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Die Rettungsaktionen Schwedens im Zweiten Weltkrieg | APuZ 32/1957 | bpb.de

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APuZ 32/1957 Neue Zeit Die Rettungsaktionen Schwedens im Zweiten Weltkrieg

Die Rettungsaktionen Schwedens im Zweiten Weltkrieg

HERBERTPETERSEN

„Nur eines möchte ich Dich in der gegenwärtigen Situation bitten, besonders zu bedenken“, schreibt der schwedische Außenminister Christian Günther am 13. Februar 1945 an den schwedischen Gesandten Arvit Richter in Berlin: „Wenn jetzt vermutlich bald chaotische Zustände eintreten werden, könnte man meinen, daß auch die sd-iwedische Gesandtschaft die Wahlstatt verlassen sollte. Es ist möglidt, daß dieses das Richtigste sein wird, aber vergiß nicht die äußerst dringende Aufgabe, den dänisdten und norwegischen Häftlingen in Deutschland zu helfen, soweit und so lange dies nur möglich ist. Es würde un-

gemein wertvoll sein, wenn wir in dieser Hinsidtt einen wirklichen Einsatz leisten könnten, und allein sdton für diese Aufgabe ersdreint mir das Verbleiben der Gesandtsdiaft wohl motiviert“.

Diese für die schwedische Außenpolitik „außerordentlich zentrale Angelegenheit“, nämlich die Rettung der Skandinavier aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Gefängnissen und Zuchthäusern entspricht in hohem Maße der gefühlsmäßigen Einstellung des schwedi-

schen Volkes — sie stimmt mit ihr hundertprozentig überein. Der schwedische Außenminister spricht hier aus, was das Volk fühlt. Wer den 9. Mai 1945 in Stockholm miterlebt hat, wird aus den Freudenäußerungen der hauptstädtischen Bevölkerung damals im wesentlichen den spontanen Ausbruch nordischen Gemeinschaftsgefühls herausgelesen haben: Gruppen von Angehörigen der skandinavischen Brudervölker, zu einem großen Teil wahrscheinlich Flüchtlinge, zogen singend und jubelnd durch eine der Hauptstraßen und wurden aus den Fenstern der anliegenden Häuser mit Konfetti und Blumen beworfen, — über dem zerschlagenen Fenster des deutschen Reisebüros aber war ein Plakat mit der Aufschrift „ausverkauft“ befestigt.

Die Befreiung von Norwegern und Dänen war von Anfang an eine klar gestellte Aufgabe der schwedischen Rettungsaktion des zweiten Weltkrieges. Dieses skandinavische Anliegen hat die schwedische Politik bis zum Ende des Krieges konsequent und erfolgreich verfolgt. Aber die Rettung blieb nicht auf Skandinavier allein beschränkt. „Schwedens Grenzen stehen allen offen“, dieses mehrfach kolportierte Wort des schwedischen Außenministers bedeutete, daß auch Angehörige anderer Nationen, wie Holländer, Polen, Franzosen, nicht zuletzt auch Juden, im zusammenbrechenden Dritten Reich von den schwedischen Rettern in Empfang genommen und von den weißen Autobussen nach Schweden abgefahren wurden. So flossen zuletzt auch die teilweise privat begonnenen Bemühungen um die Befreiung der Juden aus den Konzentrationslagern, in den großen schwedischen Rettungsstrom, der groß durchgeführten Aktion des schwedischen Staates, hinein, der seinen Anfang bei den skandinavischen Brüdern genommen hatte.

Die vorliegende Untersuchung will darstellen, wie es wenigstens teilweise gelang, Menschen zu befreien, die nicht auf Grund sachlicher Verfehlungen, sondern auf Grund von Eigenschaften, Einstellungen, Ansich-ten und Glaubensbekenntnissen verurteilt worden waren. Verurteilt auch nicht im Sinn gefällter richterlicher Entscheidungen, sondern auf Grund von gefühlsmäßigen Argumenten derer, die als Vertreter gegenteiliger Ansichten Gewalt über sie hatten, und diese in willkürlicher Form zur Anwendung brachten. Es wird also aufgezeigt werden müssen, wie man Willkür von außen zu bekämpfen oder ihre Auswirkungen zu dämpfen versucht hat. Dabei wird sich ergeben, daß Gefühle und Leidenschaften, wenn sie eine bestimmte Stärke erreicht haben, durch die Ratio letzten Endes nicht zu bändigen sind. Das Irrationale, von der Ratio nicht Erfaßbare, hat auch in diesem Rettungswerk eine eminent große Rolle gespielt.

Es scheint dem Verfasser, daß eine diese Gesichtspunkte berücksichtigende Untersuchung auch einige Klarheit über das tatsächliche Geschehen bringen wird.

Uber das Vorspiel und die Verhandlungen zur schwedischen Hilfsexpedition 1945 nach dem Kontinent hat das schwedische Außenministerium im April 1956 ein Weißbuch veröffentlicht, dem auch die einleitenden Zeilen aus dem Brief Außenminister Günthers an den Gesandten Richert entnommen sind. Mit aller Deutlichkeit zeigt das Weißbuch den allgemeinen politischen iHntergrund zu den schwedischen Aktionen auf.

Die 1943 beginnenden und 1944 fortgesetzten Verschickungen politischer Häftlinge aus norwegischen Konzentrationslagern nach solchen in Deutschland (um die Jahreswende 1943/44 wurden 600 Studenten aus Oslo verschleppt) erweckte größtes Aufsehen in Schweden und führte, wie das Weißbuch vermeldet, am 1. Dezember 1943 zu einer schwedischen Demarche bei der Reichsregierung, die Maßnahmen gegen Lehrer und Studenten der Osloer Universität einzustellen. Eine scharfe Zurückweisung Ribbentrops ließ die schwedische Regierung zunächst von weiteren Schritten bei der Reichsregierung absehen. Ihr war von Ribbentrop das Recht zu Demarchen in norwegischen Angelegenheiten abgesprochen worden und Hitler hatte die schwedische Initiative als „persönliche Ohrfeige“ bezeichnet. Die schwedische Gesandtschaft in Berlin widmete den norwegischen Internierten jedoch durch Vermittlung von . Lebensmittelpaketen, Geld und Informationen weiterhin ihre besondere Aufmerksamkeit. Eine „norwegische Zentrale“ mit dem Rektor der Universität Oslo, Prof. Seip (früher Häftling Terbowens), und dem Advokaten Hjort an der Spitze unterhielt von Berlin aus den Kontakt mit einem norwegischen Hilfskomitee für Häftlinge unter Führung des norwegi-schen Gesandten Dietleff in Stockholm, und Mitte August 1944 hatte man hier nicht nur eine genaue Übersicht über die ca. 6000 in den verschiedenen Konzentrationslagern, Gefängnissen und Zuchthäusern internierten Norweger aufgestellt, sondern auch einen ungefähren Plan vor Augen, wie diese Norweger nach Kriegsschluß — vielleicht zusammen mit den internierten. Dänen — nach deutschen Ostseehäfen und von dort nach Schweden verbracht werden könnten.

Der nächste schwedische Schritt erfolgt am 6. September 1944. Der schwedische Gesandte wird von Stockholm beauftragt, beim Auswärtigen Amt zu Gunsten der in Deutschland internierten Norweger, besonders der Studenten, mit dem Ziel ihrer Freilassung zu intervenieren. Sollte eine Heimsendung nicht zu erreichen sein, war Gesandter Richert angewiesen, auf Freilassung nach Schweden zu plädieren. Die Situation des Dritten Reiches hatte sich inzwischen verschlechtert. Am 4. 9. hatten die Amerikaner Antwerpen und Brüssel eingenommen, am gleichen Tag die Finnen Waffenstillstand geschlossen, und der russische Vormarsch in Bulgarien und Rumänien ging weiter. Richert bekam jetzt am 7. 9. im Auswärtigen Amt bei seinen vorsichtigen Versuchen, die Freigabe und Repatriierung norwegischer Studenten zu erreichen, keine glatte Absage mehr, sondern man begnügte sich auf nationalsozialistischer Seite auf die Frage nach der „Legitimität“ seiner Demarche mit der Antwort Richerts, daß „ein Appell des schwedischen Außenministers in bezug auf die Wichtigkeit der Frage des Schicksals der norwegischen Studenten in hohem Grade legitimiert“ sei. Schwedischerseits wurden die Sondierungen in dieser Richtung fortgesetzt und als den Deutschen Ende September der Abtransport von Verwundeten aus Finnland mit Rote-Kreuz-Flugzeugen und Zwischenlandung in Stockholm gestattet worden war, wurde hieran die Erwartung geknüpft, daß in Deutschland internierte kranke norwegische Studenten unverzüglich nach Schweden überführt würden.

Während der Monate September und Oktober kamen sowohl der Chef der Politischen Abteilung des schwedischen Außenministeriums von Post in Gesprächen mit dem deutschen Gesandten Thomsen und seinem Legationsrat Dankworth, als auch der schwedische Gesandte Richert in Berlin mit Staatssekretär von Steengracht und anderen Beamten des Auswärtigen Amtes auf das Thema der Freigabe norwegischer Studenten zurück. In einem inoffiziellen Gespräch am 29. 9. hatte Richert Steengracht gegenüber mit Schärfe auf die Verschlechterung der schwedisch-deutschen Beziehungen hingewiesen und — offenbar ohne von Stockholm hierzu direkt autorisiert gewesen zu sein — die Möglichkeit eines Abbruchs dieser Beziehungen angedeutet. Kurz vor diesem Gespräch waren einige hundert Dänen aus dänischen in deutsche Konzentrationslager überführt worden und kurz nachher wurden 1600 dänische Polizisten nach Deutschland deportiert.

Daß die fortgesetzten schwedischen Bemühungen um die stammverwandten Norweger nicht ohne Erfolg blieben, konnte Richert bereits aus der Mitteilung Steengrachts entnehmen, daß nämlich • beschlossen worden sei, die Häftlingstransporte von Norwegen nach Deutschland nicht fortzusetzen; sie würden nur dann wieder aufleben, wenn die schwedische Presse die Einstellung der Transporte schwedischer Einflußnahme zuschreiben sollte. Als Anfang November durch die deutsche Gesandtschaft mitgeteilt worden war, Hitler habe beschlossen, die in Deutschland internierten kranken norwegischen Studenten nach Hause zu schicken, unterstrichen die schwedischen Diplomaten in Berlin und Stockholm bei den zuständigen Stellen erneut die Bedeutung einer Erweiterung dieser Freilassungen auch auf internierte norwegische Frauen und andere Gruppen internierter Norweger und Dänen. Auf seine wiederholten Hinweise auf die Belastung der schwedisch-deutschen Beziehungen durch die Internierung skandinavischer Stammesbrüder bekam Gesandter Richert im Auswärtigen Amt zu hören, man werde dort weiter im Sinn der schwedischen Wünsche arbeiten, die gefühlsmäßige Einstellung bei den höchsten Instanzen wäre jedoch mehr negativ und diese würden in ihrer ablehnenden Haltung durch den in letzter Zeit feindlichen Ton der schwedischen Presse bestärkt.

Parallel zu den diplomatischen Vorstößen schwedischerseits in Berlin und Stockholm wurde von norwegischen Instanzen, u. a. vom Rektor Professor Seip in Berlin und Gesandten Dietleff in Stockholm, eine Aktion in norwegischer Regie erörtert mit dem Ziel, die internierten Norweger nach dem zu erwartenden Zusammenbruch Deutschlands über deutsche Ostseehäfen heimzuführen. Von norwegischer Seite rechnete man hierbei mit schwedischer Hilfe, wie Autobussen, Schiffen, Kleidern, Medizin, Lebensmittelpaketen und Informationen an die Freigelassenen, die sich bei den zu erwartenden chaotischen Zuständen im zusammengebrochenen Dritten Reich vermutlich nicht würden zurechtfinden können. Die schwedische Gesandtschaft in Berlin sowie die Generalkonsulate in Hamburg und Danzig waren als Sammelpunkte vorgesehen und sollten darüber hinaus auch bei den lokalen Behörden für die Norweger eintreten. Unter der Hand diskutierte Dietleff auch eine rein schwedische Aktion, die im Gegensatz zur geplanten rein norwegischen, sofort einsetzen sollte. In einer am 30. 11. 1944 dem schwedischen Außenminister überreichten Denkschrift schlägt Dietleff vor, eine Rotkreuz-Delegation unter dem Grafen Folke Bernadotte, mit einem General, einem von „Görings oder Himmlers persönlichen Freunden“ sowie dem stellv. Chef der politischen Abteilung des Außenministeriums, Gesandten Grafström, nach Berlin zu entsenden. Diese sollte die Freilassung resp. Begnadigung (zwecks Internierung bis Kriegsschluß in Schweden) gewisser Kategorien norwegischer Häftlinge erreichen; alternativ deren Internierung in Dänemark oder Norwegen bei Zusicherung materieller Hilfeleistung durch das schwedische Rote Kreuz. Sie sollte wenigstens die deutsche Zustimmung zu erreichen suchen, daß Vorbereitungen für eine ausschließlich schwedische Hilfsaktion zur Repatriierung skandinavischer Häftlinge im Fall eines Waffenstillstandes, bei Friedensschluß oder einem anderen, der deutschen Regierung genehmen Zeitpunkt, getroffen würden. Bei Dietleffs Denkschrift handelte es sich jedoch nicht um einen offiziellen Antrag.

Die oben skizzierten schwedisch-norwegischen Erörterungen brachten in einigen Fällen zwar konkrete Vorbereitungen für eine spätere Hilfsaktion (norwegische Lebensmittelpakete) mit sich, aber irgendwelche direkten Maßnahmen für eine schwedische Hilfsaktion wurden nicht getroffen. Obwohl Handel und Schiffahrt zwischen den beiden Ländern immer mehr zusammenschrumpften, ging man in Stockholm im Rahmen der außenpolitischen Überlegungen nach wie vor von der Voraussetzung aus, daß das Dritte Reich aus Furcht vor einem Abbruch der deutsch-schwedischen Beziehungen eine „vorsichtige und in gewissen Grenzen entgegenkommende Haltung den schwedischen Wünschen gegenüber einnehmen“ würde.

Hatten sich die schwedischen Bemühungen anfangs auf das Auswärtige Amt konzentriert, so richteten sie sich seit der Jahreswende 1944/45 in zunehmendem Maße auf den in der Schlußphase des Krieges immer mächtigeren Innenminister und Reichsführer SS, Heinrich Himmler.

Der schwedische Außenminister Günther allerdings hatte bereits seit dem Herbst 1943 einen direkten Weg zu Himmler und zwar in dessen Privatarzt, dem in Dorpat geborenen Massage-Therapeuten und finnischen Medizinalrat Felix Kersten. Günther hatte seine Bekanntschaft gemacht, als Kersten 1943 als Gast des schwedischen Zündholzkonzerns in Stockholm weilte.

* Der schwedische Außenminister, der Kersten damals fragte, ob er ihm bei seinen Bemühungen, die in Deutschland inhaftierten Norweger und Dänen zu retten, behilflich sein wolle, dürfte über den Verlauf einer damals gerade abgeschlossenen Rettungsaktion für sieben Schweden und Kerstens Rolle in diesem Spiel genau unterrichtet gewesen sein.

Da er daraus offenbar den Schluß gezogen hatte, daß Kerstens Beziehungen zu seinen beiden prominenten Patienten, Ribbentrop und Himmler, auch im Sinne der schwedischen Ziele in bezug auf Rettung von Häftlingen eingesetzt werden könnten, soll im Folgenden diese erwähnte Rettung etwas ausführlicher dargestellt werden; vor allem auch deshalb, weil aus dieser Aktion die Art von Kerstens Vorgehen ersichtlich ist. Die Darstellung hält sich an Kerstens diesbezüglichen Bericht an den schwedischen Außenminister vom 26. Juni 1945.

Im Juli 1942 waren in Warschau sieben Ingenieure und Direktoren der schwedischen Zündholz-AG Und der Firma L. M. Ericson „wegen unerlaubter Tätigkeit zu Gunsten der polnischen Exilregierung in London“ angeklagt, verhaftet und von der Gestapo nach Berlin gebracht worden. Im November 1942 wandte sich der Berliner Rechtsanwalt Dr.

Langbehn, ein Patient Kerstens, mit der Bitte an diesen, sich für das Schicksal der Herren zu interessieren. Im Februar 1943 kam Langbehn, diesmal zusammen mit dem Generaldirektor der Zündholzgesellschaft Axel Brandin, erneut zu Kersten; dieser besprach sich daraufhin mit Schellenberg, dem Chef des SD, und einige Tage darauf mit Himmler, der sich jedoch für nichtkompetent, Ribbentrop allein für zuständig erklärte.

Himmler war nicht bereit, dem Fall Beachtung zu schenken, da es sich seiner Meinung nach um Spione handelte, die ihrer gerechter Strafe entgegensehen sollten. Er ließ sich mit der Zeit jedoch umstimmen, und sagte im April 1943 unter der Voraussetzung, daß Ribbentrop eine nachgiebigere Haltung einnehmen würde, eine Revision seiner Auffassung zu.

Dieser inzwischen „glücklicherweise“ erkrankte Patient Kerstens rief aus Schloß Fuschl bei Salzburg nach dem Massage-Therapeuten. Dort brachte Kersten während der Behandlung zwischen dem 5. 4. und 1. 5. 1943 das Gespräch mehrfach auf die schwedischen Ingenieure. Aber Ribbentrops Einstellung zum Fragenkomplex ging über Himmlers Ansicht, daß Spione ihre Strafe verdienten, noch hinaus. Erschwerend schien ihm zu sein, daß es sich hier um Schweden handelte; die „ständigen Nadelstiche“ der schwedischen Presse wären ein beredter Ausdruck der feindlichen Haltung des Landes gegenüber dem. Dritten Reich; nicht Milde und Entgegenkommen, sondern Härte und Rücksichtslosig-keit wären daher am Platz, — er müsse die Köpfe der schwedischen Ingenieure haben! Kerstens Einwand, Himmler wäre unter Umständen bereit, Milde walten zu lassen, hatte einen Wutausbruch Ribbentrops zur Folge, er drohte sich bei Hitler wegen der Einmischung Himmlers in sein Ressort zu beklagen und erging sich in Versicherungen darüber, Himmler verstünde nichts von Politik.

