Fortsetzung aus „HANDBUCH DES WELTKOMMUNISMUS", herausgegeben von Professor Dr. J. M. Bochenski und Professor Dr. G. Niemeyer. Das „Handbuch des Weltkommunismus" wird demnächst im Verlag Karl Alber, Freiburg/München erscheinen. Sie lesen heute: Kapitel XII: „Literatur, Kunst und Wissenschaft". Das Kapitel wurde von den Herausgebern aus dem englischen Manuskript übersetzt.
-owf-
A. Propagandaschlagworte
§ 1. DIE LOSUNG:
SCHÖPFERISCHE FREIHEIT Vor der Außenwelt sprechen die Kommunisten über Kunst und Wissenschaft, als sei ihnen die Freiheit des Individuums eine vertraute Vorstellung. Sie behaupten, die Sowjetunion garantiere und respektiere die schöpferische Freiheit, und um ihre Behauptung zu bekräftigen, weisen sie auf den Artikel 125 der sowjetischen Verfassung von 1936 hin. Die freie Kulturentwicklung unter der sowjetischen Herrschaft stellen sie der „Versklavung" schöpferischer Schriftsteller in den „bourgeoisen" Ländern gegenüber.
„Das wird eine freie Literatur sein, weil nicht Gewinnsucht und Karriere, sondern die Idee des Sozialismus und das Mitgefühl mit den Werktätigen neue Kräfte für ihre Reihen werben werden." (Lenin, ParteiorganisationundParteiliteratur, SW 8, S. 526.)
„Wir Kommunisten für unseren Teil können uns die Entwicklung der Kultur nur innerhalb der größtmöglichen Freiheit vorstellen — Freiheit für die Wissenschaftler zu forschen und zu entdecken, ohne die Furcht, seine Entdeckungen zugrunde gehen sehen zu müssen, wenn sie dem einen oder anderen Sonderinteresse zuwiderlaufen. Freiheit für den Denker, den Schriftsteller, um menschliches Wollen ohne die Furcht vor einer Isolierung und Boykottierung durch die Geldmächte zum Ausdruck bringen zu können. Freiheit für die Künstler, um die Freude, die Sorge, den Zorn, die Liebe und die Hoffnung des Menschen ausdrücken zu können, ohne Sonderinteressen schonen zu müssen." (J. Duclos, Com m uni sm , Science and Culture, New York 1939, übersetzt von H. Rosen, S. 13.)
„. .. die Freiheit, an die Kapitalisten zu verkaufen, seine Fähigkeiten zu prostituieren, um dem verderbten Geschmack und Forderungen des Geldmarktes Rechnung zu tragen. Die Freiheit des proletarischen Schriftstellers ist die wahre Freiheit, um den höchsten Idealen der Menschheit zu dienen, den besten Überlieferungen der nationalen Kultur, um den besten Weg zur Erziehung des Lesers zu wählen. Zwischen dieser wahren Freiheit und der scheinbaren Freiheit des bourgeoisen Schriftstellers besteht der gleiche unversöhnliche Gegensatz wie zwischen der sowjetischen, echten Volksdemokratie und der scheinheiligen, heuchlerischen bürgerlichen Demokratie." (Ucitelskaja Gazeta, 19. X. 1946, S. 3.)
„Wir haben diese Gesellschaft nicht aufgebaut, um die persönliche Freiheit zu beschränken, sondern darum, damit der Einzelmensch sich wirklich frei fühlen soll. Wir haben sie aufgebaut um der wirklichen persönlichen Freiheit willen, Freiheit ohne Anführungszeichen." („Interview of Stalin with Roy Howard", New York Times, 5. März 1936.)
B. Theorie
§ 2. GRUNDPRINZIPIEN Solche Behauptungen stehen in gar keiner Beziehung zu der kommunistischen Lehre von Kunst und Wissenschaft. Diese Lehre ist eine Anwendung des historischen Materialismus (II § 14 e).
Die bedeutsamsten Gesichtspunkte für unseren Gegenstand sind die folgenden:
(a) Kunst und Wissenschaft sind ein Teil des „Überbaus" der Gesellschaft (II § 11) dementsprechend sind sie eine vollständig gesellschaftliche Angelegenheit, die dem Einzelnen nicht überlassen bleiben kann.
(b) Sie sind, wie jeder überbau, eine Klasse n-Angelegenheit: jede Klasse hat ihre eigene Kunst und Wissenschaft, wie sie ihre eigene Ethik und ihre eigenen Gesetze hat (II § 14 a, III § 3). Es gibt keine universale Wissenschaft oder Kunst, nur eine bürgerliche Kunst, oder eine proletarische Kunst.
(c) Kunst und Wissenschaft werden als reine Werkzeuge des Klassenkampfes angesehen. Es gibt keine objektive Wissenschaft oder Kunst — sie sind immer zweckbestimmt. Sie besitzen keinen anderen Wert und keine andere Bedeutung, als der Klasse bei der Erreichung ihrer Ziele zu helfen (Sieg über feindliche Klassen und Entwicklung des Sozialismus). Als Werkzeuge und Waffen des Klassenkampfes erfreuen sich Künste und Wissenschaften großer Wertschätzung und Förderung — das ist die positive Seite dieser These.
(d) Dementsprechend sind Kunst und Wissenschaft eine ausgesprochen politische Angelegenheit; es gibt keine unpolitische Musik und keine unpolitische Geschichte; darüber hinaus muß sich jeder Künstler und Wissenschaftler als Kämpfer für den Sieg des Proletariats betrachten; es kann ihm nicht gestattet werden, in jenem Kampf neutral zu bleiben.
(e) Da sie Werkzeuge des politischen Kampfes sind, müssen Kunst und Wissenschaft in der Theorie des Proletariats verankert sein, nämlich imdialektischenund historischen Materialismus, der ihnen eine verbindliche Richtung und Methode gibt (vgl. II § 1).
(f) Daraus folgt, daß die Partei eine strenge Kontrolle über Kunst und Wissenschaft ausüben kann und soll, sowohl negativ, um unerwünschte Betätigungen in diesen Gebieten zu verhindern, als auch positiv, indem Künstler und Wissenschaftler darauf hingewiesen werden, was und wie sie gestalten sollen. Die Parteikontrolle soll nicht allein ausgeübt werden, um die Vorherrschaft der „proletarischen" Kunst und Wissenschaft sicherzu-stellen, sondern auch, um ihre eigene Interpretation dessen aufzuzwingen, was „proletarische" Kunst und Wissenschaft überhaupt ausmache. (g) So wie die konkreten politischen Ziele der Partei wechseln, wechseln auch ihre Richtlinien für Künstler und Wissenschaftler; die letzteren haben sich jeder neuen Richtung anzupassen, selbst wenn sie der vorhergehenden diametral entgegengesetzt ist.
(h) Wie in jedem politisierten Bereich (V § 31), so wendet die Partei — falls nötig — auch in dem der Kunst und Wissenschaft Zwang an, um jeden Widerstand gegenüber ihren Richtlinien zu brechen und ihre eigenen Anschauungen aufzuprägen.
Diese Grundsätze sind nicht immer mit der gleichen Härte angewendet worden. Zu bestimmten Zeiten gab die Partei weniger strenge Befehle aus und gestattete eine gewisse Schaffensfreiheit — wie sie auch mitunter größere Freiheit im ökonomischen und sogar im politischen Bereich zuließ. Aber die oben dargestellten Prinzipien sind grundlegend, und da sie direkte Ableitungen von den unwandelbaren Dogmen des historischen Materialismus sind, bilden sie die feste Grundlage der kommunistischen Einstellung gegenüber Kunst und Wissenschaft. Sie sind in der Tat in a 1 1 e n kommunistisch beherrschten Ländern und meistens mit außerordentlicher Härte angewendet worden.
Das Ergebnis kann demnach folgendermaßen zusammengefaßt werden: (a) Nicht-zweckbestimmte Ideale in der Ausübung von Kunst und Wissenschaft werden abgelehnt. Wie die Ethik sind Kunst und Wissenschaft zur Rolle von Techniken herabgewürdigt (vgl. II § 14 f).
(b) Die Freiheit persönlicher Aussage wird abgelehnt. Die Künstler und Wissenschaftler sind gezwungen, nur Gedanken und Idealen INHALT A. Propagandaschlagworte § 1. Die Losung: Schöpferische Freiheit B. Theorie § 2. Grundprinzipien § 3. Parteilichkeit § 4. Verdrängung der Objektivität § 5. Narodnost'
§ 6. Tipicnosf § 7. Sozialistischer Realismus C. Praxis: Literatur und Kunst § 8. Überblick § 9. Literatur und Literaturwissenschaft § 10. Bildende Künste im allgemeinen § 11. Architektur § 12. Musik D. Praxis: Wissenschaft § 13. Überblick § 14. Linguistik § 15. Psychologie § 16. Biologie E. Das Ergebnis § 17. Die Folgen der Reglementierung § 18. Keine Änderung der bisherigen Praktiken Ausdruck zu geben und zu verfechten, die für die Partei annehmbar sind, unabhängig von ihren persönlichen Überzeugungen, (c) Innerhalb dieser Grenzen werden die schönen Künste und Wissenschaften jedoch überaus geschätzt und gefördert.
Dieser dritte Grundsatz kommt in der Praxis auf verschiedene Weise zum Ausdruck — und zwar wie es scheint, nicht nur wegen der Prinzipien des historischen Materialismus, sondern weil die kommunistische Weltanschauung u. a. auch Elemente der Aufklärung übernommen hat, die ziemlich unabhängig von jener grundlegenden Doktrin in der kommunistischen Welt wirksam sind. So fördern (1) die Kommunisten Künste und Wissenschaften mit bedeutenden finanziellen Mitteln und schaffen für ihre Entwicklung gute äußere Arbeitsbedingungen.
(2) Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler genießen in den kommunistischen Ländern ein viel höheres Ansehen und werden relativ besser bezahlt als anderswo. (3) Den Erzeugnissen der Literatur, Kunst und Wissenschaft werden im allgemeinen erstaunliche Verbreitungsmöglichkeiten gesichert. Bekannt ist z. B. auch, daß der Kommunismus einen erfolgreichen Kampf gegen das Analphabetentum führt und für die Errichtung vieler Theater, Bibliotheken usw. gesorgt hat.
Diese Seite der kommunistischen Kulturpolitik wird hier aber nicht weiter erörtert, weil sie durch die kommunistische Propaganda zur Genüge bekannt ist. Wovon aber diese (oft übertreibende) Propaganda nicht spricht, sind erstens die Bedingungen, die den Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern gestellt werden, die Beschränkungen, die sie auf sich nehmen müssen, und zweitens die Folgen, welche die zwangsweise Auferlegung solcher Bedingungen und Beschränkungen vielfach für den Einzelnen hat — sei es geistige Sterilität oder menschliches Leid.
§ 3 . PARTEILICHKEIT Die meisten der oben aufgeführten Grundprinzipien sind in der Lehre von der „Parteilichkeit“ (partijnost’) enthalten. Sie wurde schon 1905 von Lenin in einer Abhandlung verkündet, die den Titel „Parteiorganisation und Parteiliteratur" trug (V. I. Lenin, P a r t i j n a j a organizacija i partijnaja literatura, Sobranije socinenij, 3. A„ 8; und: SW 8).
Darin beschrieb er seine Anschauungen von der Art der Beziehungen, welche zwischen der kommunistischen Partei und der Literatur bestehen sollten. Mit der Zeit wurde dieser Artikel ein Axiom für alle Bereiche des Menschlichen und der Wissenschaft. Das Prinzip der Parteilichkeit ist folgendermaßen formuliert'
„Worin besteht das Prinzip der Parteiliteratur? Nicht nur darin, daß für das sozialistische Proletariat die literarische Tätigkeit überhaupt keine Profitquelle für Einzelpersonen oder Gruppen sein darf, sie darf überhaupt keine von der allgemeinen Sache des Proletariats unabhängige individuelle Angelegenheit sein. Weg mit dem parteilosen Literaten! Weg mit dem literarischen Übermenschen! Die literarische Tätigkeit muß zu einem Bestandteil der allgemeinen proletarischen Sache, zu einem „Rädchen und Schräubchen" des einen einheitlichen, großen sozialdemokratischen Mechanismus werden, der von dem ganzen klassenbewußten Vortrupp der gesamten Arbeiterklasse in Bewegung gesetzt wird. Die literarische Betätigung muß ein Bestandteil der organisierten, planmäßigen, vereinigten sozialdemokratischen Parteiarbeit werden." (Lenin, Parteiorganisation und Partei-literatur, SW 8, S. 522 f.)
Um diese Art der Einheit zwischen den Idealen der Partei und der Literatur zu erreichen:
„Die Zeitungen müssen Organe der verschiedenen Parteiorganisationen werden. Die Literaten müssen auf jeden Fall den Parteiorganisationen angehören. Die Verlagsunternehmungen und Lager, die Läden und Lesezimmer, die Büchereien und verschiedenen Buchhandlungen — alles das muß der Partei unterstehen und ihr zur Rechnungslegung verpflichtet sein. Alle diese Arbeiten muß das organisierte sozialistische Proletariat verfolgen, kontrollieren, alle diese Arbeit, ohne eine einzige Ausnahme, muß es mit dem lebendigen Strom der lebendigen proletarischen Sache erfüllen . . ." (ebd., S. 523 f.)
„Parteilichkeit" schließt jede Verschiedenheit philosophischer Begriffe im künstlerischen und wissenschaftlichen Schaffen aus:
„Das Prinzip der Parteilichkeit kann nicht durch andere Vorstellungen ersetzt werden . . In bezug auf unsere Zeit bedeutet es die Ein-schließung des Schriftstellers in nationale Angelegenheiten und ist auch eine Verpflichtung ihnen gegenüber. Der Schriftsteller ist in unserem Land ein Staatsmann. Die bolschewistische Parteilichkeit ist die höchste Form des Idealismus." (V. V. Ermilov, „Nekotoryje voprosy teorii socialisticeskogo realizma". Izvestija akademii nauk Otdelenije literatury i jazyka, Bd. 10, Nr. 3, S. 237.)
So ist es die Partei, die bestimmt, wie die Wirklichkeit und das Leben in künstlerischen Werken dargestellt werden sollen, denn „Unsere Partei ist die bewußte Trägerin des unbewußten Prozesses". (Lenin, KAW 1, S. 367.)
Während der Zeitspanne Leninscher Tätigkeit klang das Prinzip der Parteilichkeit sogar vielen Parteigenossen einigermaßen fiktiv und unverständlich. Lenin selbst fühlte, daß seine Anschauungen sorgfältiger Ausarbeitung bedurften, wenn sie jemals für die Literatur und die Kultur im allgemeinen zutreffend werden sollten. In dem gleichen Artikel spornte er seine kommunistischen Genossen an, „dieses Prinzip zu entwickeln und es auf das Leben in einer vollständigeren und totaleren Form anzuwenden“ (e b d., S. 387). A. Lunarcarskij zum Beispiel beklagte im Jahre 1926, daß es hier immer noch keine marxistische Theorie gebe und er glaubte, daß sie sich nach und nach entwickeln würde. „Aber sagen sie mir", schrieb er, „haben wir eine marxistische Orthodoxie auf dem Gebiet der Kunstwissenschaft?
Natürlich nicht. Alles was wir haben sind verschiedene Arbeiten und eine kleine . Gruppe ergebener Arbeitsgefährten. Eine solche Orthodoxie auf dem Gebiete der Kunst wird nach und nach entstehen“
(A. Lunarcarskij, Odin iz zdvigov v iskusstvo vedenii, Vestnik kommunisti-ceskoj akademii, 1926, Bd. 15, S. 89).
