In dieser Ausgabe fahren wir mit dem Abdruck aus „HANDBUCH DES WELTKOMMUNISMUS", herausgegeben von Professor Dr. J. M. Bochenski und Professor Dr. Gerhart Niemeyer, fort, das demnächst im Verlag Karl Alber, Freiburg/München, erscheinen wird. Sie lesen heute Kapitel VI: „Die Expansion des Reiches" (durch die Herausgeber gekürzt) und Kapitel VII: „Die Nationalitäten“. Beide Kapitel wurden durch die Herausgeber aus dem englischen Manuskript übersetzt.
A. Propagandaschlagworte
§ 1 . SELBSTBESTIMMUNG, BEFREIUNG DER VOLKER, FRIEDE Die sowjetische Regierung ist unermüdlich darum bemüht, die öffentliche Meinung der Welt davon zu überzeugen, daß sich ihre Außenpolitik auf die höchsten Prinzipien politischer Moral gründet.
Als angeblicher Hüter einer neuen Ära internationaler Beziehungen wies sie öffentlich die alten Methoden der Diplomatie zurück und erklärte sich selbst zum Kämpfer für den Grundsatz der Selbstbestimmung und der Befreiung aller Völker vom Joch des Kapitalismus und der Fremdherrschaft. Ganz besonders möchte Sowjetrußland als Führer und Schirmherr der werktätigen Klassen aller Länder, der unterdrückten Kolonialvölker und als der Friedensverteidiger gegenüber den „imperialistischen Kriegsbrandstiftern" erscheinen.
Selbstbestimmungsrecht der Völker:
„Volle Gleichberechtigung der Nationen; Selbstbestimmungsrecht der Nationen; Vereinigung der Arbeiter aller Nationen — dieses nationale Programm lehrt die Arbeiter der Marxismus, lehrt sie die Erfahrung der ganzen Welt und die Erfahrung Rußlands.“ (Lenin, über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, AW 4, S. 306).
Imperialismus:
„Der Imperialismus ist ebenso unser , Todfeind'wie der Kapitalismus." (Lenin, Eine Karikatur auf den Marxismus, AW 5, S. 316).
„Lenin bezeichnete den Imperialismus als . sterbenden Kapitalismus'.
Weshalb? Deshalb, weil der Imperialismus die Widersprüche des Kapitalismus bis zum höchsten Grad, bis zu den äußersten Grenzen steigert, jenseits deren die Revolution beginnt." (Stalin, FdL S. 11).
Befreiung:
„Der imperialistische Krieg hat gezeigt und die revolutionäre Erfahrung der letzten Jahre es wieder bestätigt; 1. Daß die nationalen und kolonialen Fragen von der Frage der Befreiung von der Macht des Kapitals untrennbar sind. 2. Daß der Imperialismus (das höchste Stadium des Kapitalismus) ohne die politische und wirtschaftliche Versklavung nicht-souveräner Nationen und Kolonien nicht bestehen kann.
3. Daß die nicht-souveränen Nationen ohne den Sturz der Macht des Kapitals nicht befreit werden können. 4. Daß der Sieg des Proletariats kein dauernder sein kann, solange die nicht-souveränen Nationen und Kolonien nicht vom Joch des Imperialismus befreit sind.“ (Stalin, Marxism and the National Question, New York 1942, S. 115.)
Friede und friedliche Koexistenz:
Eine der bemerkenswertesten Errungenschaften sowjetischer Außen-propaganda ist die Fähigkeit, sich gleichzeitig zweier entgegengesetzter Handlungsweisen für das gleiche Ziel zu bedienen (V § 2). Das ist besonders auffällig in bezug auf die russische Friedenspropaganda.
Lenin war ein ausgesprochener Anti-Pazifist und sah jedes Friedensprogramm, das nicht mit revolutionärer Agitation verbunden war, als einen „Betrug am Volke" an (Lenin AW 5, S. 257). In Übereinstimmung mit der Clausewitz'schen Formel war Krieg nach seiner Ansicht einfach eine Fortsetzung der Politik mit anderen, d. h. gewaltsamen Mitteln (vgl. Lenin AW 5, 193 ff. und III § 15). Die Theorie „gerechter Kriege", d. h.der „Befreiungs" -Kriege (s. GKP) ist von der bolschewistischen Partei niemals verworfen worden. Aber die kommunistische Propaganda betont mit bedeutend größerem Nachdruck den anderen Gedanken, daß nämlich die Sowjetunion ein Kämpfer für den Frieden sei, und daß von Seiten der kommunistischen Lehre einer friedlichen Koexistenz mit den kapitalistischen Ländern nichts im Wege stehe.
„Unsere Politik ist eine Politik des Friedens und des Ausbaus der Handelsbeziehungen zu allen Ländern. . . . wir wollen keinen Fußbreit fremden Bodens." (Stalin, Politischer Rechenschaftsbericht an den XVI. Parteitag, WW 12, S. 228— 229.)
In einem Interview mit Roy Howard von der New York Times (5. III. 1936) verneinte Stalin nachdrücklich, daß Sowjetrußland beabsichtige, sein System den Nachbarstaaten mit Gewaltmitteln aufzuzwingen:
„Howard: Bedeutet diese Ihre Erklärung, daß die Sowjetunion gewissermaßen ihre Pläne und Absichten aufgegeben hat, eine Weltrevolution zu bewerkstelligen?
Stalin: Wir haben niemals solche Pläne und Absichten gehabt."
Zwischen den beiden Weltkriegen war M. Litvinov als Kommissar des Auswärtigen mehrere Jahre lang einer der lautstärksten Verteidiger der Abrüstung, der kollektiven Sicherheit und der hohen Prinzipien des Völkerbundes.
Diese Haltung nahm man nach dem Kriege wieder ein. Sobald die sowjetischen Expansionspläne durch den Marshall-Plan, die Truman-Doktrin und die Nordatlantikpakt-Organisation vereitelt worden waren, nahm die Sowjetunion zu einer intensiven „Friedenspropaganda" als einer Waffe Zuflucht, die zeigen sollte, daß die neuen westlichen Verteidigungsmaßnahmen in Wirklichkeit Vorbereitungen für einen Angriffskrieg waren. Ein Komitee pro-sowjetischer Intellektueller veröffentlichte im Februar 1949 in Paris ein Manifest zur „Verteidigung des Friedens". „Friedenskongresse", die von Kommunisten und den mit ihnen sympathisierenden Intellektuellen, Schrift-steilem und Wissenschaftlern besucht waren, wurden in Paris und Prag abgehalten, (April 1949) und in Warschau (November 1950). Ein durch den Pariser Kongreß ernanntes ständiges Komitee richtete im März 1950 von Stockholm aus einen „Friedensappell" an alle Parlamente der Welt. Auf der III. Nationalen Friedenskonferenz der Sowjetunion in Moskau (November 1951) gab der Schriftsteller N. Tichonov, Vorsitzender des Sowjetischen Friedenskomitees, bekannt, daß die gesamte erwachsene Bevölkerung der Sowjetunion, 117 669 320 Menschen, den Stockholmer Appell unterzeichnet hätten. (New Times, Nr. 49, 1951, S. 24). Der Warschauer Friedenskon-
INHALT A. Propaganda-Schlagworte § 1. Selbstbestimmung, Befreiung der Völker, Friede B. Theorie § 2. Die Bedeutung des Krieges, der Revolution und Expansion in der kommunistischen Politik § 3. Der sofortige Friede und die Weltrevolution § 4. Das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker und der Friede ohne Annexionen. Die Verhandlungen von Brest-Litowsk § 5. Theorie und Praxis C. Die Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft über die nicht-russischen Nationalitäten des alten Zarenreiches § 6. Ukraine § 7. Weißrußland § 8. Transkaukasien a. Georgien b. Armenien c. Aserbeidschan D. Die Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft über die westlichen Nachbarländer Sowjetrußlands § 9. Überblick , § 10. Polen § 11. Die Baltischen Staaten a. Litauen b. Lettland c. Estland § 12. Finnland § 13. Tschechoslowakei § 14. Ungarn § 15. Rumänien § 16. Bulgarien E. Die östlichen Länder § 17. Der Nahe und Mittlere Osten; Überblick § 18. Türkei § 19. Iran § 20. Der Ferne Osten; Überblick § 21. China § 22. Korea F. Die kommunistische Internationale § 23. Die Komintern § 24. Die Kominform G. Zusammenfassung § 25. Ziele, Methoden und Ergebnisse der Expansion greß brachte einen „Weltfriedensrat" hervor, der im Februar 1951 in Berlin und im November des gleichen Jahres in Wien zusammen-trat. Die enge Verbindung zwischen dieser internationalen Propagandaaktion und der sowjetischen Politik zeigt folgendes Zitat:
. . die Sowjetunion hat,, getreu ihrer friedlichen Außenpolitik . . .
