin die Gegner von rechts und links unterdrückt, da mußte die Geheimpolizei bereits die erste „geheime Opposition“ entdecken. Eine Gruppe junger Funktionäre, die früher nichts mit einer Oppositionsgruppe zu tun hatte, schloß sich illegal zusammen, um Stalin zu stürzen. Im Dezember 1930 wurde der sogenannte „Rechts-LinksBlock“ unter Führung von Syrzow (damals Regierungschef der RSFSR) und Lominadse (Sekretär der Partei in Trans-Kaukasien) unterdrückt. Diese Gruppierung hatte aus dem Schicksal der alten Opposition gelernt und sich gehütet, offen gegen Stalin anzukämpfen; sie hatte im geheimen gegen ihn und den Apparat gewirkt. Syrzow und Lominadse (der dann Selbstmord verübte) wurden aus dem ZK der Partei ausgeschlossen, Schatzin aus der Kontrollkommission; ihre Anhänger wurden aus der Partei entfernt Eine noch schärfere Charakterisierung des Systems entwickelte Rjutin, der Chef des Propagandaamts, in einer illegalen Plattform. Rjutin, Slepkow u. a. versuchten im Herbst 1932 ebenfalls eine illegale Organisation zu bilden. Eine Parallelgruppe gründete A. P. Smirnow, Eismont u. a. Stalin benützte das Auffliegen dieser Gruppen zu einem allgemeinen Aufräumen unter der Opposition.

„Im Laufe des Jahres 1932 wurden Sinowjew, Kamenew und viele andere erneut nadt Sibirien verbannt und zum zweitenmal aus der Partei ausgestoßen“

Die „Rechten" wurden scharf verwarnt, Rjutin u. a. verhaftet. Stalin mußte erkennen, daß innerhalb der Partei immer Oppositionsgruppen aufkommen würden, solange die alten Revolutionäre in der Partei auch nur geduldet waren.

Der . Ausweg', den Stalin fand, war die große Säuberung. Da die Widersprüchlichkeit der Sowjetgesellschaft, letztlich die Ursache der Auseinandersetzungen, nicht verschwunden, sondern noch größer geworden war, mußte sie weiterhin in verschiedenen Richtungen ihren Ausdruck finden, bis schließlich die Methoden der Liquidierung nicht nur die Partei um-stülpte, sondern auch die neue Form der „Austragung von Richtungskämpfen" wurde.

Mit der Entstalinisierung lebten die verschiedenen Tendenzen und Richtungen sofort wieder auf. Sie werden weiterhin bestehen und in den verschiedensten Formen ihre Kämpfe austragen, bis eine Demokratisierung eine wirklich freie politische Entfaltung der vielfältigen Kräfte der Sowjetgesellschaft ermöglicht

V. Die Widersprüche des Systems und die Entstalinisierung

Unter dem Stalinismus wurden wesentliche Bestandteile der leninistischen Theorie und eine Reihe politischer Grundsätze der leninistischeu Praxis negiert. Die gesellschaftlichen und politischen Wandlungen in der Ära Stalins führten za Änderungen, in deren Verlauf die meisten Ergebnisse und Vorstellungen der Oktoberrevolution aufgehoben und aufgegeben wurden.

Doch neben der gesellschaftlichen Evolution, die zur Herrschaft der neuen Oberschicht, der Bürokratie, führte, wurde durch die Industrialisierung auch eine Umwälzung der soziologischen Struktur des Landes herbeigeführt. Unter dem Stalinismus verloren nicht nur die Massen des Volkes jedes Mitspracherecht in Politik und Gesellschaft, wurden nicht nur Zwang, Terror und Ausbeutung gesteigert, zugleich ist die historisch notwendige Überwindung der Rückständigkeit — allerdings mit barbarischen Mitteln! — erreicht worden. Die Sowjetunion wuchs — schneller als je ein Land zuvor — vom rückständigen Agrarland zum modernen Industriestaat, in dem Technik, Wissenschaft und Zivilisation Einzug hielten. Statt einer Bevölkerung, die in der Mehrzahl aus isoliert wohnenden analphabetischen Einzelbauern bestand, ballen sich die Massen der Industriearbeiter in den Städten zusammen und selbst die Bauern wurden in den Kollektivwirtschaften gesellschaftlich zusammengeschlossen. Diese Kräfteverschiebungen steigerten die Widersprüche des Systems.

1928 waren unter den 150 Millionen Einwohnern der LIdSSR nur elf Millionen Arbeiter, 1955 gab es bereits 44 Millionen Arbeiter. Rußland ist zur zweitstärksten Industriemacht der Erde geworden. Doch zugleich ist die sowjetische Industrie durch Disproportionen gehemmt, die der Wirtschaftspolitik der Stalin-Ära entsprossen: die Unausgeglichenheit zwischen Schwer-und Leichtindustrie und die Unausgeglichenheit zwischen Industrie und Landwirtschaft. Darüber hinaus sind trotz der in Angriff genommenen Dezentralisierung die Schäden der bürokratisch-zentralistischen Handhabung von Wirtschaft und Verwaltung unter Stalin nicht überwunden. Die Widersprüche haben sich ohne Zweifel zu einem Hemmschuh für die weitere Entwicklung der Industrie ausgewachsen. Schon 1956 konnten die Planziele bei Kohlen, Zement, bestimmten Metallen usw. nicht erreicht werden. Für 1957 mußten die Planziele sogar auf 7 °/o Zuwachs der gesamten Wirtschaft gesenkt werden (1956 wurde noch eine elfprozentige Steigerung der Wirtschaft erreicht!)

Die eingeleiteten Maßnahmen gegen diese Entwicklung — weitere Dezentralisierung, Neulandgewinnung zur Steigerung der Landwirtschaftserträge — bergen in sich wieder neue Widersprüche. Die wirtschaftliche und verwaltungsmäßige Dezentralisierung, die den unteren Funktionären mehr Verantwortung überträgt, wird bei diesen Funktionären auch das Bedürfnis nach mehr politischer Eigenverantwortung hervorrufen, also die Forderung nach politischer Mitbeteiligung, nach „Dezentralisierung" der politischen Macht aktuell werden lassen. Das widerspricht aber völlig dem System der politischen Herrschaft der Parteispitze, an dem gerade Chruschtschow festhält.

Obwohl seit Stalins Tod der Lebensstandard der Massen nicht unerheblich gestiegen ist, hinkt er noch immer hinter dem Lebensstandard von gleichstark industrialisierten Ländern her. Die Sowjetunion ist dabei, in der Schwerindustrie-Produktion pro Kopf der Bevölkerung Frankreich zu überholen. Schon jetzt werden pro Kopf der Bevölkerung in der LIdSSR mehr Kohle und Öl gefördert als in Frankreich, und bei Stahl und Elektrokraft ist der Abstand nicht mehr erheblich Der Lebensstandard des Sowjetarbeiters liegt aber nicht nur weit unter dem Niveau des französischen, er dürfte auch heute den Standard der Sowjetunion von 1928 noch nicht erreicht haben

Auf der veränderten russischen Industriegesellschaft mit ihren neuen Klassenbeziehungen lasteten zu Stalins Lebzeiten politischer Druck, mittelalterlich anmutende Arbeitsgesetze und katastrophale Lebensbedingungen in unvergleich stärkerem Maße als heute. Eine Modernisierung des Systems, also gerade der heute durchgeführte Prozeß, war unausbleiblich geworden.

Mit dem zahlenmäßigen Wachstum und der kulturell-technischen Bildung der Arbeiterschaft mußten sich die Spannungen ständig verschärfen. So begann selbst innerhalb der Bürokratie ein Differenzierungsprozeß. Schließlich ist die Bürokratie keine festgefügte soziale Schicht. Ihre Wurzeln reichen bis in die Arbeiterschaft (Stachanow-Arbeiter) und bis zu den Bauern (Kolchosvorsitzende). Die sozialen Unterschiede in der hierarchisch gestaffelten Ordnung sind nicht gering: einen hohen Industrie-kapitän trennen Welten von den kleinen Kolchosvorsitzenden oder Sowjetangestellten Auch vertikal ist die Bürokratie differenziert.

1. Die Wirtschaftsbürokratie (Industrie-und Wirtschaftsbosse, Betriebsleiter, höhere Techniker, Kolchosvorsitzende usw.) ist materiell am meisten privilegiert.

2. Die Parteibürokratie besitzt demgegenüber die absolute politische und gesellschaftliche Macht und letztlich auch die wirtschaftliche Kontrolle.

3. Die Staatsbürokratie (Verwaltung, Armee, Geheimpolizei usw.) ist mit der Parteibürokratie eng verwachsen und verteidigt mit den Machtorganen a) Geheimpolizei, b) Armee die Gesamtinteressen der Bürokratie gegen Arbeiter und Bauern.

Die stalinistische Bürokratie besitzt die volle Verfügungsgewalt über die Produktion, sie bestimmt die Planung und beherrscht die gesamte Wirtschaft. Dennoch hat sie bis heute die durch die Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse nicht angetastet, ihre faktische Verfügungsgewalt nicht auch in eine juristische verwandelt. Hier zeigt sich der Doppelcharakter der Bürokratie. Einerseits basieren Macht und Privilegien (und das gilt besonders für die herrschende Parteispitze) auf der Grundlage des verstaatlichten Eigentums an Produktionsmitteln, der Planwirtschaft, dem Außenhandelsmonopol usw., also einigen Ergebnissen der Oktoberrevolution. Eine Aufhebung dieser Grundlagen würde vielleicht einem kleinen Teil der Bürokratie noch größere Vorteile bringen, die Gesamtbürokratie (besonders die Parteispitze) aber entmachten, da ihre ökonomische Basis verschwinden würde. Bei einer offenen Inbesitznahme der heute als Volkseigentum deklarierten Wirtschaft müßte auch Widerstand von unten befürchtet werden. Andererseits sind die Privilegien und die Macht der herrschenden Bürokratie nur so lange gesichert, als die Mitbestimmung, die Kontrolle oder politische Macht der Arbeiter und Bauern ausgeschaltet bleibt, der Staat also von der Bürokratie beherrscht wird. Dabei war die herrschende Kaste weit weniger einheitlich, als es nach außen schien. Ein Teil der Oberschicht hatte die ständigen Säuberungen zu befürchten, der Großteil war ebenfalls von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen, die Intelligenz vermißte die Geistesfreiheit, und jüngere Kräfte erkannten den Widerspruch zwischen Ideologie und Praxis.