Trotz der Tatsache, daß es keine sorgfältig ausgearbeitete marxistische Theorie auf dem Gebiet der Kunst und Wissenschaft gab, gewann Lenins Prinzip der „Parteilichkeit" große Bedeutung unter seinen Nachfolgern. Es wurde in alle Gebiete des Wissens und der Kunst eingeführt, und das bedeutete in der Praxis eine vollständige Unterordnung der schöpferischen Fähigkeit der Einzelnen unter den diktatorischen Willen der Partei. Diese Unterordnung entsprach gut Lenins Vorstellung von der Einheit des kommunistischen Willens. Lange vor der Oktoberrevolution fragte er sich selbst rhetorisch: „Wie könnte die Einheit des Willens gesichert werden?" und antwortete: „Unterordnung des Willens der Massen unter den Willen eines Einzelnen" (V. I. Lenin, Borba s naslediem kapital isticeskoi kultury, Leningrad 1926, S. 30).
§ 4. VERDRÄNGUNG DER OBJEKTIVITÄT Daß diese Lehre sowohl in der Kunst als auch in der Wissenschaft Objektivität ausschließt, sollte wohl augenfällig sein; und in der Tat wird Objektivität von den kommunistischen Theoretikern als eine wesentliche Abweichung angesehen.
„Unsere Literatur fürchtet nicht den Zustand, tendenziös zu sein!
Ja, die Sowjetliteratur ist tendenziös, denn in einer Zeit des Klassenkampies gibt es keine und kann es keine Literatur geben, die nicht Klassenliteratur ist, die nicht tendenziös ist, die angeblich unpolitisch ist"
(A. A. danov, Essays on Literature, Philosophy, and Music, New York, 1950, S. 13).
„Sozialistischer Realismus ist unverträglich mit bürgerlichem Objektivismus ... In dem augenblicklichen Klassenkampi hilft die „objektive" Einstellung der Bewahrung des Alten, und hindert das Neue sich zu festigen; und aus diesem Grunde werden sich die „objektiven"
Künstler wohl oder übel im Lager der Feinde des Fortschritts wiederfinden" (A. I. Sobolev, Leninskaja teorija otrazenija i iskusstvo, Moskva 1947, S. 25).
Die Lehre, welche die Objektivität und die „unpolitischen" Bestrebungen in der Philosophie und in der formalen Logik betrifft, ist in Kapitel II dargelegt.
§ 5 . NARODNOST'
Eine andere Norm, die dem künstlerischen Schaffen ausgeprägt ist, läuft unter dem Namen Narodnost’. Das bedeutet, daß alles, was in der Kunst und im Schrifttum gestaltet wird, in enger Beziehung zu den werktätigen Massen stehen und auch leicht von ihnen verstanden werden soll. Ohne Prüfung der sowjetischen Auffassung dieser Forderung könnte man leicht zu dem Glauben verführt werden, daß die Sowjets an der objektiven Darstellung der sowjetischen Gesellschaft wirklich interessiert wären. Das ist nicht der Fall, weil der soge-nannte Narodnost'in engem Zusammenhang mit dem Prinzip der Parteilichkeit steht.
„Das Prinzip der Parteilichkeit ist ursprünglich verbunden mit dein „narodnyj" (völkischen) Charakter der Literatur und Kunst.“ (BSE 2.
A„ 32, S. 171.)
„In der Literatur kann es nicht vom Prinzip des Narodnost'getrennt werden, weil die bolschewistische Partei, die Führerin und Erzieherin des Volkes, mit dem Volk ein Fleisch und Blut bildet und deshalb der höchste Ausdruck des Interesses und der Ideale des Volkes ist."
(V. V. Ermilov, „Nek o t o ry j e voprosy . . . S. 237.)
„Das Prinzip des narodnost'bedeutet nicht, daß jemand sich auf einen bestimmten Ausschnitt der Gesellschaft konzentrieren kann, um ihn ohne Berücksichtigung der Parteilinie künstlerisch auswerten zu können. Die kommunistische Partei ist äußerst wachsam und achtet darauf, daß sich Kunst und Schrifttum unter der Überwachung und Systematisierung des Narkompros (Volkskommissariat für Erziehung)
befinden." (Lenin i iskusstvo, Leningrad, 1929, S. 32.)
Wegen dieser beiden Prinzipien haben schöpferische Einzelmenschenunter kommunistischer Herrschaft nur zwei Möglichkeiten: entweder sich mit den Forderungen der Partei einverstanden zu erklären und die Gegenstände ihres Interesses im Spektrum ihrer Ideologie darzustellen, oder ihr Schaffen für immer aufzugeben. Es gibt keine dritte Möglichkeit.
„Seitdem sich in der Welt ein Kampf zwischen der arbeitenden Klasse und dem Bürgertum abspielt, ist der Künstler entweder ein Diener dieses Bürgertums oder ein Kämpfer dagegen, er schützt entweder die bürgerliche Ordnung oder er kämpft gegen sie.“ (A. L Sobolev, Leninskaja teorija otrazenija i iskusstvo, S. 25).
§ 6 . TIPICNOST'
Ein anderes Prinzip, das die Kommunisten als wesentlich für die künstlerische Arbeit hervorheben, ist das Typische (tipicnost'). Dieses Prinzip könnte für das wesentliche Verstehen so irreführend sein wie das vorhergehende. In der westlichen Ästhetik wird der Begriff des Typischen ebenfalls als ein bedeutsamer Faktor anerkannt. Jedoch wagt kein Ästhetiker im Westen zu entscheiden, was „typisch" sein sollte oder welche Personen, Handlungen oder Begebenheiten für den Aufbau eines künstlerischen Werkes ausgewählt werden sollten, die am „typichsten" sind. Das bleibt der Klugheit des Schaffenden überlassen. Er besitzt seine künstlerische Freiheit und keine äußere Autorität mischt sich ein, außer er nutzt sie zum Schaden seiner Mitmenschen aus. Ein Romancier, ein Dichter oder ein Bildhauer kann die Gestalten für sein Werk frei aus jedem Lebensbereich wählen; er ist frei, jede Eigentümlichkeit hervorzuheben die er will; er kann gegenüber seinen Gestalten unparteiisch bleiben oder seine Anteilnahme durch ihre Verteidigung oder Verurteilung zum Ausdruck bringen. Kurzum, es ist ihm freigestellt zu entscheiden, was typisch ist und was nicht. Unter dem Kommunismus bestimmt die kommunistische Partei, was typisch ist und künstlerisch ausgenutzt werden soll, und was zu übergehen ist.
„Das Problem des Typischen ist immer ein politisches Problem."
(G. Malenkov, Otetny doklad XIX sjezdu partii o raboteCKVKPb, 1952, S. 58.)
„Das Typische ist die Grundebene, auf welcher die Parteilichkeit der realistischen Kunst sich selbst erklärt." (G. Sukov, O. zadacach rozvitija sovetskoj muzyki, Moskva, 1953, S. 26.)
Diese Prinzipien treffen auf die Wissenschaft in nicht geringerem Grade als auf die Kunst zu.
„Das Prinzip der Parteilichkeit bestimmt die Hauptentwicklung der Wissenschaft, ihr Hauptfahrwasser. . . . Der Einfluß dieses Prinzips ist in allen Wissensgebieten groß und fruchtbar; in der Sozialwissenschaft, in der Technik und in der Naturwissenschaft.“ (S. I. Vavilov, Nauka Stalin skoj epochi, Moskva 1950, S. 19.)
Genauso wie die Kunst muß auch die Wissenschaft in den kommunistischen Ländern an dem „unversöhnlichen Kampf gegen die bürgerliche Pseudo-Wissenschait, den Idealismus, Mystizismus, Obskurantismus, imperialistische Reaktion teilnehmen, welche dazu neigen, den v^ahren Gehalt der Wissenschaft zu verderben“. (M. I. Rubinstein, Burzuaznaja nauka i technika na sluzbe amerikanskogo imperializma, Moskva 1951, S. 335.)
Die Wahrheit zu suchen, wie es Wissenschaftler ansehen, ist unter dem Kommunismus wegen des offiziellen Dogmas, daß „Wahrheit und bolschewistische Parteilichkeit untrennbar sind", (A. I. Sobolev, Leninskaja teorija otrazenija i iskusstvo, S. 25), und der offiziellen Forderung, daß „dialektischer Materialismus die notwendige Grundlage für theoretisches Denken bildet" (S. I Vavilov Nauka. . . S. 4), und daß „die einzig richtige Methode jeder Wissenschaft die wirkliche Anwendung des dialektischen Materialismus auf die Wissenschaft ist," (Voprosy filosofii, 1952, 5, S. 203)
eine schwierige Aufgabe.
§ 7 . SOZIALISTISCHER REALISMUS Der auf die Kunst beschränkte „sozialistische Realismus" ist vom Jahre 1932 ab verbindliches Prinzip künstlerischen Schaffens gewesen. Er darf nicht mit dem Realismus als künstlerischer Richtung im Westen verwechselt werden. In der UdSSR wird jede objektive Schilderung der Wirklichkeit ohne eine entsprechende Injektion Parteiideologie und Parteiziele als „bürgerlich" und „dekadent" zurückgewiesen.
„Sozialistischer Realismus ist unvereinbar mit bürgerlichem Objektivismus; er ist ihm feindlich. . . . Nicht teilzunehmen an der Bezeugung des Sieges dieses neuen Elementes bedeutet der Enthüllung dessen, was neu ist, auszuweichen, sich zu weigern, seine Überlegenheit über das Alte und seinen fortschrittlichen Charakter aufzuweisen. Im augenblicklichen Klassenkampf hilft die „objektive" Einstellung der Bewahrung des Alten und hindert das Neue daran, sich zu festigen. Und aus diesem Grunde wird sich der „objektive" Künstler wohl oder übel im Lager der Feinde des Fortschrittes wiederfinden.“ (A. I. Sobolev, Leninskaja teorija otrazenija i iskusstvo, S. 25.)
„Wenn wir über das Schlagwort des sozialistischen Realismus sprechen, dann sollten wir nicht die erzieherische Wirkung der Literatur auf den Leser vergessen. Das heißt, daß wir eine solche Literatur vor Augen haben, welche den Leser im Geiste des Kampfes für den Kommunismus erzieht, im Geiste des Kampfes mit dem Kapitalismus, im Geiste des Kampfes gegen das Privateigentum. Realismus in der Kunst, der den Leser dazu erzieht, mit einer eigenständigen Welt zu sympathisieren, könnte in keiner Weise als sozialistisch angesehen werden.“ (Sovetskaja literatura na novom etape, S. 254.)
Mit anderen Worten, „die Objektivität und das historisch Konkrete der künstlerischen Schilderung der Realität muß mit der Aufgabe der ideellen (ideinyi) Rückbildung und Rückerziehung der Arbeiter im Geiste des Sozialismus übereinstimmen". (BSE 2. A., 25 S. 242). Folglich hat der sozialistische Realismus nicht das geringste mit der traditionellen Vorstellung vom Realismus in der Kunst gemein. Er sanktioniert alle denkbaren diktatorischen Mittel der Verfolgung, Organisierung, Zensierung und Säuberung. Obgleich schlecht umgrenzt, greift er alles an, was gegenüber der bestehenden Parteilinie gleichgültig, ihr entgegengesetzt oder widersetzlich ist.
Von seinem Standpunkt aus ist die gesamte zeitgenössische Weltliteratur in mehr oder minder starkem Maße dekadent. Die einzige Ausnahme ist, waws „mit der Tätigkeit der kommunistischen Pareien in Zusammenhang steht und den Kreisen, die mit ihnen zusammenarbeiten". (BSE 2. A., 25 S. 244).
C. Praxis: Literatur und Kunst
§ 8 . ÜBERBLICK Um die wirkliche Lage in den Ländern begreifen zu können, in denen die Partei herrscht, muß man sich vergegenwärtigen, daß alle literarischen und künstlerischen Ausdrucksmittel, alle Nachrichten-mittel sich entweder in den Händen des parteikontrollierten Staates befinden oder in denen der gleichermaßen parteikontrollierten halb-staatlichen Organisationen. Alle Zeitungsdruckereien, Radio-und Fernsehstationen, Theater, Buchhandlungen und Verlagshäuser werden von Menschen kontrolliert, die nicht nur bezahlte Angestellte, sondern auch aktive und militante Mitglieder der Partei sind. Diese Menschen handeln in jedem Falle entsprechend der kommunistischen Lehre und den Befehlen der Partei: für sie sind Literatur und Kunst entweder nützliche Werkzeuge der politischen Bewegung, oder sie sind Erzeugnisse „bürgerlicher" Infiltration. Ebenso muß man sich klarmachen, daß der Staat und die parteibeherrschten Organisationen der einzig mögliche Absatzmarkt für die meisten künstlerischen Erzeugnisse sind. Schließlich kann der Schriftsteller und der Künstler sich nur betätigen, wenn er von seiner Gewerkschaft zugelassen worden ist, die, wie jede andere Organisation in einem kommunistisch beherrschten Land, streng von der Partei kontrolliert wird. Der Gesichtspunkt des künstlerischen Lebens wird in Kapitel XIV der vorliegenden Arbeit besprochen werden.
Die Folge ist, daß Literatur und schöne Künste in solchen Ländern nur eine geringe oder gar keine Möglichkeit zu freier Schöpfung und zu freiem Ausdruck haben. Genügend Tatsachenmaterial zeigt, daß schöpferische Freiheit unter kommunistischer Herrschaft nicht existiert.
Diese Feststellung sollte durch die Bemerkung eingeschränkt werden, daß die Umstände sich ändern und daß die Partei mit mehr oder weniger Härte, oder mit ihrem eigenen Fachausdruck, „dialektisch", ihre Prinzipien entsprechend den sich ändernden Umständen anwendet. Das ist nicht allein für Kunst und Schrifttum eigentümlich, sondern charakterisiert die allgemeinen Grundsätze kommunistischer Taktik, wie es im Kapitel III dargestellt ist. Mitunter ist die Partei auch mit wichtigeren Aufgaben beschäftigt, z. B. mit der Liquidierung feindseliger politischer Kräfte oder des Privateigentums, um in der Lage zu sein, sich außerdem aktiv in die Literatur und Kunst einzumischen. Zu anderen Zeiten wieder werden die katastrophalen Folgen der unerbittlichen Anwendung kommunistischer Prinzipien so offenbar, daß es für nützlich gehalten wird, zeitweilig ein gewisses Maß relativer Freiheit zu gewähren — nur um später die strenge Herrschaft wiederherzustellen.
In diesem Abschnitt wollen wir einige ausgewählte Beispiele vorlegen, die illustrieren, wie diese Prinzipien in der Vergangenheit gewirkt haben.
§ 9. LITERATUR UND LITERATURWISSENSCHAFT Bei der Analysierung der Erscheinungen der Sowjetliteratur darf man nicht auf den Eindrücken aufbauen, die man bei der Untersuchung isolierter Fälle gewinnt, sondern muß stets die die Kunst betreffenden Grundforderungen im Auge behalten, wie sie von Lenin dargelegt worden sind. Zeitweilige Entspannung ist kein Zeichen für irgendeine Entwicklung in Richtung auf demokratisches Vorgehen.
Ein historischer Überblick über Literatur und Literaturwissenschaft in der UdSSR enthüllt, daß diese beiden Gebiete auf den Status der Propaganda beschränkt und für Zwecke benutzt worden sind, die in vielen Fällen denen der herkömmlichen Ästhetik diametral entgegenstehen. Die Literatur unter dem Kommunismus kann nicht auf ästhetisches Vergnügen ohne jeden politischen Appell zielen, denn „der literarische Prozeß ist einer der heftigsten und aktivsten Einflüsse auf den Klassenkampf." (Literaturnaja enciklopedija, Bd. 6, S. 433).