die die sowjetische Regierung seit Beginn des sowjetischen Staates unabänderlich verfolgt hat, Jahr um Jahr den Vereinten Nationen Vorschläge unterbreitet, die dazu bestimmt waren, den Frieden und die internationale Sicl^erheit zu stärken . . . 1948 und 1949 unternahm die sowjetische Regierung neue Schritte, um den Frieden zu stärken.
Sie appellierte an die fünf Mächte, ihre Rüstung zu beschränken . . .
und untereinander ein Abkommen zu schließen, um den Frieden zu stärken!“ (A. Y. Vysinskij, Rede vor dem politischen Ausschuß der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. X. 1950; Beilage zu „New Time s", Nr. 42, 1950, S. 3.)
„Entsprechend den Hoffnungen, die von Millionen Menschen gehegt werden . . . und um den Frieden zu stärken und um die internationale Sicherheit zu wahren, fordern wir den Abschluß eines Friedensdbkom mens unter den fünf Großmächten . . . Wir werden die Ablehnung durch die Regierung einer jeden der Großmächte, zum Abschluß eines solchen Abkommens zusammenzutreffen, als Beweis für die Angriffs-absichten seitens jener Regierung ansehen." (Appell des Weltfriedensrates, Berlin, Februar 1951; Beilage zu „New Times'', Nr. 10, 1951, S. 1.)
„Der Weltfriedensrat mißt den Ergebnissen die größte Bedeutung zu, die die große Unterschriftensammlung zugunsten eines Friedensabkommens zwischen den fünf Großmächten erbracht hat . . . Die 562 Millionen Unterschriften, die in 64 Ländern erhalten wurden, sind ein Beweis, daß der Appell das tiefste Sehnen der Völker richtig gedeutet hat . . ." (Resolution des Weltfriedenskongresses, Zweite Sitzung, Wien, November 1951; Beilage zu „New Times", Nr. 47, 1951, S. 3.)
Beim Begräbnis Stalins erklärte M a 1 e n k o v :
„Die Sowjetunion hat verfolgt und verfolgt weiterhin eine beständige Politik . . .des Friedens . . .des Kampfes gegen die Vorbereitung und Entfesselung eines neuen Krieges, (eine Politik) internationaler Zusammenarbeit und der Entwicklung von Handelsbeziehungen mit allen Ländern . . ." (S o v i e t P r e s s , 10. III. 1953.)
Derselben Linie folgte Chruev auf dem XX. Parteikongreß:
„Das Leninsche Prinzip der friedlichen Koexistenz von Staaten mit verschiedener sozialer Ordnung war und bleibt die Generallinie der Außenpolitik unseres Landes.“ (Chruscev, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag, XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 31.)
B. Theorie Die übliche Unterscheidung zwischen Außenpolitik und Innenpolitik läßt sich nicht auf die Sowjetunion anwenden. Sowjetrußland ist im Grunde nichts anderes als eine nationale Machtbasis für eine Gruppe von Menschen (III § 16), die eine Expansionsbewegung mit dem Ziel der totalen Kontrolle über alle menschlichen Gesellschaften aufgebaut haben. Die Kommunisten kämpfen einen „langdauernden Krieg" (V § 13 a) sowohl vor als auch während und nach ihrer Machtergreifung. Sie breiten ihre Macht aus mit Hilfe von Armeen und Diplomaten sowie auch mit der Unterstützung durch fünfte Kolonnen und unwissende Helfer unter ihren Opfern. Die „Außenpolitik" stellt somit nur einen technischen Aspekt ihrer Expansionsbewegung dar (V § 13 d), dasselbe gilt auch von der „Machtergreifung", „Koalitionsregierung" (III § 12) und selbst von der vollen Beherrschung der legislativen und administrativen Macht. Alle diese politischen Faktoren werden jeweils herangezogen, um das einzige Ziel der Kommunisten zu erreichen, das darin besteht, die Menschen und die menschlichen Gesellschaften als reine Werkzeuge in der Hand einer totalitären Macht zu versklaven (V § 11, § 21).
§ 2. DIE BEDEUTUNG DES KRIEGES, DER REVOLUTION UND DER EXPANSION IN DER KOMMUNISTISCHEN POLITIK Die Machtergreifung in Rußland durch die Kommunistische Partei brachte ein ganz neues Element in die überstaatlichen Beziehungen hinein. Nie hatte seit der Französischen Revolution eine Regierung offen ihre Absicht kundgetan, die allgemein anerkannten Normen internationalen Verhaltens zu verwerfen. In Lenins ersten offiziellen Verlautbarungen lassen sich drei Zielsetzungen als praktisch unzertrennliche Komponenten des kommunistischen Programmes deutlich herausheben:
1. Die Bildung einer Räte-Regierung der Arbeiter-, Bauern-, Soldaten-und anderen Deputierten, die „eine neue Form oder besser einen neuen Typus des Staates" darstellen (Lenin, AW 6, S. 57). die Diktatur des Proletariats verkörpern und die das Privateigentum von Grund und Boden sowie in der Industrie abschaffen.
2. Der sofortige Friedensschluß zwischen allen am Krieg beteiligten Ländern.
3. Die Entfesselung einer sozialistischen oder proletarischen Weltrevolution. Am 25. X. 1917, wenige Stunden nachdem die Provisorische Regierung gestürzt worden war, erklärte Lenin in einem Aufruf „An die Bürger Rußlands":
„Die Sache, für die das Volk gekämpft: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des gutsherrlichen Grundbesitzes, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetre'gierung, — diese Sache ist gesichert." (Lenin, SW 22, S. 1.)
Am folgenden Tag verlas Lenin auf dem II. Allrussischen Rätekongreß das „Dekret über den Frieden" zusammen mit einem Bericht über die „Friedensfrage“. Das „Dekret über den Frieden" war eine öffentliche Deklaration, die sich an die Regierungen und Bevölkerungen aller am Kriege beteiligten Länder wandte. Es schlug den Abschluß eines allgemeinen Waffenstillstandes vor, verkündete die sowjetische „Entschlossenheit, unverzüglich Bedingungen eines Friedens zu unterzeichnen, der diesen Krieg beendigt", und gab bekannt, daß die Sowjetregierung die Geheimdiplomatie abschaffe, Geheimverträge verschmähe, und daß sie sofort daran gehen werde, alle beschlossenen Geheimverträge zu veröffentlichen. Gleichzeitig wandte sich das Dekret an die Arbeiter Englands, Frankreichs und Deutschlands mit der Bitte, „uns durch ihre allseitige, entschiedene Aktion zu helfen, die Sache des Friedens und damit auch die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Massen der Bevölkerung von aller Sklaverei und aller Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen." (Lenin, AW 6, S. 409 f.)