Durch die Praxis des absolutistischen Polizeistaats wurde verhindert, daß die unterirdische Gärung in ihrem ganzen Umfang an die Öffentlichkeit drang. Doch die stalinistische Spitze erkannte die Zeichen der Zeit, und Stalin reagierte auf die gewohnte Weise: eine neue Säuberungswelle sollte die Widersprüche, die nicht aus der Welt zu schaffen waren, vertuschen und unterdrücken. Nach dem XIX. Parteitag (1952)

führte die KPdSU eine „ Wachsamskeitkampagne" als Vorläufer der Säuberung durch. Die „Ärzteverschwörung“ mit planmäßigen Geständnissen (19 5 3) bildete den Auftakt zu neuen Schauprozessen.

Der Tod Stalins änderte die Situation, er beseitigte den wichtigsten stabilisierenden Faktor des Regimes. Stalin hatte durch seine „Führerschaft"

eine besondere Rolle errungen. Er war eine Art Schiedsrichter zwischen den verschiedenen Kräften in der Sowjetunion. In seiner Person sah die Wirtschaftsbürokratie die Gewähr für ihre Privilegien, wie andererseits die unteren Schichten glaubten, daß durch seine Politik ihre Basis, das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln, gesichert sei.

Unter diesen Umständen schien ein verstärkter Terror nicht Erfolg versprechend. Was blieb war der Ausweg der Liberalisierung Der unmittelbare Ausgangspunkt zur Entstalinisierung ist in den Forderungen der Oberschicht nach mehr Sicherheit, nach größerem Einfluß im öffentlichen Leben und nach einem größeren Maß an Geistesfreiheit zu erblicken.

Das Eindämmen der Macht der Geheimpolizei wie der Übergang zur Kollektivführung (also der eigentliche Beginn der Entstalinisierung)

lag im Interesse der bürokratischen Oberschicht und auch der obersten Führungsspitze. Auch diese hatte in der Stalin-Ära die Auswirkungen des „Personenkults" und die Allmacht der Geheimpolizei zu fürchten.

Dabei traf sich der Wunsch einzelner bürokratischer Gruppen nach veränderten Formen der Leitung von Politik und Wirtschaft mit ihrem Gesamtinteresse als Oberschicht, die Herrschaft durch eine Liberalisierung auf eine breitere Basis zu stellen und so zu sichern.

Bisher sind deutlich zwei Phasen der „Entstalinisierung“ zu erkennen. Die Abkehr von den Stalin-Methoden begann mit dem „Neuen Kurs", der „stillen Entstalinisierung", die drei Jahre dauerte.

Diese „stille“ Entstalinisierung, die eine Besserung und Beruhigung der Lebenslage versprach, war eine Distanzierung von der Stalinschen Methode, ohne das Kind beim Namen zu nennen. Doch die Ergebnisse waren eindeutig:

1. Abkehr vom Personenkult und Übergang zur Kollektivführung, 2. Entmachtung der Geheimpolizei, 3. Abkehr von der Russifizierung, Gleichberechtigung der sowjetischen Nationalitäten.

Die sensationelle Seite des XX. Parteitags der KPdSU vom Februar 1956 war daher die „offene“ Entstalinisierung, die Fortführung des Neuen Kurses bei offener Distanzierung von Stalin und seinen Herrschaftsmethoden.

Damit begann die zweite Periode der Entstalinisierung, die als Fortführung und Bestätigung der ersten Periode folgende Änderungen mit sich brachte:

1. Abkehr von einigen Methoden der Stalin-Ära (Abrechnung mit der Person Stalins, Änderungen der Ideologie, der Geschichtsschreibung, Beginn von Rehabilitierungen usw.), 2. Sozialreformen (Einschränkung der KZ-Lager, Abschaffung der Arbeitsgesetze von 1940 und des Schulgeldes, Kurs auf Verringerung der sozialen Llnterschiede, vergrößerte Rechtssicherheit), 3. verstärkte Dezentralisierung von Wirtschaft und Verwaltung.

Die Entstalinisierung ist jedoch kein geradliniger Prozeß. Die Art, wie die ungarische Revolution niedergeschlagen wurde, erinnerte an die stalinistischen Methoden, sie bewies, daß die „Entstalinisierung“ genannte Liberalisierung von oben die Grundlagen des Stalinismus nicht getroffen hatte.

Durch diese Entstalinisierung von oben wurde aber die schwerste Krise hervorgerufen, welche die Herrschaft des Apparats je durchmachte. Die einmal in Gang gesetzte Liberalisierung führte zu eigengesetzlichen Konsequenzen und griff auf die verschiedensten Gebiete über. Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler revoltierten auf ihren Kongressen und versuchten sich von der ideologischen Vormundschaft der Parteiführung zu befreien. Da nach dem XX. Parteitag den Künstlern eine beschränkte Freiheit der Kritik zugestanden wurde, die im politischen Raum völlig fehlt, mußte die künstlerische Kritik zur Gesellschaftskritik überhaupt werden und so den Geist der Rebellion schüren, der sich der politischen Ebene nähert. Die auf dem XX. Parteitag geübte Kritik an Stalin, dem Idol der Anhänger des Systems, regte das kritische Denken überhaupt erst an — doch wie ein Funken griff es rasch auf alle Gebiete über. Zum ersten Mal hatten Studenten, Arbeiter und Intellektuelle sowohl den Glauben an die Unfehlbarkeit wie die Furcht vor der Allmacht des Apparats und seiner Führung verloren. Die Entstalinisierung von oben hat also den Druck von unten nicht vermindert, sondern verstärkt. Presseberichte über Studentenunruhen und Streikdrohungen der Arbeiter machen den Unterschied zur Kirchhofsruhe der absolutistischen StalinÄra deutlich genug. Zugleich verschärfen sich die Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Führung. Die neo-stalinistische Richtung sucht in den Zugeständnissen an die Massen die Ursachen der Krise und will die Liberalisierung abstoppen, während die liberalen Kräfte erkennen, daß eine voreilige Beendigung der Entstalinisierung die Krise nur noch steigern würde. Bei der Entscheidung solcher Fragen spielt die Armee, nach der Entmachtung der Geheimpolizei das einzig wirksame Unterdrükkungsinstrument, eine immer größere Rolle.

Der mehrmalige Führungswechsel in Staatsführung und Parteispitze seit Stalins Tod zeigt, daß die Entstalinisierung von oben nicht reibungslos durchgeführt werden kann. Die starke Dezimierung der obersten Führungsschicht in den vier Jahren nach Stalins Tod ist unverkennbar. Der Regierungschef (Malenkow) und drei der vier „Erster Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats“ von 195 3 (Berija, Molotow, Kaganowitsch) sind ausgeschaltet, nur Bulganin überstand (bis jetzt) alle Umwälzungen

In der Parteispitze sind die Veränderungen nicht geringer. Beim Tod Stalins wurden zehn Mitglieder des ZK-Präsidiums bestätigt. Nur vier dieser Funktionäre sind auch heute noch an der Spitze der KP-Führung (Chruschtschow, Mikojan, Bulganin, Woroschilow). Perwuchin wurde zum Kandidaten degradiert, Subarow verschwand ganz aus dem Präsidium, Berija wurde Ende 19 5 3 erschossen und Molotow, Kaganowitsch und Malenkow wurden aus dem Zentralkomitee ausgeschlossen. Von dem 25köpfigen Präsidium, das noch zur Zeit Stalins auf dem XIX. Parteitag (1952) gewählt wurde, gehören dem heutigen 15 Personen umfassenden Präsidium nur noch acht an Aus dieser starken personellen Veränderung der Sowjetführung kann aber nicht geschlossen werden, daß im Zuge der „Entstalinisierung“ die „Stalinisten" ausgebootet wurden. Die Auseinandersetzungen bewegten sich um die Weiterführung der Politik. Die stalinistische Führungsspitze ist immer gezwungen nach der wirksamsten und stabilsten Form ihres Systems zu suchen. Dabei geht es um:

a) die Erhaltung der Macht der Oberschicht, b) die Sicherung des Landes nach außen und die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu den Volksdemokratien, c) die Entwicklung der wirksamsten Methoden zur Leitung von Industrie, Landwirtschaft und Handel, zur Steigerung der Produktion und des Lebensstandards.

Das erste Problem ist dabei die „Klassenfrage“. Ihr ordnet die Führung sowohl die außen-wie die innenpolitischen Fragen unter. Das bedeutet nicht, daß die Führung der Sowjetunion bei ihrer Gesamtpolitik nicht auch die beiden anderen Probleme berücksichtigen muß.

Die Oberschicht ist sich bei all diesen Konflikten einig über die Grundlagen ihrer Diktatur, die sie zu erhalten wünscht: die Einparteienherrschaft (geleitet durch den Apparat), die bloßen Scheinfunktionen von „Sowjets“ oder „Parlamenten“, die Abhängigkeit der Gewerkschaften vom Staat, die große soziale Differenzierung und die Einmannherrschaft in Wirtschaft und Betrieb. Die bisher von oben geleitete „Entstalinisierung" war nicht nur eine Modernisierung der Herrschafts-form der Oberschicht, sondern noch mehr ein Nachgeben auf den Druck der Massen, deren Bewußtsein sich mit dem veränderten Sein der Industriegesellschaft gewandelt hat.

Selbst wenn man Reformbestrebungen der Führung als tatsächlich vorhanden voraussetzt, sind jedoch die erste wie die zweite Etappe der Entstalinisierung nicht nur aus dem Reformwillen der Chruschtschow und Mikojan erklärlich, Veränderungen von der Bedeutsamkeit der bisherigen Entstalinisierung haben realere Hintergründe. Sie haben letztlich ihre Ursachen in den soziologischen Veränderungen der russischen Gesellschaft, wie sie durch die Industrialisierung hervorgerufen wurden.