Die oben erwähnten Grundsätze sind besonders in der Literatur wirksam. Jedoch existierte die behördliche Kontrolle im literarischen Bereich nicht vom Beginn der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion an. Der gegenwärtige Zustand in der Literatur wurde nach und nach durch verschiedene Strafmaßnahmen erreicht, wie persönliche Bedrohung, offenen Boykott, abfällige Kritisierung und rechtsgültige Bestrafung.
Obwohl Lenin die Grundprinzipien dessen niedergelegt hat, was die Beziehung zwischen kommunistischer Partei und Literatur sein soll, erfreute sich die Literatur in der Sowjetunion während eines ganzen Jahrzehnts nach der Oktoberrevolution einer begrenzten Freiheit der Entwicklung. Dieser Zeitraum traf mit der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) zusammen und offenbarte eine Mannigfaltigkeit literarischer Richtungen. Bedrängt von ihren eigenen inneren Widersprüchen war die kommunistische Partei unfähig, völlige Gleichförmigkeit herzustellen und ihre Forderungen den Literaten auszuzwingen. Die individuellen Lebensanschauungen der Schriftsteller und Dichter jener Zeit waren so verschieden, wie ihre Einstellung zum Kommunismus. Um ihre Kräfte zu stärken, mußte die Partei sogar jenen literarischen Gruppen gewisse Vorrechte einräumen, die offen ihr Mißvergnügen über die amtliche Kontrolle und die kommunistischen Neuerungen in der Literatur zur Schau stellten. Das beste Beispiel für diese berechnende Haltung der Partei gegenüber der Literatur war der im Jahre 1925 vom Polit-Büro der Kommunistischen Partei herausgegebene Erlaß, der freien Wettbewerb der verschiedenen „Gruppen belürwortete und sich weigerte, irgendeiner der Gruppen ein Monopol zu gewähren, sogar nicht der vom ideologischen Standpunkt proletarischsten". (G. Struve, Soviet R u s s i a n Literature, 1935, S. 220 bis 228.)
Diese verhältnismäßig liberale Periode dauerte nur bis 1928 und brachte eine große Anzahl von Werken hervor, die von beträchtlichem Wert waren. Um nur an einige zu erinnern: Leonovs „Füchse und Spitzbuben'1, Fedins „Städte und Jahr e", Oleshas „N e i d";
oder auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft: Voronskijs „Kunst, die Welt zu sehen", Gorbovs „Auf der Suche nach Galatea" und andere.
Psychologische und historisierende Neigungen wurden erfolgreich Gegenwartsthemen und revolutionären Ereignissen angepaßt. Gegen Ende dieser Periode begann Michail Solochov an seinem langen Epos des Kosakenlebens, „Der stille Don“, zu arbeiten, in dem er nicht allein Tolstois Technik der Beschreibung des äußeren Panoramas des Kosakenlebens auswertete, sondern, wie E. J. Simmons sagt, „den Geist eines nicht-kompromißbereiten Künstlers (bewies), unabhängig und bestimmt, seinen eigenen Weg zu gehen." (E. J. Simmons, An Outline of Modern Russian Literature, 1944, S. 52.)
Mit der Einführung des ersten Fünfjahrplanes im Jahre 1928 verschwand diese relative Freiheit und die Literaten wurden aufgefordert, politische Aufgaben zu erfüllen. Das Ergebnis war „eine gewaltige Ernte geistloser, von offiziellem Optimismus gefärbten rein deskriptiven Schrifttums" (G. Struve, Soviet . . ., S. 229). Einige Jahre lang konnten die sowjetischen Schriftsteller über nichts anderes schreiben als über die wirtschaftliche Expansion des Fünfjahrplanes. Die russische Vereinigung proletarischer Schriftsteller, von Averback, Bezymenskij und anderen geführt, übte eine unbegrenzte Diktatur in der Literatur aus. Sogar Menschen wie Solochov hatten Themen ihrer eigenen Wahl zu unterbrechen und über kommunistische Reformen auf dem Gebiet der Landwirtschaft zu schreiben („Umgebrochener jungfräulicher Bode n"). Dieser ganze Versuch, die Literatur in eine Art von Halb-Journalismus zu verwandeln und Schriftsteller in Propagandisten des industriellen Fortschritts, spiegelt in starkem Maße die marxistische Anschauung wider, nach der es „in einer kommunistischen Organisation der Gesellschaft keine Maler gibt:
höchstens gibt es Menschen, die nebenbei auch malen." (K. Marx und Fr. Engels, Literature and Art, New York 1947, S. 76.)
Die Geschichte der sowjetischen Literatur zeigt darüber hinaus, daß jedesmal, wenn amtliche Kontrolle künstlerische Verflachung zur Folge hatte, die Partei die Schuld irgend jemand anders zuschob und nicht ihre eigenen Fehler zugab. „Die Partei irrt niemals".
Als es offensichtlich wurde, daß die literarische Produktion des ersten Fünfjahrplanes für nichts als den Papierkorb taugte, erließ das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei dementsprechend eine neue Resolution, durch die sie die Russische Vereinigung Proletarischer Schriftsteller (RAPP) und die All-Sowjetische Vereinigung Proletarischer Schriftsteller (VAPP) als Organisationen auflöste, die an antidemokratischer und anti-parteilicher Tätigkeit teilgenommen hätten.
In Wirklichkeit war es die Partei gewesen, die durch diese beiden Organisationen Furcht und Angst unter den Schriftstellern erregt hatte. Einige Jahre später wurde mit dieser Periode von einem zeitgenössischen sowjetischen Kritiker abgerechnet:
„Als ein sorglältiger Gärtner schnitt Kamerad Stalin die trockenen Zweige des Sektierertums in der Literatur, in der Malerei und beim Theater ab. Der Erlaß des Zentralkomitees der Vereinigten Kommunistischen Partei vom 23. April 1932, die Liquidation der RAPP und der VAPP betreffend, befreite unsere Schriftsteller von den abgelebten Formen, welche die Arbeit der schöpferischen Organisationen behinderten. Dieser Erlaß zerstörte die Grundlage der Volksfeinde, die Literatur und Kunst durchsetzt halten." (I. Smirnov, Lenin i Stalin o kulture i kulturnoj revolucii, Moskva, 1951, S. 20.)
Während sie die obigen Organisationen abschaffte und die Diktatur auf dem Gebiet des Schrifttums verdammte, forderte die Resolution, daß jeder schöpferisch Tätige die Methode des „Sozialistischen Realismus" annehmen solle. Man kann diesen neuen Schritt der Partei nicht als einen Vorsatz betrachten, die Situation zu erleichtern und den Schriftstellern größere Freiheit zu gewähren. Für die Parteiführer war es klar geworden, daß Einförmigkeit in der Literatur leichter erreicht werden konnte, wenn alle Schriftsteller von einer einzigen Organisation kontrolliert, überwacht und zensiert wurden. Indem sie die RAPP und VAPP liquidierte, wünschte die Partei klarzumachen, daß sie „nicht spekuliere und manövriere, sondern auf einem Umschwung bestehe" (I. Gronski, Sovetskaja literatura na novom etape, Moskva 1933, S. 7).
. Dementsprechend sind während der dreißiger Jahre die verächtlichen Volksfeinde entlarvt worden, die Zinovjev-Kamenevsehen und Trotzkistischen Banditen, Agenten des Faschismus und rechtsgerichtete Abtrünnige, die ihre eignen Agenten in der Literatur hatten, eingenistet in verschiedenen Abschnitten der literarischen Front, in Schriftstellerorganisationen, Büchereienund Verlags häusern" (vom Verfasser hervorgeh. Literaturnaja gazeta, 27. VII. 1936).
Das Zwangsjacken-Dasein der Literatur in der Sowjetunion milderte sich während des Zweiten Weltkrieges beträchtlich. Selbst in einen Daseinskampf verwickelt, war die Kommunistische Partei gezwungen, ihre Herrschaft über die Kunst einzuschränken und den Schriftstellern eine gewisse Freiheit einzuräumen. Das führte zu einigen wenigen Arbeiten echter Substanz und ehrlicher Darstellung. Aber gegen Ende des Krieges fühlten viele Schriftsteller, daß das alte Schema des „sozialen Gebots" sofort wieder eingeführt werden würde, wenn der Kampf zu Ende ginge. „Wenn Kamerad Stalin alle seine Kriegsaufgaben zur Seite legt, wird er uns Arbeitern der Kunst vieles sagen, was uns helfen wird. Das war vor dem Krieg der Fall. Er war immer der erste, der den Schriftstellern zu Hilfe kam" (V. Visnevskij, „Voprosy vydvignutyje ziznjn“, Literaturnaja gazeta, 3. II.
1945, Nr. 6, S. 3). Dementsprechend begann unmittelbar nach dem Kriege A. A. Zdanov, der Parteisprecher für Kunst und Philosophie, die Kunst wegen ihres Mangels an „Idealismus" und „Parteilichkeit"
anzugreifen. Am 29. Jahrestag der Oktoberrevolution im Jahre 1946 kritisierte er eine große Anzahl von Schriftstellern wegen ihrer „Abweichungen" und ihrer „Hinneigungen zum Kapitalismus". In einem Artikel, der in den Zeitschriften Z v e z d a und Leningrad veröffentlicht wurde, sprach er über die Sowjetdichterin Akhmatova, die es gewagt hatte, in einige ihrer Gedichte ihre eigenen Anschauungen und Gefühle hineinzubringen, „einmal wie eine Nonne, dann wie eine Dirne oder ziemlich wie eine Dirne und eine Nonne zusammen, in denen Wollust mit Gebet vermischt sind" (A. A. Zdanov, „Doklad ob zurnalach Zvezda i Leningrad", So vetska ja Kniga, Aug. -Sept. 1946, Nr. 8— 9, S. 10).
Daß eine Anzahl von Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern, oder in kommunistischer Sprache „heimatlosen Kosmopoliten", sich der „unpolitischen Haltung und des Mangels an Idealismus" schuldig gemacht haben, sagte Zdanov, „ist wohlbekannt" (A. A. Zdanov, 2 9 -j a godovscina velikoj oktjabrjanskoj s o c j a list i c e s k o j revolucii, Moskau 1946, S. 17). „Es ist die Pflicht der Sowjetliteratur, die bürgerliche Kultur, die sich in einem Zustand des Verfalls und der Korruption befindet, zu geißeln und anzugreifen"
(Zvezda, 1946, Nr. 7— 8, S. 7— 22).
Die Nötigung hat im Prozeß der amtlichen Kontrolle in der UdSSR eine Hauptrolle gespielt. Diejenigen, die nicht gezwungen werden konnten, sahen sich harter Kritik, langdauernder Inhaftierung oder dem Tode gegenüber.
Die historische Untersuchung der frühen sowjetrussischen Literatur enthüllt, daß sehr viele von den frühen sowjetischen Autoren zugrunde gegangen sind, zum Schweigen gebracht wurden oder unter Umständen starben, die vom Geheimnis umhüllt sind. Von den Autoren, die während der NEP-Periode außergewöhnlich fruchtbar waren, verschwanden Olesa, Katajev, Voronskij, Babel, Kirson, Vardin, Bezymenskij, Gorbachov, Leznev, Bednyj, Pilniak, Zamiatin und andere von der literarischen Szene. Viele Schriftsteller wurden der Sympathien für Trotzkij und Bucharin beschuldigt und physisch liquidiert. Die Zeitschrift f.
Literatur bezog sich im Jahre 1936 auf Pikei, Serebriakov, Ter-Vaganian, Voronskij und andere als auf „die giftigen Nattern, die danach strebten, die Sowjetliteratur zu verwirren" (Literaturnaja gazeta, 27. August 1936). Einige der Schriftsteller begingen Selbstmord, unter ihnen auch ein so großer Verehrer des kommunistischen Regimes wie Majakovskij und vor kurzem Fadejev (13. März 1956). Einige von ihnen wie die Akhmatova und Soscenko wurden öffentlich als „Volksfeinde" beschimpft und entehrt (Sovetskaja kniga, August-September 1946, Nr. 8— 9, S. 10).
Im Falle der ukrainischen Literatur, der zweitgrößten in der UdSSR, beendeten Scharen von Dichtern und Schriftstellern ihre künstlerische Laufbahn entweder vor den Hinrichtungskommandos oder in sibirischen Lagern. (Eine Aufstellung jener Hingerichteten siehe bei: G. S. , N. Lucki, LiteraturyPoliticsintheSovietUkraine 1917 3 bis 1934, New York 1955, S. 235.) Säuberungen, öffentliche Geständnisse, vorher arrangierte Anklagen, demütigende „Selbstkritik" sind heutzutage von seifen der Gelehrten, Wissenschaftler und Künstler In der UdSSR weitbekannte Ereignisse. Sogar Menschen von der Größe des weltberühmten Komponisten Sostakovic konnten diesem Prozeß der Erniedrigung nicht entgehen, obgleich er dreimal den Stalin'preis erhalten hatte und mit der Leninmedaille ausgezeichnet worden war. Im Jahre 1938, nachdem die „gnadenlose Diktatur" mit einer großen Anzahl von kulturellen „Abweichungen“ fertig geworden war, konnte A. A. Zdanov unverfroren bekanntgeben, daß „wir allen Verrätern und Agenten des Faschismus einen zerschmetternden Schlag versetzt haben und fortfahren werden, sie vollständig niederzuwerfen.
Für solche Nattern ist kein Platz in unserem sowjetischen Land." (A.
A. Zdanov, Leninskije prednacertanija voplosceny v zisn, Partizdat., 1938, S. 16.)
Seit dem Ende des letzten Weltkrieges und bis zum Tode Stalins verschärfte sich die amtliche Kontrolle der Literatur und der Kunst immer mehr. Verherrlichung der Sowjetunion und alles Russischen (s. VII § 5) sowie der hysterische Angriff auf die westliche Kultur wurden die beiden Hauptthemen, welche die Sowjetschriftsteller und -künstler in ihren Arbeiten zu verwerten hatten.
Stalins Tod brachte die Illusion einer Entspannung. Wieder glauben einige Schriftsteller, daß ihnen mehr Freiheit bei der Ausübung ihrer Arbeit gewährt wird. Die Probleme der „Freimütigkeit", „Wahrhaftigkeit", „Menschlichkeit", „offenen Aussprache" waren Gegenstand gemeinsamer Beratungen auf der Konferenz Junger Kritiker im September 1953. Ilja Ehrenburg schrieb einen Roman mit dem bezeichnenden Titel „Der Tau".
Aber die kommunistische Partei kann es sich nicht leisten, die Literatur sich selbst entwickeln zu lassen. Eine unabhängige Literatur würde die Macht der Partei weitgehend einschränken oder sogar ihre Autorität untergraben. Die Partei war sich dieser Gefahr bewußt und deshalb wandte sie sich kurz nach jener scheinbaren Entspannung wieder dem alten Schema der amtlichen Kontrolle zu. Am 24. April 1954 schrieb zum Beispiel A. Surkov, ein sowjetischer Kritiker, in der P r a w d a einen überaus aggressiven Artikel, in dem er Schriftsteller angriff, die von einer dem Kommunismus fremden Ideologie angezogen wären.