Auf Grund dieser ersten Dokumente waren die am Kriege beteiligten Regierungen nicht in Zweifel darüber gelassen, daß in Rußland die Macht in die Hände einer Körperschaft gelangt war, welche auf dem Felde der internationalen Beziehungen nicht gemäß den damaligen Konventionen und allgemein anerkannten Regeln handeln werde. Es war offensichtlich, daß die neue Regierung sich in die inneren Angelegenheiten anderer Länder über den Weg revolutionärer Aufrufe an die ausländischen Arbeiter oder gar durch andere Mittel einzumischen beabsichtigte, daß sie sich keineswegs durch die vertraglichen Verpflichtungen der früheren russischen Regierungen gebunden fühlte und daß sie sich entschlossen hatte, Rußland aus dem Krieg herauszuführen um einen Preis, den keine andere Regierung in Erwägung ziehen konnte § 3. DER SOFORTIGE FRIEDE UND DIE WELTREVOLUTION Doch die bolschewistische Partei betrachtete den Friedensabschluß nicht als ein Endziel; Lenin und seine Genossen waren der Meinung, daß ein sofortiges Nachlassen der Feindseligkeiten am besten baldigen Revolutionsausbrüchen außerhalb Rußlands den Weg bahnen werde.
Gleich von Anfang an erblickte Lenin im Krieg eine ideale Ausgangslage, um sowohl die russische Revolution wie-auch die Weltrevolution zu lancieren.
Schon im November 1914 stellte die bolschewistische Partei die Losung auf: „Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg“ (Lenin, AW 6, S. 20). Der Krieg war nach Lenins Auffassung auf „beiden Seiten . . . imperialistisch“ (ebd., S. 5). Obwohl der Führer der Bolschewik! allem Anschein nach durch die Märzrevolution überrascht worden war, nahm er bald die den Provisorischen Regierungen des Fürsten Lwow und Kerenskis anhaftende Schwäche wahr und arbeitete unnachgiebig für deren Ersetzung durch eine Räteregierung, d. h. durch seine eigene. Auf diese „zweite Etappe“ der Revolution (ebd., S. 23) sollten nun ihrerseits proletarische Revolutionen in anderen Ländern folgen.
Zu jener Zeit waren Lenin und die bolschewistische Partei fest davon überzeugt, daß in vielen Ländern, ganz besonders in Deutschland, die Revolution unmittelbar bevorstand. Im März 1917, am Vorabend seiner Rückkehr nach Rußland über Derutschland, schrieb Lenin in seinem „Abschiedsbrief an die Schweizer Arbeiter":
„Dem russischen Proletariat ist die große Ehre zuteil geworden, die Reihe von Revolutionen, die der imperialistische Krieg mit objektiver Unvermeidlichkeit hervorruft, zu beginnen ... Das russische Proletariat kann die sozialistische Revolution mit seinen eigenen Kräften allein nicht siegreich vollenden . . . Es kann seinem wichtigsten, seinem zuverlässigsten Bundesgenossen, dem europäischen und amerikanischen sozialistischen Proletariat die Bedingungen für den Eintritt in entscheidende Kämpfe erleichtern. . . . Die objektiven Bedingungen des imperialistischen Krieges sind eine Bürgschaft dafür, daß die Revolution sich nicht auf die erste Etappe der russischen Revolution, daß sie sich nicht auf Rußland beschränken wird." (Lenin, AW 6, S. 18— 20.)
Die Bolschewiki, die den „imperialistischen Krieg" gleichsam als einen idealen Rahmen anschauten, der der Weltrevolution nur förderlich sein konnte, erblickten die besten Mittel, um dieses Ziel zu erreichen, in der sofortigen Beendigung der Feindseligkeiten und in unmittelbaren Verhandlungen über einen „gerechten und demokratischen Frieden ohne Annexionen und ohne Kriegsentschädigungen" (Lenin, „Dekret über den Frieden", AW 6, S. 408 ff).
Die Gründe der Kommunisten für einen Friedensschluß entsprangen keineswegs einer pazifistischen Haltung. Lenin war entschieden Antipazifist; 1917 schrieb er:
„Wir sind keine Pazifisten . . . wir haben es stets als Unsinn bezeichnet, daß das revolutionäre Proletariat auch revolutionären Kriegen abschwören sollte, die sich im Interresse des Sozialismus als notwendig erweisen können". (Lenin AW 6, S. 18.)
Die Bolschewiki hatten nur verächtliche Worte übrig für „sozialistische Pazifisten" (Lenin, AW 5, S. 261) oder für solche Sozialisten, die den Frieden um seiner selbst willen liebten und Frieden und soziale Revolution nicht als ein und dieselbe Sache zu erkennen vermochten. Lenin sah » . . keinen Ausweg (aus diesem Krieg), außer der Revolution des Proletariats". (AW 6, S. 120.) „ .. . man kann keinen demokratischen, gewaltlosen Frieden erlangen . . ., wenn nicht die Staatsmacht auf eine andere Klasse, auf das Proletariat übergeht", (ebd. S. 56.)
Die Machtergreifung und die Beendigung des Krieges waren, vom bolschewistischen Standpunkt aus gesehen, unzertrennliche und fast gleichzeitige Operationen. Andererseits erklärt die feste Überzeugung von einem bevorstehenden Aufstand der Arbeiter Deutschlands und anderer westlicher Länder im Verein mit dem unverkennbaren Druck von selten der russischen Massen, der sich am besten in dem Schlagwort „Nieder mit dem Krieg" manifestierte, Lenins unnachgiebiges Einstehen für einen Frieden um jeden Preis. Mit dieser Gesinnung trat er an die Waffenstillstands-und Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten in Brest-Litowsk heran.
§ 4. DAS PRINZIP DER SELBSTBESTIMMUNG DER VOLKER UND DER FRIEDE OHNE ANNEXIONEN.
DIE VERHANDLUNGEN VON BREST-LITOWSK.
Es war einer der ersten offiziellen Akte der Sowjetregierung, das Recht aller Nationen und Völker auf ihr eigenes Schicksal zu proklamieren. Die am 15. XL 1917 veröffentlichte „Deklaration der Rechte der Völker" erklärte, daß alle Völker des ehemaligen Zarenreiches jetzt gleichberechtigt und souverän seien; sie erhielten das Recht, sich von Rußland loszutrennen und eigene unabhängige Staaten zu bilden. Diese Proklamation schien eine neue Ära gegenseitiger Selbst-achtung in den zwischenstaatlichen Beziehungen einzuleiten.
Doch das Prinzip der Selbstbestimmung wurde von der bolschewistischen und folglich von der Sowjetregierung nicht im Sinne einer freien Entscheidung einer nationalen oder ethnischen Mehrheit über ihre künftige Zugehörigkeit oder Regierungsform verstanden. Was sie in der Tat damit meinten, war die Ersetzung des Volkswillens durch den Willen des „Proletariats". Bekundeten jedoch Arbeiter und Bauern ihre Übereinstimmung mit der allgemeinen Haltung ihres Volkes und äußerten sie den Wunsch, sich von Rußland loszutrennen — wie es in den meisten nicht-russischen Territorien der Fall war —, so wurde in einem weiteren dialektischen Schritt der Wille der bolschewistischen Partei an die Stelle desjenigen des „Proletariats" gesetzt. Ein in die Augen fallendes Beispiel dieses dialektischen „Doppel-Denkens" läßt sich in Lenins Schrift „Sozialistische Revolution und Selbstbestimmungsrecht der Nationen" aufzeigen. Dort heißt es:
„Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen bedeutet ausschließlich das Recht auf Unabhängigkeit im politischen Sinne, auf die Freiheit der politischen Abtrennung von der unterdrückenden Nation. Konkret bedeutet diese Forderung der politischen Demokratie die volle Freiheit der Agitation für die Abtrennung und die Lösung der Frage über die Abtrennung durch das Referendum der betreffenden, d. h.der unterdrückten Nation, so daß diese Forderung nicht der Forderung der Abtrennung, der Zerstückelung, der Bildung kleiner Staaten gleich ist. Sie ist nur ein folgerichtiger Ausdruck für den Kampf gegen jegliche nationale Unterjochung.“ (Lenin, AW 5, S. 286.)