Der „Neue Kurs“ begann 195 3 unter Malenkow. Die „stille“ Entstalinisierung nach dem Tode Stalins bis etwa 195 5 wurde von der gesamten Führung (mit Ausnahme Berijas und der Vertreter der entmachteten Geheimpolizei) gebilligt, denn sie entsprach einleuchtend den Interessen der großen Mehrheit der Oberschicht und bot die Möglichkeit, die Masse der Bevölkerung zu beruhigen. Dagegen geriet die Politik des zweiten Stadiums der Entstalinisierung in Widerspruch zu den Interessen der am meisten privilegierten Schicht der zentralen Wirtschaftsund Verwaltungsbürokratie, die durch die Dezentralisierung von Wirtschaft und Verwaltung, durch die Lockerungen im Arbeitsrecht usw., nicht nur Privilegien, sondern zu vielen tausenden sogar ihre Posten einbüßten.

Da die Politik der Liberalisierung andererseits auch nicht ohne Gefahren für die Macht der Gesamtbürokratie war (man denke an den schon erwähnten wachsenden Druck von unten und die Ereignisse in Polen und Ungarn usw.), stemmte sich ein Teil der Führung gegen weitere Experimente Chruschtschows und seiner Anhänger. Wie ein gewisses Zurückdrängen der Liberalisierung nach der ungarischen Revolution zeigte, waren die Versuche, die wahrscheinlich von Molotow und Kaganowitsch ausgingen, nicht ganz ohne Erfolg. Die Verschärfung der Beziehungen zu Jugoslawien, Rückgriffe auf die Ideologie der Stalin-Ära usw. fielen nicht von ungefähr zeitlich mit dem Aufstieg Molotows zum Minister für Staatskontrolle zusammen. Doch die Maßnahmen des „Neuen Kurses“ waren nicht mehr rückgängig zu machen. Alle Versuche, die bedrohten Privilegien eines Teils der Bürokratie und die unsicher gewordene Herrschaft der Gesamtbürokratie durch ein Abstoppen der Liberalisierung oder gar eine Rückkehr zu den alten, starren Stalinschen Methoden zu retten, mußten scheitern. Der Großteil der Oberschicht (und zweifellos die Mehrheit der Bevölkerung) stehen den neuen Methoden Chruschtschows positiver gegenüber als einer Rückkehr zum Polizeistaat.

Auch Chruschtschow will auf seine Art die Herrschaft der Bürokratie erhalten. Molotow und Kaganowitsch waren insofern stalinistischer, als sie die Interessen des privilegiertesten und reaktionärsten Teils der sowjetischen Oberschicht vertraten. Molotow dürfte in erster Linie eine schärfere Außenpolitik (besonders auch Jugoslawien und den Volksdemokratien gegenüber) gefordert haben. Dabei traf er sich bestimmt mit Kaganowitsch, dem Fachmann der Schwerindustrie, dem die Formen der „Volkswirtschaftsräte“ und die Dezentralisierung nicht in den bürokratischen Gesichtskreis paßten. Daß Malenkow, unter dem der neue Kurs begann und dessen Hauptziel die Erhöhung des Lebensstandards war, mit dieser Gruppe zusammen ausgeschlossen wurde, zeigt deutlich die negative Seite der Veränderungen in der Führung. Im Zuge der Entstalinisierung und wohl vor allem in ihrem zweiten Stadium lockerte sich (wenn auch vorläufig nur in der Führungsspitze) der strenge monolithische Charakter der Partei, der ein typisches Kennzeichen des Stalinismus ist.

Langsam schälten sich innerhalb der Führung wieder verschiedene Ansichten und Richtungen heraus, die (wenn auch hinter den Kulissen)

miteinander rangen. Die Art, wie Malenkow ausgeschaltet und mit Molotow in eine „Gruppe" zusammengeworfen wurde, deutet darauf hin, daß die Chruschtschow-Führung versucht, diese innerparteiliche Demokratisierungstendenz zu ersticken und die alte „Geschlossenheit“

und „Einstimmigkeit“ wiederherzustellen. Im Kampf gegen den Flügel Molotow-Kaganowitsch, der auf stalinistische Methoden zurückgreifen wollte, berief sich die Mehrheit der Parteiführung ausgerechnet auf den X. Parteitag und sein Fraktionsverbot. Das 1921 (noch zu Lenins Lebzeiten) erlassene Fraktionsverbot ist aber gerade einer der wichtigsten Marksteine auf dem Wege zum Stalinismus.

Diese negative Seite der Säuberung, der Versuch, die Demokratisierung innerhalb der Partei zu verhindern, kann nicht übersehen werden.

Es wäre allerdings falsch, dieser Seite der Ausschaltung von Molotow und Kaganowitsch zuviel Gewicht beizumessen. Die Hintergründe der letzten Säuberung, der Kampf innerhalb der herrschenden Bürokratie und die schwelende Auseinandersetzung zwischen der Oberschicht und den Massen, sind nicht aus der Welt geschafft. Diese Widersprüche wirken weiter und bilden die Grundlage für kommende Differenzierungen in der Führungsspitze. Schließlich sind, auch nach dem Ausscheiden von Molotow und Malenkow, im neuen Präsidium des ZK noch immer Mikojan auf der einen und Suslow auf der anderen Seite an der Durchführung der Politik beteiligt.

Die Führung kann lavieren, die Entstalinisierung kann vorwärts getragen werden oder Rückschläge erleiden, völlig rückgängig zu machen ist sie ohne umwälzende Erschütterungen nicht mehr. Will die Bürokratie ihre Macht erhalten, muß sie den Gegebenheiten Rechnung tragen. Es ist fast ausgeschlossen, daß in absehbarer Zeit die Zugeständnisse wieder aufgehoben und das Polizeiregime alter Prägung mit einem neuen „Stalin“ an der Spitze aufgerichtet wird. Weniger, weil die Nachfolger Stalins „liberaler“ oder „intelligenter“ sind, sondern weil die Verhältnisse sich radikal verändert haben. Die Arbeitsgesetze von 1940 erneut einzuführen, würde genau so auf den Widerstand der Arbeiter stoßen, wie eine Wiederherstellung der Allmacht der Geheimpolizei von der Mehrheit der Oberschicht bekämpft werden würde.

Die treibenden Kräfte einer Demokratisierung, das zeigten die Revolutionen in Polen und Ungarn, sind einerseits die Arbeiter, welche die Parole von der „Arbeitermacht“ verwirklicht wissen wollen und die in erster Linie bessere Lebensbedingungen fordern, andererseits die Studenten. die geschulten Jungarbeiter und Teile der Intelligenz, die durch ihre Kenntnis der Ideologie die Widersprüchlichkeit, Hohlheit und Verlogenheit des Stalinismus durchschauen und ihn ablehnen. Die beiden Strömungen wachsen mit der weiteren Entwicklung der Sowjetunion. Durch den 6. Fünfjahresplan wird die Sowjetunion endgültig eine führende Industriemacht. Dabei wird auch eine Verbesserung des Lebensstandards erfolgen. Mit der Überwindung der unmittelbaren Not und dem Steigen der Bedürfnisse wächst aber die Politisierung der Arbeiter, die erkennen, daß letztlich nur politische Änderungen ihre Lage grundsätzlich verbessern können. Die Enstalinisierung von oben — und damit auch die geplante Verbesserung der Lebenslage soll die Herrschaft der Bürokratie verlängern — durch diese Maßnahmen werden aber gerade neue Widersprüche hervorgerufen.

Die Jugend, welche seit Jahrzehnten von der herrschenden Führung mit besonderer Sorgfalt umworben wurde, ist der aktive Faktor der Revolution gegen den Stalinismus geworden. Der Widerspruch zwischen der eintönigen Praxis und der revolutionären Theorie, zwischen der Zielvorstellung und der niederdrückenden Wirklichkeit der bürokratischen Reglementierung und Ausbeutung brachte sie zur Auflehnung gegen das System. Der Versuch der Stalinisten, der Jugend zwar großartige Möglichkeiten des Lernens zu geben (von den „Pionierpalästen" bis zu den Hochschulen), aber zugleich das eigene Denken und die Eigenbestimmung der Jugend zu unterdrücken, sie zu geistigen Heloten zu machen, sind gescheitert. Die Jugend ergriff alle Bildungsmöglichkeiten — aber ein großer Teil durchschaute gerade durch die gewährleistete Bildung die Widersprüche des Systems. Audi die Schulung, welche die Ideologie verankern soll und die ja nicht nur auf dem zeitweise recht primitiven Niveau der Massenbroschüren betrieben wird, half der Jugend bei ihren Erkenntnissen. Für die gut geschulten jungen Kader mußten die Enthüllungen des XX. Parteitags zu einer kritischen Generalüberprüfung des ganzen Systems führen und damit zum Erkennen der Gegensätzlichkeit ihrer Zielvorstellungen und des Systems. Die besten Kräfte der Jugend sind dem Stalinismus heute zumindest nicht mehr kritiklos ergeben. Die LInzufriedenheit wächst.

„Die junge Generation spürt das Jodt des aufgeklärten Absolutismus — der weit mehr Absolutismus als Aufklärung ist — besonders schmerzlich. Das immer bösartigere Aufmerken der Bürokratie bei jedem Schimmer eines lebendigen Gedankens, sowie die unausstehliche Hochspannung der Lobgesänge auf die weise Vorsehung in Gestalt des . Führers'(heute des . weisen ZK',) sind Zeichen gleicherweise für das wachsende Auseinanderklaffen von Staat und Gesellschaft, wie für eine immer stärkere Verdichtung der inneren Gegensätze, die gegen die Wände de Staates prallen, nach einem Ausweg suchen und ihn unvermeidlich finden werden“ In der heutigen Sowjetgesellschaft findet eine Polarisierung der Interessen und damit eine vergrößerte Gegensätzlichkeit statt. Einerseits versuchen die aggressivsten Teile der Bürokratie (Trust-und Betriebsdirektoren usw.) ihre Privilegien auch juristisch zu schützen und auszubauen. Diese Schichten wollen bewußt die Verschleierungsideologie ein-engen und den Parteieinfluß zurückdrängen. Ihre Forderung auf der Moskauer Konferenz der Betriebsdirektoren nach mehr Selbständigkeit und Befugnissen des einzelnen Direktors war dafür bezeichnend.