Kersten hatte mit seinem Vorstoß bei Rippentrop nun zwar Konkretes nicht erreicht, Ribbentrop aber immerhin vor die Frage gestellt, ob er sich in dieser Angelegenheit an Hitler wenden sollte, oder nicht. Tat er dies, so mußte bei Hitler ja der Name des Reichsführers fallen und diesem die Möglichkeit geben, seinen Standpunkt zu präzisieren. Unterließ Ribbentrop aber, bei Hitler die Frage der Schweden zur Sprache zu bringen, so lief er Gefahr, daß Himmler von sich aus diese Frage bei Hitler anschnitt und möglicherweise Verständnis für seinen Standpunkt fand.

Inzwischen hatte auch Himmler wieder nach Kersten verlangt Über Kerstens Erzählungen aus Fuschl war er entsetzt und wünschte nichts sehnlicher, als sich aus der ihn formell nichts angehenden Sache herauszuhalten. Kersten erzählte daher seinem Patienten, was nicht den Tatsachen entsprach, der finnische Staatspräsident Ryti habe sich bei ihm nach dem Stand der Schweden-Frage erkundigt, dieser Brief werde gerade in der finnischen Gesandtschaft übersetzt, was solle er Ryti antworten? Von dem mit skandinavischer Solidarität begründeten Interesse Rytis war Himmler alles andere als erbaut. Auch befürchtete er, daß eine ablehnende Haltung Deutschlands in dieser schwedischen Frage die abflauende Sympathie Finnlands für das Dritte Reich weiter ungünstig beeinflussen könnte.

Himmler ließ sich, — wobei auch Schellenberg und andere Herren seiner Umgebung ihren Einfluß spielen ließen, — mehr und mehr von der Notwendigkeit überzeugen, in das Verfahren eingreifen zu müssen; Himmler nahm Einsicht in die Akten, besprach sich mit Justizminister Thierack und das Gericht fällte bei zwei Freisprüchen vier Todesurteile und eine Freiheitsstrafe.

Die Rolle Walter Schellenbergs

Damit war aber in den sich über zwei Jahre hinziehenden Bemühungen nur die erste Etappe erreicht. Nun ging es um die Freilassung. Schellenberg und der Berliner Chef der Zündholzgesellschaft Dir. Möller versuchten sie auf verschiedenen Wegen zu erreichen. Schließlich baten Brandin und Möller Kersten um die Vermittlung einer persönlichen Rücksprache bei Himmler, den die Herren um Begnadigung für die Verurteilten bitten wollten. Dieser Versuch ist deshalb besonders wichtig, weil ein diesbz. persönliches Schreiben König Gustafs V. an Hitler noch unbeantwortet geblieben war. Der Gesandte Richert schrieb allerdings in einem Brief an Kerstens Advokat vom 19. 12. 46 u. a. „nad^dew die vier zum Tode Verurteilten nadi Intervention Seiner Majestät des Königs begnadigt worden waren ..." also dürfte Hitler doch reagiert haben, und weiter: „Kerstens Einsätze waren sicherlich von außerordent-lid'ier Bedeutung . . . das! die drei Letzten vor Weihnachten 1944 freigegeben wurden, dürfte in jedem Fall Kerstens Bemühungen zugeschrieben werden.“ Am 27/28. 8. 1943 empfing Himmler die Herren in Begleitung Schellenbergs im Hauptquartier Hochwald, in Großgarten bei Angerburg in Ostpreußen und die dortigen Verhandlungen führten zur Ausreise der beiden ursprünglich Begnadigten am 30. 8. 43 nach Schweden. Bei Hitler um die Begnadigung der fünf Verurteilten zu bitten, lehnte Himmler jedoch ab.

Zwischen dem 10. und 27. 8. 43 ist Kersten wieder in Fuschl. Wieder kommt das Gespräch auf die verurteilten Schweden und wieder ergeht sich Ribbentrop in Ausfällen gegen Schweden, noch schärfer aber gegen Himmler und dessen Eingreifen in dieser Frage. Am 1. 9 43 rafft Himmler sich doch dazu auf, — von Kersten mit Berichten über Ribbentrops Äußerungen gegen ihn nicht wenig dazu angestachelt — Hitler um Begnadigung der Schweden zu bitten und diesmal stimmt Hitler zu.

Ehe nun die dritte Etappe, die Überführung nach Schweden, für die im Gefängnis in Bautzen inhaftierten Begnadigten in Angriff genommen werden kann, muß eine Beruhigung der in Frage kommenden Stellen eintreten. Vorstöße bei Himmler in dieser Richtung führen zu gelegentlichen diesbezüglichen Fühlungnahmen des Reichsführers bei Hitler, aber dieser weigert sich eigensinnig, den schwedischen Wünschen zu entsprechen; stets mit dem Hinweis auf die angeblich zunehmende Deutschfeindlichkeit der Schweden im Politischen und ihre angeblich wachsende Säumigkeit bei den Lieferungen nach Deutschland. Aus den verschiedensten Verwendungen der Schweden zugunsten der verurteilten Ingenieure bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit, selbst bei reinen Wirtschaftsverhandlungen, müsse er die Bedeutung dieser Frage für Schweden erkennen und er denke nicht daran, sich dieses willkommenen Druckmittels zu begeben. Wiederholte Vorstöße des von Schellen-berg und Kersten immer wieder gedrängten Himmler führen dann schließlich doch zur Entlassung von zwei Begnadigten am 1. 11. 44 nach Schweden.

Die drei letzten Begnadigten muß Kersten dann schließlich Himmler buchstäblich aus dem Bauch „herausmassieren“. Anfang Dezember 1944, als der zähe und im Verfolgen seiner Ziele oft sehr penetrante Kersten bei einer Behandlung erneut die Freilassung dieser drei letzten Schweden zur Sprache bringt und Himmler sich entschieden weigert, noch ein Übriges in dieser Angelegenheit zu tun, hatte Kersten sich gezwungen gesehen, den Reichsführer darauf aufmerksam zu machen, daß er ihn unter diesen Umständen nicht mehr behandeln wolle; er wisse zwar sehr gut, daß er sich in Himmlers Gewalt befände, aber auch dieser solle sich überlegen, was der Fortfall der manuellen Behandlung für seine Gesundheit bedeuten würde. Der Reichsführer dürfte nach allem, was wir über das Arzt-Patient-Verhältnis zwischen Kersten und Himler wissen, in dieser ja nun wirklich nicht „kriegsentscheidenden“ Frage kaum lange überlegt haben. Selbst wenn er die Drohung Kerstens nicht tragisch genommen haben sollte, wußte er sehr wohl, wie wichtig es für den Erfolg der therapeutischen Behandlungen war, seinem Arzt und sich selbst überflüssige Emotionen zu ersparen. Bald darauf verfügt Himmler die Freilassung der letzten drei begnadigten Schweden und ihre Ausreise nach Schweden. Schellenberg wird beauftragt, Freigabe und Abflug der Schweden Ribbentrop erst dann zu melden, wenn sich diese über schwedischem Territorium befänden. Sie trafen am 22. 12. 44 in Stockholm ein. Himmler aber schickte seinem Arzt folgendes Schreiben, das nicht nur Kerstens Rolle im dargelegten Rettungsprozeß zeigt, sondern auch ein Licht auf das vertrauliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient wirft:

„Feld-Kommandostelle d. 12. 12. 44. Lieber Herr Kersten! Sie werden kurz vor Weihnachten wieder nach Sdtweden fliegen. Ich darf Sie bitten, die drei gefangenen Sdtweden, deren Begnadigung der Führer auf meinen Vorsdtlag genehmigt hat, zum Julfest mit nach Sdtweden zu nehmen! Ihrer lieben Frau, Ihren Kindern und Ihnen selbst übersende ich meine aufrichtigen Wünsche zu Weihnachten und zum neuen Jahr und grüße Sie herzlidt — stets Ihr getreuer H. Himmler“.

* Die schwedische Gesandtschaft in Berlin machte nun den ersten Vorstoß in Richtung Himmler über den Chef der Abteilung VI des Reichssicherheits-Hauptamtes, den SS-Brigadeführer Walter Schellenberg. Der Gesandte Richert notiert in einer Niederschrift nach einer Begegnung mit dem ihm natürlich schon früher bekannten Schellenberg am 5. 11. 44, wo beide das Programm der schwedischen Wünsche durchgegangen waren, Schellenberg habe „die Situation völlig richtig erfaßt“, er scheine ein wirklicher Freund zu sein und habe erklärt, der Reichsführer Himmler sei schwedischen Wünschen gegenüber, speziell was Norwegen anlange, positiv eingestellt; über diesbezügliche Möglichkeiten für Dänemark habe der SD-Chef sich weniger konkret ausgedrückt. Diese Behauptung Schellenbergs klang in schwedischen Ohren sicherlich nicht unglaubwürdig, denn die schwedische Gesandtschaft hatte für Himmlers entgegenkommende Einstellung, wie das Weißbuch betont, ja bereits greifbare und wertvolle Beweise erhalten. Die oben geschilderten Bemühungen um die sog. Warschau-Schweden waren natürlich nicht ohne Wissen und auch nicht ohne Beteiligung der Gesandtschaft vor sich gegangen.

Um die gleiche Zeit, da Richert sein Gespräch mit Schellenberg führt, hat Kersten im Auftrag Günthers von Himmler die Zusage auf Freilassung von 50 norwegischen Studenten und 50 dänischen Polizisten erwirkt und wie er anschließend dem Gesandten Richert versicherte, könne mit weiterem Entgegenkommen Himmlers in dieser Richtung gerechnet werden. Wie der Gesandte aus anderen Quellen erfahren hatte, habe Himmler damals auch anscheinend das Auswärtige Amt wissen lassen, daß er „mit Rücksicht auf Schweden“ beschlossen habe, eine größere Zahl dänischer Polizisten und norwegischer Internierter nach Hause zu schicken. Der Gesandte zitiert weiter Kersten, dem gegenüber Himmler erklärt habe, daß er gerne bereit sei, auch in Zukunft sich in bezug auf schwedische Wünsche betr. Norwegen und Dänemark zu verwenden. Voraussetzung hierfür sei allerdings, daß dieses ganz unter der Hand und nicht unter dem Druck einer schwedischen Reichstagsmotion geschehen müsse. Sollten diesbezügliche schwedische Wünsche auf solche Weise aufgegriffen werden, so werde er ihnen niemals entsprechen — auch wenn Deutschland zu Boden geschlagen wäre, sondern dann würde er das genaue Gegenteil davon tun, was man wünsche.

Unter solchen Umständen würde ein Nachgeben als Zeichen von Schwäche erscheinen.

Himmlers positive Einstellung zu schwedischen Wünschen hinsichtlich der Freigabe skandinavischer Häftlinge, die von verschiedenen Seiten bestätigt wird, sieht das Weißbuch in unterschiedlichen Faktoren begründet. Einerseits mag Himmler sein Interesse, wenn nicht gar seine „Schwärmerei“ für die alten Germanen wohlwollend gegenüber Wünschen heutiger nordischer Menschen gestimmt haben; andererseits war „seine physische und psychische Kondition offensichtlich in weitem Maße von Kerstens Behandlung abhängig und deshalb war er bereit, in einem erstaunlichen Ausmaß dessen mannigfache Wünsche zu be-

willigen oder ihnen wenigsten teilweise zuzustimmen.“ Auch die Furcht vor einer schwedischen Intervention im Kriege mag mitgespielt haben.

Entscheidend für Himmlers auffallendes Entgegenkommen aber war laut Weißbuch „vor allem sein zielbewußtes Streben, über Schweden knüpfen“ Friedenskontakte mit den Westmädtten zu . Diese Annahme wird zwar u. a. durch Professor Ritters Mitteilungen über Himmlers Kontakte zu Gördeler, sowie durch entsprechende Versuche über den Generalstab und das Auswärtige Amt gestützt, eine nähere Begründung hierfür bringt das Weißbuch jedoch nicht, weist jedoch auf Gördelers Beziehungen zu Bankdirektor Iakob Wallenberg in Stockholm hin, der bereits 1943 vom Vorstandsglied der Dresdener Bank, Dir. Karl Rasche, daraufhin angesprochen worden sei, ob er Himmler für einen den West-

mächten genehmen Verhandlungspartner halte, was Wallenberg verneint habe. Schellenbergs interessante, wenn auch zweifellos subjektive Mitteilungen über seine eigene Rolle, als dem Motor Himmlers in der Richtung Friedenskontakte, die er im Mai 1945 in Schweden in einem Rechenschaftsbericht („skizzenähnliche Tagebuchaufzeichnungen . . .

eine chronologische Gedächtnisstütze“) dargestellt hat, stützen die Auffassung. Ihr historischer Beweiswert bleibe in Ermangelung ausreichenden Vergleichsmaterials zunächst dahingestellt.

Für die im schwedischen Weißbuch dargelegte Auffassung, daß Schellenberg zum mindesten eine der treibenden Kräfte in Himmlers Umsturz-

und Friedensplänen gewesen sein könnte, spricht u. a. aber auch, was der SD-Chef am 7. 12. 4 5 in Nürnberg dem schwedischen Rechtsanwalt Hugo Lindberg mitgeteilt hat. (Lindberg gehörte einer schwedischen Regierungsdelegation an, die sich dort ein Bild über deutsche Pläne gegen Schweden machen sollte). Demnach habe Himmler sich bereits 1942 mit Umsturzplänen und Kompromißfriedensgedanken in Richtung Westmächte getragen; als sein Mittelsmann habe Schellenberg in der Schweiz und in Schweden diesbezügliche Verbindungen ausgenommen, die als „Stichkontakte“ auch noch 1943 (Schellenberg sei zu diesem Zweck etwa zehnmal in Schweden gewesen) mit Vertretern der Westmächte fortgesetzt worden wären, ohne daß Himmler sich zu wirklichen Entschlüssen habe durchringen können.

Nachdem Himmler 1943 auch Kaltenbrunner in seine Pläne eingeweiht hatte und von diesem darauf aufmerksam gemacht worden war, daß es sich hier ja um reinen Landesverrat handelte, sei der Reichsführer schwankend geworden — ohne jedoch die auswärtigen Verbindungen via Schellenberg abzubrechen. Dieser beantwortete die Frage des schwedischen Rechtsanwalts in Nürnberg, ob ihm unter solchen Umständen nicht für seine Stellung bange gewesen wäre, er-habe zwar eine gewisse Unruhe empfunden, aber „durch den Masseur“ (Kersten) sei es ihm gelungen, den „Einfluß auf Himmler zu behalten und einen Druck auf ihn auszuüben“, vor allem aber auch durch den ständigen Hinweis auf Hitlers Todes-Horoskop. Es ist interessant zu sehen, wie nicht nur Außenminister Günther und Gesandter Richert, sondern auch Schellenberg sich der Hilfe Kerstens bediente. Hier zeigt sich schon deutlich, wie schwierig es gewesen ist, auf herkömmlichen diplomatischen Wegen zu Ergebnissen zu kommen. Schweden wurde von Schellenberg auch weiterhin besucht, auch als Schweden im Herbst 1944 durch Sperrung der Häfen die Handelsbeziehungen mit Deutschland auf ein Minimum einschränkte; in Befürchtung einer Kriegserklärung Schwedens war Himmler offenbar besonders an der Aufrechterhaltung der Schellenbergschen Beziehungen zu diesem Lande gelegen.

Himmlers Bestrebungen, mit den Westmächten via Stockholm in ein Gespräch zu kommen, waren dem schwedischen Außenministerium auch durch einen Bericht des schwedischen Legationsrats Nylander vom 27.

11. 44 bekannt geworden. Nylander war gebeten worden, die Westmächte durch schwedische Vermittlung auf eine bevorstehende Kontakt-

suche Himmlers hinzuweisen, die nicht direkt abgelehnt werden sollte, da bei einer wirklichen oder auch nur vorgegebenen Verhandlungsbereitschaft der Westmächte Himmler auf diese oder eine andere Weise in die Lage versetzt werden könnte, Hitler, den er als das wesentliche Hindernis für einen Ausgleich mit den Westmächten ansehe, aus der Führung zu entfernen. Der Gewährsmann Nylanders habe noch hinzugefügt, Himmlers Entgegenkommen in der Frage der sog Warschau-

Schweden und der Freigabe von Norwegern und Dänen wäre damit zu erklären, daß er in irgend einer Form mit schwedischer Vermittlung bei dem von ihm erstrebten Vergleich mit den Westmächten rechnete.

Lim die Jahreswende 1944/4 5 hatte Himmler einige hundert Dänen und Norweger freigegeben (das Weißbuch führt 143 freigegebene norwegische Studenten auf Grund schwedischer Demarchen an). Darüber, wieviel und zu welchem Zeitpunkt Kersten in diesem Zeitraum von Himmler Freilassungen über die oben genannten konkreten Zahlen hinaus versprochen worden sind, gehen die Meinungen auseinander.

Der Objektivität halber muß festgestellt werden, daß konkrete Zahlen heute nicht vorliegen. Sie hätten auch nur akademischen Wert, da ein Abtransport damals noch nicht möglich war. Wesentlich ist die wohlwollende Einstellung Himmlers zu Freilassungen und daher rechnete man in Stockholm mit weiterem Entgegenkommen von seiner Seite.