Kurz vor der Machtübernahme gab die Allrussische Konferenz der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands folgende Erklärung zu ihrer „Resolution über die nationale Frage":
„Die Frage des Rechts der Nationen auf freie Lostrennung darf nicht mit der Frage verwechselt werden, ob sich eine Nation zu diesem oder jenem Zeitpunkt unbedingt lostrennen muß. Die Frage muß von der Partei des Proletariats in jedem einzelnen Fall vollkommen selbständig, je nach der gegebenen Situation, entschieden werden, je nachdem was im Interesse der sozialen Entwicklung als Ganzes und im Interesse des Klassenkampfes des Proletariats für den Sozialismus liegt.“ (Stalin, Marxism and the National and Colonial Q u e s t i o n , Appendix, S. 269; London 1947.)
Dieses Doppelmanöver, das einerseits im Prinzip die souveränen Rechte der Völker proklamiert, sie aber in Wirklichkeit verweigert, wurde nach der Kommunistischen Revolution ständig ausgefühlt. Dieser Aspekt der Frage wird in Kapitel VII ausführlich dargelegt.
Ein sprechendes Beispiel, wie diese Prinzipien angewendet weiden, bietet die Haltung der Kommunisten bei den Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk im Jahre 1917. Dort sah sich die russische Delegation der deutschen Erklärung gegenübergestellt, daß die nichtrussischen Völker (Polens, der Baltischen und Ukrainischen Länder) das Begehren geäussert hätten, sich von Rußland loszutrennen. Die kommunistischen Delegierten gerieten darob in größte Bestürzung; ein Delegationsmitglied, der Flistoriker Pokrowskij, sagte:
„. . . es war unmöglich, von einem Frieden ohne Annexionen zu sprechen, wenn über achtzehn Regierungen (Verwaltungsbezirke) aus dem Russischen Reich herausgerissen wurden.“ (Max Hoffmann, War Diaries and Other Papers, London 1929, Bd. 2, S. 203.) Eine ähnliche Ansicht vertrat Trotzkij, als er, Joffe ablösend, die Führung der Delegation übernahm. Er schrieb an Lenin:
. Es ist unmöglich, ihren Frieden zu unterzeichnen . . . Sie haben bereits mit den fiktiven Regierungen Polens, Kurlands, Litauens und anderen eine Übereinkunft betreffend territorialer und militärischer Zugeständnisse und Zollverträge getroffen. Im Hinblick auf Selbstbestimmung sind diese Provinzen in den Augen der Deutschen bereits unabhängige Staaten . . (zitiert von John W. Wheeler Bennet, The Forgotten Peace, New York 1939, S. 185, 186;
dem genannten Autor persönlich von Trotzkij bestätigt im September 1937.)
Trotzkij's vorgeschlagene Gegenpolitik kam in der bekannten Formel „Weder Krieg noch Frieden" zum Ausdruck. Doch hatte sich Lenin bereits zu einem Separatfrieden um jeden Preis entschlossen. Am 20. I. 1918 führte er mit seinen 21 „Thesen über den Abschluß eines Separatsfriedens" einen Gegenschlag, worin er seine realistische Beurteilung der Lage vorlegte:
„Der einzig wahre revolutionäre Krieg würde im Augenblick ein Krieg gegen alle kapitalistischen Länder sein . . . Aber wir können ihn jetzt nicht führen. Wir würden für die Befreiung Polens, Litauens und Lettlands zu kämpfen haben. Jeder Marxist, wenn er kein Renegat ist, muß das Interesse des Sozialismus über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung stellen." (Lenin, 20. 1. 1918, abgedruckt in Prawda Nr. 34; engl. Text siehe The Strategy and Tactics of World Communism, Suppl. I, SS. 32— 33; Committee on Foreign Affairs, House Document Nr. 619, Washington 1948.)
Aber erst nach einem weiteren Vormarsch der deutschen Truppen in Rußland ging die Sowjetregierung auf alle deutschen Bedingungen ein und unterzeichnete den Friedensvertrag von Brest-Litowsk (3. III.
1918). Durch diesen Vertrag zusammen mit dem zusätzlichen am 27. VIII. 1918 unterzeichneten Abkommen anerkannte die Sowjetregierung die Abtrennung Polens, der Ukraine, Finnlands, der baltischen Provinzen so wie auch die Abtretung der kaukasischen Territorien von Ardahan, Kars und Batum an die Türkei.
Es war dies eine große politische und territoriale Katastrophe, wie sie Rußland seit der Befreiung von der Tatarenherrschaft nicht erlebt hatte. Doch besteht kaum ein Zweifel darüber, daß der Friede von Brest-Litowsk das bolschewistische Regime rettete. Ein deutscher Vormarsch auf Petrograd und Moskau hätte das Ende der Regierung Lenins bedeutet; die Russen hätten einem solchen Vorstoß keinen ernsthaften militärischen Widerstand entgegensetzen können. Es scheint daher, daß das Opfer nicht vergeblich war, zieht man alles in Betracht.
§ 5. THEORIE UND PRAXIS Mit dieser ersten Periode der Teilnahme Sowjetrußlands an internationalen Angelegenheiten — von der Veröffentlichung des „Dekretes über den Frieden" bis zur Unterzeichnung des Vertrages von Brest-Litowsk — steht ein ungewöhnlich weites Feld für bemerkenswerte Beobachtungen offen. Trotz der Meinungsverschiedenheiten und Temperamentsunterschiede unter den bolschewistischen Führern gelangten bereits in diesem frühen Stadium gewisse charakteristische Züge an die Oberfläche, die als periodisch wiederkehrende, wenn nicht gar als permanente Methoden der Sowjets bei der Behandlung internationaler Probleme bezeichnet werden müssen.
a) Lenin (wie nach ihm Stalin und dessen spätere Nachfolger)
zeigte sich immer bereit, die Starrheit der Doktrin politischen Realitäten zu opfern. Nachdem alle Selbstständigkeitsbestrebungen der ethnisch russischen Völker mit Gewalt unterdrückt worden waren (durch den bewaffneten Staatsstreich vom 7. XL 1917; durch die Verhaftung der Allrussischen Wahlkommission im Dezember 1917, nachdem die Wahlergebnisse eine bolschewistische Minderheit gegenüber den Sozialrevolutionären im Verhältnis von mehr als 2 zu 1 ergeben hatten; ferner durch die Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung, wo sich die Bolschewik! ebenfalls in der Minderheit befanden), konnten sich die Führer der Bolschewik! keinen Illusionen hingeben, daß ihre Angebote und Aufrufe von den nicht-russischen Völkern des ehemaligen Zarenreiches angenommen würden. Mit der Proklamierung des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen verfolgten somit die Bolschewiken die Absicht, politische Situationenhervorzurufen, dieeskommunistischenrevolutionären Gruppen in a n d e r e n L ä n d e r n ermöglichen sollten, die Macht auf eine ähnliche Weise zu ergreifenwie in Rußland.
b) Die zahlreichen Hinweise auf eine bevorstehende Weltrevolution dürfen nicht zu ihrem Nennwert aufgefaßt werden. Ähnlich wie im Fall des Selbstbestimmungsrechtes der Völker, hat die Berufung auf eine Weltrevolution einen tieferen, dialektischen Sinn. Was die Bolschewikiführer erwarteten, war eine Reihe von Revolutionen nach sowjetischem Muster, d. h.organisierte und von kleinen konspirativen Gruppen ausgeführte Aufstände, von Gruppen, die sich einer diktatorischen Führung und einer militärischen Disziplin unterwarfen. Schon ganz früh, im Jahre 1905, hatte Lenin geschrieben:
„Die Marxisten haben niemals vergessen, daß die Gewalt unvermeidlich eine Begleiterscheinung des Zusammenbruchs des Kapitalismus . . .sein wird.“ (Lenin, AW 8, S. 331.)