Andererseits stützt sich die entgegengesetzte Tendenz auf die Massen und die alten Zielvorstellungen und fordert größere soziale Gleichheit. Zwischen beiden Extremen behauptet sich die Parteiführung unter Chruschtschow durch Ausspielen einer Richtung gegen die andere. Die bisherige Modernisierung des Systems durch den „Neuen Kurs“ sollte die Widersprüchlichkeiten des heutigen Stalinismus beenden — daß dieses Ziel nicht erreicht wird, ist so gut wie sicher.

VI. Das Ende der Stalin-Ära

Die Sowjetunion konnte als erstes Land einen „künstlichen Mond“, den Trabanten „Sputnik“, in den Weltraum schießen. Ohne Zweifel besitzt die Sowjetunion heute neben den LISA die Führungsrolle auf technisch-wissenschaftlichem Gebiet. Aber im Gegensatz zum Fortschritt auf technischem, wissenschaftlichem und kulturellem Gebiet steht die reaktionäre Form des politischen Regimes. So ist das zentrale Problem der Sowjetunion der grundlegende Widerspruch zwischen dem grandiosen technisch-wirtschaftlichen Vormarsch, dessen Symbol „Sputnik" ist, und der hemmenden politischen und ideologischen Bevormundung aller Gebiete des Lebens durch die stalinistische Führung. Die Ergebnisse sind klar: schien das politische System des Stalinismus früher ein geschlossener Block ohne die geringsten Risse, der auf einem technisch und wirtschaftlich rückständigen Land ruht, so kennzeichnen heute politische und ideologische Spannungen den modernen sowjetischen Industriestaat.

Die Ausbreitung des stalinistischen Systems auf die Satellitenstaaten hat sich als Sprengstoff erwiesen. Die polnische und ungarische Revolution haben ihre Auswirkungen in Rußland, die Ideen dieser Revolutionen beschleunigen den Differenzierungsprozeß der Sowjetgesellschaft. Auch die chinesische und jugoslawische Unabhängigkeit von Moskau, ihre anderen Formen des „Übergangs zum Sozialismus“ strahlen nach der Sowjetunion aus und beflügeln die Gedanken der revolutionären Studenten. Daher ist die Abkehr dieser Staaten vom Moskauer Führungsanspruch und gewissen Prinzipien des Stalinismus nicht zu unterschätzen — selbst wenn in diesen Ländern das stalinistische Erbe im politischen Kampf unverkennbar ist (die Verurteilung von Djilas in Jugoslawien, das Verbot von „Po prostu“ in Polen usw.).

Das stalinistische Herrschaftssystem ist durch die grundlegenden Veränderungen der sowjetischen Gesellschaft ein Anachronismus geworden. Doch das bedeutet nicht, daß diese Herrschaftsform dem rückständigen Rußland „angemessen“ war. Es bedeutet auch nicht, daß die Industrialisierung nur mit stalinistischen Methoden durchgeführt werden konnte oder umgekehrt die stalinistische Herrschaftsform eine „notwendige“ Begleiterscheinung der Industrialisierung war. Die Machtergreifung der Bürokratie lag ja vor der Industrialisierung. Die herrschende Bürokratie zögerte die Industrialisierung sogar hinaus — gegen den Widerstand der eigenen Opposition. Noch bei der Aufstellung der Plan-zahlen zum ersten Fünfjahresplan ging die Stalin-Führung nur zaghaft an die Industrialisierung heran. Die linken Gegner Stalins wurden als Anhänger einer „Überindustrialisierung" bekämpft

Die Opposition stellte damals fest:

„Die Hauptaufgaben der Industrie wachsen nach dem Fünfjahrplan fast nicht. . . . Der Zuwachs der Produktion ist mit vier bis neun Prozent in bezug auf jedes vorangehende Jahr berechnet“ 230).

Erst als in der Praxis die vorgesehenen Planzahlen überholt wurden (und nach einer schroffen Wendung der Politik nach links), wurde der Plan sprunghaft erhöht, bis 1930 die Produktion um 50 °/o!

gesteigert werden sollte Diese plötzliche Überindustrialisierung führte natürlich zu Fehlplanungen und Wirrwarr, bildete den Anlaß der Zwangskollektivierung, rief alle die barbarischen Formen mit hervor, welche die Industrialisierung Rußlands charakterisieren. Die Bürokratie drückte auch sonst der Industrialisierung ihren Stempel auf: Lähmung jeder Initiative von unten, vermehrte Ausbeutung der „freien“ Arbeiter und ungeheure Ausdehnung der Zwangsarbeit. Oft wurde die Reglementierung der Bürokratie direkt zum Hemmschuh der Industrialisierung.

Auch als die stalinistische Bürokratie die Macht fest in ihren Händen hielt, war die von ihr durchgeführte Politik nicht immer „zwangsläufig notwendig“ oder den Interessen des rückständigen Rußland entsprechend. Mehr als einmal hat die Bürokratie durch ihre subjektive Politik den russischen Interessen geschadet

So wenig die Entwicklung vom Leninismus zum Stalinismus eine unbedingte Zwangsläufigkeit war, ist die Form des Systems zu Stalins Lebzeiten (Personenkult, absolute Macht der Geheimpolizei) unbedingt Wesensbestandteil des Stalinismus. Die „Entstalinisierung“ von oben konnte hier Änderungen bringen, ohne den grundsätzlichen Charakter des Systems zu wandeln. Dagegen ist bezeichnend, daß ein bestimmter Typ des „Apparatschik“, des Stalinisten, noch immer vorherrschend ist und die Macht ausübt. Doch die Chancen der Überwindung dieses oft beschriebenen Typs sind heute größer denn je. Die revoltierende Stimmung der Jugend, der Studenten und Arbeiter, richtet sich nicht nur gegen das System der Herrschaft der Apparatschiks, sondern vielleicht noch stärker gegen den Typ des Apparatschik selbst. Doch auch hier kommt der Hauptanstoß aus den Widersprüchlichkeiten des Systems, in erster Linie wieder des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis, zwischen Zielvorstellung und Wirklichkeit und den Vorstellungen der Oktoberrevolution gegenüber den Fakten des Stalinismus. Die Forderung „Zurück zu Lenin“ wächst sich zur Forderung nach Demokratie, Gleichheit und Freiheit überhaupt aus. Selbst wenn das zu einer gewissen Über-bewertung des LInterschieds zwischen Leninismus und Stalinismus und einer Glorifizierung der Leninschen Periode führt, bleiben diese Bestre bungen revolutionierende Faktoren erster Ordnung.

Eine reale Einschätzung der Perspektiven des Ostblocks ist heute weniger denn je zu erreichen, wenn man die ganze bisherige Entwicklung einfach als „kommunistisch“ abstempelt, ohne die Differenzierungen zu sehen.

Schon 1931 hatte Otto Hoetzsch völlig richtig auf die neue Form hingewiesen, auf „die Berechtigung, sie als S t a l i n i s m u s in Vorstellung und Wille zu bezeiduien, in einer grundsätzlid^en Untersd^eidung natürlich zur NEP, aber audt in einer deutlichen Unterscheidung vom Leninismus, so sehr sidh auch Stalin in allem und fedem auf Lenin beruft"

In einer offiziellen Publikation der amerikanischen Regierung wurde ebenfalls klargestellt:

„In der Zeit von 1924 bis 1928 mußten die revolutionären Intellektuellen. die den militanten Kommunismus aus der Taufe gehoben hatten, der kommunistischen Parteibürokratie und den militärisdien und zivilen Technikern weidren, deren Ideologie und Konstruktionsplan Sowjet-Rußland heute beherrsdien. . . , Durch die Machtergreifung in der kommunistischen oder leninistisd-ien Revolution wurde das heutige System der Industriewirtschaft in den UdSSR möglich gemacht, aber das gegenwärtige industrielle Sowjet-System ist keineswegs dasselbe wie das von der Revolution eingeführte. . . .

Dieses System, welches heute in der UdSSR vorherrscht, bezeichnet man wohl besser als Stalinismus denn als Kommunismus, marxistisdier Sozialismus oder Leninismus ..."

Diese Überlegungen sollten heute erst recht berücksichtigt werden. Natürlich ist dabei nicht der Name entscheidend, sondern die Tatsache der grundlegenden Wandlung. Stalinismus ist für diese Wandlung noch immer die beste Bezeichnung, sowohl weil die revolutionären Kräfte des Ostens das System so benennen, zum andern weil unter Stalin die Grundlagen der bürokratischen Herrschaft erwuchsen.

Aber es wäre falsch, allein aus dem Widerspruch zwischen der soziologischen Struktur und den politischen Formen der Stalin-Ära — die ohnehin verändert werden — eine zwangsläufige Demokratisierung zu erwarten. Es sind gerade die Widersprüche in der Ideologie, der Zielsetzung, (zu deren Verwirklichung die Voraussetzungen heute in ganz anderer Weise gegeben sind als 1917) welche die Revolution gegen den Apparat einleiten. Allerdings liegen dann die Chancen der Demokratisierung in ihrer Übereinstimmung mit der veränderten Industriegesellschaft.

Es braucht wohl nicht erst bewiesen werden, daß es auch uns angeht, ob überhaupt und in welchem Ausmaß Veränderungen in dieser Richtung in der Sowjetunion stattfinden. Wenn jemals, dann ist im Zeitalter der Fernrakete und des „Sputnik“ die Welt eine Einheit und sind die Geschicke der Menschheit verbunden.

Obwohl die russische Revolution ganz andere Ergebnisse zeitigte, als ihre Führer und Anhänger erstrebt und gewollt hatten, ist auch nach 40 Jahren ihre Bedeutung unverkennbar. Die Vorstellungen der Oktoberrevolution von 1917, von sozialer Gerechtigkeit und Selbstbestimmung der Massen, sind im Ostblock von heute die tragende Idee der Revolutionierung. Nach 40 Jahren ist Rußland von der Rückständigkeit erlöst — die politische Freiheit klopft vernehmbar an die Tür und verlangt Einlaß.