Die Zeitschrift „Neue Welt" (Novyj mir) wurde ein besonderes Ziel des Angriffes. Ihr Herausgeber A. T. Tvardovskij wurde seines Postens enthoben, weil er in seinem Publikationsorgan „eine Linie (zugelassen hatte), die den Parteidirektiven auf dem Gebiet der Literatur widerspricht". (N o v y i mir, 1954, Nr. 9.)
Amtliche Kontrolle der Literatur blieb nicht allein auf die Sowjetunion beschränkt, sondern wurde ebenso auf alle Nationalliteraturen innerhalb des kommunistischen Herrschaftsbereichs ausgedehnt. Polnische, tchechische, ungarische, bulgarische und andere Schriftsteller und Dichter hatten ihren persönlichen Vorzügen zu entsagen und wurden Sklaven des sozialistischen Realismus. Kommunistische Ideologie, Parteilichkeit und Tendenz wurden zur allgemeinen Regel der Literatur in den Satellitenländern.
„Die vornehmste ideologische Aufgabe der Tschechoslowakischen Künstlervereinigung ist es, für den sozialistischen Realismus zu kämpfen, der die Grundregel der tschechoslowakischen Kunst ist und dem Geist des Neunten Kongresses der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei entspricht . . . Eine ebenso bedeutsame Aufgabe ist es, gegen die aus der Mode gekommenen Darstellungen des Formalismus, Naturalismus und Dogmatismus ebensowohl, wie gegen vulgäre Elemente zu kämpfen." (Literarni Noviny, 12. VII. 1952.)
Die polnische Zeitschrift Nowa Kultura versuchte im Jahre 1952 die polnischen Schriftsteller und Literaturkritiker daran zu erinnern, daß sie „Politruks" (politische Arbeiter) an der Front seien. Sie predigen Liebe für das kommunistische Ziel und Haß gegenüber den Feinden. Sie geben Anweisungen über den Aufbau einer kommunistischen Moral und wie die innere Feigheit zu unterwerfen ist.
(Nowa K u 11 u r a , 2. III. 1952.)
Der Generalsekretär der Vereinigung Bulgarischer Schriftsteller und Dichter beklagte sich in seiner Rede vom 24. April 1952 darüber:
„. . . daß bulgarische Literaturkritiker nicht mit den Parteidokumenten vertraut sind, die unsere Literatur führen und deswegen nicht mit ihnen übereinstimmen" (Literaren Front, 24. IV. 1952.)
So veröffentlicht die Literatur unter dem Kommunismus entsprechend dem oben erwähnten doktrinären Grundsatz, anstatt wahre Lebensbilder zu bringen, anstatt die Licht-und Schattenseiten menschlicher Existenz zu erforschen, die wahnwitzige Idealisierung der Kommunisten und die krankhafte Schmähung all derer, die die kollektivistische Betrachtung des Lebens nicht teilen. Dementsprechend fehlt es an feinfühligen Schattierungen, objektiver Charakterisierung der menschlichen Psyche und der intimen Kenntnis der Vielfalt menschlicher Beziehungen. Die einförmige und langweilige Wiederholung der gleichen kommunistischen Propaganda über den kulturellen und materiellen Wohlstand unter dem Kommunismus und dem Elend unter dem Kapitalismus ist ein bedenkliches Zeichen für den Kommunismus. § 10. BILDENDE KÜNSTE IM ALLGEMEINEN In der gleichen Weise wie die Literatur sind die schönen Künste in der UdSSR und in den kommunistisch beherrschten Ländern Gegen'stand strenger Krontrolle und amtlicher Beaufsichtigung. Die offiziellen Regeln der Angleichung an die politischen Ziele der Partei werden auf die Malerei, die Bildhauerkunst, die Architektur und die Musik nicht weniger als auf die Literatur angewendet.
„Sozialistischer Realismus" ist auch für die schönen Künste ein verbindliches Dogma, das jede Stilverschiedenheit ausschließt und die Malerei zur bloßen Reproduktionstechnik erniedrigt.
Nach außen hin gibt die Kommunistische Partei vor, eine Schirmherrin der schönen Künste ohne Rücksicht auf ihre äußeren oder inneren Verschiedenartigkeiten zu sein. In seinem oben zitierten Buch spricht Duclos vorzüglich von solchen Künstlern wie Fouquet, Le Main, Manet, Cezanne, Monet und Renoir und stellt fest, daß ihre „großen Werke die Kommunistische Partei nicht gleichgültig lassen können" (J. Duclos, Communis m, Science and Cultur e, New York 1939, S. 33). In der Sowjetunion jedoch stellen diese Künstler nichts als „Dekadenz und Verfall" dar („Impressionizm", BSE 2. A., 17 SS. 594— 595).
Historisch gesehen machten die schönen Künste in der UdSSR einen beinahe gleichen Entwicklungsprozeß durch wie die Literatur. Während der NEP-Periode genossen Malerei und Bildhauerei einige Freiheit und bildeten Richtungen heraus, die in Westeuropa populär wurden. Mit der Einführung des ersten Fünfjahrplanes erklärte die Partei, daß „die Kunst in den Bereich sozialer Phänomene gehöre, die einer ideologischen Ordnung unterstünden" (Iskusstvo v SSSR, Moskva 1928, S. 45). Von da an hatten sich die Schönen Künste in etwas zu verwandeln, was der westlichen Welt als angewandte Kunst bekannt ist.
„Ausschmückung proletarischer Festlichkeiten (I. Matsa, Poloenije sovremennogo iskusstva v SSSR i a k t u a 1nyje zadaci chudoznikov, Moskva 1928, S. 22), z. B. Plakate zeichnen, Denkmäler bauen, um kommunistische Führer zu ehren, Massenherstellung kommunistischer Schlagworte wurden die Gegenstände, denen die Künstler nachzugehen hatten. Am 31. März 1931 zum Beispiel gab das Zentralkomitee der Vereinigten Kommunistischen Partei ein besonderes Dekret heraus, das die „Bildplakat-Produktion" betrat und alle Künstler verptlichtete, den ersten Füntjahresplan zu verherrlichen und zu tördern. Durch diesen Beschluß „verwies die Partei die schönen Künste auf den Weg stärkerer aktiver Teilnahme am sozialistischen Aufbau und forderte von den Künstlern eine Umwandlung des Bildes in ein ernstes Medium ideologischer Erziehung des Arbeiters." (R. S. Kaufman, S o v e tskaja tematiceskaja kartina, Moskva 1951, S. 165.)
Seit den frühen Dreißigern und bis in die heutige Zeit sind die sowjetischen Künstler unentwegt wegen Formalismus, Idealismus, Impressionismus,. Subjektivismus, Illusionismus und vielen anderen Abweichungen vom „Sozialistischen Realismus" kritisiert worden. Während all jener Zeit schenkte „die Kommunistische Partei und Kamerad Stalin persönlich den bildenden Künsten große Aufmerksamkeit" (A.
M. Gerasimov, Za socjalisticeskij r e a 1 i z m , Moskva 1952, S. 128). Eine große Anzahl von Künstlern, die nicht „richtig das Phänomen des Sowjetischen Lebens abzuschätzen wußten" (e b d. S. 82), sondern mehr mit ihren eigenen künstlerischen Anliegen beschäftigt waren, litten unermeßlich. Noch im Jahre 1952 sprach A. M. Gerasimov von Professor Punin, einem Mitglied des I. E. Repin-Institutes, als von einem „offensichtlichen Formalisten und bösartigem Feind des Sozialistischen Realismus" (e b d. S. 259) und drückte seine Freude darüber aus, daß die Partei ihn seines Postens enthoben hatte.
Ende des Krieges stellte die Akademie der Künste, die in Überein-stimmung mit den Parteidirektiven handelte, auf ihrer zweiten Sitzung das folgende Programm für das Gebiet der bildenden Künste auf:
„(i) einen entschlossenen Kampf gegen die Erscheinungen des Formalismus und die unpopulären Tendenzen in den Lehrplänen der Kunstinstitute zu führen, (ii) das Lehrpersonal an den höheren Anstalten zu überprüfen und Lehrer zu entlassen, die ihren Verpflichtungen nicht nachkommen, (iii) die besondere Aufmerksamkeit auf die Lehrstühle des Marxismus-Leninismus und der Kunstgeschichte zu lenken, welche zur Basis der erzieherischen Arbeit werden müssen und die die kommunistische Philosophie der zukünftigen Künstler zu formen haben.“ (e b d., S. 274.)
Zdanovs Äußerungen über die politischen Verpflichtungen der Literatur, Musik und Philosophie beziehen sich ebenso auf die schönen Künste.
Am 13. VI. 1952 wurden diese Äußerungen in einer Resolution wiederholt, die von der Akademie der Künste angenommen wurde. Darin wird betont und die sowjetischen Künstler darauf hingewiesen, daß die einzige ihnen zur Verfügung stehende Methode die des „sozialistischen Realismus" sei. (Voprosy razvitija sovetskoj skulptury, Moskva 1953, S. 166.)
Dementsprechend ist Gleichförmigkeit mit der „Parteilichkeit" als Norm alles, was den sowjetischen Künstlern übrig geblieben ist. Nach kommunistischer Ansicht „kann man ohne eine echte Parteigesinnung bei der Behandlung künstlerischer Probleme, ohne die Säuberung der kritischen Waffen von jeder Art formalistischen Schmutzes nicht ernst über den Kampf gegen die ideologischen Feinde auf dem Gebiet der Kunst sprechen". (Gerasimov, Za socjalisticeskij realizm, S. 142). Sowjetische Künstler müßten „die historische Entscheidung des Zentralkomitees der Komunistischen Partei in Fragen der Ideologie befolgen (e b d. S. 91). Mit dem Formalismus, oder wie Lenin zu sagen pflegte, mit dem Rowdytum, ist die Partei „kühn, schnell und gnadenlos" (V. I. Lenin, Bor'ba s naslediem kapitalisticeskoj kultury, S. 26). Entsprechend wandelte die Kommunistische Partei die schönen Künste in etwas, was die Autoren der „Repräsentativen Kunst" in der Sowjetischen Enzyklopädie „Kunst-Industrie" nennen (S. 1505) und was viel passender „politischer Kommerzialismus" zu nennen wäre. Stachanov-Wettbewerbe, Massen-Maifeiern, Zusammentreffen von Parteiführern und ähnliche Ereignisse, stets mit offiziellem Optimismus gesüßt, wurden Themen, die immer wieder auf Ölgemälden, in Marmor und auf Zeichnungen wiederholt wurden.
Freie Wahl des Stoffes und eigenwillige Konzentration auf die Arbeit, zwei Grundvoraussetzungen wirklich künstlerischer Gestaltung, liegen für den Künstler in der Sowjetunion nicht im BereichdesMöglichen. So wurde die barocke Übersättigung mit bedeutungslosen Details und mit Farben geradezu ein Merkmal der Kunst unter dem Kommunismus.
§ 11. ARCHITEKTUR Die sowjetische Architektur war nach dem Eingriff der Partei verstümmelt, erniedrigt und unterwürfig. „Die Partei half den Sowjet-architekten formalistische und andere Überbleibsel der Vergangenheit zu überwinden, und (auch) die verkehrte Auffassung von den Aufgaben der Architektur zu überwinden und sie auf den Pfad des sozialistischen Realismus zu bringen, der einem einzigen Ziel zuführt — dem Dienst am Volk" (ebd. S. 1541).
Deswegen prägen sich Bauwerke, die unter der Herrschaft des Kommunismus errichtet wurden, als eine Vermengung verschiedener Stilarten ein, die von der Spätgotik und Renaissance bis in den zeitgenössischen Modernismus reichen. Dieser seltsame „Eklektizismus"
in der Architektur begann in den frühen Dreißigern, als 1932 die „Architekturplanung" (ARChPLAN), geführt von L. M. Kaganovic, an dem Projekt des sogenannten „Hauses der Sowjets" zu arbeiten begann. Die unterbreiteten Pläne wurden als schwach gebrandmarkt, weil sie nur Schlichtheit und Einheitlichkeit betonten. Sie „übersahen die Lehren der klassischen Architektur, waren nachlässig gegenüber den Erfahrungen in der Architektur, die sich in der Menschheit angesammelt naben" (e b d., S. 1542). Die „Kulturpaläste", die nach dem Zweiten Weltkrieg in den Hauptstädten der Satelliten errichtet wurden, sind vielleicht die kennzeichnendsten dieser „Richtung". Auf der 19. Sitzung für Kultur und Kunst am 24. und 25. März 1956 in Polen, wurden sie von dem polnischen Kommunisten-Dichter Julian Przybos als „Elefanten-Giraffen-Häuser, Karikaturen und nicht (als Ausdruck) einer sozialistischen Kunst" etikettiert."
Das überwiegen dekorativer Elemente zum Schaden der Nützlichkeitsmotive in der Architektur, so auffällig bei sehr vielen sowjetischen Bauwerken wie z. B.der Moskauer Metro, wurden Gegenstand der Kritik in der Rede Chruscevs:
„A. rchitekten sind mehr an schönen Silhouetten als an Wohnungen interessiert . . . Moderne Wohnhäuser dürfen nicht in eine Kopie einer Kirche oder eines Museums verwandelt werden . . . Einige führende Architekten weigern sich, ihre Arbeit den neuen Materialien anzupassen, indem sie auf die Notwendigkeit hinweisen, den Konstruktivismus zu bekämpfen. . . . Umgekehrt sollten solche Architekten eigentlich Konstruktivisten genannt werden, seitdem sie selbst der ästhetischen Bewunderung inhaltsentleerter Form verfallen sind." (Current Digest of the Soviet Press, 9. II. 1955.)
Die Verwendung der alten Formen vermischter Stile wurde von einer Anzahl von Sowjetarchitekten nach dem Tode Stalins kritisiert.
Dementsprechend nannte G. A. Grabov die Sowjetarchitektur einseitig und nicht in Übereinstimmung mit den Funktionen der Bauwerke oder mit der modernen Technik. (P r a w d a , 2. XII. 1954.)
§ 12. MUSIK Unter dem Kommunismus bestimmt die Kommunistische Partei und nicht der Berufsmusiker, was musikalisch klang-und wertvoll und was schlecht und von mangelndem künstlerischen Geschmack ist. Es ist für einen Musiker unter kommunistischer Herrschaft außergewöhnlich schwer, seinem schöpferischen Genius vollen Spielraum zu geben. „Die zynische Atmosphäre von Verleumdung, Erdichtung und widerwärtiger Bußfertigkeit, mit Versprechungen , die eigenen Fehler zu korrigieren'und sorgfältiger’ zu sein; die Atmosphäre, in denen erniedrigte Musiker heucheln müssen, glücklich zu sein und denen dankbar, die sie überwachen — das sind die . schöpferischen Bedingungen', unter denen die sowjetischen Komponisten arbeiten" (A. Olkhovski, Music linder the Soviets, New York 1955, S. 57).
Wie auf anderen Gebieten der Kunst, so ist die Kontrolle und amtliche Überwachung der Musiker unter dem Kommunismus unvermeidlich. Durch die Umwandlung der Musik in Propaganda zielt die Partei auf die vollständige Versklavung der Menschheit.
Deshalb „haben die sowjetischen Komponisten wie die sowjetischen Schriftsteller kein Recht, unpolitisch zu sein, sich selbst vor der Gegenwart in ihren kleinen eigenen Welten zu verstecken“ (A. I. Saverdijan, Putirazvitija sovetskoj muzyki, Moskva 1848, S. 10). Um zu überleben, muß die Partei überwachen, oder wie die sowjetischen Kritiker, „den Komponisten helfen, ihre Fehler und ihre falschen Leidenschaften zu überwinden“ (G. Chubov, O zadacach razvitija sovetskoj muzyki, S. 4).