Was er mit einer „Reihe von Revolutionen" meinte, waren gewaltsame Erhebungen durch bewaffnete Minderheiten, die sich den Völkern, deren Führung sie angeblich übernehmen sollten, aufdrängten.
c) In den Augen ihres Hauptführers bedeutete die bolschewistische Revolution den Beginn einer neuen Weltordnung. Der Kampf um die Aufrichtung dieser neuen Ordnung verlangte auch eine neue Stellung zur Moral, und entschuldigte jegliches angemessene Vorgehen gegen die alte bürgerliche oder kapitalistische Gesellschaft (siehe II § 14 d; V § 1). Die gleiche Betrachtungsweise wurde auch den Beziehungen der Sowjetregierung zu anderen Nationen zugrunde gelegt. Eine genaue Untersuchung von fast tausend Verträgen und Abkommen aller Art, welche die Sowjetregierung in den Jahren zwischen 1917 und 1955 geschlossen hat, führte zur Schlußfolgerung, „daß die S o w j e t r e g i e r u n g in den 38 Jahren seit der Gründung der Sowjetunion im Grunde genommen einem jeden Land gegenüber, dem sie ein schriftlichesVersprechenabgab, ihrWortgebrochen hat" (Senator James D. Eastland, Soviet Political Treaties and Violations, Staff Study, Subcommittee of the Committee on the Judiciary Senate, Session 84, Dokument Nr. 85, Washington, 1955).
Der Beweis für die Richtigkeit dieser Darlegung des sowjetisch-kommunistischen Verhaltens liegt in den urkundlich festgehaltenen Aufzeichnungen der sowjetischen Beziehungen zu den nicht-russischen Nationen und Völkern des früheren Zarenreiches wie auch zu allen Nachbarstaaten der Sowjetunion, wie wir unten aufzeigen werden.
C. Die Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft über die nichtrussischen Nationalitäten des alten Zarenreiches
Die Darstellung der Behandlung der nicht-russischen Nationen und Völker Sowjetrußlands durch die Kommunistische Partei und die Sowjetregierung erfolgt in einem anderen Kapitel (VII). Einige von diesen Nationalitäten jedoch erlangten nach der Oktoberrevolution eine partielle oder gar volle politische Unabhängigkeit; die Aufhebung oder Unterdrückung dieser neuen politischen Gebilde durch die Kommunisten soll im folgenden durch Aufzeigen der wesentlichen Fakten und Daten dargelegt werden.
Raummangel zwingt uns dabei, methodisch folgendermaßen vorzugehen: einige wenige Beispiele sollen herausgegriffen und ziemlich ausführlich behandelt werden, während für die übrigen Nationen nur die wichtigeren Tatsachen und Daten angeführt werden. Dies ist gewiß bedauerlich, da die kommunistische Taktik sich je nach den Umständen ändert: jedes Opfer stellt eine neue Version des „dialektischen" Prozesses des kommunistischen Imperialismus dar. Doch das Resultat ist immer dasselbe: die eroberte Nation erhält einen Status, der sie — wie in Kapitel VII ausführlich dargelegt wird — ihres Eigenlebens und eigener Willenskundgebung beraubt. Die Delegationen, welche die Ukraine und Weißrußland bei den Vereinigten Nationen seit 1945 vertreten, repräsentieren z. B. nur nominell souveräne „Nationen". Ihre Aufgabe besteht nur darin, zwei grundsätzliche Stimmen zu Moskaus Verfügung abzugeben.
§ 6. DIE UKRAINE Die Prinzipien der Selbstbestimmung und eines Friedens ohne Annexionen, wie sie in der „Deklaration der Rechte der Völker und im „Dekret über den Frieden" verkündet wurden, hätten selbstverständlich ihre Nutzanwendung auf die ukrainische Nation finden sollen. Die politische Unabhängigkeit war ihr außerdem in offiziellen Akten zwischen 1917 und 1921 ausdrücklich und wiederholt von der Sowjetregierung zuerkannt worden. Aber gleichzeitig war die Sowjetregierung von allem Anfang an bestrebt, der Ukraine ihre Herrschaft aufzuzwingen.
Am 17. XII. 1917 gab die Sowjetregierung in einer Note an die Ukrainische Zentralrada folgende Erklärung ab:
„Wir, die sowjetischen Volkskommissare, anerkennen die Ukrainische Nationale Republik und ihr Recht, sich von Rußland loszutrennen oder mit der Russischen Republik ein Abkommen zu treffen über föderative oder andere ähnliche gegenseitige Beziehungen untereinander. Alles was die nationalen Rechte und die nationale Unabhängigkeit des ukrainischen Volkes berührt, nehmen wir, die sowjetischen Volkskommissare, ohne Einschränkung und vorbehaltlos an." (Communist Takeover and Occupation of the Ukraine, Special Report of the Select Committee on Communist Agression, House of Representatives, 84th Congress, 2nd Session, S. 8).
Zur gleichen Zeit stellte die Sowjetregierung in einem in seiner Art einmaligen Schachzug diplomatischer Taktik der Ukrainischen Zentralrada ein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum. Sie verlangten von den Ukrainern die Unterstützung ihrer militärischen Aktion gegen die weißrussischen Streitkräfte in der Dongegend und freien Durchgang für die sowjetischen Truppen sowie die Zulassung ihrer Stationierung in der Ukraine. Eine Verwerfung dieser Forderungen würde zu einer sowjetischen Kriegserklärung führen.
Die Ukrainische Zentralrada, die März 1917 gebildet und vom All-ukrainischen Nationalkongreß am 20. November 1917 unterstützt wurde, rief die „Ukrainische Volksrepublik" aus mit dem Vorbehalt, daß sie ein Mitglied der russischen Föderation im Sinne einer Gleichberechtigung bleiben wolle. Sie widersetzte sich dem russischen Ultimatum und erhielt die Unterstützung der überwiegenden Mehrheit der Abgeordneten des Dritten Bauernkongresses der Ukraine sowie auch des Allukrainischen Kongresses der Soldaten-, Arbeiter-und Bauerndeputierten. Aber die Kommunisten, die vorher aus Kiew vertrieben worden waren, gründeten in Charkow eine Rivalkörperschaft, der sie den Namen „Zentralexekutivkomitee der Ukraine" gaben. Am 25. XII. 1917 drangen die russischen Streitkräfte in die Ukraine ein;
Kiew mußte sich im Februar 1918 ergeben. Nach fruchtloser Kontaktnahme mit halboffiziellen Vertretern der Entente-Mächte, (vgl. Shoulgine, A.: L'Ukraine, la Russie et les Puissances de 1’Entente, Berne, 1918, SS. 31— 41, 53— 57), wandten sich die Ukrainer den Deutschen zu und unterzeichneten mit ihnen am 9. II.
1918 einen Friedensvertrag (Text des Ukrainian Peace, United States Department of State, 4918, S. 9). Dieser Vertrag wurde von der Sowjetregierung im Friedensvertrag von Brest-Litowsk (3. III. 1918 Art. 6) und im Berliner Vertrag (27. VIII. 1918 Art. 11— 12)
ratifiziert. (Texts of the Russian Peace, United States Department of State, 1918, S. 129). Die Regierung der Rada wurde Ende April gestürzt und an ihre Stelle trat ein Regime mit General (Hetman)
Skoropadsky an der Spitze. Doch am 14. XII. 1918 konnte von neuem ein Ukrainisches Direktorium mit Vladimir Winnicenko als Präsidenten und mit Simon Petjura als Chef des Militärdepartementes die Herrschaft in Kiew an sich reißen.