Anhang-Bibliographie

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Anmerkung:

Hermann Weber, geb. 1928 in Mannheim, während des Krieges Besuch der Lehrerbildungsanstalt Straßburg (Bad Rippoldsau nach 1945 Betriebs-praktikant und Redaktionsvolontär. Von 1947— 1949 Philosophiestudium an der SED-Parteihochschule „Karl Marx", anschließend Chefredakteur einer FDJ-Zeitschrift. Nach Bruch mit dem System als freier Journalist tätig.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Thesen der Abteilung Propaganda und Agitation beim ZK der KPdSU „Zum 40. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution". Neues Deutschland vom 22. September 1957.

  2. Illustrierte Geschichte der russischen Revolution. Berlin 1928. S. 336.

  3. John Reed: Zehn Tage, die die Welt erschütterten. Wien-Berlin 1927. S. 42.

  4. W. W. Antonow: Das Sowjetparadies. Querschnitt durch die russische Revolution. Berlin 1931. S. 79.

  5. Cäsar von Schilling: Der Imperialismus der Bolschewiki. Berlin 1919. S. 1.

  6. Illustrierte Geschichte . . . (Anm. 2) S. 446.

  7. Die UdSSR in Zahlen. Statistisches Sammelwerk. Berlin 1956. S. 89.

  8. Illustrierte Geschichte . . . (Anm. 2) S. 3.

  9. Illustrierte Geschichte des russischen Bürgerkriegs. Berlin 1928. S. 123.

  10. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Band 6. Moskau-Leningrad 1933. S. 475-,

  11. Es war die bolschewistische Partei, die schon vorher, durch die Stimme Lenins unzweideutig ihren Willen zur Machtübernahme bekundete: „Werden die Bolschewiki wagen, allein die ganze Staatsmacht zu übernehmen? Ich hatte schon auf dem Allrussischen Rätekongreß Gelegenheit, diese Frage mit einem kategorischen Ja zu beantworten . . . Ich stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, daß eine politische Partei . . . keine Existenzberechtigung hätte . . . und in jeder Hinsicht eine jämmerliche Null wäre, wenn sie auf die Macht verzichtete in einem Augenblick, in dem sie die Möglichkeit hat, sie zu ergreifen." (Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 6, Moskau-Leningrad 1933, S. 251.)

  12. Rosa Luxemburg: Die russische Revolution. Eine kritische Würdigung. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Paul Levi. Berlin 1922. S. 77.

  13. Leo Trotzki: Die russische Revolution. Februarrevolution. Berlin 1931. S. 11.

  14. Marx-Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848). Berlin 1922. S. 37.

  15. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Band 1. Moskau 1946. S. 277.

  16. W. 1. Lenin: Werke. Band 6. Berlin 1956. S. 503.

  17. Lenin: Ausgewählte Werke. Bd. 1 (Anm. 17) S. 279.

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  22. W. I. Lenin: Staat und Revolution (1917). Moskau 1947. S. 72 ff.

  23. N. Bucharin: a. a. O. (Anm. 25) S. 29.

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  25. R. Fülöp-Miller: Geist und Gesicht des Bolschewismus. Zürich 1926. S. 19.

  26. Lenin, Vorwort in: Bucharin, Imperialismus und Weltwirtschaft (1915). Wien-Berlin 1929. S. 11.

  27. W. I. Lenin, a. a. O. (Anm. 31) S. 90.

  28. „Sie haben von 1905 an politisch immer Recht gehabt, und auch Lenin gab zu — ich erzählte Ihnen ja oft, daß ich es mit eigenen Ohren von ihm hörte —, im Jahre 1905 seien Sie, und nicht er im Recht gewesen. Im Angesicht des Todes lügt man nicht, und ich wiederhole es Ihnen heute." (A. Joffe an Trotzki; zitiert in: L. Trotzki „Die wirkliche Lage in Rußland“ Hellerau bei Dresden, o. J. S. 264/65.)

  29. L. Trotzki: Die russische Revolution 1905. Berl. 1923 (2. Ausl.) S. 50.

  30. W 1 Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus. Berlin 1945 S 109.

  31. Dieses „Überholen" einer gesellschaftlichen Entwicklungsperiode durch rückständige Länder spielt in der sozialistischen Diskussion selbst heute noch eine Rolle. Carlo Schmid erklärte: „Ein viel größerer Teil der Bevölkerung der Erde steht heute näher am Sozialismus als die alten Kernländer der industriellen Entwicklung umfassen . . . Die Zwangsläufigkeit der Aufeinanderfolge von Feudalismus, Kapitalismus und Sozialismus ist im Weltmaßstabe durch die zweite industrielle Revolution überholt. An der Peripherie der bisherigen kapitalistischen Welt wird wahrscheinlich die sozialistische Transformation der Gesellschaft nicht nach sondern vor dem Sieg des Sozialismus in den alten Industrieländern stattfinden.“ (C. Schmid: Mensch und Technik, Referat auf dem Münchener Parteitag der SPD, S. 10).

  32. Arthur Rosenberg: Geschichte des Bolschewismus. Berlin 1933. S. 113.

  33. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke. Bd. 5. Wien 1933. S. 143/44.

  34. W. I. Lenin, a. a. O. (Anm. 11) S. 523/24.

  35. K. Radek: Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat. Anhang zu Engels: Entwicklung des Soz. v. d. Utopie zur Wissenschaft. (2. Ausl.) Berl. 1929, S. 71/72.

  36. Illustrierte Geschichte . . . (Anm. 2) S. 448.

  37. a. a. O. (Anm. 2) S. 479.

  38. a. a. O. (Anm. 2) S. 483.

  39. Hirschberg, a. a. O. (Anm. 24) S. 44.

  40. Anker Kirkeby: Russisches Tagebuch. Berlin 1924. S. 68;

  41. Rosenberg, a. a. O. (Anm. 42) S. 113.

  42. „Sowjetrußland war im Kriege abgeschnitten von den Erzen und Kohlen des Donezbeckens und des Kaukasus, von dem Naphtha Bakus, seit dem tschechoslowakischen Aufstand von den Metallen des Urals, von der Baumwolle des Taschkents. Diese Lage erforderte das Zusammenraffen jeden Atoms der notwendigen Rohstoffe. Da galt es sofort Fabriken, die nicht voll arbeiten konnten, stillzulegen, ihre Maschinen und Rohstoffe abzugeben an Betriebe, die vollbeschäftigt werden konnten, da galt es die Produktion jeder entbehrlichen, ja sogar vieler notwendigen Produkte einzustellen und die Industrie in den Dienst der Verteidigung der Revolution zu stellen. Alle Großbetriebe mußten straff in die Hände des proletarischen Staates zentralisiert werden. D i e „Vollsozialisierung“ — mit Ausnahme des Handwerks usw. — war kein Resultat der kommunistischen Doktrin. Sie war das Resultat des Verteidigungskrieges der Revolution". (Karl Radek: Proletarische Diktatur und Terrorismus. Hambg. o. J. S. 28/29.)

  43. Galin, a. a. O. (Anm. 23) S. 12 u. 16.

  44. W. H. Braun: Llnter Zarenherrschaft und Sowjetsystem. Graz 1930. S. 159.

  45. Paul Scheffer: Sieben Jahre Sowjetunion. Leipzig 1930. S. 6.

  46. W. 1. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 9. Moskau 1936. S. 552 (Anhang).

  47. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 8. Moskau 1935. (Anhang) S. 448.

  48. Verfassung der RSFSR, in: Russische Korrespondenz, Jg. 1, Bd. 2, S. 792 (Oktober 1920).

  49. „Nach dein bolschewistischen Umsturz gingen die Menschewiki (Oboronzi) zum größten Teil zur Gegenrevolution über und unterstützten Denikin und Koltschak: die Internationalisten dagegen blieben auf ihren Posten in Sowjet-Rußland und versuchten die Opposition gegen die bolschewistische Tyrannei zu organisieren . . .

  50. Lenin, a. a. O. (Anm. 55) S. 41.

  51. L. Trotzki: Kommunismus oder Stalinismus? o. O. 1947. S. 21.

  52. Die „Erfolge rechtfertigen voll und ganz die Grundprinzipien unserer militärischen Aufbauarbeit. Das Bestreben, die Armee aus einer freiwilligen Partisanenarmee in eine reguläre Armee zu verwandeln, hat sich voll und ganz gerechtfertigt, gerechtfertigt hat sich auch vollständig die Hinzuziehung der alten Offizierschaft zu dieser Aufbauarbeit.“ (W. Antonow-Owsejenko: Der Aufbau der Roten Armee in der Revolution. Hamburg 1923. S 67.)

  53. Russische Korrespondenz, Nr. 10, Juli 1920, S. 47.

  54. Alfons Goldschmidt: Moskau 1920. Tagebuchblätter. Bin. 1920. S. 53.

  55. Trotzki hatte bereits vor dem IX. Parteitag (1920) in einem Brief an das ZK gefordert, „die Zwangsumlage durch eine Naturalsteuer zu ersetzen“ und eine beschränkte Freiheit der Warenzirkulation wieder einzuführen. Das wurde damals abgelehnt. (Vgl. Lenin Ausgewählte Werke. Moskau 1935. Bd. 8, Anhang S. 411.)

  56. W. 1. Lenin. Sämtliche Werke. Band 23. Moskau 1940. S. 199.

  57. Trotzki verteidigte schon 1920 die Strenge des Regimes mit ihren Schwierigkeiten: „Die Strenge der proletarischen Diktatur in Rußland — . . . war durch nicht weniger schwierige Verhältnisse bedingt. Eine ununterbrochene Front im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten. Außer den russischen weißgardistischen Armeen Koltschaks, Denikins usw., kämpften gegen Sowjetrußland gleichzeitig oder nacheinander: die Deutschen und Österreicher, die Tschechoslowaken, Serben, Polen, Ukrainer, Rumänen, Franzosen, Engländer, Amerikaner, Japaner, Finnen, Esten, Litauer ... Im Lande . . . finden ununterbrochene Verschwörungen, Aufstände, terroristische Akte, Zerstörungen von Vorratslagern, Wegen und Brücken statt." (L. Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Hambg. 1920. S. 36.)