Man scheint im schwedischen Außenministerium auch geneigt gewesen zu sein, die Verhandlungen in dieser Richtung — auch mit dem Auswärtigen Amt — selbst weiter zu führen und den Plan des norwegischen Gesandten Dietleff vom 30. 11. 44, eine Verhandlungsdelegation mit dem Grafen Bernadotte nach Berlin zu schicken, noch nicht zu realisieren. Dieser Plan wurde zunächst auf Eis gelegt, der Gesandte in Berlin dagegen am 16. 12. 1944 von Stockholm aus angewiesen, die Möglichkeiten für eine Hilfe an die in Deutschland internierten Norweger im Fall des Zusammenbruchs des Dritten Reichs zu untersuchen. Noch vor Schluß des Jahres wies die Gesandtschaft in einem Kommentar zu Dietleffs Vorschlag auf die Notwendigkeit von Lebensmittelpaketen an die norwegischen Häftlinge hin, man scheint also eine Planung des Abtransportes noch für verfrüht gehalten zu haben, da die Auflösung des nationalsozialistischen Staates noch auf sich warten ließ.

Zur " Bestätigung dieser Auffassung bringt das Weißbuch Auszüge aus einem Bericht des schwedischen Militärattaches in Berlin, Oberst Juhlin-Dannfelt, vom 13. 12. 44. In diesem Bericht wird eine relative Stabilisierung der Fronten konstatiert und damit gerechnet, daß Deutschland noch eine Zeitlang standhalten werde. Die Berliner Schwedische Gesandtschaft war inzwischen mit umfassender Hilfstätigkeit voll engagiert, ja ihre Arbeit bestand überhaupt, wie der Gesandte nach Stockholm berichtete, zum überwiegenden Teil in einer solchen Hilfstätigkeit. Man hatte alle Hände voll zu tun, verhafteten Landsleuten zur Freiheit zu verhelfen, ausgebombten Schweden bei der Ausreise behilflich zu sein u. a. m. Mit dem Nahen der Ostfront wurde diese Hilfe von fliehenden Landsleuten immer mehr in Anspruch genommen, gleichzeitig erwies sich das zuständige Auswärtige Amt infolge von Desorganisation und Bombenangriffen als immer machtloser; es konnte zwar noch auf die Hilfe der deutschen Behörden gerechnet werden, soweit es sich um reine Hilfe für die Flüchtlinge handelte, Interventionen jedoch in bezug auf die norwegischen und dänischen Inhaftierten beurteilte Gesandter Richert schon zu Anfang Februar als aussichtslos. Der Grund wurde schwedischerseits nicht nur in der Verringerung des Einflusses des Auswärtigen Amtes, sondern auch in der — im Gegensatz zu Himmler, — konsequenten Weigerung Ribbentrops gesehen, den Schweden Zugeständnisse ohne irgendwelche schwedische Gegenleistungen zu machen. Zu Himmler scheint die Schwedische Gesandtschaft zu Beginn des Jahres 194 5 keinen direkten Kontakt mehr gehabt zu haben, denn der Verbindungsmann zu Schellenberg, Zündholzdirektor Möller, hatte Berlin verlassen und (wie das Weißbuch feststellt) „Kersten weilte in Stockholm".

War die Berliner Gesandtschaft also gezwungen, in der Frage einer Hilfe für die internierten Norweger kurz zu treten, so arbeitete der norwegische Gesandte Dietleff in Stockholm auf eine umfassendere schwedische Hilfsaktion im Sinne seines Memorandums vom November 1944 hin. Auf schwedischer Seite aber hegte man, laut Weißbuch, offensichtlich „starke Bedenken gegen die Entsendung einer großen schwedischen Hilfsexpedition nach Deutschland, solange der Krieg noch andauerte“, weil man befürchtete, daß deren Tätigkeit, selbst bei Sanktionierung von deutscher und alliierter Seite „möglicherweise die Gefahr mit sich bringen konnte, daß Schweden in Streitigkeiten, ja vielleicht sogar Verwicklungen mit einer der beiden krieg-führenden Parteien hineingezogen werden könnte.“ Dem Gesandten Dietleff wurde auf dem schwedischen Außenministerium daher bedeutet, man wolle den Ausgang der in Bearbeitung befindlichen Einzelaktionen betr. die Studenten, Frauen etc. abwarten und sich auch danach richten, was.der Gesandte Richert von seinem Berliner Blickfeld aus über die Aussichten einer schwedischen Hilfsexpedition zu sagen haben würde. Richerts Gutachten ließ jedoch auf sich warten, die Notwendigkeit einer Hilfe an die internierten Norweger wurde in Stockholm dagegen als immer dringender empfunden. Am 7. 2. 194 5 machte Dietleff im schwedischen Außenministerium einen erneuten Vorstoß. Wenige Tage zuvor war der erwartete Bericht Richerts eingegangen, der in der Feststellung gipfelte, Interventionen im Auswärtigen Amt wären bereits aussichtslos, nur noch Anträge bei der SS-Führung hätten praktisch einen Sinn und infolge Fortfalls der anderen Verbindungsleute „erschiene ihm Kersten als der einzige Weg, in konkreten Fällen Resultate zu erzielen.“

Es ist auffallend, wie oft in den verschiedensten Berichten, die von der Bekämpfung der Willkür im zweiten Weltkrieg handeln, der Name Felix Kersten auftaucht — dies nicht nur in Schweden, sondern beispielsweise auch in Holland und Finnland. Alle anderen müssen sich um Audienzen bei Himmler bemühen, ohne Kersten, den Mann mit den helfenden Händen, meint Himmler nicht leben zu können. Es kann daher nicht überraschen, daß alle, die Anliegen an Himmler haben, sich dieses Therapeuten zu bedienen suchen — unbeschwert die einen und widerwillig die anderen, mit unterschiedlicher Sympathie und mit wechselndem Vermögen, alle aber in der Hauptsache mit dem Ergebnis greifbarer Erfolge! Der frühere finnländische Gesandte in Berlin, Professor Kivimäki, der mit dem damals finnischen Staatsbürger Kersten Fühlung hatte, schreibt in einem Artikel (Helsingin Sanomat v. 20. 9. 1956), das schwedische Weißbuch zeige unmißverständlich, daß „ohne Kerstens Mitwirkung irgendwelche Übereinkommen betr. die Freigabe von Häftlingen offenbar nicht erreicht worden wären." Lind der Gesandte Richert weist in einem Gutachten darauf hin, daß der Rektor der Universität Oslo Prof. Seip und der Wiener Bürgermeister Seitz, um nur einige Namen zu nennen, — zu den Einzelpersönlichkeiten gehören, die Kersten ihre Rettung verdanken. Für Seitz hatte sich der schwedische Ministerpräsident Per Albin Hansson verwandt, für Seip der finnische Gesandte Kivimäki und gleichfalls privater schwedischer Initiative ist es zu verdanken, daß Kersten auf das Schicksal des späteren schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Theodor Steltzer aufmerksam gemacht werden konnte.

Die Entsendung einer Hilfsexpedition

Welch eine Bedeutung man Stockholms der Einflußnahme Kerstens auf Himmler beigemessen hat, geht nicht nur daraus hervor, was Kersten selbst erzählt, sondern wird aus Äußerungen Günthers und Richerts in anderem Zusammenhang deutlich Aber man arbeitet auf verschiedenen Wegen auf das gleiche Ziel hin, — mit dem Außenminister als der verbindenden Kraft. Weder ist man in Stockholm der Meinung, daß Hilfsexpeditionen die Tätigkeit Kerstens überflüssig machen würden, noch daß diesem die Durchführung einer praktischen Hilfsexpedition anvertraut werden sollte. Der schwedischen Regierung mußte, wie das Weißbuch meint, ein Warten auf neue deutsche Freilassungen unabhängig von den Bemühungen Kerstens problematisch erscheinen. Eine praktische Aktion zur Hilfeleistung für die Internierten war dringend geboten. Nachdem sich Dietleff der Zustimmung des Grafen Bernadotte, als des vorgesehenen Führers des Unternehmens, vergewissert hatte und in Stockholm bekannt geworden war, daß der frühere Schweizer Bundespräsident Musy die Befreiung von 1200 Juden erreicht hatte, machte Dietleff am 10. 2. 1945 einen neuen Vorstoß beim schwedischen Außenminister Günther betr. die Entsendung einer Hilfsexpedition und fand bei ihm jetzt Zustimmung für diesen seinen Plan. Aus den Äußerungen Günthers ist zu entnehmen, daß er dem Übereinkommen von Himmler und Kersten vom November und Dezember 1944 betr. die Freigabe, resp, dem Versprechen einer solchen, von gewissen Kontingenten skandinavischer Häftlinge größte Bedeutung für die Planung einer Expedition nach Deutschland beigelegt hat; diese Zugeständnisse Himmlers haben ihm offensichtlich gezeigt, daß eine schwedische Expedition gute Aussichten haben würde, zu praktischen Ergebnissen zu gelangen. Günther sah die Zeit nun gekommen, an die Realisierung des schwedischen Rettungswerkes zu gehen. Graf Bernadotte sollte, so formuliert es das Weißbuch, in Berlin Verhandlungen aufnehmen „um die Überführung in Deutschland internierter Norweger und Dänen nach Schweden oder Dänemark u. a. m.“ zu erwirken. Am gleichen Abend noch wurde der Gesandte Richert beauftragt festzustellen, ob Himmler den schwedischen Grafen zu einer Unterredung über „Fragen, die schwedisch-deutschen Beziehungen betreffend,“ empfangen würde, wobei ausdrücklich darauf hingewiesen wurde, daß wohl auch eine Fühlungnahme mit dem Auswärtigen Amt nötig sein werde, der Kontakt mit Himmler aber wichtiger sei.

Die Inspektion von etwa zehn Rotkreuz-Leuten, die in Deutschland bei der Evakuierung der Schweden Dienst tun sollten, würden der Reise des Grafen als Vorwand dienen. Kersten führte Bernadotte auf Veranlassung Günthers telefonisch bei Himmler ein. Bezüglich der Überlegungen, die der Zustimmung der Regierung zur Reise Bernadottes vorausgegangen sein müssen, konnten, so verzeichnet das Weißbuch, „aus den zugänglid'ien Donumenten keine näheren Nachrichten geschöpft werden. Man wird jedoch mit absoluter Sicherheit davon ausgehen können, dafl der Gedanke, Bernadotte solle sich an Himmler wenden, in den Informationen über dessen wohlwollende Einstellung zu den schwedischen Wünscl-ien begründet war,... vor allem in Richtens Mitteilung kurz vor 'Weihnachten, daß Himmler Kersten zufolge gern bereit sei, auch in Zukunft schwedisd'te Wünsche in bezug auf Dänemark und Norwegen zu berücksichtigen."

Daß man sich auf die Person des Grafen einigte, lag wohl nahe. Er war als Vizevorsitzender des Roten Kreuzes schon lange auf humanitärem Gebiet eifrig tätig gewesen, er hatte beim Kriegsgefangenen-Austausch via Schweden praktische Erfahrungen gesammelt und sich mit der Hilfstätigkeit unter Kriegsgefangenen und Internierten in Deutschland vertraut gemacht. Auch hatte er, wie das Weißbuch fest-stellt, im Herbst 1944 in Paris und London vorbereitende Verhandlungen betr. eine Nachkriegshilfe für Europa geführt. So konnte er am 16. Februar 1945 seine erste Reise im Auftrag der schwedischen Regierung nach Berlin antreten. Zwischen dem 17. und 21. 2. verhandelte er mit Himmler, Ribbentrop, Kaltenbrunner und Schellenberg — die Taktik und die Argumente seiner Gespräche gehen auf Überlegungen mit dem Gesandten Richert zurück, der später feststellt, die von Bernadotte erzielten Resulate seien „außerordentlich zufriedenstellend“ und die Art, wie sich der Graf seiner Mission entledigt habe, sei anerkennenswert gewesen. Es ging in diesen Gesprächen um Himmlers Zustimmung zur Heimführung von mit Deutschen verheirateten schwedischen Frauen und deren Kindern, um die Zusammenführung norwegischer und dänischer Internierter im Lager Neuengamme bei Hamburg und deren Weiterbeförderung nach Schweden, die Himmler zunächst verweigerte. Zugänglicher war er in bezug auf Alte, Kranke und junge Mütter — aber auch hier, wie schon Kersten gegenüber, wurde immer wieder von Himmler darauf verwiesen, daß die Transportmittel ausschließlich von Schweden gestellt werden müßten. Zu diesem Zeitpunkt war auch Ribbentrop eingeschaltet, der keine Bedenken geltend machte.

Sieht man das Ganze auf dem Hintergrund einer vom Weißbuch als „vertrauenswürdig“ bezeichneten späteren, nicht näher präzisierten Mitteilung, daß Himmler einen Verbindungsmann zum König Gustaf V. gesucht habe, so muß man mit dem Weißbuch in der Frage übereinstimmen: „Konnte er einen besseren finden, als des Königs Neffen?" Die Hoffnungen bei Himmler und dem ihn in dieser Richtung bearbeitenden Schellenberg müssen, wie das Weißbuch des Außenministeriums weiter vermerkt, durch den persönlichen Dank Königs Gustafs an Himmler Auftrieb erhalten haben, den Bernadotte nach seiner Rückkehr nach Stockholm in einem Schreiben an Schellen-berg übermittelte. König Gustaf äußerte großes Interesse für die glücklich begonnene Aktion und sprach die Hoffnung aus, diese möge auch weiter Erfolg haben. Dank und Gruß des schwedischen Monarchen wurden auch, über den Weg der beiden Gesandtschaften, an Ribbentrop übermittelt.

Dies also waren, soweit wir dem Weißbuch folgen, die Vorverhandlungen zur schwedischen Rettungsexpedition: über die schwedische Gesandtschaft in Berlin mit dem Gesandten Richert an der Spitze und über den norwegischen Gesandten Diettleff in Stockholm. Bei allen diesen Bemühungen liefen die Fäden selbstverständlich im schwedischen Außenministerium zusammen. Dies gilt in gleicher Weise für die Tätigkeit des Grafen Bernadotte und die von Himmlers Massage-Arzt, dem finnischen Medizinalrat Felix Kersten.

Der Abtransport der Juden

Aus dem bisher Gesagten dürfte deutlich geworden sein, daß es sich bei den Vorbereitungen für die schwedische Hilfsexpedition zunächst ausschließlich um eine Aktion zu Gunsten von Staatsangehörigen der Skandinavischen Länder handelt. Alles bisher sachlich Geleistete bestand darin, daß die Zustimmung der zuständigen deutschen Stellen, die Freigabe skandinavischer Häftlinge durch ihren Abtransport in die Tat umzusetzen, erreicht war. Bisher aber ist noch nichts über Vorbereitungen für den Abtransport von Juden gesagt worden. Und doch sind ja sehr zahlreiche Juden durch diese schwedische Rettungsexpedition nicht nur am Leben geblieben, sondern auch nach Schweden gebracht worden.

Das schwedische Weißbuch, in dem ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß es im wesentlichen auf dem im Außenministerium vorliegenden Aktenmaterial aufbaut, enthält keine ausführliche Berücksichtigung dieser Frage. Einzig ein im Weißbuch erwähntes Pro Memoria vom 27. 3. 194 5 gibt hier einigen Aufschluß. Darin stellt der Chef der Politischen Abteilung des Außenministeriums von Post fest, Graf Bernadotte sei an diesem Tage darüber unterrichtet worden, daß er nach eigenem Gutdünken auch die Überführung einer Anzahl von Juden nach Schweden fordern könne, sofern „keine Ungelegenheit für seinen ursprünglichen Auftrag daraus zu befürchten sei.“ Die Erweiterung der ursprünglichen Instruktionen an den Grafen durch diesen Zusatz führt das Weißbuch auf folgende Ursachen zurück:

Auf Grund von Stockholmer Instruktionen habe die Schwedische Gesandtschaft in Berlin bereits im Februar 1945 im Auswärtigen Amt um Freigabe von Juden aus Bergen-Belsen, Theresienstadt u. a. Lagern nachgesucht, die schwedische Regierung sei bereit, internierte Juden in Schweden aufzunehmen. Eine Antwort auf diese Demarche war noch nicht eingegangen. Andererseits habe Kersten im März 194 5 mit Himmler über die Freigabe von Juden verhandelt; die Veröffentlichung des Außenministeriums läßt jedoch offen, auf wessen Initiative hin die Freigabe erfolgte. Obwohl die vorliegenden Dokumente sichere Schlüsse nicht zuließen, glaubt das Weißbuch die Demarche der Schwedischen Gesandtschaft im Auswärtigen Amt und die Bemühungen Kerstens auf Anträge des Vertreters der Stockholmer Sektion des Jüdischen Weltkongresses New York, Direktor Hilel Storch, zurückführen zu können, der das schwedische Außenministerium nach Kerstens Rückkehr von seiner Reise zu Himmler im März 1945 habe wissen lassen, Kersten hätte die Nachricht mitgebracht, daß Himmler zur Freigabe und zum Abtransport von ca lOOOO Juden nach der Schweiz und Schweden bereit wäre. Die Instruktionen für den Grafen Bernadotte vom 27. 3. 1945, entsprechend der schwedischen Bereitwilligkeit, grundsätzlich allen Bedrängten Asyl zu gewähren, auch für Nichtskandinavier zu intervenieren, dürften laut Weißbuch mit dieser Mitteilung Storchs in Zusammenhang gebracht werden können.