Wiederum stellten die Sowjets eine „Provisorische Arbeiter-und Bauernregierung der Ukraine" mit Georg Pjatakov an der Spitze auf die Beine. Ihre Gründung erfolgte auf einem von angeblich ukrainischen Kommunisten in Moskau 1918 abgehaltenen Kongreß. im Juli Im Oktober 1918 wurde Stalin selber in das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Ukraine gewählt. Am 18. XII. 1918, nach dem Abzug der deutschen Streitkräfte, drangen die bolschewistischen Truppen von neuem in die Ukraine ein. Verhandlungen scheiterten und Kiew fiel am 14. II. 1919 trotz der starken Unterstützung des Direktoriums durch das Volk. Nach Beendigung des polnisch-sowjetischen Krieges errichtete die Sowjetregierung ihre Herrschaft in der Ukraine.
Das weitere Geschehen wird unten in Kapitel VII ausgeführt.
§ 7.
WEISSRUSSLAND Die Versuche der Weißrussen, einen freien Staat nach dem Prinzip der Selbstbestimmung zu gründen, wurden von der Sowjetregierung ebenso erbarmungslos unterdrückt wie diejenigen der Ukrainer.
Die Hauptdaten sind kurz folgende: Dezember 1917: Erster All-Weißrussischer Kongreß in Minsk (1873 demokratisch gewählte Delegierte), faßte den Entschluß, die Weißrussische Nationale Republik zu gründen. 31. XII. 1917: erster sowjetischer Versuch, den Kongreß zu unterdrücken. 21. II. 1918: Gründung der ersten weißrussischen Regierung, nachdem die sowjetischen Truppen sich aus Minsk zurückgezogen hatten. 25. III. 1918: Proklamierung der Unabhängigkeit.
10. XII. 1919: Wiederbesetzung von Minsk durch die russische Armee.
1. I. 1919: Gründung der «Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik." § 8. TRANSKAUKASIEN In der Folge der Märzrevolution des Jahres 1917 verlor die russische Administration sehr schnell ihren Einfluß auf die transkaukasischen Territorien. In Georgien, Armenien, und Aserbeidschan beherrschten lokale Revolutionskomitees die Lage, die zum großen Teil mit der gemäßigten Richtung der Rechtssozialisten (Menschewiki) sympathisierten. Vor der bolschewistischen Revolution und bevor in Tiflis ein von der Provisorischen Regierung von Petrograd ernanntes „Spezialkomitee für Transkaukasien" eingesetzt wurde, gab es noch keine ausgesprochene Bewegung, die auf eine Lostrennung von Rußland hintendierte. Nach der Oktoberrevolution änderte sich die Lage gänzlich; die lokalen Revolutionskomitees weigerten sich, die Autorität der Räteregierung anzuerkennen; Nationalkomitees wurden gegründet. Eine Föderation Transkaukasiens, welche die unabhängigen Republiken von Georgien, Armenien und Aserbeidschan umfaßte, bildete sich. Georgien wurde von der Sowjetregieiung de iure anerkannt. Doch nichtsdestoweniger wurde es von sowjetischen Streitkräften überfallen und ohne vorangehende Provokation oder Kriegserklärung brutal unterdrückt. Armenien und Aserbeidschan war ein ähnliches Schicksal beschieden. Beide Republiken wurden von Sowjetstreitkräften überfallen und besetzt, während sie noch offizielle Unterhandlungen mit der Sowjetregierung führten.
a. GEORGIEN Sowjetrußland anerkannte in dem am 17. V. 1920 in Moskau unterzeichneten Friedensvertrag mit Georgien feierlich die Unabhängigkeit des Georgischen Staates und verpflichtete sich, von jeglicher Einmischung in die inneren Angelegenheiten dieses Landes abzusehen.
„Art. J. Auf Grund des von der Allrussischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik proklamierten Rechtes auf Selbstbestimmung — und Verfügung bis zum Grad und mit Einschluß einer totalen Lostrennung vom Staate, wovon diese einen Teil bilden, anerkennt Rußland vorbehaltlos die Unabhängigkeit und Souveränität des georgischen Staates und verzichtet freiwillig auf die souveränen Rechte, auf die Rußland hinsichtlich des georgischen Volkes und Territoriums Anspruch hatte.“
„Art. II. Auf Grund der im vorhergehenden Artikel 1 verkündeten Prinzipien erklärt sich Rußland bereit, auf jegliche Intervention in die inneren Angelegenheiten Georgiens zu verzichten.“ (Communist Takeover and Occupation of Georgia. Special Report No. 6, Select Committee on Communist Agression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, Washington 1954.)
Am 11. II. 1921, neun Monate nach der Unterzeichnung des oben erwähnten Abkommens, drang die Rote Armee in Georgien ein und besetzte etwa sechs Wochen später trotz des hartnäckigen Widerstandes der georgischen Armee das ganze Land. Die brutale Unterdrückung der georgischen Unabhängigkeit stellt eine der unverschämtesten Handlungen in der Geschichte des sowjetischen Imperialismus dar.
Der georgische Nationalrat wurde von einem Nationalkongreß am 22. XI. 1917 gewählt. Im Zusammenhang mit der Auflösung der Verfassunggebenden Versammlung in Petrograd durch die bolschewistische Partei am 5. I. 1918 wurde eine Parlamentarische Versammlung Transkaukasiens ins Dasein gerufen.
Diese verwarf die Bestimmungen des Friedensvertrages von Brest-Litowsk über die Abtretung der kaukasischen Provinzen von Batum, Ardahan und Kars an die Türkei und rief im April 1918 die unabhängige „Transkaukasische Föderation" und deren Lostrennung von Rußland aus. Dieser Staatenbund war jedoch von kurzer Dauer;
infolge von Mißhelligkeiten über ihre Beziehung zur Türkei löste sie sich am 26. V. 1918 auf. Am gleichen Tage proklamierte der georgische Nationalrat die Georgische Demokratische Republik.
Es ergaben sich Schwierigkeiten und Zerwürfnisse mit der Türkei und schließlich die Besetzung des Landes durch deutsche und britische Streitkräfte. Bereits vor dem Abzug der ausländischen Truppen aus Georgien im Februar 1920 hatten allgemeine Wahlen stattgefunden:
das Wahlergebnis bestätigte unmißverständlich die dominierende Stellung der Sozialdemokratischen Partei. Die Kommunisten erhielten weniger als 1 °/o aller Stimmen und nicht einen einzigen Sitz in der Konstituierenden Versammlung. Georgien wurde vom Obersten Rat der Alliierten Mächte de facto und hernach de iure anerkannt (11. I.
1920 und 27. I. 1921); ebenso wurde es von zahlreichen europäischen Regierungen und amerikanischen anerkannt.
Trotzdem marschierten die sowjetischen Truppen zweimal im Jahre 1920 in Georgien ein und wurden zweimal zurückgeschlagen; ein Versuch, die georgische Regierung zu stürzen (2. V. 1920), mißlang.
Daraufhin schlug die Sowjetregierung Friedensverhandlungen vor und ein Abkommen wurde in Moskau unterzeichnet (7. V. 1920). In eklatanter Verletzung der feierlich getroffenen Vereinbarungen griffen die Sowjets am 11. II. 1921 Georgien mit vier Armeekorps ohne vorhergehende Warnung an. Vorgeschobene Gründe, die die Invasion durch lokale Unruhen erklären sollten, wurden später fallen gelassen:
Im Februar 1936 sagte Molotov: „die sowjetische bolschewistische Revolution, nachdem sie in Rußland mit Hilfe der roten Armee gesiegt hatte, gelangte im Jahre 1920 nach Transkaukasien und gewährte im Jahre 1921 die notwendige Unterstützung" (Communist Takeover of Georgia, S. 8; The Uratadze Mission v. F. Kazemzadeh: The Struggle sor Transcaucasia, New York, 1951, S. 299). Der Vorsitzende der georgischen Kommunistischen Partei, P. Makharadze, schrieb am 6. XII. 1921, daß „die Errichtung der sowjetischen Macht in Georgien den äußeren Eindruck einer ausländischen Besetzung erweckte, denn im Lande selbst gab es niemand, der bereit gewesen wäre, an einer Rebellion oder Revolution teilzunehmen" (Communist Takeover of Georgia, S. 11).