  58. Hurwicz, a. a. O. (Anni. 22) S. 193.

  59. Hirschberg, a. a. O. (Anin. 24) S. 101.

  60. Lenin, a. a. O. (Anm. 54) S. 370.

  61. W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. 26. Moskau 1940. S. 583.

  62. L. Trotzki: Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky. Hambg. 1920. S. VIII.

  63. Lenin, a. a. O. (Anm. 69) S. 291.

  64. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke in zwei Bänden, Bd. 2. Moskau 1947. S. 933.

  65. Lenin, a. a. O. (Anm. 54) S. 418.

  66. Lenin, a. a. O. (Anm. 54) S. 384.

  67. Lenin, a. a. O. (Anm. 54) S. 443.

  68. „Die Lage schien so hoffnungslos, daß ich, wie ich midi entsinne, mit meinen Freunden Mußmaßungen darüber anstellte, wie lange die Kommunisten noch an der Macht bleiben würden. Ich war im Grunde ziemlich optimistisch, aber ich gab ihnen nicht länger als einen Monat zu leben“, schrieb M. Philips Price über die Chancen der Bolschewiki, 1918. (M. Philips Price: Die russische Revolution. Hamburg 1921. S. 415/16.)

  69. Lenin, a. a. O. (Anm. 73) S. 249.

  70. . Schwartz: Arbeiterklasse und 1953, S. 17.

  71. Lenin, a. a. O. (Anm. 55) S. 371. Arbeitspolitik in der Sowjetunion. Hamburg

  72. L. Trotzki: Die verratene Revolution. Antwerpen (1936). S. 111/12.

  73. A. Holitscher: Drei Monate in Sowjetrußland. Berlin 1921. S. 37.

  74. B. Meissner: Sowjetrußland zwischen Revolution und Restauration. Köln 1956. S. 9.

  75. „Eine nicht geringe Rolle bei der Herausbildung der Bürokratie spielte die Demobilmachung der fünfmillionenköpfigen Roten Armee: die siegreichen Kommandeure besetzten die leitenden Posten in den lokalen Sowjets, in der Wirtschaft, im Schulwesen und führten überall mit Nachdruck das Regime ein, dem die Siege des Bürgerkriegs zu verdanken waren. So wurden die Massen allenthalben allmählich von der faktischen Beteiligung an der Leitung des Landes ausgeschaltet." (L. Trotzki: Verratene Revolution Antwerpen 1936. S. 90/91.)

  76. W. 1. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 10. Moskau 1937. S. 303.

  77. Lenin, a. a. O. (Anm 73) S. 341.

  78. Die UdSSR in Zahlen. Statistisches Sammelwerk. Berl. 1956. S. 47.

  79. a. a. O. (Anm. 89) S. 50. ,

  80. a. a. O. (Anm. 89) S. 110.

  81. a. a. O. (Anm. 89) S. 9 und 11.

  82. Allerdings gilt es dabei zu berücksichtigen: „ ... es strömten damals viele Millionen in die russischen Städte, deren Lebensstandard bis dahin weit unter dem der städtischen Arbeiter und Angestellten lag. Wenn sich so die durchschnittliche Lebenslage der Arbeiter und Angestellten verschlechterte, so konnte dies erfolgen und ist vielfach erfolgt, während die Millionen von Arbeitern und Angestellten, die bereits in den Städten arbeiteten, ihren Lebensstandard behaupteten . . . Die Verschlechterungen im Essen und der Wohnung waren daher in Rußland für die Zehnermillionen in den Städten nicht so groß, wie Statistiken über den „durchschnittlichen’ Arbeiter es erscheinen lassen.

  83. Schwartz, a. a. O. (Anm. 79) S. 248.

  84. In allen zeitgenössischen Berichten über die russische Oktoberrevolution wird man vergebens eine Bestätigung der verlogenen „überragenden Rolle“ Stalins suchen. Z. B. findet man den Namen Stalins in dem berühmten Buch des amerikanischen Kommunisten und Augenzeugen der Revolution, John Reed, „Zehn Tage, die die Welt erschütterten" (Lenin lobte das Buch als „wahrheitsgemäße und überaus lebendig geschriebene Darstellung" der Oktoberrevolution!) ganze zweimal, und lediglich als Unterschrift unter ein Dekret und in der Volkskommissarenliste. Lenin dagegen wird von Reed mehr als sechzigmal angeführt. Eben so oft spricht er von Trotzki, der Name Kamenew kommt dreißigmal vor usw. Sie alle werden von Reed eingehend geschildert, ihre Tätigkeit wird aufgezählt — von Stalin dagegen kein Wort. Und das, obwohl Leute wie Lunatscharski, Rjasanow, Nogin oder Sosnowski öfter vorkommen, ganz zu schweigen von Sinowjew, Rykow, Krylenko usw. Dabei ist Reeds Buch keineswegs eine Ausnahme. Alle Dokumente der damaligen Zeit bestätigen das. Stalin, der angeblich mit Lenin die Revolution leitete, war damals ein Mann zweiter Garnitur.

  85. Die UdSSR in Zahlen (Anm. 89) S. 34.

  86. a. a. O. (Anm. 89) S. 92.

  87. K. Marx, F. Engels: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden. Bd. 1. Moskau 1950. S. 54.

  88. „Wir mußten jetzt zu dem alten, bürgerlichen Mittel greifen und uns mit einer sehr hohen Bezahlung die „Dienste“ der bedeutendsten bürgerlichen Spezialisten einverstanden erklären. Alle, die die Dinge kennen, sehen das, aber nicht alle dringen in die Bedeutung einer solchen Maßnahme des proletarischen Staates ein. Es ist klar, daß diese Maßnahme ein Kompromiß, eine Abweichung von den Prinzipien der Pariser Kommune und jeder proletarischen Macht ist, die fordern, daß die Gehälter dem Lohn des Durchschnittsarbeiters angeglichen werden und daß man den Kampf gegen den Karrierismus mit Taten und nicht mit Worten führe. Aber nicht genug damit. Es ist klar, .... daß unsere sozialistische Sowjetstaatsmacht, die von Anfang an eine Politik der Herabsetzung der hohen Gehälter bis zum Lohn des Durchschnittsarbeiters proklamierte und durchgeführt hat, einen Schritt zurück macht.“ (Lenin, Ausgewählte Werke. Bd. 11. Moskau 1947. S. 366.)

  89. J. W. Stalin: Fragen des Leninismus. Moskau 1947. S. 599

  90. Stalin, a. a. O. (Anm. 100) S. 543.

  91. K. Marx: Die Frühschriften. Stuttgart 1953. S. 60/61.

  92. A. Stezki: Die Verfassung des sozialistischen Staates. Moskau 1936. S. 41.

  93. A. Arakeli: Vom Sozialismus zum Kommunismus. Berlin 1950. S. 20 f.

  94. Bucharin-Preobraschenski, a. a. O. Bd. 1. S. 55/56.

  95. „Oberflächliche . Theoretiker'können sich natürlich damit trösten, daß die Verteilung der Güter gegenüber ihrer Herstellung ein Faktor zweiter Ordnung ist. Die Dialektik der Wechselwirkung bleibt jedoch auch hier voll in Kraft........ Wenn ein Dampfer zum Kollektiveigentum erklärt wird, die Passagiere aber nach wie vor in erste, zweite und dritte Klasse eingeteilt werden, so ist klar, daß fü-die Passagiere der dritten Klasse der Unterschied in den Existenzbedingungen von weit größerer Bedeutung sein wird als der juristische Eigentumswechsel. Umgekehrt werden die Passagiere der ersten Klasse bei Kaffee und Zigarren dem Gedanken huldigen, das Kollektivgut sei alles, die bequeme Kajüte dagegen nichts........ Die Sowjetpresse erz" hlte mit Genugtuung, wie ein Junge im Moskauer zoologischen Garten, als man ihm auf eine Frage: wem gehört dieser Elefant? antwortet: dem Staat, daraus sofort schloß: also ein bißchen auch mir. Allein, bei einer tatsächlichen Aufteilung des Elefanten würden auf die Auserwählten die kostbaren Stoßzähne entfallen, einige würden sich am Elefantenschinken laben, während die Mehrzahl sich mit den Eingeweiden oder den Haxen begnügen müßte.“ (L. Trotzki: Verratene Revolution, S. 233.)

  96. s. Anm. 100.

  97. K. Marx, Das Kapital. Bd. 3. Berlin 1949. S. 873.

  98. K. Marx: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: Marx -Engels, Die heilige Familie u. a. Frühschriften. Berlin 1953. S. 20.

  99. zit. bei Fülöp -Miller, a. a. O. (Anm. 30) S. 47.

  100. „Im Jahre 1918 erhielt ein Volkskommissar (d. h. ein Minister) 800 Rubel, die unterste Gruppe der öffentlichen Angestellten 3 50 Rubel" (Werner Hofmann: Die Arbeitsverfassung der Sowjetunion. Berlin 1956. S. 372).

  101. J. W. Stalin. Werke. Bd. 7. Berlin 1952. S. 327.

  102. A. Feiler: Das Experiment des Bolschewismus. Frankfurt/M. 1929. S. 30.

  103. J. W. Stalin. Werke. Bd. 13. Berlin 1956. S. 51.

  104. K. Marx: Das Kapital. Bd. 1. Berlin 1947. S. 751/52.

  105. „ 1. Erbschaft sowohl durch Gesetz als auch durch Testament wird abgeschafft. Nach dem Tode einer Person wird ihr Vermögen (bewegliches und unbewegliches) Staatseigentum der RSFSR. 2. Bis zum Inkrafttreten des Erlasses betr. allgemeine Sozialversicherung für die Bedürftigen sollen die direkten Abkömmlinge des Verstorbenen, Brüder und Schwestern, Ehefrau oder Ehemann, die arbeitsunfähig sind, aus dem hinterlassenen Vermögen eine Unterstützung erhalten. 3. Falls das Vermögen 10 000 Rubel nicht übersteigt und besonders, wenn es aus Landbesitz, Haushaltsgegenständen, Werkzeugen oder Geräten besteht, wird es dem Ehemann, der Ehefrau, oder den Verwandten nach Artikel 2 dieses Erlasses zeitweilig zur Verfügung gestellt und in Verwaltung gegeben.