Von der Einsicht in die historische Entwicklung einer besonderen Kunstgattung in der UdSSR aus kann man sein Wissen zur Analyse fast aller anderen Kunstgattungen anwenden, ohne dabei zu riskieren, falsche Schlüsse zu ziehen. Literatur, schöne Künste und Musik entwickelten sich in der UdSSR in der gleichen Richtung, erfuhren die gleiche Art amtlicher Überwachung und wurden zu ähnlicher Auslieferung an die Partei gezwungen.
All die verschiedenen Arten musikalischen Ausdrucks wie Gesang, Oper, Sinfonie, Ballettmusik, Kammermusik usw. waren zu dieser oder jener Zeit Gegenstand von Parteiangriffen. Zum Beispiel wurde während des Frühstadiums der bolschewistischen Revolution die Oper von Lenin selbst als ein „Überbleibsel der Kultur des Feudalismus" angesehen (A. Lunacarskij, K-100 Letiju Malogo teatra, Moskva-Leningrad, 1938, S. 114, S. 121). Die als „Proletarische Kultur" (Pro-1 e t k u 11) bekannte Organisation forderte sogar die Abschaffung der Kunst der Oper.
Während der NEP-Periode wurde die Musik in der UdSSR von zwei verschiedenen Richtungen bestimmt, deren eine versuchte, die vor-revolutionären musikalischen Traditionen am Leben zu erhalten und zu entwickeln, und die andere, sie in Richtung der proletarischen Ziele zu bringen. Die erste Richtung wurde von der Vereinigung Proletarischer Musiker (ASMO) und die andere von der Russischen Vereinigung Proletarischer Musiker (RAPM) repräsentiert. Musiker und Komponisten der ersten Richtung waren an westlicher Musik außerordentlich interessiert und lobten sie offen. Sowjetische Musiker jener Zeit „stellten sogar ausländische Musiktheorien und Autoritäten über die einheimischen" (A. Olkhovsky, Music Under the Soviets, S. 150.)
Dieser ziemlich ungestörten Entwicklung der Musik wurde im Jahre 1932 ein plötzliches Ende gesetzt, als die Partei die obigen Organisationen auflöste und eine einzige organisatorische Körperschaft für alle Musiker schaffte — die Union Sowjetischer Komponisten. „Sozialistischer Realismus" wurde die verbindliche Norm. Die Musiker wurden aufgefordert, dem „Formalismus" zu entsagen und Musik zu schaffen, die der sozialistischen Sache ergeben war. Im Jahre 1936 urde Sostakowic'hart für den Formalismus in seiner Oper Lady acbeth o f M c e n s k kritisiert. Die Prawda kommentierte, daß Sostakovic's Musik „quake, schnarche und nach Atem keuche, um die Liebesszenen so natürlich wie möglich auszumalen . . . Die Ausdruckskraft, welche die Hörer fordern, ist durch einen rasenden Rhythmus ersetzt" („Sumbur vmesto muzyki", Prawda, 28. I. 1936).
Eine völlige Kehrtwendung in der Kunst der Oper der UdSSR begann mit der Aufführung-von Ivan Dzerzinskis „Der stille Don“, von der Partei als die erste sowjetische Oper begrüßt. Das Libretto der Oper war auf dem Roman gleichen Titels von Michail olochov aufgebaut. Unmittelbar nach der Aufführung (17. I. 1936) auf der Leningrader Staatlichen Akademischen Kleinen Opernbühne veröffentlichte die Prawda ein Gespräch zwischen Stalin, Molotov und dem Komponisten der Oper, die Stalin als ein Ereignis großer Bedeutung für den Staat begrüßte, wo „der Wille von Tausenden dem Willen eines Einzigen untergeordnet ist" (Prawda, 20. I. 1936).
Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges blieb „D e r s t i 11 e D o n"
das offizielle Vorbild der Opernkunst, welches „ideal alle Elemente des Sozialistischen Realismus widerspiegelt". In Wirklichkeit vollendete die Oper nur, wie Olkhovsky sagt, „den Prozeß der Umkehr der Großen Oper zu den Vaudevilleschen Prinzipien des . Sittendramas', nach welchem Gesänge und Tänze in ein literarisches Drama eingestreut . . . und in dem die vorherrschenden Charakterzüge Solo-und Massenchorgesänge im elementaren Vier-Viertel-Aufbau sind, während das Orchester bloß als Instrumentalbegleitung dient, die Melodie der Gesänge unterstützend oder verdoppelnd." (A. Olkhovsky, Music Under the Soviets, S. 170.)
Der Zweite Weltkrieg unterbrach die Einmischung der Partei in die Musik, und die sowjetischen Komponisten waren imstande, in ihre (Schöpfungen einen größeren Teil ihrer eigenen Gefühle und Anschauungen hineinzulegen. Mit dem Kriegsende jedoch wurde die Musik in 1 der UdSSR wieder unter die direkte Herrschaft der Partei gestellt. Im Jahre 1946 gab das Zentralkomitee drei Erlasse heraus, die ideologische Abweichungen in den Zeitschriften Zvezda, Leningrad und in dem Film Großes Leben betrafen. Diese Erlasse bezogen sich indirekt auch auf die Musik.
Der direkte Schlag gegen die Musiker jedoch kam im Jahre 1948 mit der Veröffentlichung des Erlasses des Zentralkomitees über die Aufführung der Oper „Die große Freundschaft" von Muradeli (1. II. 1948) und dem Erscheinen der Zdanovschen Musikkritik. Zu jener Zeit wurde es für „alle klar, daß der Eingriff der Kommunistischen Partei zwingend wurde“ (A. A. Zdanov, Essays on Literature, Philosophy, Music, S. 95). „Alle unsere Komponisten müssen ihren Standort wechseln und sich umstellen, um ihrem Volk ins Gesicht zu sehen. Sie müssen sich vergegenwärtigen, daß unsere Partei, die die Interessen unseres Staates und unseres Volkes zum Ausdruck bringt, nur eine gesunde und fortschrittliche Richtung in der Musik unterstützen wird, die Richtung des Sozialistischen Realismus“ (ebd., S. 95). Solche Komponisten wie Prokofieff, Chatcaturian, Sostakovic, Popov, Mjaskovskij, Sevalin und andere wurden von Zdanov als die bezeichnet, die „am auffälligsten die formalistischen Verderbtheiten und die anti-demokratischen Tendenzen in der Musik repräsentieren, die dem Sowjetischen Volk und seinem künstlerischen Geschmack fremd sind." Ihre Musik „riecht stark nach der zeitgenössischen modernistischen bürgerlichen Musik Europas und Aunerikas, welche den Verfall der bürgerlichen Kultur, die völlige Negation, die Sackgasse der Kunst der Musik widerspiegelt.“ Zdanov forderte, daß Komponisten „nicht allein ihr musikalisches, sondern auch das politische Ohr" entwickeln und schrieb ihnen die Linie vor, „der entlang sie ihre Arbeit umzustellen haben." (e b d., S. S. 92— 96.)
Die Antwort der Angegriffenen kam unverzüglich und folgte dem üblichen von der Partei gewünschten Muster: „Die Partei hat recht und ich bin im Irrtum, will aber meine Fehler berichtigen." Die charakteristische Antwort kam von Prokofieff, außergewöhnlich bezeichnend für einen Mann, der Jahre hindurch gehalten war, die politischen Autoritäten zu fürchten.
„Dieser Erlaß hat das gesunde Gewebe von dem toten Gewebe in den Werken unserer Komponisten getrennt. Jedoch, so schmerzhaft das vielen Komponisten sein mag, mich eingeschlossen, so heiße ich den Erlaß doch willkommen, der die Bedingungen für die Wiederherstellung der Gesundheit der sowjetischen Musik schafft. Der Erlaß ist wertvoll, weil er gezeigt hat, wie fremdartig der Formalismus dem Sowjetischen Volk ist" (zit. nach M. Werth, Musical Uproar in Moscow, London, 1949, S. 95).
Zdanovs Beschuldigungen vzaren nicht allein auf die sowjetischen Komponisten, sondern auf alle Musiker gezielt, die innerhalb des kommunistischen Herrschaftsbereiches leben. Musiker in Prag, Sofia und Bukarest reagierten auf diese Angriffe in der gleichen Weise wie jene in Moskau und Kiew.
„Der Erlaß vom 10. Februar 1948, herausgegeben vom Zentralkomitee der. Sowjetischen Kommunistischen Partei, der die Oper „Die große Freundschaft" und viele sowjetische A. useinandersetzungen auf dem Gebiet der Kunst betraf, hat tiefe Rückwirkungen auf unser musikalisches Leben gehabt. Sie haben zu realistischen und demokratischen Leistungen der Partei und unserer jungen Komponisten beigetragen, und zur Ausmerzung einiger Schwächen, die sich unter dem Einfluß der dekadenten westlichen Musikkultur ausbreiteten. Der Erlaß hat den bulgarischen Komponisten geholfen, ihre Rolle beim Aufbau des Sozialismus in unserem Lande zu verwirklidren“
(O t e c e s t v e n Front, 24. IX. 1952).
Dauernd heimgesucht von den Verfolgungen der Partei, müssen die sowjetischen Komponisten und Musiker in ihrer Kunst ihre Sympathien für die kommunistische Sache offen zur Schau stellen.
Im Jahre 1952, als die Partei ihren 19. Kongreß abhielt, versprach fast jeder sowjetische Komponist der Partei, etwas Neues und Außergewöhnliches zu schaffen. Sostakovic versprach eine „klassische Oper", Prokofieff „Krieg und Frieden", Kobalevskij „Nikita V e r-s i n", Muradeli „Oktober" (S o v e t s k a j a muzyka, 1952, Nr. 10).
Aber an Stelle einer „klassischen Oper" komponierte Sostakovic nur eine kleine Kantate mit dem Titel „über unserem Land scheint die Sonn e".
Stalins Tod brachte keine wesentlichen Veränderungen in der Kunst der Musik. Beiläufig suchte die kommunistische Partei den Eindruck zu erwecken, daß es Stalin war, der den Stillstand der Kunst verursacht hatte. Aber sobald die Partei wieder Vertrauen in ihre Stärke gewann, wurde die alte Stalinsche Politik erneut obligatorisch. Sowjetische Musiker wurden an die Gründe ihrer Unproduktivität erinnert, an ihren Mangel an Originalität, und an die „Unterschätzung der ideologischen Arbeit, weiträumiger Diskussion, offener und wagemutiger Kritik und Selbstkritik" (G. Chubov, O zadacach razvitija sovetskoj muzyki, Moskva 1953, S. 8).
Y. Saporins Oper Die Dekabristen, an welcher der Komponist fünfundzwanzig Jahre lang gearbeitet hatte, wurde kritisiert vetskoje iskusstvo, 31. I. 1953; Sovetskaja Muzyka, 1954, Nr. 1).
Die Musik in den Satellitenländern hatte sklavisch das sowjetische Muster nachzuahmen. Formalismus, Kosmopolitismus, Modernismus und viele andere „Auweichungen" wurden brutal unter den tcheschischen, polnischen, ungarischen und anderen osteuropäischen Komponisten unterdrückt.
Dementsprechend forderte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei im Jahre 1952 von der tschechischen Vereinigung der Komponisten, Musiker und Konzertveranstalter „ernsthafte Schritte zur ideologischen und politischen Belehrung des Volkes in der Kunst der Musik zu tun. Der Kampf gegen die verschiedenen Äußerungen des musikalischen Formalismus und des verderbten westlichen Einflusses muß bis zum völligen Ende ausgetragen werden, indem ihre negative Qualität entlarvt und der sozialistische Realismus auf dem Gebiet der Kunst befestigt wird" (V e c e r n i N o v i n y , 22. I. 1952). Dann beklagte sich am 13. II. 1952 Radio Bukarest darüber, , daß das Fehlen musikalischer Kritik aul der Grundlage sozialistischer Prinzipien eine der schwerwiegendsten Unzulänglichkeiten unseres musikalischeen Lebens ausmache" Ferenc Szabo, Diktator der ungarischen Musik nach dem Kriege, forderte von den ungarischen Komponisten, daß es ihre Hauptaufgabe wäre, . das ideologische Niveau zu heben und gegen die falsche Volkskunst und die traurige Art in unseren Chorgesängen anzukämpfen" (Magyar N e p , 22. November 1952). In Bulgarien war es Vulko Cervenkov, Führer der Kommunistischen Partei, der „den Musikern wichtige und verantwortungsvolle Aufgaben anvertraut hat" (Otecestven Front, 26. XII. 1952).
D. Praxis: Wissenschaft
§ 13. ÜBERBLICK Die einführenden Bemerkungen über die Situation auf dem Gebiet der Literatur und der schönen Künste treffen ebenso auf die Wissenschaft zu, denn der Wissenschaftler wie der Schriftsteller und Künstler ist in einem kommunistisch beherrschten Land von der Partei abhängig, die ihm ihre Herrschaft aufzwingen kann und es auch tut. Um zu zeigen, daß die theoretischen Prinzipien des Kommunismus — gemäß der „dialektischen" Entwicklung der Taktik — zu allen Zeiten und in allen kommunistisch beherrschten Ländern die Wissenschaft zu einem Werkzeug der Partei machen, gibt es genug Tatsachen-material. Dabei stößt man auf folgende interessante Erscheinung: in der Regel ist der Eingriff der Partei um so nachhaltiger, je mehr Berührungspunkte eine Wissenschaft mit dem dialektischen und historischen Materialismus hat.
Dementsprechend gibt es und hat es seit 1930 in der Philosophie überhaupt keine Freiheit gegeben (II § 4). Alle Philosophie, die in den kommunistisch beherrschten Ländern veröffentlicht wurde, besteht aus der Wiederholung der Behauptungen der „Klassiker"
(II § 5). In der politischen Ökonomie, obgleich ähnlich, ist die Lage vielleicht weniger klar. Die Soziologie ist dauernd Gegenstand drastischer Überwachung. Geschichte — in einem relativ geringeren Ausmaß — ist ebenfalls sehr in ihrer Freiheit beschränkt. Nur Wissenschaften, die wenig oder keine Bedeutung für das kommunistische Glaubensbekenntnis haben, wie Mathematik, Kristallographie, Pathologie und so weiter, erfreuen sich größerer Freiheit. Wenn ein Autor in diesen Gebieten einige Erklärungen über die gewaltige Überlegenheit des dialektischen Materialismus und seiner Bedeutung für sein Fach einstreut, kann er beruhigt eigene Gedanken und Theorien entwickeln. Die Physik ist nicht in dem gleichen Maße frei wie die Mathematik; z. B. kann die Theorie von der Endlichkeit des Raums nicht verteidigt werden, weil sie der dialektischen These von der Unendlichkeit der Welt (II § 6, 4) entgegengesetzt ist. Manchmal jedoch wird sogar eine Wissenschaft, die ziemlich „neutral" zu sein scheint — zum Beispiel die Linguistik — Gegenstand drastischer Überwachung. Im folgenden Abschnitt wollen wir diese Situation mit einigen wenigen Beispielen aus den Gebieten der Linguistik, der Psychologie und der Biologie erläutern. Die Tatsachen, welche die amtliche Überwachung der Philosophie und der formalen Logik betreffen, sind im II. Kapitel (§ 14 b) dargelegt.