Am 25. II. 1921 marschierten sowjetische Truppen in Tiflis ein und setzten die legale Regierung des Präsidenten N. Jordania ab. Eine Sowjetische Sozialistische Republik Georgiens wurde gegen den Willen des Volkes errichtet, das bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fortfuhr, seinen Einspruch und seine Opposition zu bekunden.
b. ARMENIEN Im Oktober 1917 erklärte Lenin, daß die Räteregierung „verpflichtet sei, ... allen fremden Stämmen in Rußland die volle Freiheit zu sichern, die Freiheit der Loslösung mit inbegriffen, dasselbe Prinzip auf ganz Armenien anzuwenden, uns zu verpflichten Armenien ...freizugeben" (Lenin, die Aufgaben der Revolution, AW 6, S. 244 f.). Aber noch während der Friedensverhandlungen drangen die Sowjets in Armenien ein und beraubten es seiner Unabhängigkeit. Armenien wurde vom Obersten Rat der Alliierten Mächte am 19. 1.
1920 de facto anerkannt und am 2. IV. 1920 von den Vereinigten Staaten. Die Kommunisten organisierten im Mai 1920 Aufstände, doch diese wurden von der Regierung mit Leichtigkeit unterdrückt, da sie im Volke wenig Unterstützung fanden. Darauf traten die Sowjets in Friedensverhandlungen mit Armenien ein (Mai 1920). Noch vor deren Beendigung drang die sowjetische Armee in das Land ein, und ein zeitweiliger Waffenstillstand (10. VIII. 1920) zwang es, die Gebiete von Zengesur, Karabagh und Nachitschewan an das kommunistische Aserbeidschan abzutreten. Daraufhin erfolgte ein feindlicher Einfall der Türken; Armenien schloß mit der Türkei einen Waffenstillstand mit sehr harten Bedingungen (10. XL 1920). Zehn Tage später überschritten sowjetische Streitkräfte von neuem die Grenze. Angesichts der Drohung vollständiger physischer Vernichtung des armenischen Volkes unterzeichnete die Regierung den Vertrag von Eriwan (2. XII. 1920), der aus dem Lande eine „Unabhängige Sozialistische Republik" und ein Mitglied der Sowjetunion machte (Communist Takeover and Occupatio n of Armenia. Special Report No. 5, Select Comittee on Communist Agression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, Washington 1955, S. 12).
c. ASERBEIDSCHAN Aserbeidschan besaß ein wirksames Parlament, das von der überwiegenden Mehrheit seiner Bevölkerung unterstützt wurde. Die Sowjetregierung schlug ein Bündnis gegen die weißrussischen Streitkräfte (General Denikin) vor; doch noch bevor die Verhandlungen zum Abschluß gebracht worden waren, marschierte die Rote Aimee in das Land ein, besetzte es, und eine „Aserbeidschanische Unabhängige Sowjetrepublik" wurde ausgerufen.
Die Hauptdaten sind: 28. V. 1918: Proklamation der Unabhängigkeit.
7. XII. 1918: Wahl des ersten Parlamentes, allgemeines Wahlrecht (sogar Frauenstimmrecht in einem Moslem-Staat). 2. I. 1920: Vorschlag eines Bündnisses von Seiten der Sowjets. 27. IV. 1920: Noch während der Verhandlungen besetzen sowjetische Truppen das Land; eine „Aserbeidschanische Unabhängige Sowjetrepublik" wird ausgerufen.
D. Die Ausbreitung der kommunistischen Herrschaft über die westlichen Nachbarländer Sowjetrusslands
§ 9. ÜBERBLICK So oft sich der Sowjetregierung durch die internationale Lage eine günstige Gelegenheit zu bieten schien, die kommunistische Revolution nach Westeuropa auszudehnen, wurde von dem Mittel der Invasion oder der Drohung mit einem Angriff Gebrauch gemacht, um die westlichen Nachbarn Rußlands zu unterjochen. Bereits 1916 machte Lenin geltend:
„Die Lostrennung Finnlands und Polens nach dem Siege des Sozialismus kann nur von kurzer Dauer sein.“ (Lenin, Collected W o r k s, Bd. XIX, S. 255).
Stalin, der in seinen Ausführungen gewöhnlich deutlicher und bestimmter ist, erklärte, daß die „sogenannte Unabhängigkeit eines sogenannten unabhängigen Georgiens, Armeniens, Polens, Finnlands und so weiter, nur eine Illusion sei . . .'(Stalin, Marxism and the International Qu e -
stion, New York, 1942, S. 77).
Zwei Hauptgründe waren für eine solche Ansicht und Absicht der bolschewistischen Führer bestimmend: der erste Grund war, daß die westlichen Nachbarländer des russischen Volkes, von Finnland bis Rumänien, ein Hindernis für die Verbreitung der kommunistischen Ideen unter den anderen europäischen Nationen darstellten; der zweite, daß die Kontrolle über ihr Wirtschafts-und Menschenpotential den sowjetischen Drang nach einer Machtstellung in der Welt gewaltig stärken würde.
„Zentralrußland, das Herz der Weltrevolution, kann nicht lange aushalten ohne die Mithilfe der Grenzgebiete, welche reichlich mit Rohstoffen, Brennstoffen und Nahrungsmitteln versehen sind." (Stalin, Marxism and the International Question, S. 76).
Getreu der Leninschen Politik der taktischen Rückzüge, „Zickzacke"
und des Lavierens (V §§ 1 ff.) gab die Sowjetregierung vor, sich an das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker zu halten, aber nur dann, wenn ihr die Kraft fehlte, etwas anderes zu unternehmen. So oft sich eine günstige Gelegenheit bot, enthüllten sich der tiefere Sinn und die verborgene Absicht der Sowjetpolitik. Dies war der Fall im Juni 1920, als die Roten Armeen in Polen eindrangen und der Befehlshaber der Westfront General (und später Marshall) Tuchacevskij seinen bekannten Aufruf erließ:
„Soldaten der 'Arbeiterrevolution! Richtet eure Augen auf den Westen! Dort wird der endgültige Ausgang der Wellrevolution entschieden werden. Der Weg des weltweiten Feuerbrandes führt über den Leichnam Weißpolens. Wir werden den werktätigen Bevölkerungen mit unseren Bajonetten Frieden und Glück bringen. Westwärts!
Zu den entscheidenden Schlachten! Zu den großen Siegen!“ (Tadeusz Teslar, Propaganda bolszewicka podczas wojy polskorosyjskiej 1920 r o k u , Warszawa 1938, Wojskowy Instytut Naukowo-Oswiatowy, SS. 212— 213).
§ 10. POLEN In der Zeit zwischen 1917 und 1939 kündigte die Sowjetregierung alle Verträge des Russischen Reiches, die sich auf eine Teilung Polens bezogen, auf, verkündete das unveräußerliche Recht der polnischen Nation auf Selbstbestimmung, schloß im Jahre 1921 mit Polen den Friedensvertrag von Riga und zahlreiche andere Verträge und Abkommen, einschließlich des bis Ende 1945 gültigen Nichtangriffs-Paktes. Doch während derselben Periode drangen sowjetische Armeen zweimal in Polen ein; Rußland traf eine geheime Abmachung mit Hitler über eine neue Teilung Polens und machte sich nach dem zweiten Weltkrieg die vollständige Erschöpfung Polens zunutze, um ihm mit Waffengewalt ein kommunistisches Satellitenregime aufzuzwingen. Alle Verträge und Abkommen, die sich auf die Teilung Polens bezogen, wurden durch das Dekret des Rates der Volkskommissare Nr. 698 vom 29. VIII. 1918 widerrufen „im Hinblick darauf, daß sie dem Prinzip der Selbstbestimmung der Völker widersprechen"; das „unveräußerliche Recht der polnischen Nation, über ihr Schicksal selber zu entscheiden" wurde anerkannt (Polish-Soviet Relations 1918— 194 3. Offizielle von der polnischen Botschaft in Washington herausgegebene Dokumente. Zitiert aus S o b r a n i j e Zakonow i R a s p o r i a z e n i i R a b o t c e k r e s t j a n s k o g o P r a w i t e 11 s t w a. Nr. 64, Moskva, 9. IX. 1918).