  106. A. Hirsch: USSR. Kulturelle Kräfte und wirtschaftliche Gestaltung im gegenwärtigen Rußland. Berlin 1925. S. 45.

  107. Das Programm der Kommunistischen Partei Rußlands. Angenommen auf dem VIII. Parteikongreß (1918). Mit Eins. v. K. Radek. Zürich 1920. S. 57.

  108. F. Sternberg: Marx und die Gegenwart. Köln 1955. S. 131/32.

  109. Lenini, a. a. O. (Anin. 26) S. 11.

  110. J. W. Stalin: Werke: Bd. 1. Berlin 1950. S. 292.

  111. Das Programm ... (Anm. 118) S. 46.

  112. Vor dem Thermidor. Revolution und Konterrevolution in Rußland. Die Plattform der linken Opposition (Sapronow u. a.). Hamburg o. J. S. 40/41.

  113. Stalin, a. a. O. (Anm. 100) S. 151.

  114. „Die Form der Regierung der Arbeiter-Delegiertenräte, die immer neugewählt werden können, die immer zu dem Mutterboden — zur Fabrik zurückkehren, diese Form wird die Form sein, in der das Proletariat der Welt den Kapitalismus besiegt und fähig wird, den Sozialismus durchzuführen.“ (K. Radek: Die Entwicklung des Sozialismus von der Wissenschaft zur Tat. Anhang zu Engels: „Die Entw.des Soz. von de; Utopie zur Wissenschaft“. Berlin 1929. S. 83.) „Wenn die höheren Verwaltungsinstanzen nicht auf den lokalen fußen werden, dann werden sie bald in der Luft schweben und sich in Beamtenstellen, oder wie man zu sagen pflegt, in bureaukratische Institutionen verwandeln, denen jeder lebendige revolutionäre Geist fehlen wird.“ (Bucharin: Programm der Kommunisten. Berlin 1919. S. 69.)

  115. Lenin, a. a. O. (Anm. 64) S. 317.

  116. Das Programm . .. Anm. 118) S. 55.

  117. H. Freund (Hrsg.) Das Arbeitsgesetzbuch Sowjetrußlands. Ausgabe 1922. Hamburg -Berlin 1923. S. 5.

  118. J. W. Stalin: Fragen des Leninismus. Moskau 19 3 8. S. 612.

  119. zit. in W. Leonhard: Schein und Wirklichkeit in der Sowjetunion. Berlin 1952. S. 15.

  120. a. a. O. (Anm. 130).

  121. Lenin, a. a. O. (Anm. 73) S. 390.

  122. Lehrbuch des sowjetischen Arbeitsrechts. Hrsg. Alexandrow. Berlin 1952. S. 251.

  123. Freund, a. a. O. (Anm. 133) S. 50.

  124. „Wer Ausschuß erzeugt, haftet nicht nur materiell, sondern ihm wird auch der Lohn gekürzt (bei Vollausschußerzeugung aus Verschulden des Beschäftigten kann sogar jeder Lohnanspruch entfallen). Materielle Haftung und Lohnkürzung ist nicht etwa dasselbe. Im letzteren Falle werden dem Beschäftigten Lohnbeträge nicht ausgezahlt. .. während im ersteren Falle aus bereits verdienten Lohnbeträgen der dem Betrieb zugefügte Schaden ersetzt wird." (Lehrbuch des sowjetischen Arbeitsrechts, Berlin 1952. S. 281.)

  125. Freund, a. a. O. (Anm. 128) S. 87.

  126. a. a. O. S. 53.

  127. Schwartz, a a. O. (Anm. 79) S. 112.

  128. Leonhard, a. a. O. (Anm. 130) S. 19/20).

  129. Schwartz, a. a. O. (Anm. 79) S. 103.

  130. a. a. O. S. 115.

  131. zit. in W. Grottian: Das sowjetische Regierungssystem. Bd. 2. Quellenbuch. Köln 1956. S. 131/32.

  132. Lehrbuch. . . . (Anm. 133) S. 296.

  133. a. a. O. S. 271.

  134. Feiler, a. a. O. (Anm. 113) S. 145.

  135. Sternberg, a. a. O. (Anm. 14) S. 307.

  136. Das Programm . . . (Anm. 118) S. 55.

  137. Freund, a. a. O. (Anm. 128) S. 24.

  138. A. Losowski: Die russischen Gewerkschaften unter den neuen Verhältnissen. Berlin 1922. S. 12.

  139. W. 1. Lenin: Liber Gewerkschaften. Wien 1927. S. 88.

  140. a. a. O. S. 148.

  141. „Solange die russischen Arbeiter noch Gewerksdtaften hatten, die gegenüber dem Staat, die gegenüber der Bürokratie die Rechte der Arbeiter vertraten, hatte die russische Diktatur noch eine gewisse soziale Basis in der Arbeiterschaft.“ (Sternberg: Marx und die Gegenwart. S. 148.)

  142. Entwurf einer Plattform der leninistischen Bolschewiki (Opposition) zum XV. Parteitag (1927) der WKP (B); o. O. u. o. J. S. 20.

  143. J. Moneta: Kommentar zur Geschichte der KPdSU. Köln 1953. S. 63.

  144. J. W. Stalin: Werke. Bd. 12. Berlin 1954. S. 157.

  145. Die UdSSR in Zahlen.... (Anm. 89) S. 91.

  146. (Hartwig u. a.): Unsere Stellung zu Sowjetrußland. Berlin o. J. S. 112.

  147. V. Serge: From Lenin to Stalin. New York 1937. S. 63.

  148. Schwenerik, in: Diskussionsreden auf dem XX. Parteitag der KPdSU Berlin 1956.

  149. Sternberg, a. a. O. (Anm. 14) S. 308. S. 266 u. 289.

  150. Lenin, a. a. O. (Anm. 55) S. 363.

  151. Stalin, a. a. O. (Anm. 156) S. 119.

  152. „Ich trinke vor allem auf das Wohl des russischen Volkes, weil es die hervorragendste Nation unter allen zur Sowjetunion gehörenden Nationen ist. Ich bringe einen Toast auf das Wohl des russischen Volkes aus, weil es sich in diesem Kriege die allgemeine Anerkennung als die führende Kraft der Sowjetunion unter allen Völkern unseres Landes verdient hat." (Stalin: über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion. Berlin 1951, S. 226.)

  153. K. Sauerland: Der dialektische Materialismus. Berlin 1932. S. 285.

  154. W. I. Lenin: Sämtliche Werke, Bd. 19, Berlin 1930. S. 281.

  155. G. A. Wetter: Der dialektische Materialismus, Frb. 1952. S. 149.

  156. Engels, Brief an Kautsky v. 23. 2. 1891.

  157. Moneta, a. a. O. (Anm. 155) S. 79.

  158. K. Mannheim, Das Problem einer Soziologie des Wissens, Archiv der Sozialwissenschaft, Tübingen 1925.

  159. K. Marx: Der 18. Bramaire des Louis Bonaparte. Stuttgart 1920. S. 3 5.

  160. Was natürlich nicht bedeutet, daß andererseits mißliebige, der Politik nicht entsprechende Theorien gerade unter der Berufung gegen den „Autoritätsglauben" angegriffen werden. „Auch in der Sowjetwissenschaft kann und darf es keine unantastbare Autoritäten geben, die außerhalb jeder Kritik stehen. Jedes beliebige Werk muß einer allseitigen bolschewistischen Kritik unterzogen werden.“ Cleonow, Kritik und Selbstkritik, Berlin 1948. S. 57.) Das galt eben nur für der stalinistischen Politik zu kraß widersprechende Thesen, deren man sich auf di.se Art entledigte. Am Autoritätsglauben der stalinistischen Ideologie ändert das keinen Deut.

  161. Marx-Engels, Über Kunst und Literatur. Eine Sammlung aus ihren Schriften. Berlin 1948. S. 480.

  162. Lenin, a. a. O. (Anm. 69) S. 104.

  163. In der amtlichen Stalin-Biographie hieß es z. B. (S. 25*— 55): „In Stalin sehen die Völker der Sowjetunion die Verkörperung ihres Heroismus, ihrer Liebe zur Heimat, ihres Patriotismus. . . . Mit dem Namen Stalins im Herzen vollbrachte die Arbeiterklasse der Sowjetunion . . . beispiellose Ruhmestaten der Arbeit. .. . Mit dem Namen Stalins im Herzen arbeitete die Bauernschaft der Kollektivwirtschaften aufopferungsvoll auf den Feldern. . .. Mit dem Namen Stalins im Herzen arbeitete die Sowjetintelligenz hingebungsvoll.... Der Name Stalins ist das Symbol des Mutes, das Symbol des Ruhmes des Sowjetvolkes, der Ruf zu neuen heroischen Taten zum Wohle der großen Sowjetheimat. ... Den Namen Stalins tragen in ihren Herzen die Jünglinge und Mädchen des Landes des Sozialismus, die Jungpioniere und -pionierinnen. Es ist ihr sehnlichster Traum, wie Lenin, wie Stalin zu sein, Politiker vom Lenin -Stalinschen Typus zu werden. . . . Der Name Stalins ist das Symbol der moralischen und politischen Einheit der Sowjetgesellschaft. In zahlreichen Sprachen wird Stalin von den Völkern der Sowjetunion in Liedern besungen. Diese Lieder sind der Ausdruck der großen Liebe und grenzenlosen Ergebenheit der Völker der SU für ihren großen Führer, Lehrer, Freund und Feldherrn."