§ 14. LINGUISTIK Ungeachtet ihres unpolitischen Charakters entkam die Linguistik nicht der kommunistischen Parteikontrolle. Sie wurde gezwungen, „marxistisch" zu werden und die kommunistische Sache zu unterstützen. Währen der zwanziger Jahre ersann der sowjetische Linguist und das Akademiemitglied Nikolai Marr die sogenannte „neue Sprach-theorie'und stellte sie den überlieferten Sprachbetrachtungen gegenüber. Er erhielt aus vollstem Herzen die Unterstützung der Partei und blieb dreißig Jahre lang der unbestrittene Diktator der Linguistik. Mit der Einführung seiner Theorie „trennte sich die Linguistik in der UdSSR scharf von der ausländischen Sprachwissenschaft" (I. I. Mescaninov, „Marr osnovatel’ sovetskogo jazykoznanija", Izvestija Akademii nauk, Otdelenie literatury i jazyka, 1949, Bd. 8, Nr. 4, S. 294). Um die Gefahr der Abweichung zu vermeiden, versuchten viele sowjetische Linguisten sich auf jene Zweige der Linguistik zu beschränken, die am wenigsten verwundbar gegenüber ideologischen Fallgruben waren, wie die Lexikologie, die Zusammenstellung neuer Wörterbücher und so weiter. Die Semantik (Wortbedeutungs-lehre), ein Zweig der Linguistik, die auf einer großen Anzahl soziolo-logischer und historischer Voraussetzungen beruht, befand sich unter der unaufhörlichen Beobachtung der Partei. Mit der Feststellung, daß die Sprache vollständig von der Entwicklung der ökonomischen Verhältnisse abhängig ist — ein überbau des ökonomischen Prozesses — versuchte Marr als ein treuer marxistischer Theoretiker zu handeln. Aber was für Angst, Enttäuschungen und berufliche Zurücksetzungen diese Theorie unter den Linguisten zur Folge hatte, lernten wir erst kennen, als sie von Stalin selbst als wissenschaftlich unrichtig zurückgewiesen wurde.
. Die leichteste Kritik, nein, sogar der vorsichtigste Versuch, die sogenannte Neue Theorie zu kritisieren, wurde von den führenden Kreisen der Linguistik unterdrückt. Wertvolle Arbeiter wurden aus ihren Stellungen entlassen oder in ihrem Rang erniedrigt wegen ihrer kritischen Haltung gegenüber N. Marr's Theorie. Beförderung war nicht so sehr auf der Basis der Leistung, sondern auf der Grundlage der unfraglichen Annahme der Marr'schen Theorie möglich“ (I. V. Stalin, Marksizm i voprosy jazykoznanija, 1950, S. 31).
„Stillstand in der Linguistik, der aus der Dogmatisierung der Marrsehen Theorie folgte, aus den Arakceev'sehen Methoden des Kampfes gegen die leichteste Abweichung und den leichtesten Versuch ihrer Kritik, hatte einen Mangel an größeren und ernsthaften Arbeiten in diesem Gebiet zur Folge" (B. A. Serebrianikov, Trudy Stalina po voprosam jazykoznanija i ich znacenije, Moskva 1954, S. 7).
Der Verzicht auf Marr’s Theorie kam als das Ergebnis verschiedener Faktoren zustande, aber in der Hauptsache, weil sie sich als ein ernsthaftes Hindernis der Russomanie erwies, die ihren Höhepunkt während der Nachkriegsperiode erreichte. Nach Marr würde jedes künstlerische Produkt der vorrevolutionären Periode kunstlos werden, wenn erst einmal seine historische Grundlage enthüllt war (s. N. Marr, Z a -piski vostoenogo otdelenija russkogo archeologiceskogo obscestva, Bd. 115, S. 336).
Marr's Theorie war deshalb mit der Verherrlichung von Rußlands geschichtlicher Vergangenheit unvereinbar (VII § 5). A. I. Beletskij, ein sowjetischer Gelehrter, kritisierte Marr genau in diesem Punkt: „Buslaev, Tichonrarov, Pypin und andere können natürlich nicht in Dingen der Methodik als unsere Lehrer betrachtet werden. Keiner von ihnen war ein Marxist. Aber das heißt nicht, daß ihre Namen Gegenstand vollständiger Verbannung werden müssen" (A. I. Beletskij, „Trudy I. V. Stalina po jazykoznaniju i literaturovedenniju“, Izvestija akademii nauk, Otdelenie literatury i jazyka, 1951, Bd. 10, Nr. 1, S. 15). E. Surkow klagte Marr auch der Schöpfung einer linguistischen Theorie an, die danach strebte, „im Namen der kommunistischen Ideen die Kultur der Sozialistischen Ordnung aus der früheren kulturellen und künstlerischen Entwicklung der Menschheit herauszubrechen" (E. Surkov, Voprosy jazykoznaniia i sovetskaja literatura", Novyj mir, 1951, Bd. 1, S. 207).
Der Angriff gegen Marr, den „Vulgarisierer" des Marxismus, begann im Mai 1950, als die P r a w d a jede Woche zwei Sonderseiten den Problemen der Sprachwissenschaft widmete. Mit der entscheidenden Streitschrift Stalins wurde die Sache der Sprachwissenschaften in den UdSSR wieder einmal in ihren vorrevolutionären Kurs umgekehrt. Am 2. Oktober 1950 gab die Akademie der Wissenschaften durch ihre Abteilungskommission für Literatur und Sprache einen zusammengefaßten Erlaß heraus, in dem Marr's Theorie endgültig formell zurückgewiesen wurde. Marr und seine Anhänger wurden wegen „grober Fehler" angeklagt, weil sie „versuchten, eine direkte Verbindung zwischen grammatischen Formen und ihrem textlichen Inhalt her^ auszustellen; lexikalische Forschung von grammatischer und literarischer Lektüre isolierten; Wörter auf die Behandlung im Wörterbuch beschränkten (gnezdovanie slov); die Syntax zum Nachteil der Morphologie förderten; und schließlich die Entwicklung der bleibenden orthographischen Erscheinungsformen übersahen" (Izvestija akademii nauk SSSR, Otdelenie literatury i ja-zyka, 1951, Bd. 10, Nr. 1 S. 87). Indem man den Sprachwissenschaftlern erlaubte, zu den herkömmchen Methoden linguistischer Forschung zurückzukehren, ließ die Kommunistische Partei jedoch nicht zu, daß man zur wissenschaftlichen Untersuchung von Fragen überging, die von der Parteilinie unabhängig waren. Von den Wissenschaftlern wurde auch fernerhin erwartet, gegen die Linguisten im Westen Krieg zu führen, an kleinlicher politischer Propaganda teilzunehmen und das sowjetische System als das einzige zu verherrlichen, das den Fortschritt in diesem Sachgebiet fördere. Der 19. Kongreß der Kommunistischen Partei ließ noch einmal deutlich werden, daß das letzte Wort in der Linguistik der Partei vorbehalten bleibt und nicht denen, die sich auf wissenschaftlicher Grundlage damit beschäftigen:
„Die Resolutionen der Delegierten des 19. Kongresses der Kommunistischen Partei der Sowjetunion werden unsere Sprachwissenschaltler und die Zeitschrift „Probleme der Sprachwissenschaften" zu neuen Aufgaben und neuen Leistungen führen, zu großer wissenschaftlicher und organisatorischer Vervollkommnung auf dem Gebiet der Koordinierung des Ganzen der Sowjetischen Sprachwissenschaft“ (Voprosy jazykoznanija, 1953, Nr. 1, S. 26).
§ 15. PSYCHOLOGIE Die sowjetische Psychologie bietet ein anderes einprägsames Beispiel der Kontrolle und des dauernden Eingriffes der Partei in einen wissenschaftlichen Sachbereich. Ihre Geschichte demonstrierte außerdem besonders anschaulich, daß Wissenschaftler jedesmal Meinungsänderungen vorzunehmen haben, wenn die Parteilinie sich ändert. Tatsächlich untersucht die sowjetische Psychologie Probleme, die der dialektische Materialismus für sich in Anspruch nimmt, und so ist sie gezwungen, sich den Dogmen dieses Materialismus anzupassen. Unglücklicherweise für die sowjetischen Psychologen ist der dialektische Materialismus durchaus keine eindeutige Lehre. Er ist vielmehr eine Kombination zweier entgegengesetzter Denkrichtungen: der Hegeischen Dialektik und des Materialismus (II §§ 3 u. 15).
Die Geschichte der sowjetischen Psychologie kann in vier Zeitabschnitte eingeteilt werden: (a) die vormarxistische Periode (1917—1923); (b) die Periode der „Versuche und der Irrtümer" (1924— 1931), parallel einer ähnlichen Periode in der Philosophie (II § 4); (c) die Periode der stufenweisen Entstehung einer „echten" dialektischen Psychologie (1931— 1950), in dem Werk von Rubinstein gipfelnd; (d) die allerneueste „Pavlov'sche" Periode seit dem 12. April 1951 (I. D. London, „A Historical Survey of Psychology in Soviet Union“, Psychological Bulletin, Bd. 46 (4), 1949, S. 241; „Russian Psychology and Psychiatry", Soviet Science, Hrsg. o. R. C. Christmann, Washington, 1952, S. 40— 47 R. A. Bauer, The New Man in Soviet Psychology, Harvard U. P. 1952, deutsch: Der Neue Mensch in der sowjetischen Psychologie, Bad Nauheim 1955).
Diese Periodisierung stimmt im großen und ganzen mit jener überein, die oben (§ 9) für die Kunst skizziert worden ist.
(1) Der kommunistische Eingriff in die Psychologie vollzog sich stufenweise, aber dauernd. Schon während des ersten Zeitabschnittes versuchten solche Psychologen wie Blonskij und Kornilov die Psychologie von idealistischen Bestrebungen zu säubern und sie „rein materialistisch" zu machen (P. P. Blonskij, Ocerk naucnoj psichologii, Moskva 1921). Der offene Zusammenstoß zwischen der herkömmlichen Psychologie, vertreten durch solche Männer wie Chelpanov, Lopatin und der „materialistischen" Psychologie ereignete sich auf dem ersten All-Russischen Psychologisch-Neurologischen Kongreß im Jahre 1923, als der dialektische Materialismus als notwendige Basis der Psychologie angenommen wurde. (K. N. Kornilov, Sovremennaja psichologija i Marksizm, Leningrad 1924.)
Von der Zeit an war nur noch eine Art von Psychologie in der Sowjetunion zugelassen, nämlich die „materialistische" Psychologie.
(2) Wie im Falle der Kunst bedeutete jedoch während der ersten Jahre des kommunistischen Regimes „Marxismus" für die einzelnen Psychologen etwas durchaus verschiedenes. Das hatte sogar unter jenen eine Andersartigkeit der Anschauung zur Folge, die sich für seine Vorkämpfer hielten. Zu jener Zeit wetteiferten zwei Richtungen um die marxistische Orthodoxie, die eine von Bechterev und die andere von Kornilov vertreten. Die Anhänger des ersteren hielten Kornilovs Schule für idealistisch, hingegen schauten Kornilovs Studenten auf Bechterevs Unternehmungen als auf einen vulgären Mechanismus herab — ein Gegensatz, der die zwei an sich unvereinbaren Elemente der kommunistischen Philosophie widerspiegelt.
Gegen Ende der NEP-Periode hatte man großes Interesse an einer Wissenschaft — später „Pädologie" genannt — die dem Studium der Entwicklung des Kindes gewidmet war. Es begann mit Blonskij's „Pädologie" und war, wie I. D. London sagt, „wesentlich eine Übernahme und Entwicklung von Ideen aus der westlichen Erziehungspsychologie mit ihrem bekannten Drum und Dran von Meßtechniken, Tests und so weiter (I. D. London, „A Historical Survey . . .", S. 260). In der Mitte der dreißiger Jahre jedoch wurde die Pädologie als eine „verächtliche pseudowissenschaftliche bürgerliche Einführung"
verdammt (BSE 1939, 44, S. 462; „Postanovlenie TsK VKP (b) 4 iulia 1936 g.: O pedologiceskikh izvrascenijach v sisteme Narkomprosov, P r a w d a , 1936, Nr. 183).
Durch das Jahr 1930 hindurch beschäftigten sich die sowjetischen Psychologen mit der Erfüllung zweier Hauptaufgaben: (a) der Ausrottung von anti-marxistischem Idealismus und vulgären Mechanismen in ihren Arbeiten und (b) der Anpassung ihrer Arbeit an die philosophischen Anschauungen Lenins, dargestellt in seinem Materialismus und Empiriokritizismus und seinen Philosophischen Bemerkungen.
(3) Die sogenannte „dialektische Psychologie", die als Ergebnis des Parteieingriffes entstand oder, wie der sowjetische Psychologe Teplov sagt, „als Folge zweier Grundforderungen: dem Entstehen des bolschewistischen Begriffs der „Parteilichkeit" und der Rückkehr der Psychologie zur sozialistischen Praxis" (V. M. Teplov, Sovetskaja nauka za 30 1 e t, Moskva 1947, S. 20), wurde dann die einzig statthafte psychologische Theorie in der UdSSR. S. L. Rubinsteins Werk „Basis der Allgemeinen Psychologie", welches mehr oder minder die Grundanschauungen der Sowjetischen Psychologie bis zum Zweiten Weltkrieg zusammenfaßt, erhielt 1942 den Stalinpreis. Es ist eine verhältnismäßig gutausgewogene Lehre.
Neuerdings, nach einer Periode der Kritik (1947), ist Rubinsteins Psychologie zugunsten einer mehr „materialistischen" Anschauung, die sich auf die Lehre von Pavlov gründet, zurückgewiesen worden.
Wie in der kommunistischen Welt üblich, geschah das im Jahre 1950 durch ein Dekret (Naucnaja sessija posvjascennaja problemam fiziologiceskogo uchenija Akademika I. P. Pavlova, Akademija Nauk SSSR, Moskva 1950).
Das Dekret drängte nicht allein die neue „Pavlovsche" Psychologie auf, sondern verdammte auch einige Interpretationen dieser Lehre. So wurden zwei Psychologen, I. S. Beritasvili und D. A. Orbeli, als „Abweichler und Pseudowissenschaftler" verurteilt, die, während sie die „Pavlovsche Terminologie gebrauchten, das Wesen ihrer Grund-konzeption nicht richtig erfaßten" (Zumal vysej nervnoj dejatelnosti, 1951, Bd. 1, S. 145).
Das Schicksal des Pavlovschen Werkes und sein Einfluß auf die sowjetische Psychologie mag hier auch Erwähnung finden. Jahrzehntelang war Pavlovs Ruf sowohl außerhalb als auch innerhalb der UdSSR so groß, daß die kommunistische Partei es nicht wagte, ihm gegenüber offen ihre stumpfsinnigen Methoden der Reglementierung anzuwenden. Als Nobelpreisträger für seine Leistung auf dem Gebiet der Psychologie der Verdauung, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und international anerkannt als ein princeps physiologorum m u n d i, blieb Pavlov, wenigstens zu seinen Lebzeiten, eine Ausnahme, was die Unerbittlichkeit der Parteikontrolle anbetraf. Pavlovs Theorien, die darauf hinausliefen, psychische Phänomene auf Reflexe zu beschränken, widersprachen jedoch ernstlich dem dialektischen Materialismus, der jegliche physiologische oder biologische Vorherbestimmung leugnet und in dieser Hinsicht die führende Rolle den ökonomischen Einflüssen zuweist. Pädologie zum Beispiel stützt sich in beträchtlichem Maße auf die Pavlovsche Reflexologie. Während der dreißiger und vierziger Jahre hatte Pavlovs Theorie nicht das Übergewicht über andere Theorien. Erst im Jahre 1950, auf der gemeinsamen Sitzung der Akademie der Wissenschaften wurde sie zur einzig gültigen Theorie auf dem Gebiet der Psychologie, Physiologie, Erziehung usw. erklärt.