Das Weißbuch geht auf die Bemühungen von Hilel Storch nicht weiter ein. Es ist daher — erstmalig für die vorliegende Darstellung — versucht worden, auf Grund eingehender Fühlungnahme sowohl mit Direktor Storch als auch Medizinalrat Kersten sowie den übrigen beteiligten Persönlichkeiten und durch Studium der auf jüdischer Seite vorliegenden Akten ein Bild der Vorfälle zu zeichnen, die sich in der Zwischenzeit ereignet hatten. Das Weißbuch nennt Storch und Kersten zusammen. Es ist daher die Frage zu stellen: wie ist der offensichtlich so fruchtbare Kontakt Storch — Kersten zustande gekommen?

Für das schwedische Außenministerium war Direktor Storch kein Unbekannter. Er war über dieses Amt mehrfach mit verschiedenen Persönlichkeiten in Berührung gekommen, auch mit dem Grafen Bernadotte stand er bereits seit Jahren in Verbindung, da das schwedische Rote Kreuz Liebesgabenpakete an Juden in den Konzentrationslagern vermittelte. — aber es hat anscheinend keine direkte Verbindung zwischen dem Außenminister und Storch bestanden. Eine Verbindung Storchs zu Kersten über das Außenministerium war von vornherein unwahrscheinlich, da man annehmen darf, daß Exzellenz Günther sich diesen Draht zu Himmler persönlich vorbehielt und daß überdies nur eine begrenzte Zahl der höheren Beamten des Ministeriums über diese Verbindung orientiert gewesen sein wird. Das konnte durchaus in der Natur der Sache liegen, da gerade im Hinblick auf die deutschen Gegner der Himmlerschen „Ausgleichspolitik“ Geheimhaltung hier sehr angezeigt gewesen sein dürfte. Der Gesandte Dietleff scheint von Kersten nichts gewußt zu haben (der Vorschlag in seinem Delegationsprojekt, einen „persönlichen Freund Himmlers“ mit-zuschicken, dürfte schwerlich auf Kersten hindeuten) und auch der Graf Bernadotte hat Kersten recht spät, wohl nicht vor dem Frühjahr 1945 persönlich kennen gelernt.

Bis zur Jahreswende 1944/45 hat Direktor Storch also noch keine Ahnung von der Existenz des Mannes, der wie er im Baltikum geboren ist, der wie er darauf aus ist, Menschen vor der Willkür zu retten, dem er — der Vertreter des Jüdischen Weltkongresses — einmal die Befreiung von insgesamt 60 000 Juden sowie die Rettung und Überführung nach Schweden von ca. 3 500 Juden bescheinigen und dem er nach Abschluß der gemeinsamen Rettungsarbeit (am 15. 12. 1945) schreiben wird: „Die Juden in allen Ländern, deren Brüder dank Ihren Benuihungen befreit worden sind, werden sich Ihrer stets mit Dankbarkeit erinnern. M Aber noch hat das Jahr, zu dessen Schluß obiger Brief geschrieben ist, erst begonnen und die Tatsache, daß um die Jahreswende 1944/45 immer noch ca. 800 000 Menschen in den Konzentrationslagern sitzen, darunter zahllose Juden, läßt die Stockholmer Sektion des Jüdischen Weltkongresses nicht ruhen. Sie hat, wie die Jüdische Gemeinde und andere jüdische Organisationen auch, ihr möglichstes zur Verbesserung des Loses der Häftlinge getan, aber alle Versuche, deren Befreiung zu erlangen, sind bisher fehlgeschlagen. Das mehrfach vorgebrachte Angebot deutscher Emissäre: Einstellung des alliierten Bombardements auf Deutschland gegen Freigabe bestimmter Kontingente von Juden, dieser Versuch zum Menschenhandel, war immer am Widerstand der Alliierten gescheitert. Das apokalyptische Geschehen auf dem Kontinent nimmt seinen Lauf, ohne daß ihm von Stockholm aus Einhalt geboten werden kann.

Aber vergessen kann man die Häftlinge und Verfolgten nicht, dafür sorgt schon der tägliche Anblick der zahlreichen Flüchtlinge und Emigranten. In Stockholm befindet sich unter ihnen der Generaldirektor des Winthershallkonzerns, Herr August Rosterg, der dem Vernehmen nach die Ausreise aus Deutschland seinem Masseur zu verdanken hat. Er versucht vergeblich seinen Masseur einem kranken Bekannten zu empfehlen. Obwohl dieser Mann in Stockholm gewissermaßen „um die Ecke" seine Praxis hat und dem besagten Kranken, dem Vertreter der Dresdener Bank in Skandinavien, Bankdirektor Ottokar von Knieriem, sehr wohl wenigstens versuchsweise einige lindernde Griffe zukommen lassen könnte. Dank der Zähigkeit Rosterg's kommt es dann schließlich im Februar 1945 zu einem Besuch des Massage-Arztes bei von Knieriem, dem Rosterg seinen Therapeuten einfach ins Haus schickt.

Eine seltsame Besprechung

Es wird dies eine wichtige Begegnung. Von ärztlicher Hilfe ist bei diesem Besuch zwar nur nebenbei die Rede und es kommt auch zu keinem Arzt-Patient-Verhältnis. Aber bereits auf der Schwelle zur Wohnung von Knieriems erkennen Gast und Gastgeber sich an der Sprache als baltische Landsleute. „Himmlers Masseur,“ der finnische Medizinalrat Felix Kersten — denn er ist es, den Rosterg ihm ins Haus geschickt hat — das ist ein für Knieriem unbekannter Name.

Aber die Tatsache der gemeinsamen Heimat gestattet ein Gespräch auf persönlicher Ebene und an Hand Kerstenscher Erzählungen eröffnen sich für von Knieriem Perspektiven, die dieses erfahrenen Kaufmanns Gedanken zu einem anderen Landsmann lenken, der ihm oft seine Sorgen um das Schicksal seiner jüdischen Rassengenossen klagt, dem alten Kunden aus der Libauer Bank in Riga, nunmehrigem Vizevorsitzenden der schwedischen Sektion des Jüdischen Weltkongresses, Vertreter der Jewish Agency, des Rescue Commitee und der Federation of Jewish Relief Organisation in London, Herrn Hilel Storch.

Denn was Kersten nun Knieriem eröffnet, das hat Rosterg bisher nur am Rande erwähnt: seit März 1939 ist Kersten persönlicher Arzt Himmlers. Das, was Knieriem jetzt bereits über Kersten und dessen Beziehungen zu Himmler zu wissen bekommt, genügt vollkommen, um diesen Therapeuten interessant erscheinen zu lassen. Besonders auch deshalb, weil die an sich kaum glaubhaften Berichte Kerstens überprüft werden können durch Herrn Rosterg, dessen Arzt Kersten seit 1928 ist. Und auch deshalb, weil zwischen Knieriem und Kersten von vornherein ein gewisses, wenn man so will, Vertrauen herrscht, das bei Knieriem durch die überprüfbaren Erzählungen Kerstens aus seiner eigenen Vergangenheit ein Stütze hat, in baltischen Antecedentia, von denen der Reichsdeutsche Rosterg keine Ahnung haben kann. An Hand eines Gruppenbildes aus der Schule in Wenden in Livland examiniert von Knieriem seinen Gast auf bestimmte Lehrer und Schüler dieser, wie es sich erweist, gemeinsamen Schule — über die fraglichen Fälle war Kersten orientiert. Am einschneidendsten aber wirkt Kerstens Eröffnung auf seinen Zuhörer, er stehe bereits seit dem Herbst 1943 in Kontakt mit dem schwedischen Außenminister Günther und arbeitete mit ihm zusammen — unter Berücksichtigung größter Geheimhaltung — daran, über seinen Patienten Himmler norwegische und dänische Häftlinge aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern zu befreien.

Wenn der schwedische Außenminister — so überlegt Herr von Knieriem — die Verbindung zu diesem Massagearzt Himmlers so geheim hält, daß offensichtlich in seinem eigenen Amt nur ganz wenige etwas davon wissen, die Öffentlichkeit aber keine Ahnung hat, so kann das nur bedeuten, daß dieser kluge und überlegene schwedische Politiker diesen Mittelsmann zum Reichsführer SS für außerordentlich wichtig hält. Nun erscheint auch Kerstens Einfluß auf den Kali-Allgewaltigen Rosterg in einem neuen Licht. Rosterg und Günther, der holländische Prinzgemahl Henrik, führende Männer aus Politik und Wirtschaft — sie alle kannten Kersten. Die logische Schlußfolgerung mußte sein, daß es sich bei ihm um eine besondere Persönlichkeit handelte.

Herr von Knieriem greift zum Telefon und ruft Herrn Storch an. Ob dieser ihn wohl gleich besuchen könnte. Er habe einen Mann an der Hand, der offenbar auf ganz anderen Saiten zu spielen in der Lage sei, als alle bisher zur Verfügung gestandenen deutschen Emissäre in Sachen Judenrettung.

„Wir müssen alles versuchen“ — das ist Storchs Stellungnahme. Also wird Knieriem ihn mit Kersten zusammenbringen. Daß er als Bürger des Dritten Reiches in hoher Auslandsstellung dabei mit dem Galgen spielte, dürfte ihm klar gewesen sein. Der Kontakt zwischen Storch und Kersten wird durch Knieriem hergestellt. Herr Storch unterrichtet bereits nach der ersten Begegnung mit Kersten den Jüdischen Weltkongreß in New York über seine neue Verbindung, für deren Zuverlässigkeit Storch keine andere Garantie hat, als sein Vertrauen zu Knieriem — einem Deutschen! Ein Antworttelegramm des amerikanischen Staatssekretärs Stettinius über den amerikanischen Gesandten Johnsson in Stockholm ist die Bestätigung dafür, daß Direktor Storch auf der von Knieriem aus gesehenen „Feindseite“ als der richtige Mann angesehen wird.

Einen Vorgeschmack auf die Bemühungen um die Rettung von Juden hatte Bankdirektor von Knieriem bereits im Jahr 1944 bekommen, als ihn eine mit einem Schweden verheiratete holländische Jüdin besuchte und ihm folgendes mitteilte: ihre Verwandten in Holland hätten erfahren, daß es eine Möglichkeit zum Freikauf inhaftierter Juden bei Einzahlung einer bestimmten Summe in einer Bank gebe, einer Summe, die beim Überschreiten der Grenze ins neutrale Ausland fällig werde. Gerüchtweise verlaute, daß deutsche und ausländische Banken dieses Geschäft vermittelten. Die Dame war zur Einzahlung von ca. 100 000 Schkr. pro Person für einige Verwandte im KZ bereit. Knieriem fragte bei der Dresdener Bank an, ob er der Sache nachgehen und mit welcher Bank in Stockholm er verhandeln solle; er müsse jedoch ausdrücklich durch Vorstandsbeschluß dazu autorisiert werden, da er sich sonst mit dem von den Allierten gebrandmarkten Menschenhandel nicht befassen könne. Als Antwort kam die Mitteilung, das Vorstandsglied Prof. Dr. Meyer habe sich mit der Sache befaßt, wäre aber nicht weiter gekommen. Die drei Menschen baltischen Ursprungs: der Jude Storch, Kersten, der Sohn eines reichsdeutschen Vaters und einer baltischen Mutter, und der Sohn baltischer Eltern in einer Zusammensetzung von Pastoren, Gelehrten, hohen russischen Staatsbeamten und Landadel, von Knieriem, der ein gut Teil seiner Lebenserfahrung in den verschiedensten Ländern gewissermaßen am Rande der Politik gesammelt hat — diese drei werden nun einige Wochen intensiver Zusammenarbeit der Rettung von Angehörigen des Volkes widmen, das von den Nationalsozialisten unter Hitler vernichtet werden sollte. Es ist eine seltsame Besprechung an diesem 24. 2. 1945 in der Stockholmer Wohnung Kerstens (Linnegatan 8) *» die er seit dem Herbst 1943 bewohnt. Die massige Gestalt des Hausherrn mit den gutmütigen Zügen unter alten holländischen Gemälden, Berliner Stichen und einigen mit Widmungen versehenen Photos der Großen dieser Welt; über dem Schreibtisch ein schmales Band mit den Farben Livlands, das nichts anderes ist als ein rührender Ausdruck der An-hänglichkeit an dieses Land, dem nicht mehr als die Kindheit dieses Mannes gehört hat. Auf dem Tisch das Telefon mit Kopfhörer, über welches jederzeit Himmler oder sein persönlicher Sekretär über den Schlüssel beiderseitiger Geheimnummern erreicht werden kann. Der Reichsführer SS ruft auch bei Kersten an, wenn ihm dies nötig erscheint. Lind nicht selten hält der frühere holländische Gesandte Baron van Nagell, den Kersten vom holländischen Hof her kennt und der jetzt als Privatmann in Stockholm wohnt, die andere Muschel am Ohr und hört mit. Was mag der Jude, zu Besuch bei Kersten, beim Gedanken empfunden haben, jeden Augenblick kann „der größte Massenmörder aller Zeiten“ anrufen lassen und seinem Arzt Menschenleben konzidieren, die der Patient der Vernichtung preisgegeben hatte. Aus keinem anderen Grunde freizugeben, als vielleicht aus der Angst heraus, diesen Mann mit den einmalig begabten Händen zu verlieren!

Das erste Gespräch in der Stockholmer Wohnung Kerstens dient der Aufstellung eines Programms für die Rettung von Juden, denn bereits am 3. März soll Kersten im Auftrag des schwedischen Außenministers zu Himmler fliegen. Günther arbeitete auch dann noch, als Graf Bernadotte bereits in Aktion ist, auf verschiedenen Wegen weiter, auf denen Kersten einen direkten Kontakt darstellt. Hier wird auch deutlich, wie sehr alles in Fluß gehalten werden und Improvisation sein mußte.

Über die Verhandlungen zwischen den Juden und Kersten gibt das Weißbuch keine Aufschlüsse; andererseits decken sich (wie z. B. in der Frage, daß eine Sprengung der KZs verhindert werden müsse) die Aufträge Günthers und Storchs an Kersten in vielen Fällen, wie denn überhaupt eine Trennung der Skandinavier und Juden, zumindest was den Emissär Kersten anlangt, je länger je mehr, garnicht aufrechterhalten werden kann. Aber es geht hier ja um auswertbares Aktenmaterial und da de, Außenminister offenbar keine detaillierten (zugänglichen) Aufzeichnungen gemacht hat, ist die nachfolgende Darstellung auf mündlichen Informationen und auf dem Bericht aufgebaut, den Kersten am 12. 6. 1945 dem schwedischen Außenminister Günther bzw.dem Außenministerium als Abschlußbericht seiner Tätigkeit überreicht hat.

Dieser Bericht wird auch im Weißbuch erwähnt. Seine Glaubwürdigkeit ist vom Außenminister nirgends bestritten, vielmehr durch Äußerungen an anderen Stellen indirekt bestätigt worden.

Erhebliche Erfolge der Bemühungen bei Himmler liegen bereits in bezug auf die Freigabe von Norwegern und Dänen und das Versprechen auf weitere Freilassungen vor, als zwischen Storch, Kersten und von Knieriem ein Plan für die Befreiung von Juden aufgestellt wird. Als Hauptziel schwebt ihnen die Befreiung sämtlicher Juden vor; da aber alle bisherigen Versuche in dieser Richtung — Verhandlungen seitens des Internationalen Roten Kreuzes und einer Reihe führender Persönlichkeiten — praktisch im Sande verlaufen waren, erscheint dieses Fernziel von vornherein schwer realisierbar. Es konnte sich daher nur um die Freilassung einer begrenzten Anzahl, bzw. gewisser Kategorien von Juden handeln. Unter allen Umständen aber sollte den fortlaufenden Hinrichtungen von Juden ein Ende gemacht werden. Weiter sollte Kersten, im Einklang mit den Wünschen Günthers, um eine ordnungsgemäße Übergabe der KZs an die Allierten im Fall ihres Herannahens nachsuchen, denn laut zuverlässigen Nachrichten, die Storch durch seine verschiedenen Kanäle erhalten hatte, wußte der Jüdische Weltkongreß von den Führerbefehlen, die ganzen Lager. samt Insassen in die Luft zu sprengen. Und endlich mußte für eine wirksame Seuchenbekämpfung in den Lagern gesorgt werden. Für die direkte Hilfeleistung wurde ein Programm in vier Punkten aufgestellt:

1. Versendung von Lebensmitteln und Medikamenten, 2. Zusammenziehung der Juden in speziellen Lagern, wobei die Versorgung unter die Kontrolle des Internationalen Roten Kreuzes gestellt werden sollte und eine spätere Gesamtversorgung aller jüdischen Lager durch den Jüdischen Weltkongreß vorgesehen war, 3. Freilassung von Einzelpersonen an Hand von bestimmten Listen des schwedischen Außenministeriums, 4. Freilassung von Juden und ihre Überführung ins Ausland, speziell nach Schweden und in die Schweiz.

Alle diese Punkte waren nicht nur ein jüdisches Programm, sondern auch das Programm des schwedischen Außenministers.

Am 3. 3. 4 5 flog Kersten zu Himmler, jetzt erstmalig im Dienst zweier Auftraggeber (Günthers und Storchs) für ein gemeinsames Anliegen.