  164. D. Shub: Lenin. Eine Biographie. Wiesbaden 1952. S. 420.

  165. „Der Arbeiter verelendet absolut ... Im 20. Jahrhundert befindet sich der Reallohn der Arbeiter in England, den USA, Frankreich, Italien u. a. kapitalistischen Ländern auf einem niedrigeren Stand als um die Mitte des 19. Jahrhunderts.“ (Politische Ökonomie — Lehrbuch, Berlin 19 5 5. S. 167.) Nach solchen Thesen wäre also der Reallohn heute niedriger als zu der Zeit, da Engels seine „Lage der arbeitenden Klasse in England“ schrieb! Solche apologetischen Behauptungen sollen offensichtlich die russischen Arbeiter von der eigenen schweren Lage, mit dem Hinweis auf die „noch schlechteren Verhältnisse im Westen“ ablenken.

  166. Die stalinistischen Behauptungen von der „Verfassung der UdSSR, der demokratischsten Verfassung der Welt“ und „mit dem Sieg des Sozialismus trat die UdSSR in das Stadium des allmählichen Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus ein“. (Politische Ökonomie — Lehrbuch ... S. 450.)

  167. Stalin, a. a. O. (Anm. 114) S. 89.

  168. Susanne Leonhard, Die Stalinlegende. Beilage der WZ „Das Parlament" vom 10. 4. 1957.

  169. G. Sinowjew, Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki). Hamburg 1923. S. 172.

  170. Lenin, a. a. O. (Anm. 31) S. 231/39.

  171. Illustrierte Geschichte . . . (Anm. 2). S. 147.

  172. a. a. O. S. 143.

  173. Trotzki, a. a. O. (Anm. 15). S. 447.

  174. Stalin, Werke, Bd. 6. Berlin 1952. S. 298.

  175. E. Jaroslawski: Aus der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolsch.) II. Teil. Hamburg-Berlin 1931. S. 90.

  176. N. Popow: Grundriß der Geschichte des Bolschewismus. 1. Bd. Moskau-Leningrad 1934. S. 376.

  177. Kurze Geschichte der KPdSU (B). Unter Redaktic von W. Knorin. Moskau-Leningrad 193 5. S. 197.

  178. a. a. O. S. 200/203.

  179. Geschichte der KPdSU (B) — Kurzer Lehrgang, Berlin 1951. S. 229.

  180. Joseph Wissarionowitsch Stalin. Kurze Lebensbeschreibung. Moskau 1947.

  181. E. N. Burdshalow: Über die Taktik der Bolschewiki im März bis April 1917, in: Woprosy istorii, 4/1956 (Ostprobleme 28/1956).

  182. F. I. Drabkina: Die Allrussische Beratung der Bolschewiki im März 1917. Woprosy istorii 9/1956 (Sowjetwissenschaft 2/1957).

  183. „Kommunist" 4/1957 (Sowjetwissenschaft 7/1957).

  184. Illustrierte Geschichte .... (Anm. 2) S. 62.

  185. Popow, a. a. O. (Anm. 192) S. 288.

  186. Knorin, a. a. O. (Anm. 193) S. 155.

  187. Geschichte .... (Anm. 195) S. 188.

  188. Leo Trotzky: Stalin. Eine Biographie. Köln-Berlin 1952. S. 205.

  189. W. I. Lenin: Ausgewählte Werke, Bd. 4. Wien-Berlin 1933. S. 396.

  190. E. Jaroslawski: Aus der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolsch.), 1. Teil. Hamburg-Berlin 1929. S. 332.

  191. Knorin, a. a. O. (Anm. 193) S. 151.

  192. Geschichte .... (Anm. 195) S. 178.

  193. Lenin, a. a O. (Anm. 54) Anhang, S. 570.

  194. zit. bei Jaroslawski, a. a. O. (Anm. 191) S. 245.

  195. Trotzky, a. a. O. (Anm. 204) S. 470.

  196. Jaroslawski, a. a. O. (Anm. 191) S. 3 31.

  197. a. a. O. S. 299.

  198. Entwurf.... (Anm. 154) S. 10.

  199. N. Popov, Outline History of the Communist Party of the Soviet-Union. Part. II. London 1934. S. 327.

  200. Ost-Europa, 5. Jahrgang, 1929/30. S. 330.

  201. Knorin, a. a. O. (Anm. 193) S. 449.

  202. a. a. O. S. 459/60.

  203. J. Deutscher: Stalin. Die Geschichte des modernen Rußland. Stuttgart 1951. S. 365.

  204. „Zwischenbilanz der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung“. Ost-Europa, 7. Jg. Nr. 4/1957. S. 268/72.

  205. Sternberg, a. a. O. (Anm. 119) S. 170.

  206. In den Jahren des ersten Planjahrfünfts, von 1928 bis 1932 sind die Reallöhne rund um 500/0 gesunken, um dann bis 1935 um das erreichte Niveaus zu schwanken und von 1935 bis etwa in die Mitte 1938 erneut zu steigen, ohne jedoch das Niveau des Reallohnes von 1928 je zu erreichen ... Von Mitte 1938 ab hat erneut das Abgleiten der Reallohn-Kurve begonnen . . . Erst Ende 1946 hat eine neue Steigerung ... begonnen, die heute noch nicht abgeschlossen ist.“ (Schwartz, a. a. O. S. 246.)

  207. vgl. Iswestija v. 7. 3. 1953 (deutsch: Ostprobleme Nr. 13/1953, S. 544).

  208. „Wahl des Präsidiums des ZK der KPdSU“. Neues Deutschland vom 18. 10. 1952.

  209. Trotzky, a. a. O. (Anm. 81) S. 277/78.

  210. G. Grinko: Der Fünfjahresplan der UdSSR, Berlin 1930 S. 39/40.

  211. Nach den Kontrollziffern eines ersten Planes sollte •. B. Superphosphate von 145 000 to (1927/28) auf 180 000 to (1928'29) gesteigert werden. (Die Volkswirtschaft der UdSSR. Berlin. Heft 12. 1928. S. 39). Tatsächlich wurde aber die Produktion von 150 000 to (1927/28) auf 261 000 to (1928/29) gesteigert, d. h. statt auf 124% auf 174 %. (Grinko, Der Fünfjahrplan der UdSSR. Berlin 1930. S. 22 ) •

  212. Moneta, a. a. O. (Anm. 162) S. 44.

  213. „In den letzten zwei Jahrzehnten gab es mindestens ein halbes Dutzend Knotenpunkte in der Geschichte Sowjetrußlands, wo das Regime ee Wahl zwischen zwei gleichermaßen möglichen Wegen hatte. Solche Scheidewege waren .. . die Chinapolitik von 1927, die Agrarpolitik von 1929/30 (d. h.der später von Stalin zugegebenen Fehler überstürzter Zwangskollektivierung, die die Bauern dazu brachte, ihr Vieh zu töten und ihre Ernten zu verbrennen und auf diese Weise zu Hungersnot, politischen . Reinigungen’ und zum Terror führten) .. . und schließlich die Politik von 1939 (Stalin-HitlerPakt). An keinem dieser Scheidewege konnte die historische Notwendigkeit oder Unvermeidlichkeit als Entschuldigung dienen, in jedem dieser Fälle hat das Regime volle subjektive Verantwortung übernommen, dadurch, daß es die innere Parteiopposition unterdrückt und vernichtet hat, die den andern Kurs einschlagen wollte. Die objektiv ungünstigen Ausgangsbedingungen des Sowjet-Experiments wurden auf diese Weise durch die subjektiven Fehler verstärkt.“ (A. Koestler. Sowjet-Mythos und Wirklichkeit. München 1948. S. 65.)

  214. „Als . Stalinisten'im Jahre 1935 bezeichne ich einen Typ von Menschen, denen die Ideen der großen Revolution fremd geworden waren. Es waren Menschen, die die Machtverhältnisse klar erkannt hatten und die sich nur ein Ziel setzten: in der herrschenden Hierarchie möglichst weit voran zu kommen. Sie lernten die Losungen der Presse und der Partei auswendig und bedienten sich ihrer mechanisch, ohne nach dem Sinn zu fragen. Allerdings hatten sie ein feines Ohr für alle Abweichungen, für jede , trotzkistische Konterbande’, für die leiseste Kritik. Sie hielten sich davon fern und denunzierten alle Genossen erbarmungslos, bei denen sie irgendwelche Schwankungen vermuteten. Jede Denunziation beseitigte einen Konkurrenten um die besten Plätze in der Hierarchie .. . Das Wort des Diktators war für sie Befehl. Sie dachten nicht nach, sie gehorchten. Die Begriffe Weltrevolution, die Begriffe Sozialismus, klassenlose Gesellschaft hatten in ihrem Munde einen andern Klang bekommen. Sie interessierten sich nur für die Lösung der beschränkten Aufgaben, die Partei ud Regierung ihnen setzten, für den Kampf gegen politische Abweichungen und für ihr eigenes Wohlbefinden. (A. Weissberg-Cybulski: Hexensabbat. Frankfurt/M. 1951. S. 417/18.) Eine andere Seite dieses Typs von Stalinisten schildert Susanne Leonhard: „Afonin war überzeugt, sich mit seinen chauvinistischen Reden den Dank des Vaterlandes verdient zu haben. Sein übersteigerter Patriotismus gipfelte stets in dem flammenden Bekenntnis: . Sowjetunion über alles, über alles in der Weit’, und wenn ich diese ... Worte höre, konnte ich nicht umhin, meine Betrachtungen darüber anzustellen, daß die Wiege dieses verhinderten Helden eigentlich ganz am falschen Ort gestanden habe. Afonin hätte vorzüglich in die Hitlerjugend gepaßt, und wäre er nicht ein Krüppel gewesen, hätte er einen prächtigen SS-Führer gegeben. Wie immer, so war auch bei ihm überspitzer Nationalismus mit Antisemitismus und Ausländerhaß verknüpft .. . (S" sänne Leonhard, Gestohlenes Leben. Frankfurt/M. 1956. S. 424.)

  215. Otto Hoetzsch in Ost-Europa, Jg. 6, 1930/31. S. 440.

  216. zit. in: Moneta, a. a. O. (Anm. 162). S. 70/71.

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