§ 16. BIOLOGIE Die Biologie ist ein anderes Beispiel dafür, was der Wissenschaft widerfährt, wenn sie sich erst einmal in den Klauen des Kommunismus befindet. Vom frühen Beginn der roten Herrschaft an war die Biologie der Parteiüberwachung im wesentlichen aus zwei Hauptgründen ausgesetzt: ideologischen und ökonomischen. Ideologischen, weil sie auf ihre Weise die Grundelemente des organischen Seins erklärt, und ökonomischen, weil sie Anhaltspunkte für das bessere Verständnis der pflanzlichen Entwicklung liefert, für die Landwirtschaft ein Problem von großer Bedeutung.
Während der NEP-Periode erfreute sich die Biologie zusammen mit anderen Wissenschaften begrenzter Freiheit. Biologen und Genetikern wurde gestattet, engere Beziehungen mit ihren westlichen Kollegen aufrechtzuerhalten. Solche Männer wie N. Koltsov, A. Serebrovski und besonders N. Vavilov, die ein Jahrzehnt später schwerer Abweichung vom dialektischen Materialismus schuldig befunden wurden, erhielten beträchtliche Unterstützung. Die Biologie wurde von den Kommunisten als eine Wissenschaft angesehen, die ihnen in großem Maße zur Verwirklichung ihrer Pläne auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der Viehzucht helfen würde. Im Jahre 1922 zum Beispiel nahm selbst Lenin ein persönliches Interesse an den Micurinschen Experimenten, indem er das Tambover Partei-Exekutiv-Komitee anwies, Micurin jede mögliche Unterstützung seiner Experimente zu gewähren.
Mit dem Abschluß der NEP-Periode jedoch befanden sich die Biologie, Genetik, die Physiologie und praktisch alle Wissenschaften in Konflikt mit der Parteilinie. In der Biologie und Genetik geriet die Mendelsche Theorie, welche die Tatsache der Chromosomenvererbung betonte, mit kommunistischen Forderungen in Konflikt, welche von den Biologen den Beweis verlangte; daß die Natur grundlegend verändert und neue Arten lebender Organismen ohne große Anstrengung erzeugt werden könnten. Die veraltete Theorie von Lamarck, die postuliert, daß Umweltsbedingungen bleibende Merkmale im lebenden Plasma schafft, wurde schnellstens wiederentdeckt und in den Stand einer orthodoxen Theorie der Biologie und Genetik erhoben.
Die Methode der Überwachung ist in den Wissenschaften ebenso wie in den Künsten selten direkt. Meistens wählt die kommunistische Partei irgendeinen Experten des betreffenden Gebietes aus, gibt ihm jede notwendige administrative Unterstützung und läßt durch ihn die Linie festlegen, die zu befolgen ist.
In der Biologie waren das Lysenko und Present. Der formelle Schlag gegen die Mendelsche Theorie kam im Jahre 1936 auf dem Genetikerkongreß in Moskau. N. A. Vavilov, ein alter Biologe, wurde das Hauptziel des Angriffes. Den Rücken durch die Partei gedeckt, griff T.
schwer Lysenko Vavilov wegen seines und seiner Vereinfachung Darwins an (s. Lysenkos Rede auf dem VASChNIL, Front nauki i t c h n i i , 1937, Nr. 1). e k Im üblichen Verfahren wurde Vavilov nach und nach der leitenden Posten seines Fachgebietes beraubt, und wie O. Vetuchiv feststellte, im Jahre 1940 verhaftet; er starb schließlich im Gefängnis (V. O. Vetuchiv, Genetics in the USSR", Academic Freedom Under SovietRegime, S. 27).
Die Unterdrückungsmaßnahmen der Partei gegenüber der Biologie und Genetik in den dreißiger Jahren konnten jedoch nicht die Chromosomentheorie vollständig ausmerzen. Das geht deutlich aus dem Artikel des Akademiemitgliedes P. M. Zukovskij hervor, der 1945 erschien: „Eine beklagenswerte Lage hat sich hinsichtlich der Dissertationen über Genetik entwickelt. Dissertationen über Genetik sind sehr selten, tatsächlich stellen sie Einzelfälle dar. Das ist aus den unnormalen Beziehungen zu erklären, die den Charakter der Feindschaft zwischen den Anhängern und Gegnern der Chromosomentheorie der Vererbung angenommen haben. Die Wahrheit ist, daß die ersteren irgendwie die letzteren fürchten, die sehr aggressiv sind." (Vestnik vysei s k o 1 y , 1945, Nr. 4, S. 30.)
Zu einer vollständigen Unterdrückung dessen, was im sowjetischen Sprachgebrauch als „Morganismus-Mendelismus" bekannt ist, kam es im Jahre 1948 auf der Sitzung der Lenin-Akademie der Landwirtschaftswissenschaften. In seiner Ansprache als Präsident stellte T. D.
Lysenko fest, daß „die Partei und die Regierung väterliches Interesse für die Stärkung und die Entwicklung der Micurinschen Richtung in unserer Wissenschaft, für die Beseitigung aller Hindernisse ihres weiteren Fortschrittes zeige." (T. D. Lysenko, The Situation in Biological Science, Moscov 1949, S. 65.)
In seiner Rede gab er eine große Zahl von Biologen und Genetikern, wie Zavadovskij, Malinovskij, Dubinin, Zukovskij und andere als Vorkämpfer der Mendelschen Theorie preis.
Nach der Ansprache Lysenkos nahm die Sitzung eine Resolution an, in der sie formell und offiziell die Chromosomentheorie verurteilte und zu einer gründlichen Reorganisierung der wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der Biologie und der Revision der Lehrpläne der Erziehungsinstitute aufrief" (e b d., S. 71).
Dementsprechend „vernichtete" auf der Sitzung „die Diskussion vollständig die reaktionäre und unwissenschaftliche Weismann-Morgansche Richtung in der Biologie und erwies den vollständigen Sieg und die große Stärke der Micurinschen Biologie, die auf dem dialektischen Materialismus aufbaut." (M. I. Rubinstein, Burzuaznaja nauka i technika na sluzbe amerikanskogo imperializm a , S. 330.)
Ein anderes Werkzeug bei der Ausführung der kommunistischen Politik in der Biologie war O. Lepesinskaja. Ihre Angriffe gegen die Biologie im Westen spiegeln vollkommen die Interessen der Partei an dieser Wissenschaft wider:
BIm Lande des Sozialismus, wo der führenden Wissenschaft Schutz von der Partei und von der Regierung gewährt wird, wo sie unter der direkten Gönnerschaft und Führung unseres großen Führers, des unübertrefflichen Genius der Wissenschaft, Kamerad Stalin, steht, ist der Kampf des Alten und Sterbenden gegen jedes Neue und Revolutionäre eine vorübergehende Erscheinung." (O. B. Lepesinskaja, „Razvitija ziznennych processov v dokletocnom periode", Sovescanie . . .
S. 12.)
Nachdem die „bürgerliche Einkreisung" immer noch existiert, stellt die Lepesinskaja fest, „verschwinden die sterbenden reaktionären Vorstellungen nicht von selbst", sondern müssen durch Machtmittel unterdrückt werden, und jeder Wissenschaftler muß sorgfältig darüber wachen, daß kein „böser Geist des Idealismus in seinem Werk steckt.“
(ebd., S. 10.)
Es gibt einen wichtigen Beweis, daß dieser Umschwung in der Biologie von der Kommunistischen Partei ausgelöst und geleitet wurde.
Molotov nämlich, der mit der Biologie oder der Wissenschaft im allgemeinen nichts zu tun hat, deutete das im B olse vik an: „Die Diskussion über die Theorien der Vererbung hat wichtige Grundsatzfragen aufgeworfen. Sie betreffen den Kampf um eine wahre Wissenschaft — gegründet auf die Prinzipien des Materialismus — gegen die reaktionären idealistischen Überbleibsel in der wissenschaftlichen Arbeit, wie z. B. die Lehre des Weismannismus von der unveränderlichen Vererbung, die die Übertragung eines erworbenen Merkmals auf nachfolgende Generationen ausschließt. Sie hat die schöpferische Bedeutung der materialistischen Prinzipien für alle Zweige der Wissenschaft unterstrichen, was den beschleunigten Fortschritt der wissenschaftlichen Grundlagenforschung in unserem Land fördern sollte. Wissenschaftliche Diskussionen in der Biologie sind unter dem leitenden Einfluß unserer Partei geführt worden. Die Leitideen des Kameraden Stalin haben auch hier eine ausschlaggebende Rolle gespielt, indem sie neue, weite Perspektiven für die praktische wissenschaftliche Arbeit eröffnet haben." (B o 1 s e v i k , Nr. 21, 1948; zit.
nach O. Vetuchiv, „Genetics in the USSR", Academic Freedom under the Soviet Regime, S. 26.) .
Beim Abschluß der Sitzung gestanden alle schuldigen Biologen und Selbstkritik Genetiker öffentlich auf dem Wege der unmoralischen ihre Sünden und ihre gelehrte „Dummheit". Ein außergewöhnliches das Beispiel dieser Selbsterniedrigung ist von lurij danov, veröffentlicht in der P r a w d a am 7. August 1948. In einem offenen Brief schrieb er, daß „sein Fehler in seiner brutalen und öffentlichen Kritik des Akademiemitgliedes Lysenko liege . . ." und daß er „seine Fehler auf dem Wege konkreter Taten berichtigen" wolle. Dieses Bekenntnis jedoch half lurij danov nur wenig. Die Partei stieß ihn aus allen seinen Stellungen aus. Das gleiche Geschick widerfuhr Zukovskij, Alichanjan, Poljakov und anderen. (O. Polozenii v biologiceskoj n a u k e , Moskva 1948, S. 383— 393.)
Wie in der UdSSR, so waren auch in den Satellitenländern Biologie und Genetik Gegenstand ähnlicher Säuberungen und Umschwünge. Lysenkos dogmatische Neuerung mußte ohne jeden Einwand übernommen werden. Jan Dembrowski, Präsident der Polnischen Akademie der Wissenschaften, hatte Lysenko sogar öffentlich zu rühmen:
Lysenkos Theorie „bereichert die Wissenschaft, seit sie bedeutende Leistungen auf dem Gebiet der theoretischen Biologie und besonders in Beziehung auf die Vererbung, Mutation und Entwicklung mit sich bringt. Sie beschenkt das Land mit gewaltigem, kostenlosem praktischen Nutzen, der die ganze Landwirtschaft revolutioniert". (J. Dembrowski, Science in New Poland, London 1952, S. 24.)
Die amtliche Überwachung hörte mit dem Tode Stalins nicht auf. Auf dem 19. Parteitag behauptete der Präsident der Akademie der Wissenschaften der UdSSR A. N. Nesmejanov, daß „der Sieg der materialistischen Micurin'sdren Lehre über die reaktionären idealistischen Lehren des Weismannismus-Morganismus weite Ausblicke auf eine überaus fortschrittliche Entwicklung der sowjetischen Biologie eröffnete." (A. N. Nesmejanov, „Nekotoryje zadaci ANSSSR v svete resenija 19-go sjezda KPSSSR", Priroda, 1953 Nr. 3).
Die schnelle Entthronung Stalins auf dem 20. Kongreß der Sowjetischen Kommunistischen Partei hatte für die Wissenschaftler keine weitere Bedeutung. Zwar wurde Lysenko von seinem Posten als Vorsitzender der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften entfernt, trotzdem er Anfang April 1956 schrieb, daß „es Stalin selbst war, der seinen Bericht „Uber die Prinzipien der biologischen Wissenschaft’ redigierte und ihm Anweisungen gab, wie die eigenenTeile des Berichts darzulegen seien." (P r a w d a , 8. IV. 1956.) Denn international gesehen war Lysenko eine zu strittige Persönlichkeit und deshalb ein ernstes Hindernis für das Streben der Partei, unter den Biologen der freien Welt Sympathien zu gewinnen. Der Rücktritt Lysenkos jedoch kennzeichnet nicht die Preisgabe der Prinzipien, die so viel Schwierigkeiten für Genetiker und Biologen unter dem Kommunismus zur Folge hatten.
Im März 1956 lesen wir im Vestnik Akademii Nauk, „daß die sowjetische biologische Wissenschaft auf der festen Grundlage der materialistischen Anschauungen von I. V. Micurin und I. P. Pavlov sich weiter entwidielt." (Vestnik Akademii Nauk, März 1956, Nr. 3, S. 26.)
Wegen dieser Einstellung der Partei zu den Wissenschaften teilten die Wissenschaftler das gleiche Schicksal wie die Künstler. Die Akademie der Wissenschaften, die Universitätslehrkörper sind periodisch gesäubert worden, mit Parteispitzeln durchsetzt, als Feinde des Volkes, ausländische Spione etc. entlarvt worden. Zum Beispiel stellte P. P.
Postisev in einer im Jahre 1933 gehaltenen Rede fest, daß 1933 dreihundert Mitglieder der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften und der Universität Kiev gesäubert worden sind. (Itogi 1933 selsko-
chozjajstvennogo goda i ocerednge zadaci KP (b) U, P r a w d a , 24. XI.
1933.) In der Ansprache vom 20. Januar 1934 stellte derselbe Kommissar fest, daß mehr als zwei Dutzend der ukrainischen Historiker liquidiert worden seien, unter ihnen M. Javorskyj, A. Richyckyj, M. Cheel, V. Mazurenko und andere. (V i s t i, 24. I. 1934.) Der Bericht, der die Tätigkeit der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Jahre 1929 betrifft, enthält folgende Äußerung, die die Tragödie der Gelehrten und Wissenschaftler bezeugt:
„Die Akademiker-Marxisten, die ordentliche Mitglieder der Akademie wurden, haben zusammen mit den neuen marxistischen Angestellten, die die leeren Plätze der Personen ausfüllten, die als Folge der Säuberung des A p p aratesentfernt worden sind, bereits einen Einfluß auf die Organisation und die Erfüllung der Arbeit ausgeübt.“ (Vom Vers, hervorgehoben; V. Komarov., Hrsg., O t c e t o dejatelnosti A k a de m i i Nauk SSSR za 1929 god, 1940, Bd. 1, S. 4.)
Auf einer von Dr. N. Poppe — ehemaliges korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der UdSSR — gelieferten Information fußend, schrieb A. Vucinich:
„Die Bestraften können in drei Kategorien eingeteilt werden. Die in der ersten Kategorie waren nicht nur aus der Akademie entfernt worden, sondern ihnen war auch verboten, irgendeine andere Stellung einzunehmen. Die in der zweiten Kategorie — verschiedene Akademiemitglieder und korrespondierende Mitglieder, einschließlich S. F. Platonov, V. M. Peret und A. A. Bialinitskü-Birulia — wurden verbannt und erschienen nie wieder. Die der dritten Kategorie einschließlich E. V. Tai le und N. P. Lichachev, wurden verbannt, tauchten unter Um ständen aber wieder auf und nahmen ihre alten Stellungen ein. Es wird geschätzt, daß annähernd ein Zehntel des wissenschaftlichen Lehrkörpers der Akademie entfernt wurde. Die Opfer unter den Nicht-Wissenschaftlern waren verhältnismäßig noch zahlreicher." (A. Vucinich, The Soviet Academy of Sciences, Stanford, 1956, S. 10.)