Des Reichsführers SS erste Reaktion auf den Vorstoß zur generellen Freilassung von Juden war die Forderung auf Einstellung des allierten Bombardements auf Deutschland für 2— 3 Wochen. Offensichtlich rechnete Himmler damit, daß die V-Waffe in dieser Zeit der Ruhe so beträchtliche Fortschritte machen könnte, daß das jüdische Tauschobjekt ihm dann noch den doppelten Gewinn auf moralischem Gebiet bringen und sein eigenes Alibi stärken könnte. Kersten, durch seine Auftraggeber über die Unmöglichkeit der Realisierbarkeit solcher Anliegen wohl unterrichtet, mußte alle diesbezüglichen Wünsche Himmlers für illusorisch erklären. Erreichen konnte er bei seinem Patienten das Versprechen, die Hinrichtungen einzustellen, sowie feste Zusagen für die ordnungsgemäße Übergabe der Konzentrationslager. Die tatsächliche Entwicklung der Dinge hat ja ergeben, daß Himmler in bezug auf die Konzentrationslager zu seinem Wort gestanden hat, auch wenn es mancherorts zu unliebsamen Zwischenfällen gekommen ist. Daß Himmler auch von anderer Seite in dieser Frage bestürmt worden ist, da ja jedem klar war, daß die Konzentrationslagerinsassen gerettet werden mußten, ist selbstverständlich. Tatsache ist jedoch, daß Kersten sich in dieser Frage bei Himmler in ausländischem Auftrag engagiert und Himmlers Zusagen erhalten hat. In dem Buche von Axel Weißberg: „Die Geschichte von Joel Brandt“ ist auch von anderer Seite auf diese KZ-Rettung Anspruch erhoben worden. Danach gebührt das Verdienst, Himmler dazu bewogen und seihen diesbezüglichen Befehl z. T. sogar selbst überwacht zu haben, dem SS-Standartenführer Kurt Becher. Wieweit dies objektiv richtig ist, kann in diesem Zusammenhang nicht untersucht werden.

Ein Memorandum Storchs, von Kersten Himmler überreicht, wurde am 21. 3. 45 durch ein Schreiben des persönlichen Referenten Himmlers, des später in Nürnberg hingerichteten Dr. Rudolf Brandt, bestätigt und die Zusicherung gegeben, daß die Versendung von Lebensmittelpaketen und Medikamenten in die einzelnen Lager gestattet wäre. Wo Einzeladressen nicht auffindbar waren, sollten die Sendungen an die übrigen Lagerinsassen verteilt werden. Sämtliche Lagerkommandanten waren, wie Kersten berichtet, zum 24. 3. 45 zu einer Besprechung einberufen worden, wo sie angewiesen werden sollten, ab sofort jede Grausamkeit Juden gegenüber zu unterlassen. Die Tötung von Juden sollte verboten und ihr Gesundheitszustand einer laufenden Kontrolle unterzogen werden. So hatte Kersten aus der Umgebung Himmlers erfahren, daß im Lager Belsen-Bergen eine Typhusepidemie ausgebrochen war, die man Himmler noch nicht gemeldet hatte. Er erzählte Himmler, im Auslande wären aufsehenerregende Gerüchte über eine Epidemie im Gange, worauf dieser eine Untersuchung anordnete, welche die Richtigkeit der Kerstenschen Aussage bestätigten, und den Befehl Himmlers zur Folge hatte, die Seuchenbekämpfung mit allen Mitteln durchzuführen. Wahrscheinlich werden derartige Informationen Kersten in den Augen Himmlers noch wertvoller gemacht haben und auch die Methode des „magischen Buddha", untere Instanzen durch kleinere Geschenke gesprächig zu machen, dürfte sich bewährt und ihm bei seinen Auftraggebern weitere Plus-Punkte eingebracht haben.

Für den Vorschlag, besondere Judenlager zu errichten, findet Kersten bei Himmler Verständnis und auch nach den gesuchten Einzelpersonen wird auf seine Veranlassung hin geforscht. Ende April aber schreibt Brandt an Kersten, daß diese nicht aufzufinden seien. Die Freilassung gewisser Kategorien von jüdischen Häftlingen verspricht Himmler wohlwollend zu überprüfen und er sagt ferner zu, — allerdings immer mit dem Hinweis darauf, daß die Transportfrage von Schweden aus gelöst werden müsse — diese Dinge noch mit dem Grafen Bernadotte zu besprechen. Hier zeigt sich deutlich, wie kompliziert der ganze Vorgang ist: wohl kann Himmler entlassen, aber an den Toren der Konzentrationslager wären die Entlassenen dennoch dem Chaos und in zahlreichen Fällen dem Tode preisgegeben gewesen, hätte der schwedische Staat sich ihrer nicht angenommen. Und immer warnt Himmler davor, seine Zugeständnisse durch die Weltpresse gehen zu lassen. Geschehe solches, so müßten alle Erleichterungen sofort rückgängig gemacht werden.

Auch der Graf Bernadotte, der sich laut Weißbuch in seinen Verhandlungen an die allgemeinen Direktiven des schwedischen Außenministers zu halten hatte, mußte immer wieder feststellen, daß Himmlers prinzipielle Zusagen nicht immer ohne weiteres in die Tat umgesetzt werden konnten. In erster Linie führt das Weißbuch dieses auf tatsächlich vorliegende praktische Schwierigkeiten zurück, vor die sich die deutschen Instanzen gestellt sahen. Immerhin kann der Graf, der zwischen dem 6. und 8. 3. 1945 wieder in Berlin mit Kaltenbrunner und Schellenberg verhandelt, am 7. 3. nach Stockholm telegrafieren, daß die anfänglichen Schwierigkeiten beseitigt wären und die Deutschen alles täten, um die schwedische Expedition glücklich verlaufen zu lassen — auch die zweite Aktion, die Überführung ins Sammellager Neuengamme und die weitere Ausreise der Häftlinge nach Schweden erscheine nicht ausgeschlossen. Damals erreichte Graf Bernadotte, laut Weißbuch, die Überführung sämtlicher skandinavischer Juden nach Neuengamme. Wenige Wochen vorher (am 26. 2. 1945) hatte er an Storch geschrieben, daß im Zusammenhang mit der Ausreise eines Kontingents Juden nach der Schweiz auch die Bemühungen um die Einreise „eines Teils der Juden“ nach Schweden günstig stünden, obwohl ein Bescheid noch nicht gekommen sei. Es wäre interessant festzustellen, wie groß der Einfluß des Grafen auf Kaltenbrunner, den Gegner der Himmlerschen Vermittlungspolitik, gewesen sein mag; leider fehlen Angaben über Intensität und LImfang der Gespräche zwischen Kaltenbrunner und Bernadotte.

In Stockholm erstattet Kersten dem schwedischen Außenminister Bericht und legt mit ihm die Pläne für weitere Schritte bei Himmler fest. Das Gleiche geschieht in langen Gesprächen mit Storch, an denen nicht selten auch Herr von Knieriem teilnimmt. In der Anfangszeit gehört seine Teilnahme zur Regel. Der direkte Telefonkontakt zu Himmler ermöglicht intensive Telefonate zwischen Stockholm und dem Hauptquartier Himmlers, in der Hauptsache mit Dr. Brandt. Am zweiten Hörer sitzt immer ein Zeuge, mal ist es Baron Nagell, mal ist es Herr Storch. So können die eingeleiteten Besprechungen mit Himmler intensiviert und mit den Herren seines Stabes fortgesetzt werden. Kersten wird von Storch fortlaufend schriftlich und mündlich über weitere Wünsche und Besorgnisse unterrichtet, die auf anderen Wegen an ihn gelangen.

Immer wieder neue Verhandlungen

Über ein solches nächtliches Gespräch berichtet der damals am anderen Hörer sitzende Dir. Storch. Er hatte am Abend des 7. 4. 194 5 erfahren, daß Kaltenbrunner trotz der Versprechungen Himmlers die Sprengung des KZ Bergen-Belsen angeordnet habe. Storch war zu Knieriem und dann mit diesem zu Kersten geeilt. Kersten meldete über die Kennummer 145 ein Gespräch zu Himmler an. Kersten habe, so berichtet Dir. Storch, in dieser Nacht mit mehreren Personen gesprochen, auch mit Brandt — mit diesem führte dann auch Storch noch ein Gespräch. Daß ungarische SS speziell zur Sprengung dieses Lagers abgeordnet worden war, habe Brandt anfangs nicht glauben wollen. Er habe jedoch in der gleichen Nacht noch bei Kersten zurückgerufen und die Mitteilung bestätigt, zugleich aber auch versichert, daß das Lager nicht gesprengt werden würde.

Eine schriftliche Bestätigung der von Himmler gegebenen Zusicherung, Erschießungen und Evakuierung inhaftierter Juden einzustellen, sowie die ordnungsmäßige Übergabe der KZs an die Alliierten kommt in einem Schreiben Dr. Brandts vom 21. 4. 1945 an Kersten. In einem anderen Brief, vom 8. 4. 1945, den Graf Bernadotte am 10. 4. 1945 aus Deutschland nach Schweden mitbringt, bestätigt Brandt die fortgesetzten Nachforschungen nach Einzelpersonen, bestätigt ferner die mündliche Erklärung zu Bergen-Belsen, u. a. daß dieses Lager einen Sonderkommandanten erhalten habe und enthält schließlich noch die Mitteilung über die Zulassung des Roten Kreuzes zu Besichtigungen des Lagers Theresienstadt.

Der schwedische Außenminister hatte Kersten vor seinem Deutschlandbesuch im März noch nahegelegt, mit Himmler über den Abschluß der bereits im Gang befindlichen Überführung von ca. 7000 Norwegern und 5000 Dänen in einzelne Lager bzw. über ihre Freilassung zu verhandeln; über diese Fragen waren ja bereits langwierige Verhandlungen geführt worden. Es ging dem schwedischen Außenminister darum, die Versorgung und Verpflegung dieser Häftlinge dem Roten Kreuz zu unterstellen, wenn möglich aber ihre Entlassung nach Schweden zu erwirken. Transportkolonnen des schwedischen Roten Kreuzes befanden sich bereits in Tätigkeit in Deutschland, doch gab es gelegentlich lokale Hemmungen. Weiterhin sollten auf Grund einer Liste des schwedischen Außenministeriums, die Einzelpersonen namhaft machte, Freilassungen erwirkt werden.

Schon die Behandlung der ersten Frage, die Zusammenführung der Skandinavier in Deutschland, rief bei Himmler erbitterten Widerstand hervor, plötzlich wollte er mit Rücksicht auf Hitlers ablehnende Haltung, die schon großenteils in Neuengamme bei Hamburg zusammengeführten Norweger und Dänen nicht freigeben. Schließlich stimmte er wenigstens der Freilassung der inhaftierten Frauen und Kinder zu und versprach, die norwegischen Studenten und dänischen Polizisten etappenweise freizulassen. „Ich tue, was ich kann,“ sagte Himmler damals zu Kersten, „aber bitte quälen Sie mich nicht, ich bin kein freier Mann.“

Es sind gute Nachrichten, die Kersten nach Rückkehr von seinem Patienten Himmler am 22. 3. 194 5 in Stockholm dem schwedischen Außenminister einerseits und dem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses andererseits berichten kann: — bei diesen Verhandlungen im März hat Himmler Kersten gegenüber grundsätzlich allen schwedischen bzw. jüdischen Wünschen stattgegeben: die Skandinavier gehen nach Neuengamme, die Juden werden nicht mehr erschossen und die Konzentrationslager sollen intakt, wenn die Zeit gekommen sein wird, den Alliierten übergeben werden.

Was in diesen Zeilen ausgesprochen ist, stellt die Krönung jahrelanger, zäher Versuche des verantwortlichen Leiters der schwedischen Außenpolitik, seiner Exzellenz Christian Günther dar, die humanitäre Grundhaltung, die dem schwedischen Volk nachgesagt wird, in politische Tat umzusetzen. Hier ist der „wirkliche Einsatz“ erfolgt, von dem Günther in seinem, dieser Untersuchung vorangestellten Brief an den Gesandten Richert spricht, hier ist eine „zentrale Angelegenheit“

der schwedischen Politik ein gutes Stück vorwärts gekommen. Und dieser Einsatz ist — aller Vernunft zum Trotz, — im Wesentlichen auf Wegen erreicht worden, die eben nicht der Ratio, sondern allein dem Gefühl erreichbar waren. Für diese Sphäre der Unwägbarkeiten hat der Minister ein feines Verständnis gehabt.

Ruft man sich rückschauend die Ereignisse des Frühjahrs 1945 noch einmal ins Gedächtnis zurück, so wird man feststellen müssen, daß trotz so großer prinzipieller Zugeständnisse Himmlers von Stockholm aus gesehen die Lage der Konzentrationslager-Häftlinge immer noch sehr unsicher war. Nicht zuletzt Kersten hat ja immer wieder auf die Gefahren hingewiesen, die der glücklichen Durchführung des schwedi-sehen Rettungswerks aus der Rivalität und der unterschiedlichen Politik der Diadochen — Himmler einerseits, Ribbentrop, Göbbels und Kaltenbrunner andererseits — drohten und dieses noch in Frage stellen könnten. In Stockholm mußte man sich daher alle Wege offen halten und alle nur denkbaren Fäden zu spinnen suchen.

Dieser für die offizielle Politik und Diplomatie selbstverständliche Satz gilt auch für die offiziösen Bemühungen der Stockholmer Sektion des Jüdischen Weltkongresses, mit Professor Ehrenpreis sowie den Direktoren Spiwak, Lapidus und Storch an der Spitze. Hilel Storch war durchaus nicht der Mann, mit den Händen im Schoß dazusitzen und zu warten, bis Herr von Knieriem ihm den Medizinalrat Kersten vorstellte. Das von ihm geleitete Rettungskomitee der Stockholmer Sektion des Jüdischen Weltkongresses hatte mit Hilfe des schwedischen Roten Kreuzes in den Jahren 1943— 44 große Paketsendungen in die Konzentrationslager schicken und beim Rückzug der deutschen Armeen aus dem Osten hatte Storch über seine Verbindung zum Ministerialdirigenten im Auswärtigen Amt, Dr. Kleist, Erschießungen der von Ostpreußen evakuierten Juden verhindern können. Nun war Storch die Verbindung zu Kersten natürlich wichtig. Mit großen Hoffnungen hatte er Kersten zu Himmler fahren lassen. Aber in dieser Schlußphase des Krieges, von der man noch gar nicht wußte, ob sie überhaupt die Schlußphase war, und noch weniger berechnen konnte, was an Ungeheuerlichem noch geschehen könnte — in dieser außerordentlichen Zeit mußte jeder, wenn auch noch so wenig versprechenden, Verbindung nachgegangen werden. Dies schien geradezu Pflicht der jüdischen Organisation zu sein.

So hat sich denn auch Storch, als Kersten mit den ersten Aufträgen der Juden zu Himmler gefahren war, Verhandlungen mit anderen Emissären nicht verschlossen. Zum mindesten konnten diese hingehalten werden, bis sich bei der zu erwartenden Rückkehr Kerstens erwiesen hatte, was dieser Mann für die jüdische Sache tun konnte. So war Storch auf privatem Wege darüber unterrichtet worden, daß der in Stockholm eingetroffene Abgesandte Ribbentrops, Ministerialdirektor Hesse, mit ihm Fühlung nehmen wolle. Eine Rückfrage auf dem schwedischen Außenministerium ergab, daß es sich bei Herrn Hesse um einen wichtigen Mann handelte und eine Begegnung im Grand Hotel ließ sich arrangieren. Das hierbei auf den Tisch des Hauses gelegte konkrete deutsche Angebot — eine Pfandsetzung von 500 000 Juden in Frankreich oder einem neutralen Lande unter der Bedingung der Ausschaltung jeder Greuelpropaganda gegen Deutschland und Einstellung der Bombenangriffe auf Deutschland für die Dauer eines Monats — dieses Angebot konnte für Storch nur bedingt interessant sein, weil ihm die Unmöglichkeit der Erreichung entsprechender alliierter Zugeständnisse bekannt war.

Es scheint, daß der Aktion Hesse von jüdischer Seite nach außen hin mehr Bedeutung zugemessen worden ist, als die verantwortlichen jüdischen Herren ihr in Wirklichkeit zubilligten. So entfaltet Storch eine eifrige diplomatische Beweglichkeit in der „Aktion Hesse“ und bemüht sich eingehend um den deutschen Gast. Zwei gerade in Stockholm weilende Herren des Jüdischen Weltkongresses in London werden unterrichtet und Storch bringt den Abgesandten Ribbentrops auch mit Ivar Olsson, dem Vertreter der World Refugies Board bei der amerikanischen Gesandtschaft in Stockholm zusammen. Auch Olsson wird von Storch jedoch dahingehend unterrichtet, daß Hesse zu hinhaltenden Ge-

sprächen sehr willkommen sei und daß es auch wichtig wäre — solange Kersten noch mit Himmler verhandelte — Ribbentrop in dem Glauben zu lassen, er führe Verhandlungen in Stockholm. Der Ministerialdirektor Hesse bekommt denn auch ein Memorandum Storchs nach Berlin mit, in dem Ribbentrop die Wünsche der Vertreter des Jüdischen Weltkongresses bezüglich der Befreiung der inhaftierten Juden unterbreitet werden. Das aber geschieht zu einer Zeit, da die Judenrettung auf anderen Wegen bereits im Gange ist.

Nichtsdestoweniger sind noch mehrere Bekanntschaften von den verschiedensten Instanzen und Organisationen vermittelt worden zwishen deutschen Emissären und jüdischen Stellen. Soweit es sich feststellen läßt, haben sie keine greifbare Resultate ergeben. Das setzt den Wert des ehrlichen Einsatzes nicht herab. Über den Anspruch auf historische Bedeutung des einzelnen Einsatzes kann heute auch noch kaum entschieden werden. Es schien, als wäre das Angebot von Juden der gängige Preis, für den allein man — von Berlin aus gesehen — mit den Westmächten noch glaubte ins Gespräch kommen zu können.

So wurden Storch und die Herren des jüdischen Weltkongresses zu gesuchten Gesprächspartnern. Lind aus den zahlreichen Erfahrungen mit ebenso zahlreichen Emissären, die Dir. Storch nachweisen kann, ist es erklärlich, daß selbst er, trotz aller guten Einführungen und Erfolge Kerstens und trotz seines Vertrauens zu ihm, die anderen Wege nicht vernachlässigen durfte.

Ehe Kersten am 3. 3. 1945 auch in jüdischen Belangen zu Himmler gereist war, hatte Dir. Storch ihm geschrieben und zugleich mit der Übersendung eines Memorandums der Hoffnung Ausdruck gegeben, Kersten möge den Juden „in äußerst verzweifelter Lage“ helfen. Es entwickelt sich daraufhin ein Briefwechsel zwischen beiden, darin Storch Kersten bis in den April hinein seine Sorgen und Informationen zukommen läßt, Kersten wiederum Storch mit konkreten Tatsachen oder beruhigenden Versicherungen bis zum geplanten Besuch bei Himmler zu trösten versucht. Am 27. 3. teilt Kersten Storch mit, er habe mit Himmler ein ganz neues Thema besprochen, nämlich das der jüdischen Mischlinge. Himmler selbst hatte die Frage angeschnitten, dann aber doch seinem persönlichen Referenten Weisung gegeben, die geplante Aktion zur Einlieferung von Halbjuden in die Konzentrationslager zu unterbinden; er schreibt auch an Storch, Himmler habe ihm die Freilassung von 5000 Juden und deren Ausreise nach Schweden und der Schweiz zugesichert; er Kersten, glaube jedoch, daß es „uns bei unseren mündlichen Verhandlungen mit Himmler möglich sein wird, diese Zahl zu verdoppeln“.

Storch antwortet umgehend, meint aber, da es nicht sicher sei, wann dieses mündliche Gespräch zustande kommen werde, solle Kersten in seinen Telefonaten nach Himmlers Hauptquartier darauf dringen, daß den Lagerinsassen nichts geschehe. — Kersten versichert dann wieder Storch, auch umgehend, am 29. 3., Himmler stünde mit seiner Ehre dafür ein, daß den Juden nichts passieren werde; er, des Reichsführers Arzt, wisse sehr wohl, daß dieser zu seinen Versprechungen zu stehen pflege. Kersten meldet seinem jüdischen Mandanten ferner noch, er habe den Grafen Bernadotte bei Himmler introduziert und der Reichsführer habe versprochen, die in der jüdischen Frage begonnenen Besprechungen mit dem Grafen fortzusetzen. Da zwischen ihm und Himmler alles besprochen wäre, habe er Kersten jetzt noch die telefonische Bestätigung zukommen lassen, daß alle Zusagen in bezug auf Milderungen in der Behandlung der Häftlinge eingehalten würden.

Aber Storch bleibt unruhig. Er habe, so schreibt er am 31. 3. an Kersten, Nachrichten darüber erhalten, daß in einigen Konzentrationslagern neue Wachmannschaften eingesetzt wären, die für die Insassen ungünstige Befehle mitgebracht hätten. Kersten solle seinen „ganzen Einfluß“ nochmals geltend machen, damit neue Grausamkeiten unterblieben. — Kersten anwortete am 3. 4. — offenbar hat er sich inzwischen Informationen verschafft — es liege „keinerlei Grund“ zu Befürchtungen vor. Himmler habe ihm, wie er Storch „übrigens bereits mehrfach mitgeteilt“ habe, zugesagt, daß alle Grausamkeiten unterbleiben würden. Im übrigen wäre Himmler bis zum 12. 4. verreist, er würde Storch „unter keinen Umständen so positiv gehaltene Mitteilungen machen“, wenn er sie nicht selbst in dieser Form erhalten hätte. Seine Erfahrung lehre ihn, daß Himmler bisher einmal gemachte Versprechungen auch immer gehalten habe. — Aber noch am gleichen Tage kann Storch ihm mitteilen, seinen Informationen zufolge wäre ein Teil der Insassen des KZs Bergen-Belsen evakuiert worden — gegen das Versprechen Himmlers. Kersten solle doch alles versuchen, um weitere Evakuierungen gerade aus diesem Lager, auf welches die Juden besonderen Wert legten, zu verhindern. — Am 4. 4. schon antwortet Kersten dem „ mit Ungeduld“ wartenden Storch, er habe mit seiner Sekretärin telefoniert und diese wiederum mit Himmlers Dr. Brandt — alle Gerüchte über Bergen-Belsen wären aus der Luft gegriffen! Graf Bernadotte sei von Himmler freundlich empfangen worden und Himmler habe ihm die Kersten gemachten Zusicherungen bestätigt.

Damit hört der Briefwechsel zwischen Storch und Kersten auf. Offenbar hat Storchs begreifliche Unruhe jetzt den Grad erreicht, daß er Kersten lieber persönlich aufsucht, wenn er Wünsche an ihn heranbringen will.

Während der Verhandlungen mit Himmler hatte Kersten angeregt, Hilel Storch selbst hinzuzuziehen. Himmler erklärte sich bereit, Storch zu empfangen und sicherte ihm freies Geleit und gute Behandlung zu. Dieser geplante jüdische Besuch bei Himmler stand jedoch noch immer aus. Es scheint, daß man auf jüdischer Seite in Stockholm der Einladung Himmlers an Storch mit der Zeit weniger Bedeutung zuzubilligen geneigt gewesen ist, als man ihr ursprünglich beigemessen hatte. Himmlers prinzipielle Zusicherungen waren ja gegeben, man hielt die Reise Storchs vielleicht nicht mehr für unbedingt nötig, vor allem aber war der Einladung als solcher weder die Fixierung des Termins noch auch ein konkreter Plan für das Treffen gefolgt, was man in Stockholm mit der immer kritischer werdenden Kriegslage in Zusammenhang brachte. Kurzum, man scheint der Ansicht gewesen zu sein, daß es zu der geplanten Begegnung zwischen Himmler und einem Vertreter des Judentums nicht mehr kommen werde.

Umso überraschender traf nun Mitte April die Nachricht bei Kersten ein, Himmler erwarte ihn und Storch am 20. 4. 4 5 in Hartzwalde bei Berlin. Was war bei der plötzlichen Aktualisierung des Falles zu tun? Eine Absage erschien in der gegebenen Lage alles andere als ratsam, der Jüdische Weltkongreß in New York war bereits über den Besuch orientiert, die alliierten Gesandtschaften in Stockholm gleichfalls unterrichtet und eine Rückfrage im schwedischen Außenministerium ergab, daß man dort nach wie vor der Meinung war, direkte Verhandlungen eines Juden mit Himmler könnten zu wertvollen Ergebnissen führen, und wären daher durchaus im Sinn der schwedischen Hilfsaktion.

Es wurde also beschlossen, dem in dieser Angelegenheit drängenden Kersten eine Zusage zukommen zu lassen und alle Vorbereitungen für die Fahrt zu treffen. Auch eine personelle Änderung mußte vorgenommen werden. Der Jüdische Weltkongreß, Sektion Stockholm, nominierte sein Vorstandsmitglied Direktor Norbert Masur. Wie vorteilhaft sich erwies, den Hauptinitiator der jüdischen Rettungsaktion, Herrn Storch, nicht zu exponieren, möge ein kleines Vorkommnis illustrieren. Das in Stockholm sich bereits verbreitende Gerücht über die geplante jüdische Reise hätte ja schneller bei Ribbentrop eintreffen können, als Kersten und sein jüdischer Begleiter bei Himmler und der zaudernde Reichsführer hätte sich vielleicht im letzten Augenblick noch von seinem Vorhaben abbringen lassen können. Am Tage des Abflugs von Kersten und Masur zu Himmler rief der gerade in Stockholm weilende Abgesandte Ribbentrops, Dr. Kleist, bei Dir. Storch an, um sich über Storchs angeblich geplante Fahrt zu Himmler zu informieren. Indem Storch den Ministerialdirigenten Kleist zu sich zum Essen einlud, konnte er den Beweis dafür erbringen, daß keine jüdischen Unterhändler zu Himmler zu fahren gedachten!

Ein Jude spricht mit Himmler!

Mit dem fahrplanmäßigen Flugzeuge, einer Maschine der Deutschen Lufthansa, starten Kersten und Masur am 19. 4. 1945 um 2 Uhr mittags vom Stockholmer Flughafen Bromma in Richtung Kopenhagen, wo es eine halbe Stunde Aufenthalt gibt. Sie sind die einzigen Passagiere. Die Maschine ist mit Paketen des schwedischen Roten Kreuzes, hauptsächlich Verbandsstoff, an das deutsche Rote Kreuz in Berlin vollgepackt. Kersten führt ein Schreiben des Leiters der Rechtsabteilung des schwedischen Außenministeriums Gesandten Engzell mit sich, das diese Reise als „in Zusammenarbeit mit dem Königlich Schwedischen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten“ ausweist. Die Luft ist ganz „rein“, man sieht weder deutsche, noch auch alliierte Flugzeuge. Um 6 Uhr nachmittags, nach vierstündigem Flug, landet die Maschine in Tempelhof. Der Gruß der deutschen Zollbeamten „Heil Hitler“ wird von Kersten und Masur mit „Guten Tag“ beantwortet. Himmler hat einen Wagen und einen Freigeleitbrief geschickt. Kersten zeigt seinen Paß, Masur behält seinen in der Tasche. Er wird auch nicht danach gefragt, denn der am 19. 4. 45 ausgestellte Freigeleitbrief lautet:

„Der Chef der Sicherheitspolizei und des SD, Amtschef VI, Geheime Reichssache, Bescheimgung: Es wird gebeten, Herrn Medizinalrat Felix Kersten und den in seiner Begleitung reisenden Herrn ohne Vorzeigung der Ausweispapiere die Grenze passieren zu lassen. Schellenberg. — Für die Richtigkeit, Dr. Brandt". Letzterer fertigt nachher, am 20. 4. 45 den Sonderausweis für die Rückreise aus:

„Herr Medizinalrat Kersten reist über Kopenhagen nach Schweden. In seiner Begleitung befindet sich ein Herr, der auf Grund dieses Briefes berechtigt ist, ohne Vorzeigen seiner Papiere zusammen mit Medizinalrat Kersten die Grenzen nach Schweden ohne weiteres und ungehindert zu überschreiten. Die zuständigen Behörden werden gebeten, den Herren notfalls Schutz und Hilfe in jeder Form zu gewähren. Dieser Ausweis darf Medizinalrat Kersten nicht abgenommen werden. Der Reichsführer SS, Persönlicher Referent".

Wahrscheinlich werden sich die Zollbeamten keine großen Gedanken über den geheimnisvollen Unbekannten gemacht haben, der dort gewissermaßen im Gepäck Kerstens aus Schweden gekommen ist und nun mit Kersten im Wagen der SS im Dunkel verschwindet. Weniger Gedanken vermutlich, als dieser historischen Begegnung zukommen mögen. Auch sie werden vom Fliegeralarm, der Masur und Kersten bei Oranienburg aus dem Auto heraus in den nahe der Chaussee gelegenen Wald scheucht, auf andere Gedanken gebracht worden sein. Da es „nur Russen“ sind, wie der Chauffeur befriedigt feststellt, können die Herren aus Schweden ihre Fahrt bald fortsetzen und ohne weiteren Zwischenfall das 76 Km nordöstlich Berlin gelegene Gut Kerstens --Hartzwalde in der Nähe von Gransee, Kreis Neu-Ruppin — erreichen. Dieses Gut hatte sich Kersten vor dem Kriege von den Erträgen seiner gut gehenden Praxis gekauft.

Um die gleiche Zeit sitzt Schellenberg, der gleichfalls an diesem Abend zu einer Vorbesprechung in Hartzwalde erwartet wird, bei Himmler in Hohenlychen. Der Reichsführer hat ihn lange festgehalten und hat — ganz gegen seine Gewohnheit, wie Schellenberg feststellt — gegen Mitternacht noch Sekt kommen lassen, um auf den Geburtstag Hitlers anzustoßen. Obwohl es eine mondhelle Nacht ist, wird der endlich entlassene Schellenberg auf dem Wege nach Hartzwalde in der Richtung abgedrängt und kurz vor dem Gut durch offensichtlich aus Berlin abfliegende Flugzeuge, die Leuchtbomben werfen, aufgehalten. Erst gegen 1/23 Uhr nachts trifft er in Hartzwalde ein, wo alles in tiefem Schlaf liegt. Da Schellenberg mit Kersten das Zimmer teilen muß, kommt es noch spät zu einem Gespräch. Die allgemeine Lage, so warnt Schellenberg, habe sich im Hinblick auf die gewünschte Initiative Himmlers (alle KZs freizulassen) verschlechtert. Infolge des außerordentlich starken Druckes hoher Parteiführer, die über die bisherigen Entlassungen von KZ-Insassen aufgebracht seien, wäre Himmler im Augenblick zu keinen weiteren Konzessionen bereit. Die höchste Parteileitung verlange von ihm, daß er sein Handeln eindeutig nach dem Willen des Führers richte, nach dem Grundsatz nämlich: geht Deutschland unter, dann sollen die Gegner mit untergehen!

Kersten war, so schreibt Schellenberg in seinen „Gedächtnisstützen“, sehr ungehalten über Himmler und dessen zögernde Haltung und glaubte, daß eine erfolgreiche Durchführung einer Aussprache zwischen Himmler und Masur kaum mehr möglich sein würde, immerhin könne Himmler damit aber noch einmal seinen „good will“ zeigen.

Am nächsten Morgen, Kersten ist früher aufgestanden, frühstücken Masur und Schellenberg zusammen und auf dem anschließenden Spaziergang erklärt Masur, dem Schellenberg vermutlich angedeutet hat, daß Himmler schwanke, ob er nach Hartzwalde kommen solle, er werde nicht länger als 24 Stunden warten, notfalls eben ohne das Gespräch geführt zu haben, zurückreisen. Schellenberg notiert hierzu, er habe gewußt, daß Himmler das Gespräch abermals habe hinauszögern wollen und es habe für den SD-Chef daher die Aufgabe bestanden, den Termin unter allen Umständen durchzusetzen. Diese selbst gestellte Aufgabe wird gleich darauf durch einen telefonischen Anruf des Grafen Bernadotte, der Himmler vor seiner Abreise am nächsten Morgen noch sprechen will, weiter kompliziert. Der Graf wird also nach Hohenlychen gebeten, wo das Gespräch am nächsten Morgen um 6 Uhr — nach einer von Himmler und Schellenberg durchwachten Nacht — „in Ruhe“ vor sich gehen soll.

Schellenberg fährt gegen fünf Uhr nachmittags in das Ziethenschloß Wustrow, um dort auf Himmler zu warten, der zur letzten Geburtstagsfeier seines Führers in den Berliner Bunker gefahren ist! Fliegerangriffe scheinen seine Abfahrt von Berlin immer wieder verzögert zu haben, jedenfalls trifft Himmler erst gegen 10 Uhr abends in Wustrow ein. Ein schwankender Mann, geplagt von Bedenken wegen der Aussprache mit Herrn Masur. Nach Aussagen Schellenbergs ist der endgültigen Abfahrt nach Hartzwalde noch ein grundsätzliches Gespräch vorausgegangen, darin ungefähr fixiert worden ist, was von nationalsozialistischer Seite zu sagen wäre. Der Auffassung Himmlers, Masur müsse eine chronologische Zusammenfassung des Geschehenen vorgesetzt bekommen, hält Schellenberg entgegen, es sei falsch, vom „Karma“

zwischen beiden Völkern zu sprechen, dafür würde Masur auch kein Verständnis aufbringen; viel besser wäre es, vom Vergangenen nicht zu sprechen, sondern knapp und präzise all das festzulegen, was zur Rettung der noch lebenden Menschen zu geschehen habe und von ihm, als dem verantwortlichen Mann für diese Dinge, eingeleitet worden sei;

Schellenberg will Himmler weiter vorgeschlagen haben, er solle deutlich machen, daß er sich mit seinen Maßnahmen zwar in offenen Widerspruch und Ungehorsam zu Hitler und der Camarilla stelle, dieses aber „zur Reparierung seines persönlichen Verhaltens“ jetzt auf sich nehmen wolle!

In Begleitung von Schellenberg und Dr. Brandt macht sich Himmler dann endlich in Hitlers letzter Geburtstagsnacht nach Kerstens Gut auf, um dort ein Rechenschafts-Gespräch mit dem Vertreter des Weltjudentums zu führen! Dort im Gutshaus warten Kersten und sein Gast seit Stunden bei Kerzenlicht, — die Elektrizität bleibt wegen ständiger Fliegerangriffe ununterbrochen ausgeschaltet — auf den angekündigten Besuch, den ein Telefonanruf auf 1/23 Uhr morgens festgelegt hat.

Masur ist in großer Spannung. Das Gespräch mit Schellenberg hat in ihm den Eindruck hinterlassen, daß die Situation Deutschlands bereits kritischer ist, als dies von Schweden aus verstanden werden konnte. Der totale Zusammenbruch kann in wenigen Tagen kommen und auf dem Hintergrund dieser Erkenntnis scheint das bevorstehende Gespräch an Dringlichkeit und Bedeutung zu gewinnen. Würde, so fragt sich der jüdische Gast in höchster Spannung, dieser mächtigste Mann Deutschlands, dessen Tage ja doch gezählt sind, noch wie ein Mann auf der Höhe der Macht auftreten, oder schon gezeichnet sein von den Schatten der Niederlage?

Da fährt Punkt 1/23 Uhr ein Auto auf den Hof und Kersten geht hinaus, die Herren zu empfangen. Auf dem Hof hat er ein privates Gespräch mit Himmler, den er u. a. eindringlich bittet, nicht nur liebenswürdig, sondern auch großzügig zu sein; der Welt müßten Beweise dafür geliefert werden, daß von Deutschen auch Maßnahmen der Humanität ergriffen worden seien, damit die Geschichte einst nicht ein einseitiges Urteil über das deutsche Volk zu fällen gezwungen sein würde.