Viele Gelehrte, einige von ihnen im Westen bekannt, verschwanden einfach aus dem akademischen Leben. Hinweise auf ihre Arbeiten, die Registrierung ihrer Namen in den offiziellen Veröffentlichungen hörte vollständig auf. Einige solcher Wissenschaftler waren: Lukirskij, Atom-physiker, Orbeli und Beritasvilli, beide Physiologen, Mesaninov, ein Sprachwissenschaftler und heißer Vorkämpfer der Marr'sehen Theorie, Baladin, ein Katalyse-Experte, Grigoriev, ein Geologe, Vavilov, ein international bekannter Genetiker, dem im Jahre 1926 die Lenin-Medaille verliehen worden war, Levickij, auch ein Genetiker und korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften und andere.
E. Das Ergebnis
§ 17. DIE FOLGEN DER REGLEMENTIERUNG Als der XX. Parteikongreß der wachsenden Unzufriedenheit der Künstler und Wissenschaftler Raum gab, beschrieben viele von ihnen das Ergebnis der kommunistischen Politik in Kunst und Wissenschaft. Das war allerdings schon durch das Zeugnis der Menschen bekannt, die die kommunistischen Länder besuchten oder aus ihnen entkamen. Die Folge der kommunistischen Politik war die Erniedrigung der Hauptkulturkräfte und die unsagbare Tragödie ungezählter schöpferischer Künstler und Denker.
Dabei ist es wirklich erstaunlich, daß trotz der tyrannischen Herrschaft der Partei Künstler und Wissenschaftler sowohl in der UdSSR als auch in den Satellitenländern z. T. eindrucksvolle Werke schufen. Das mag aus dem Beharrungsvermögen der kulturellen Traditionen «erklärt werden und durch den Umstand, daß der Kommunismus zusammen mit den absurden und barbarischen Lehren der „Parteilichkeit" eine echte, aus dem Materialismus des 19. Jahrhunderts ererbte Achtung vor der Wissenschaft in sich trägt; und letztlich durch die Tatsache, daß die Wissenschaft für die ökonomischen und militärischen Ziele der kommunistischen Partei lebensnotwendig war.
Jedoch gewannen Künstler und Wissenschaftler nur dann Vollendung, wenn die Partei nicht eingriff und versuchte, ihre Prinzipien dem Werk aufzuzwingen. Eingriff der Partei hatte stets Dekadenz der Künste und Wissenschaften zur Folge. Während verschiedener Jahrzehnte des kommunistischen Regimes leisteten die nationalen Literaturen in der UdSSR, einschließlich der russischen, nichts von bleibendem Wert. Die meisten Satelliten-Literaturen wurden zu einfacher Propaganda erniedrigt. Die kommunistische Architektur brachte keinen eigenen Stil hervor, sondern wurde eine Vermengung aller Stilarten von der Spätgotik und Renaissance bis zum Modernismus. Die hervorragendsten Muster dieser Architektur sind künstlerisch monströs, oder, wie der kommunistische polnische Dichter Julian Przybos sagt, sie sehen aus wie „Elefanten-Giraffenhäuser". Einige der besten Werke der Musik sind unterdrückt worden. Die Philosophie wurde eine Kunst des Zitierens der „Klassiker", die Geschichte hatte ihre Einzelheiten auf jedes Kommando der Partei hin umzukehren und zu fälschen; die Sprachwissenschaft, wie gezeigt worden ist, hatte ihren ganzen Inhalt auf ein Wort von Stalin hin zu ändern. Viele andere Bereiche künstlerischen und wissenschaftlichen Lebens könnten jener Liste zugefügt werden.
Wir haben oben eine Anzahl von Beispielen jener Erniedrigung gegeben. Wir wollen hier nur einige wenige Texte zitieren, die das Schicksal der Literatur und ihrer Schöpfer betreffen.
„In zwanzig Jahren haben tausend Autorenfedern wenig über zehn gute Bücher hervorgebracht, hunderte von Sowjetschriftstellern sind ruhig beiseite gegangen und führen eine gelassene Existenz träger, unbegreiflich kontemplativer Untätigkeit ... sie haben nichts, worüber sie schreiben könnten“ (M. Solochov’s Ansprache auf dem XX. Parteikongreß, Prawda, 21. Febr. 1956).
„Ich bin oft nach meiner Meinung über die Sowjetliteratur von heute gefragt worden ... Die große Mehrzahl der Arbeiten gibt niemals dem den Vorzug, was neu„ potentiell möglich, unbekümmert und beunruhigend ist, sogar wenn sie von den besten Autoren geschaffen worden sind; sondern allein dem. was gebilligt werden kann — um es deutlich zu sagen — dem Gemeinplatz. Genau so, wie es einmal bürgerliche Gemeinplätze gab, so gibt es nun revolutionäre Gemein-plätze. Vergegenwärtigen wir uns, daß der eigentliche Wert eines Kunstwerkes, die Qualität, die sein überleben sichern wird, niemals im fügsamen Festhalten an einer Lehre liegt und sei diese Lehre die klangvollste und scheinbar sicherste. Sondern vielmehr darin, Fragen aufzuwerfen, die in die Zukunft weisen und darauf Antworten zu geben, die bisher noch nicht formuliert worden sind. I ch fürchte sehr, daß viele vom reinsten Geist des Marxismus durchtränkte Werke, und deshalb heute so erfolgreich, bald für die Nasen von morgen einen unerträglichen K r a n k e n g e r u c h ausströmen werden:
und ich glaube, daß die Werke am siegreichsten leben werden, die sich erfolgreich von solchen Vormundschaften befreit haben" (Andre Gide, Return from the USSR, S. 58; vom Vers, hervorgehoben).
„Es war überaus wichtig für mich, mein eigenes Urteil über die Literatur auszudrücken ... Ich fand es abstoßend, Halbwahrheiten zu schreiben; ich wurde mit Zeitschriften aufgezogen, in denen die Autoren über alles mögliche schrieben, außer über das, was sie selbst dachten. Der Schriftsteller ist gelähmt, wenn er weiß, daß jedes Werk, das er schreibt, nach einem einzigen entscheidenden Kriterium bei Licht durchforscht und sorgfältig überblickt wird — ob er oder ob er sich nicht selbst entlarvt hat" (Jan Kott, polnischer Dichter, N o w a Kultura , 6. III. 1955).
„Wo waren wir alle, als nach 1948 ein Mann über die tschechische Literatur die Aufsicht führte, der nicht Tschechisch konnte und doch das Schicksal tschechischer Schriftsteller und tschechischer Bücher entschied? Bittet die verstummten und ungerecht vertriebenen Schriftsteller zurückzukommen und mit Euch zu arbeiten. Und laßt uns der gefangenen Schriftsteller gedenken. Sie haben für ihre politischer Irrtümer genug gelitten" (Jaroslav Seifert, tschechischer Dichter, im März 1956 auf der Sitzung der Tschechischen Schriftsteller, N e w Y o r k T i m e s , 27. V. 1956, S. 6; vom Vers, hervorgehoben). Jene verstummten Männer sind nicht allein unter den tschechischen Schriftstellern und Dichtern zu finden. Hier sind einige Zeugnisse über das Schicksal schöpferischer Künstler und Schriftsteller in den verschiedenen kommunistischen Ländern:
„Sie sehen", sagte ein sowjetischer Kritiker zu Andre Gide, „ein Künstler in unserem Land muß zuerst einmal die Linie befolgen. Anders werden sogar die schönsten Gaben als formalistisch betrachtet.
Ja, das ist unser Ausdruck, um das zu bezeichnen, was wir nicht zu sehen oder zu hören wünschen. Wir wünschen eine neue Kunst zu schaffen, wert dem großen Volk, das wir sind. Kunst sollte heutzutage volkstümlich oder gar nicht sein“ (Andre Gide, Return from the U S S R, S. 54).
„Das Wort , Auftrag'ist kaum passend für das Werk eines Schriftstellers. In vorrevolutionären Zeiten fanden Schriftsteller es nicht leicht zu leben, und in Tschechows Briefen mag man die Hinweise darauf beachten, wie der Herausgeber einer Zeitung eine Kurzgeschichte von ihm forderte. Jedoch sogar der gedankenloseste Herausgeber versuchte niemals, Tschechow das Thema einer Geschichte nahezulegen. Kann man sich vorstellen, von Tolstoi zu fordern, Anna Karenina zu schaffen, oder von Gorkij, Die Mutter zu gestalten? Ist es möglich, daß es einen Schriftsteller gibt, der allem gegenüber so unpersönlich und so gleichgültig ist, daß man ihm sagen muß, worüber er schreiben soll? (I. Ehrenburg, „O rabote pisatelja", Z n a m i a , Oktober 1953, S. 165; zit. nach E. J. Simmons, „Soviet Literature 1950— 1955", The Annals of the American \ c a d e m y , Januar 1956, S. 101).
„Ich habe an jenem Kulturkongreß teilgenommen, auf dem die Theorien des sozialistischen Realismus zum erstenmal diskutiert wurden.
Die Haltung der Zuhörer gegenüber den Rednern, welche die geforderten Referate vom Stapel ließen, war ausgesprochen feindlich. Jedermann betrachtete den sozialistischen Realismus als eine von offizieller Seite aufgezwungene Theorie, die, wie schon die russische Kunst bewies, nur die bedauerlichsten Resultate haben würde. Alle Versuche, eine Debatte zu entfesseln, versagten. Der ganze Saal blieb schweig- sam. Gewöhnlich pllegte bei solchen Gelegenheiten ein tollkühner Künstler eine Attacke zu reiten, voll eines beherrschten Sarkasmus, die dann die schweigende, nicht zu aber verkennende Unterstützung aller Anwesenden land. Der Betreifende würde dann regelmäßig durch höhere Argumente und offene Drohungen gegen die zukünftige Karriere eines so undisziplinierten Individuums zum Schweigen gebracht werden. Angesichts von überzeugenden Argumenten plus Drohungen würde die notwendige Bekehrung unweigerlich Platz greifen, das war mit mathematischer Gewißheit vorauszusehen". (Czeslaw Milosz, Verführtes Denken, Köln-Berlin 1955, S. 25).
§ 18. KEINE ÄNDERUNG DER BISHERIGEN PRAKTIKEN Der 20. Parteikongreß gestattete eine öffentliche Kritik der kommunistischen Politik in Kunst und Wissenschaft. Aber die Partei änderte weder ihre Grundprinzipien, noch ihre Grundforderungen gegenüber Künstlern, Schriftstellern und Wissenschaftlern.
„Das literarische und künstlerische Schaffen muß vom Geist des Kampfes für den Kommunismus durchdrungen sein . . Die Partei wird wie bisher, so auch künftig dagegen kämpfen, daß die Sowjetwirklichkeit unwahr dargestellt wird, daß man sie schön zu färben oder daß man umgekehrt das vom Sowjetvolk Erkämpfte zu schmähen und zu verunglimpfen sucht. . . . Im Kampf, den unsere Partei gegen die ab-lebenden Ideen und Vorstellungen der alten Welt, für Verbreitung und Verankerung der kommunistischen Ideologie führt, haben Presse, Literatur und Kunst eine große Rolle zu spielen.“ (Chruev, Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XX. Parteikongreß; nach Meissner, Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt a. M.
1956, S. 123— 124 passim.)
„Die Sowjetliteratur war und wird ihrer Parteilichkeit, ihrer Verbindung mit der Politik der Kommunistischen Partei und dem Sowjetischen Staat viel schuldig sein.“ (Editorial, L i t e r a t u r n a j a g a z e t a , 8. V. 1956.)
„Bei den Künsten liegt die leitende Kraft in ihrem Inhalt und ideologischen Wert. Der Künstler ist der Helfer der Partei bei der Erziehung des Menschen. Er muß mit den fortschrittlichen Ideen unserer Zeit Schritt halten, muß fortwährend die marxistisch-leninistische Theorie studieren, muß sie schöpferisch in seinem Werk anwenden und sich den Reihen der fortschrittlichen Menschen der sowjetischen Gesellschaft anschließen. Hohes ideologisches Verdienst und Künstlerschaft sind untrennbar.“ (Sovetskaja kultura, 27. III. 1956, S. 3.)
Das sind autoritative Feststellungen. Sie proklamieren die Parteilichkeit und die Unterordnung der Künste unter die Partei und ihre Politik. Die Partei bleibt die einzige Autorität, die im weiten Bereich der spekulativen und schöpferischen Bestrebungen der sowjetischen Künstler, Schriftsteller, Gelehrten und Wissenschaftler plant, berechnet und koordiniert. Diese Rolle geht in ihrem tiefsten Grundanspruch d rauf aus, das Leben der Gesellschaft als Ganzes zu kontrollieren. Jede Abweichung zugunsten größerer Freiheit für schöpferische Menschen bedeutet entweder ein taktisches Manöver der Partei oder eine beträchtliche Abweichung von ihren unnatürlichen und phantastischen Forderungen.
Das Ergebnis der Anwendung dieser Forderungen kann nicht anders als das in diesem Kapitel beschriebene sein.
Quellen: Die wichtigsten Aussagen Lenins zum Thema finden sich in seiner Rede auf dem I. Kongreß der Arbeiter des Unterrichts und der sozialistischen Kultur (Socinenija, 3. A. Bd. 24), in seiner Schrift an das Präsidium der Konferenz der kulturellen und Bildungs-Organisationen (ebd. Bd. 23), und endlich, vor allem, im Aufsatz: Parteiorganisation und Parteiliteratur (Sämtliche Werke Bd. 8).
Die Gedanken Lenins wurden in einer Reihe kommunistischer — russischen und anderen — Schriften ausgearbeitet; ein Verzeichnis findet man im bibliographischen Anhang.
Stalins wichtigster Beitrag (bedeutend sowohl als Beispiel eines Eingriffes als auch durch die Darstellung früherer Eingriffe der Partei) ist: Marksizm i voprosy jazykoznanija, Moskva 1950: deutsch: D e r Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft, Berlin 1952.
Was die faktische Lage anbetrifft, so kommt sie am besten in Kongreßberichten zum Ausdruck. Unter anderen sind zu nennen: für die Musik Sovescanije dejatelej sovetskoj muzyki v CK V K P (b) , Moskva 1948; für Psychologie: Naucnaja sessija posviascennaja problemam fiziologiceskogo u c e n i j a Akademika I. P. Pavlova, Moskva 1950; für Biologie: O polozenii v biologicesko j nauke, Moskva 1948. Weitere Literatur ist in der Bibliographie verzeichnet. Eine sehr reiche Quelle (die hier freilich nicht mehr benutzt werden konnte) bilden besonders die Aussagen der polnischen Schriftsteller und Künstler aus dem Jahre 1956; in Polen nämlich war von den Kommunisten eine ziemlich weitgehende Freiheit der Kritik in dieser Hinsicht gestattet. Die in Frage kommenden Zeitschriften sind vor allem Po Prostu und Nowa Kultura. Dieses Material bestätigt in vollem Umfange das, was im vorliegenden Kapitel hauptsächlich auf Grund der russischen Quellen gesagt ist.
Literatur: Eine Gesamtdarstellung der Materie existiert nicht; für einige der schönen Künste und für die Wissenschaften gibt es vereinzelte Darstellungen. So für die Literatur: G. Struve, S o v i e t Russian Literature, 1917 — 1951; L. v. Balluseck, Dichter im Dienst, Wiesbaden 1956; ein Dictionary of Russian Literature befindet sich im Druck (hrsg. von W. E. Harkins). Für Musik: A. Olkhovsky, Music Under the Soviets, New York 1955. Für die Wissenschaft im allgemeinen: AcademicFreedom Under the Soviet Regime, New York 1954; M. u. E. E. Müller, Stürmt die Festung Wissenschaft, Berlin 1954; M. G. Lange, Wissenschaft im Totalitären Staat, Stuttgart-Düsseldorf 1955.