„Ich möchte ja sowieso die Streitaxt zwischen den Juden und uns begraben“, sagt Himmler zu seinem Arzt, ehe er das Haus betritt, „wenn es nach mir gegangen wäre, würde vieles anders gemacht worden sein;

der Führer persönlich verlangte indessen diesen schärfsten Kurs von mir.“ Dann begrüßte er Herrn Masur mit „Guten Tag“ und spricht seine Befriedigung über dessen Kommen aus.

Norbert Masur hat Himmler in einer kleinen, 1945 bei Bonniers in Stockholm auf schwedisch erschienenen Schrift („Ein Jude spricht mit Himmler“) folgendermaßen beschrieben:

„Himmler war elegant in eine gut sitzende Uniform gekleidet, mit Gradabzeicken und Orden. Er wirkte gepflegt, madite trotz der späten Stunde noch einen lebhaften Eindruck und war äußerlich ruhig und beherrscht. Sein Aussehen war fast vorteilhafter als auf Photos. Vielleicht war sein irrender, etwas stechender Blick ein Zeichen von Sadismus und Härte. Hätte ich nicht seine Vergangenheit gekannt, ich hätte nicht geglaubt, daß dieser Mann für den umfassendsten Massenmord der Gesdhcltte verantwortlich war.“

Man setzt sich in Kerstens Wohnzimmer um einen runden Tisch, Himmler auf dem Sofa, ihm gegenüber Masur in einem Lehnstuhl, neben Masur der Gastgeber, der zu seiner anderen Seite Schellenberg sitzen hat und neben Himmler auf dem Sofa dessen persönlicher Referent Brandt. Kersten läßt Kaffee, Plätzchen und eine Torte reichen, — das alles hat er aus Stockholm mitgebracht. Und er verzeichnet in seinem Notizbuch: Himmler schmeckte es sehr gut.

Das Gespräch, das sich im Nachweis bewegt, daß er die Judenfrage durch Ausweisung habe lösen wollen, daß aber die Widerstände der Welt sowohl als auch jene aus den eigenen Reihen eine solche Lösung verhindert hätten, wird im wesentlichen von Himmler geführt. Mit ernsten Worten und in würdiger Form hält ihm der Vertreter des Judentums entgegen, daß vieles geschehen sei, was weder rückgängig noch auch wieder gut gemacht werden könne. Aber wenn in Zukunft eine Brücke zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk gebaut werden soll, so müßten zum mindesten alle jetzt noch in den von Deutschland beherrschten Gebieten am Leben befindlichen Juden auch wirklich dieses ihr Leben behalten. Masur, der etwa zwanzig Minuten unter vier Augen mit Himmler spricht, fordert Zusicherungen Himmlers dafür, daß keine Juden mehr getötet werden dürften, der Bestand an Juden in den Lagern erhalten bleiben und keine Evakuierungen mehr vorgenommen werden dürften; er fordert weiter, daß sämtliche Juden-lager listenmäßig erfaßt und bekanntgegeben würden. Man einigt sich über diese Punkte, Himmler immer mit dem Hinweis, daß er schon früher diesbezügliche Anordnungen getroffen habe. Sie werden anschließend zwischen Himmler, Kersten und Brandt noch schriftlich fixiert, während Masur und Schellenberg in einem Nebenzimmer andere Fragen besprechen. Man ist sich offensichtlich nicht einig über die Anzahl der noch in den Lagern befindlichen Juden, die Himmler mit 25 000 für Theresienstadt, 20 000 für Ravensbrück, 20-30 000 für Mauthausen, 50 000 für Bergen-Belsen und 6000 für Buchenwald angibt, Masur aber für falsch und übertrieben hält. Auch Kersten verzeichnet in einem Bericht an den schwedischen Außenminister vom 23. 4. 45, es könnten sich zu dem gegebenen Zeitpunkt bestenfalls 50 000— 100 000 Juden in den Lagern befunden haben und er habe den Eindruck, daß die deutschen Stellen selbst über die genaue Zahl kein rechtes Bild hätten. Himmler bewilligt schließlich auch noch die Befreiung aller der ihm auf einer Liste des schwedischen Außenministeriums vorgelegten Personen. Endlich geht es dann um die Freilassung jüdischer Frauen aus Ravens-brück. Gleich eingangs hatte Himmler schon die Bemerkung gemacht, Hitler habe ihm die Freilassung weiterer Juden verboten. Man einigte sich schließlich dahin, diese jüdischen Frauen als Transporte polnischer Frauen zu frisieren, da für deren Freigabe kein Führerverbot vorlag. Über die freigegebene Zahl jüdischer Frauen gehen die Meinungen auseinander. Es scheint sich um die fixierte Zahl von eintausend gehandelt zu haben. Kersten schreibt hierzu in seinem Bericht an den Außenminister, er habe sich in Hartzwalde mit Schellenberg und Brandt dahin geeinigt, daß beide nach erfolgter prinzipieller Freilassung von Juden durch Himmler die Zahl der Freizugebenden „wesentlich nach oben erhöhen“ würden. Auch hätten beide Herren versprochen, etwaige Verzweiflungsbefehle beim Herannahmen der Alliierten nicht weiterzugeben. In Hohenlychen erteilt Himmler beim Frühstück dem Grafen Bernadotte dann, wie Schellenberg sich ausdrückt, „als neues Angebot“, die Genehmigung, sämtliche „Polinnen“ aus Ravensbrück nach Schweden abzutransportieren, in der Formulierung des Weißbuches: überhaupt alle Frauen aus diesem Lager. Seinen Gesprächspartnern im Hartzwalder Wohnzimmer schärfte Himmler ein, die Ankunft der jüdischen Frauen in Schweden müsse völlig geheim bleiben.

Um 5 Uhr morgens, nach zwei und einer halben Stunde Aufenthalt, verläßt Himmler Hartzwalde, von Schellenberg gefolgt, Dr. Brandt bleibt, zwecks Durchführung der Beschlüsse seines Chefs, noch eine Nacht auf dem Gut. Auch Masur und Kersten übernachten in Hartzwalde. Am nächsten Morgen brechen sie nach Berlin auf. Eine Condor-Maschine bringt sie nach Kopenhagen. Von dort geht die Reise per Bahn nach Stockholm weiter. Noch am Abend des 22. 4. 1945 erstattet Kersten dem schwedischen Außenminister Bericht. Er hat seinen Auftrag ausgeführt, der Auftraggeber bestätigt ihm seinen Einsatz in einem Zeugnis vom 28. 11. 1946, darin Kerstens erfolgreiche Bemühungen im Rahmen des schwedischen Rettungswerks besonders, hervorgehoben werden.

Warum war Himmler zu Konzessionen bereit? Es ist nur natürlich, daß sein jüdischer Gesprächspartner in Hartzwalde sich diese Frage stellt.

„Im Gegensatz zu Hitler war Himmler audr Rationalist in seinem Verhältnis zu den Juden,“ so schreibt Norbert Masur in seiner oben erwähnten kleinen Schrift, „Hitler hatte ja eine ausgesprodiene Idiosynkrasie gegen diese. Himmler handelte nicht gefühlsbetont. Er ließ kaltblütig morden, solange er dies für seine Zwedte für angebra/dit hielt und er konnte einen anderen Weg wählen, wenn dies für seine Politik oder für ihn selber vorteilhafter war.“

Und weiter „Weldte Beweggründe kann Himmler für die kleinen Konzessionen gehabt haben, die er in den letzten Monaten des Krieges und auch uns gegenüber machte? Gegendienste begehrte er nicht. Er hat sidier auch nidit daran gedadu, durch Nachgiebigkeit sein eigenes Leben retten zu können. Dazu war er zu intelligent, er wußte nur zu gut, daß sein Sündenregister zu groß war. Vielleidu wollte er vor der Geschichte in einem vorteilhafteren Licht dastehen, als die übrigen Hauptverant-wortlid'ien für Deutsddands Vergehen.“

Die Ergebnisse der Hartzwalder Begegnung

Fragt man nach den konkreten Ergebnissen der Hartzwalder Begegnung, so liegen diese in den Zusagen Himmlers bzw.der Freigabe der Ravensbrücker Jüdinnen, der Freigabe der in den Listen aufgeführten Personen und den Anordnungen an Schellenberg und Brandt, für die Durchführung der gemachten Zusicherungen zu sorgen, wozu in erster Linie die Schonung der Konzentrationslagerhäftlinge beim Herannahen der Alliierten und die Einstellung der Erschießung von Juden gehören.

Dies sind, rein äußerlich gesehen, die positiven Ergebnisse dieser Konferenz. In Wahrheit aber kommen die von Himmler gemachten Zusagen der Freigabe aller jüdischen Häftlinge gleich. Herr Masur schildert Himmler als intelligent, kalt und berechnend — denselben Himmler, den Kersten als durchaus gefühlsbetont schildert. In den nächtlichen Verhandlungen von Hartzwalde konzediert er den beiden Abgesandten aus Schweden nur eine geringe Zahl von Häftlingen, sodaß Kersten sich gezwungen sieht, bei Brandt und Schellenberg bei der Durchführung der Befreiung Erhöhungen der Zahl zu erwirken. Derselbe Himmler, der sich hier noch weigert, höhere Zahlen zu nennen, gibt wenige Stunden später in Hohenlychen, im Gespräch mit Graf Bernadotte hohe Zahlen an, gibt praktisch alle frei! Was ist in diesen wenigen Stunden geschehen? Die Erklärung dürfte auf der Hand liegen. In Hartzwalde verhandelte noch der allgewaltige Himmler mit dem Vertreter des Weltjudentums, das er wohl als Inkarnation alles Bösen ansah. Es ist also verständlich, daß er nicht sofort allen Wünschen nachgibt. Ein Paar Stunden haben jedoch genügt, um am nächsten Morgen dem schwedischen Königsneffen das zu konzedieren, was er den Juden gegenüber nicht aussprechen zu können glaubte. Himmler hatte dem Vertreter des Welt-judentums gegenüber eine Rechtfertigung der nationalsozialistischen Juden-Politik versucht. Es war eine aus Verzweiflung gestammelte Beichte geworden. Innerlich muß Himmler ja schon in Hartzwalde zur Freigabe aller Juden bereit gewesen sein. Daß er seinen Beschluß dem Grafen Bernadotte gegenüber aussprach und ihm gestattete, mitzunehmen „was er nur könne“, also alle, ist nur eine Bestätigung der Auffassung Masurs, der Himmler für intelligent, kalt und berechnend hielt.

Festzuhalten ist, daß Himmler in Hartzwalde im wesentlichen seine frühere Linie des Entgegenkommens im Prinzipiellen eingehalten hat. Die schwedischen Autobusse, die damals schon rollten, waren nicht in Gang gekommen, weil Hartzwalde ein eindrucksvoller Abschluß der Himmlerschen Politik der Zugeständnisse gegenüber Schweden gewesen war, sondern sie rollten als Ergebnis einer langen Kette von Bemühungen verschiedener Kräfte, die Hartzwalder Gesprächspartner mit eingeschlossen. Sie rollten seit dem 5. März 1945. Zug um Zug war diese schwedische Hilfsexpedition unter Führung des Vizepräsidenten des schwedischen Roten Kreuzes, des Grafen Bernadotte, stehende, schwedischen Folke vom Staat getragene Aktion ausgebaut worden. Das Personal bestand zum überwiegenden Teil aus Freiwilligen der Armee, die Ausrüstung stammte aus Armeebeständen, die Kosten trug der Staat. Der Graf mußte sich in seinen Verhandlungen an Ort und Stelle an die allgemeinen Direktiven des Außenministers halten, die schwedische Gesandtschaft nahm aktiv teil an den Unterhandlungen, die zur Regelung der Tätigkeit der Expedition notwendig waren. 100 Autobusse mit ca. 250 Mann Besatzung waren unter Führung des Obersten Gottfrid Björk über Seeland — Fühnen — Jütland nach Norddeutschland gerollt, wo sie sich in den Tagen zwischen dem 12.

und 14. März im Hauptquartier Friedrichsruh bei Hamburg sammelten.

Am 12. 3. war auch Graf Bernadotte dort eingetroffen. Das schwedische Außenministerium hatte die Gesandtschaften Amerikas, Großbritanniens und der Sowjetunion in Stockholm über Zweck und Ziel dieser schwedidischen Expedition informiert, wobei diese zwar keinen Einspruch erhoben hatten, aber auch keine Garantien dafür abzugeben bereit waren, daß die alliierten Streitkräfte — im Wesentlichen also die Luftwaffe — das humanitäre Rettungswerk nicht stören würden. Auch von jüdischer Seite waren den Alliierten die Lager bezeichnet worden, wo sich Juden befanden mit der Bitte, diese Lager zu schonen. Auf alliierter Seite glaubte man nicht weiter als bis zu allgemeinen Versicherungen gehen zu können, Luftangriffe auf die auf alliierten Wunsch weiß gestrichenen Autobusse zu vermeiden und man sprach dort die Erwartung aus, von den Schweden mit Zeittabellen und Angaben der Fahrtwege der Häftlinge aus den einzelnen Lagern auf dem Laufenden gehalten zu werden.

Das Warten auf alliiertes Geleit verursachte Verzögerungen in der Herbeischaffung von Lebensmitteln, Brennstoff usw., die mit Schiffen aus Schweden über Lübeck nach Friedrichsruh geschafft werden mußten.

Um die Monatswende März/April waren die Transporte der Skandinavier nach Neuengamme, um die in der vorbereitenden Phase des Rettungswerks so heiß gerungen worden war, im wesentlichen abgeschlossen. Zugleich hatten auch die schwedischen Rotkreuzvertreter die Erlaubnis erhalten, sich im Lager aufzuhalten. Dort waren damals schätzungsweise 7000 Skandinavier gesammelt, 1700 schon früher interniert, etwa 600 durch deutsche Hilfe hingeschaft. Zwischen dem 15. und 17. März rollten auch schon Transporte Befreiter nach Norden ab, z. B. 2000 Norweger und 200 Dänen; zwischen dem 19. und 24. 3. konnten 700 Dänen nach Norwegen „gebucht“ werden! Das dänische Rote Kreuz holte sich aus der Masse der Skandinavier 650 Kranke und 250 Nicht-Skandinavier heraus, und auch die 450 dänischen und norwegischen Juden, deren Befreiung im wesentlichen dem Grafen Bernadotte zu verdanken war, konnten abtransportiert werden.

Aber es erwies sich ständig, daß Himmlers prinzipielle Zusagen nicht immer in praktische Aktionen umgesetzt werden konnten. Dafür war das Chaos, das Gegeneinander der Befehle, die Schwierigkeit auch der Befehlsübermittlung, ja vielleicht auch Himmlers schwankende Haltung zwischen Ungehorsam und Vasallentreue schon zu groß. So hatte Günther seinen Emissär Kersten Anfang März nach Berlin geschickt, wo er, wie von Post am 1. 3. an den Gesandten Richert schreibt, Himmler für die Überführung der in Neuengamme internierten Skandinavier nach Schweden gewinnen sollte. Bernadotte notiert in seinen gleichzeitigen Aufzeichnungen, es habe Mühe gekostet, Himmlers prinzipielle Zugeständnisse durchzusetzen. Ein typisches Beispiel hierfür sind die 450 dänischen Juden von Theresienstadt, gegen deren Abtransport nach Neuengamme sich Kaltenbrunner trotz Himmler-Befehl unter Berufung auf den Führer-Befehl widersetzte. Das Tauziehen dauerte so lange, daß die letzte schwedische Rotkreuzkolonne Theresienstadt erst am 15. 4. verlassen konnte; zu dem Zeitpunkt war die russische Offensive bereits soweit vorgeschritten, daß am Tage darauf eine Verbindung zwischen Nord-und Süddeutschland nicht mehr bestand. Am 21. 4. gibt Schellenberg, der noch einige Tage die Verbindung zum Grafen Bernalotte hält, seinem Mitarbeiter Franz Göring in Berlin telefonisch den Befehl, bei weiteren Abtransporten aus den Lagern weiteste Maßstäbe anzulegen. Himmler habe in der Hartzwalder Verhandlungsnacht entschieden, daß sämtliche Frauen aus Ravensbrück abzutransportieren und den Schweden zu übergeben wäre. Himmler hatte dieses Zugeständnis, laut Weißbuch, am 21. 4. morgens früh dem Grafen Bernadotte in Hohenlychen gemacht und ihm bei ihrer letzten Begegnung in der Nacht vom 23. auf den 24. 4. in Lübeck gesagt, er solle „was er nur könne“ mit nach Hause nehmen, inklusive die dänischen und norwegischen Häftlinge.

Franz Görings Bericht über die Ausführung der Direktive seines Chefs Schellenberg bezüglich der Ravensbrücker Frauen ist aber wiederum typisch für die Situation. Er kann sich in Ravensbrück persönlich davon überzeugen, wie wenig zugkräftig ein Himmler-Befehl nun schon sein kann, und welch zäher Arbeit es oft bedarf, die unteren Instanzen zum Mitgehen zu bewegen. In Ravensbrück saßen damals noch 9000 Polinnen, 1500 Französinnen, Belgierinnen, Holländerinnen und Frauen anderer Nationen, die für die genannte Aktion allerdings nicht in Frage kamen. Der Lagerleiter weigerte sich zunächst strikt, die Polinnen aus-

zuliefem, indem er sich hinter einem Führerbefehl verschanzte: das Aktenmaterial und die Kartei über die Gefangenen habe er bereits verbrennen lassen. Hier hatte der Vernichtungsprozeß also schon eingesetzt! Schließlich ließ er sich zum Versprechen bewegen, die Häftlinge am nächsten Tag mit Trecks nach Malchow abzustellen, wo die Schweden sie in ihre Kolonnen aufnehmen sollten. Als Franz Göring in Malchow eintraf, erwies es sich, daß die Kolonnen inzwischen mit dem Abtransport der Skandinavier aus Neuengamme beschäftigt waren;

schließlich konnten doch noch 17 Autobusse des Dänischen, Schwedi-

sehen und Internationalen Roten Kreuzes für die Ravensbrücker nach Malchow abgezweigt werden; als sie dort ankamen, waren aber keine Häftlinge da! Immer unter Berufung auf den Führerbefehl (der sich später als Befehl Kaltenbrunners herausstellte) hatte der Lagerleiter die Verabredung gebrochen. Es bedurfte eines telefonischen Anrufs Franz Görings aus dem Arbeitszimmer des Lagerleiters nach dem Sonderzug Steiermark und der dringenden Bitte an Dr. Brandt, eine sofortige Entscheidung Himmlers durchzugeben; Brandt rief alsbald zurück, die Häftlinge wären nach Malchow in Marsch zu setzen. Dort aber gab es neue Schwierigkeiten: die Autobusse reichten bei weitem nicht, obwohl ununterbrochen, Tag und Nacht, abgefahren wurde. Schließlich konnte die deutsche Reichsbahn dazu überredet werden, Wagen für 4000 Personen zur Verfügung zu stellen: eine großartige Leistung dieser Behörde, die hier wie seinerzeit bei den großen Umsiedlungen Deutscher aus dem Osten — dort in Eiseskälte, hier inmitten der Auflösung aller Ordnung — Hervorragendes an Präzision und Pflichterfüllung geleistet hat. Franz Göring „fand“ dann auch noch in der Nähe von Hamburg 960 Jüdinnen, 240 Französinnen und 790 Polinnen in einem Lager, die aus Neuengamme dorthin geraten waren und brachte sie gleichfalls mit Hilfe der Reichsbahn, unter Führung einer jüdischen Lagerinsassin, nach Padborg an die dänisch-deutsche Grenze, wo sie vom dänischen Roten Kreuz in Empfang genommen wurden.

Die oben geschilderten Vorgänge sind ein Beispiel für die Schwierigkeiten im einzelnen bei der Durchführung der Transporte. Diese Schwierigkeiten sind auch mit ein Grund dafür, daß es so viele Anwärter auf die Ehre der Errettung gibt: manche von ihnen können Ursache und Wirkung nicht unterscheiden. Mit anderen Worten: die Überwindung des persönlichen Widerstandes eines untergeordneten Beamten wird leicht der Erreichung prinzipieller Befehle Himmlers gleichgestellt. Es ist selbstverständlich, daß bei jedem Abtransport Verhandlungen geführt werden mußten, ob sie aber überhaupt geführt werden konnten, das wurde letzten Endes nur von Himmler selbst entschieden.

In diesem Zusammenhang kann noch einmal auf das Problem Ravensbrück zurückgegriffen werden. Franz Göring berichtet, der Lagerkommandant habe ihm unter vier Augen anvertraut, daß er eine besondere Gruppe von Frauen auf ausdrücklichen Befehl beseitigen solle: an 54 Polinnen und 17 Französinnen seien „Versuche“ durchgeführt worden.

Franz Göring ließ sich vom Vorgang überzeugen und machte den Kommandanten dann darauf aufmerksam, daß er dem Vernichtungsbefehl nicht eher Folge leisten dürfe, bis Himmlers Entscheidung in dieser speziellen Frage vorliege. Von Lübeck aus bat er um eine möglichst umgehende Entscheidung Himmlers, wobei er Dr. Brandt wissen ließ, daß die übrigen, bereits zur Entlassung anstehenden Frauen von diesen Versuchen Kenntnis hätten. Himmler entschied, daß auch diese Frauen von den Schweden abzutransportieren wären.

Die letzten Transporte hatten Ravensbrück schon unter sowjetischem Artilleriebeschuß verlassen. Aber auch die Westalliierten schossen! Noch am 16. März — so berichtet die schwedische Zeitung „Dagens Nyheter“

in einem Erinnerungsartikel (v. 12. 4. 55) zum Zehnjahrestag der schwedischen Rettungsexpedition — sei aus London die telegraphische Mitteilung gekommen, daß keine formelle Garantie für die Schonung der Transporte gegeben werden könne. Immerhin solle Schweden die Briten über die Fahrtrouten seiner Transporte auf dem Laufenden halten. Die schwedische Regierung beschloß hierauf, Rettungskorps und Schiffe ohne Geleit und ohne positive alliierte Garantie arbeiten zu lassen.

Allmählich mußte man, so schreibt das Blatt weiter, die bittere Erfahrung machen, daß die eindringlichen Appelle, den alliierten Luftangriffen zu entgehen, nicht den erforderlichen effektiven Erfolg hatten.

Die Transporte waren zahlreichen Bombenangriffen ausgesetzt, sowohl die Mitglieder der Hilfsaktion als auch zahlreiche Häftlinge vieler Nationen mußten unter Gefahr für ihr (eben erst gerettetes!) Leben in Wäldern und Ruinen Schutz suchen. Am 25. April wurde eine schwedische Kolonne bei Wismar-Schwerin bombardiert, diesmal aus einer Höhe von nur 25 Metern — obwohl die Autobusse weit kenntlich als schwedische ausgewiesen waren! Ein Schwede wurde getötet, ein Leutnant schwer verwundet. Auch 26 fremde Häftlinge kamen bei diesem Angriff ums Leben — es waren französische Frauen auf dem Weg nach Hause.

Kurz darauf traf der Tod aus der Luft 20 Personen des schwedischen Transports bei Plön.

Ungefähr 3000 Häftlinge warteten um die Monatswende April/Mai immer noch auf den Abtransport, aber die Luftangriffe wurden mit der Zeit so schwer, daß das schwedische Rote Kreuz mit seinen Transporten nun überhaupt nicht mehr weiterkam. Trotzdem wurde alles versucht, um die Aktion zu Ende zu führen. In den letzten Wochen waren dänisches Personal und dänische Wagen anstelle des schwedischen Personals eingerückt, dessen kontraktmäßige Dienstverpflichtung Anfang April abgelaufen und das nach Schweden zurückgekehrt war. Am 5. Mai 1945 stellt Graf Bernadotte in seinen Berechnungen fest, daß mit diesem Tage etwa 19 000 Personen aus 27 verschiedenen Nationen durch die schwedische Rettungsexpedition nach Schweden übergeführt worden sind.

* Seit dem Hartzwalder Treffen am 21. 4. 45 spielen nun aber auch Verhandlungen politischer Natur in das schwedische Rettungswerk hinein. Aufnahme und Abtransport der befreiten Häftlinge mischen sich mit Kapitulationsverhandlungen. Was im Vorhergehenden als Spekulation Schellenbergs und Wunschbild Himmlers umrissen worden ist, gewinnt hier greifbaren Ausdruck. Auf dem Hof, ehe er das Gutshaus Hartzwalde betritt, fragt Himmler seinen Arzt unvermittelt, ob dieser Beziehungen zu General Eisenhower habe: er wolle Waffenstillstandsverhandlungen mit den Westalliierten einleiten — den Kampf gegen den Osten jedoch weiterführen! Kersten lehnt mit der Begründung ab, er wäre Arzt und nicht Politiker. Er verweist jedoch auf den Grafen Bernadotte. Mit diesem scheint Himmler beim anschließenden Frühstück in Hohenlychen entgegen seiner Kersten gegenüber geäußerten Absicht, über diese Frage nicht gesprochen zu haben. Dies hat dagegen Schellen-berg getan — und den Grafen skeptisch gefunden, es wäre schon zu spät. Schellenberg nimmt ferner für sich in Anspruch, unter Ausnutzung „weitgehender Vollmachten“ Himmlers, bereits beim ersten Treffen mit dem Grafen, also Mitte Februar in Berlin, die Frage „weitgehend offen“ besprochen zu haben, daß nämlich Himmler geneigt wäre, mit General Eisenhower Friedenskontakte aufzunehmen. Aus diesen Gesprächen schließt Schellenberg auf die Bereitwilligkeit des Grafen, sich der Vermittlerrolle hierbei zu unterziehen. Dem Reichsführer Himmler dürfte der Graf, der mit einer Amerikanerin verheiratete Neffe des schwedischen Königs, ein persönlich liebenswürdiger und integrer Mann mit den weitläufigen internationalen Beziehungen seines Standes, natürlich als außerordentlich geeignet für diese Aufgabe erschienen sein. Seine Funktion als Vizechef des Schwedischen Roten Kreuzes dürfte seiner Person noch ein besonderes Gewicht gegeben haben. Am 22. 4. wird Schellenberg — immer nach seinen eigenen Angaben — von Himmler erneut zum Grafen geschickt, um „offen zu sprechen“, d. h. um ihm mitzuteilen, daß Himmler nunmehr bereit wäre, den Grafen Bernadotte offiziell um die Überbringung des Kapitulationsangebots an die Westmächte zu bitten. Das schwedische Weißbuch führt diesen Entschluß des Reichs-führers auf die an diesem Tage erfolgte Erklärung Hitlers zurück, in Berlin bleiben und diese Stadt bis zum Letzten verteidigen zu wollen, woraus Himmler den Schluß gezogen habe, nun könne er die Vasallen-treue fahren lassen und Deutschland retten, denn Hitlers Leben gehe wohl (dies sagt er nachher auch zum Grafen) in wenigen Tagen zu Ende. Diesen Eindruck dürfte Himmler wohl auch die letzte Geburtstagsfeier im Berliner Bunker vermittelt haben, worauf er sich auf dem Hartzwalder Hof unmittelbar an Kersten mit der Frage nach dessen etwaigen amerikanischen Beziehungen wandte. Schellenberg aber findet den Grafen an diesem 22. 4. weder in Friedrichsruh, noch in Lübeck oder Flensburg, sondern erst in Apenrade auf dänischem Gebiet und verabredet mit ihm — er stellt sich erneut zur Verfügung, telefonisch ein letztes Treffen mit dem Reichsführer. Dieses vierte Treffen zwischen beiden findet im Beisein Schellenbergs um 23. 10 Uhr am 23. 4. 45 in Lübeck im schwedischen Konsulat statt. Graf Bernadotte erklärt sich — darin stimmen Weißbuch und Schellenberg überein — unter der Bedingung zur Vermittlung bereit, daß die Kapitulation auch in Norwegen und Dänemark erfolgen müsse, ja Schellenberg präzisiert des Grafen Stellungnahme noch dahingehend, daß er die entscheidende Rechtfertigung für die Übernahme dieses Auftrages darin sehe, daß es der schwedischen Regierung wohl auch in erster Linie darum zu tun sein dürfte, den nordischen Raum vor sinnloser Zerstörung durch eine Weiterführung des Krieges zu bewahren. Entgegen der ursprünglichen Absicht, den Grafen persönlich um einen Flug zu Eisenhower zu bitten, wird nach langen Überlegungen beschlossen, das Vermittlungsangebot an die schwedische Regierung zu richten. Himmler betont dabei erneut, dieses Angebot gelte nur für den Westen, es sei den Deutschen nicht möglich — vor allem ihm nicht — gegenüber den Russen zu kapitulieren. „Wir werden“, so sagt Himmler, „im Osten so lange weiterkämpfen, bis die Front der Westmächte die kämpfende deutsche Front sozusagen abgelöst hat“. Bei Kerzenlicht verfaßt Himmler dann -folgendes eigenhändige Schreiben an den schwedischen Außenminister Günther:

„ 24. /V. 1945. Exzellenz! leit habe Graf Bernadotte gebeten, eine Anzahl von Problemen, über die idh heute mit ihm sprechen konnte, Ihnen vorzutragen. Nehmen Sie im Voraus meinen aufrichtigen Dank entgegen, daß Sie diesen Dingen Ihr gütiges Interesse zuwenden. Mit dem Ausdrudt meiner vorzüglichsten Hodtachtung bin ich Euer Exzellenz sehr ergebener H. Himmler“.

Auf schwedischem Boden

Am gleichen Tage, am 24. 4. 45, fliegt Graf Bernadotte mit diesem Schreiben nach Stockholm.

Schellenberg hat den Grafen bis Flensburg begleitet und schlägt sein Quartier nun im dänischen Fröslev auf, wo sich ein Lager in deutscher Verwaltung befindet und wohin seit dem 20. 4. auf deutschen Befehl und unter deutscher Regie die skandinavischen Häftlinge aus Neuengamme gebracht worden sind, weil man dieses Lager bei der zu erwartenden Überrollung durch die alliierten Truppen geräumt haben will. Er habe, so schreibt Schellenberg, im Besitz einer Sondervollmacht Himmlers, dem SD-Standartenführer Bovensiepen die Überführung sämtlicher norwegischer und dänischer Häftlinge nach Schweden, auf Grund einer Lübecker Zusage Himmlers an Bernadotte, befohlen, und verboten, Todesurteile auszusprechen bzw. zu vollstrecken. Auch solle Bovensiepen eine Besprechung mit Best, dessen Intentionen laut Schellenberg in gleicher Richtung gehen dürften, vorbereiten. Damit nun schiebt sich die weitere Rettungstätigkeit aus dem deutschen Raum hinaus und im Zusammenhang mit den kriegerischen Ereignissen ebben auch die Transporte der restlichen Flüchtlinge ab.

Als die Waffen schon schweigen, von Johanni 1945 bis zum Herbst gleichen Jahres, läuft dann aber noch eine schwedische Aktion ab, die im wesentlichen dem Abtransport von rund 3000 Juden aus dem Lager Bergen-Belsen gilt, aus dem Lager, um welches seinerzeit von den Juden besonders heftig gerungen worden war. Diese Transporte erfolgen in der Regie der Zivilen Schutzorganisation, unter Beteiligung des Roten Kreuzes. Fünf schwedische Schiffe bringen die Befreiten, die von UNO-Personal aus Hannover gebracht worden sind, nach Hälsingborg in Schweden, von wo die Kranken weiter nach Göteborg geschickt werden. Was die Befreiten zuerst von Schweden zu sehen bekommen, sind verschiedene Formen der Fürsorge: eine Bade-Bataillon, Rotkreuzvertreter, Ärzte, Sanitäter und Krankenschwestern empfangen sie bereits in Lübeck.

Es empfängt sie — und empfing auch alle die fast 20 000 vor ihnen Gekommenen — die Ordnung eines in zwei Weltkriegen nicht erschütterten Staatswesens, diese eine wohltuende Ruhe ausstrahlende Atmosphäre, die der Schwede mit dem Begriff Sicherheit umreißt: politische, wirtschaftliche und soziale Gesichertheit. Es empfängt die aus der Zerstörung Kommenden die Weite und Großartigkeit der schwedischen Natur. Es empfängt die von einem totalitären Staat Geknechteten die Gastfreiheit und der ganze, wohl funktionierende Apparat des wohlwollenden Sozialstaates. Es nimmt sich ihrer eine Staatskirche an, die sie unabhängig von ihrem Glauben, kraft ihres vom Staat erhaltenen Auftrags bei sich registriert und der Sorge anderer Instanzen um Leib und Seele der ins Land strömenden Gäste nun auch das Dokument der Existenzberechtigung zufügt. Der Flüchtling bekommt nun, entsprechend einem im Osten geläufigen Wort, daß der Mensch aus Körper, Seele und Paß bestehe, seinen Fremdenpaß.

Dieser Fremdenpaß ist das Dokument, mit welchem der Flüchtling das Lager verläßt und soweit er arbeitsfähig ist, den ihm von den Behörden beschafften Arbeitsplatz bezieht. Dieses Dokument knüpft an eine ältere nordische Tradition an, wie das demokratische Prinzip des Asylrechts hier überhaupt fest eingewurzelt ist.

Betrug die Zahl der Flüchtlinge vor dem Kriege nicht mehr als etwa 3000, so spricht die Tatsache, daß von den 250 000 im Arbeitsprozeß stehenden Ausländern seit Kriegsende 7 5 000 die schwedische Staatsangehörigkeit erhalten haben, eine beredte Sprache. Etwa 30000 Häftlinge direkt und rund 800000 indirekt sind durch schwedischen Einsatz während des Krieges gerettet und am Leben erhalten worden 1945 glaubte die Welt wohl, daß das Flüchtlingsproblem mit dem fürchterlichen Geschehen sein Ende gefunden habe. 1957 weiß sie, daß das apokalyptische Geschehen noch kein Ende hat. „Denn es ist kommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen?“

AUS DEM INHALT DER BEILAGEN:

Handbuch des Weltkommunismus

J. M. Bochenski:

„Die formale Struktur des Kommunismus"

J. M. Bochenski, E. G. Walter „Philosophische, soziologische und und G. Niemeyer:

wirtschaftstheoretische Grundlehren"

Gerhart Niemeyer:

„Politische Grundlehren"

John Reshetar: „Die Partei"

J. Reshetar, S. Possony und „Methodologie der Eroberung und des W. Kulski: Herrschens"

Jan Librach:

„Die Expansion des Re-iches"

Walter Kolarz:

„Die Nationalitäten"

Vladimir Gsovski: „Das Recht"

David J. Dallin: „Das Verbrechen und das Strafsystem"

Ralph James: „Die Wirtschaft"

Karl Wittfogel: „Die Bauern"

John Fizer: „Die Kultur"

J. M. Bochenski, J. Hay und W. Meysztowicz: „Die Religion"

W. W. Kulski: „Die Situation des Individuums"

Joseph M. Bochenski:

„Zur Kritik des Kommunismus"

Fussnoten

Fußnoten

  1. Bei der Nennung von Kerstens Wohnung in Stockholm taucht die Frage auf, wieso Himmlers Arzt plötzlich in Schweden Wohnung nehmen konnte. Kersten selbst berichtet, er habe Himmler glauben lassen, seiner unmittelbaren Einberufung in die finnische Armee könne er, nach Rücksprache mit dem finnischen Gesandten, nur dann entgehen, wenn man ihn in Stockholm finnische Verwundete behandeln ließe. Von dort könne er ohne Schwierigkeiten zu Himmler kommen.

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