Der nämliche Rat erklärte am 28. I. 1920, daß „es keine einzige wesentliche polnisch-russische Frage gebe, die nicht auf friedlichem Wege gelöst werden könne“. (The Red Book. Compilation o Diplomatie Documents concerning Russian-Polish Relations from 1918 _ 1920 The Peoples Commissariat for Foreign Affairs, R. Sml Trotzdem marschierten im Jahre 1920 die Sowjetarmeen in Polen ein, um Polen die Arbeiterrevolution zu bringen" — „über den Leichnam Weißpolens“, wie ihr Befehlshaber sich äußerte (vgl. oben erwähnter Text . . .). Der aus polnischen Kommunisten sich zusammensetzende Revolutionäre Ausschuß wurde in Bialystok errichtet, der nach dem Fall von Warschau die Leitung des Landes übernehmen sollte.
Doch nachdem die Sowjetarmee durch die Gegenoffensive Pilsudskis eine Niederlage erlitten hatte, suchten die Sowjets unverzüglich um Frieden nach, der dann auch am 18. 111. 1921 durch den Vertrag von Riga geschlossen wurde.
In der Zeit nach diesem Datum bis zum August 1939 waren die sowjetisch-polnischen Beziehungen im großen und ganzen normal, und zahlreiche Verträge und Abkommen wurden zwischen den beiden Staaten abgeschlossen.
Zu den wichtigsten unter diesen sind zu zählen: Das Protokoll für das unmittelbare Inkrafttreten des Briand-Kellogg-Vertrages (internationaler Vertrag zur Ächtung des Krieges; in Moskau am 9. II. 1928 unterzeichnet); der Nichtangriffs-Pakt (Moskau, 25. VII. 1932); die Konvention zur Definierung der Aggression (London, 3. VII. 1933); das Protokoll, welches den Nichtangriffspakt bis zum 31. XII. 1945 verlängerte (Moskau, 5. V. 1934); der Austausch von Noten betreffs Beitritt Sowjetrußlands in den Völkerbund (Moskau, 10. IX. 1934); das Gemeinsame Communique über die „Unverbrüchlichkeit der friedlichen Beziehungen der beiden Staaten“ (26. XI. 1938).
Noch am 31. V. 1939 sprach Molotov in seiner Rede an den Obersten Sowjet über das „besondere Communique .. das die Entwicklung der guten Beziehungen zwischen der UdSSR und Polen bestätige'
(Polish-Soviet Relations, 1918 — 1943, Documents, Polish Information Centre, New York, 1943), und der Sowjetbotschafter in Warschau, Sarobow, beschrieb am 2. VI. 1939 „die enge und fruchtbare Zusammenarbeit der beiden Länder", (e b d.).
Am 23. VIII. 1939 unterzeichnete die Sowjetunion mit dem nationalsozialistischen Deutschland ein Geheimprotokoll (Molotow-Ribbentrop-Pakt) als Zusatz zum sowjetisch-deutsdren Nichtangriffs-Veitrag, welches die Verletzung aller oben erwähnten Abkommen bedeutete. Die Sowjets drangen in die Ostprovinzen Polens ein und annektierten sie in flagranter Verletzung aller Normen internationalen Rechtes und Gepflogenheiten.
Art. 2 des Protokolls (welches nach der Erbeutung deutschex Geheimdokumente aufgedeckt wurde) lautet wie folgt:
„Im Falle einer territorialen und politischen Neuordnung der dem polnischen Staate angehörenden Gebiete, werden die Einilußsphären Deutschlands und der UdSSR durch die von den Flüssen Narew, Weichsel und San gebildete Linie annähernd gegeneinander abgegrenzt werden. Die Frage, ob den Interessen der beiden Beteiligten die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht sei und welches die Grenzen eines solchen Staates sein sollten, kann erst im Verlaufe weiterer politischer Entwicklungen definitiv geregelt werden. Aui jeden Fall werden beide Regierungen diese Frage mittels eines Ireundschaltlichen Abkommens lösen.“ (Nazi-Soviet Relations 1939 bis 194 1 , United States Department of State, 1948, S. 78).
Den bindenden Verpflichtungen gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland nachkommend ließ die Sowjetregierung ihre Truppen in der Nacht des 17. IX. 1939 in Polen einmarschieren, während die polnische Armee noch gegen die deutsche Invasion kämpfte. Der stellvertretende Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten gab als Gründe für diesen Angriff an, daß „der polnische Staat nicht mehr existiere" und daß „die Sowjetregierung nicht mit Teilnahmlosigkeit die Tatsache mitansehen könne, daß verwandte ukrainische und weiß-russische Bevölkerungsteile ... wehrlos dastehen" (Polish-Soviet Relations, 1918— 1943, SS. 95— 6). Im Lichte des oben erwähnten Abkommens erscheinen diese Gründe als vollkommen fingiert.
Dies wurde denn auch von Molotow bestätigt, der in einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter in Moskau am 16. IX. 1939 erklärte, daß seine Regierung „leider keine Möglichkeit einer anderen Begründung sah, da sich die Sowjetunion bis dahin nicht um die Lage ihrer Minderheiten in Polen gekümmert hat und seine gegenwärtige Intervention gegenüber dem Auslande auf eine andere Art und Weise rechtfertigen mußte." (Nazi-Soviet Relations, S. 95).
Ein weiteres deutsch-sowjetisches Abkommen, das am 28. IX. 1939 von Ribbentrop und Molotov unterzeichnet wurde, brachte die Teilung Polens zur Vollendung. Das besetzte Territorium wurde annektiert, seinen Bewohnern die sowjetische Staatsangehörigkeit aufgezwungen;
Zwangsaushebung, Religionsverfolgungen, Verhaftungen, Hinrichtungen und Massendeportationen folgten (Official Documents concerning Poli sh-German Relations and Polish-Soviet Relations, Polish Ministery for Foreign Affairs. Polish White Book, 1939). Die Zahl der nach Rußland deportierten polnischen Staatsbürger (1939— 1941) wird auf 1 692 000 (einschließlich der im September 1939 gemachten 230 000 Kriegsgefangenen) geschätzt. Die schrecklichen Bedingungen, denen sie unterworfen wurden, hatten eine Sterblichkeit von ungefähr 70% zur Folge. Man schätzt, daß abgesehen von den Kriegsopfern eine Million polnischer Staatsbürger als Folge ihrer Deportation nach Sowjetrußland umgekommen ist.
Ein nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges zwischen der Sowjetregierung und der polnischen Exilregierung am 30. VII. 1941 in London unterzeichnetes Abkommen machte die oben genannten Verträge von 1939 ungültig, stellte die diplomatischen Beziehungen wieder her, gab allen polnischen Staatsbürgern in Rußland die Freiheit wieder und gestattete die Bildung einer polnischen Armee auf sowjetischem Boden unter polnischem Kommando. Doch dieses Abkommen wurde von den Sowjets immer wieder verletzt, und am 20. IV. 1943 einseitig von der Sowjetunion widerrufen.
Die Freilassung der polnischen Staatsbürger wurde sabotiert; diejenigen ukrainischer, weißrussischer und jüdischer Abstammung und alle Nichtkatholiken wurden als Sowjetbürger behandelt; Der neuen polnischen Armee verweigerte man die Zuteilung von Rationen und andere Erleichterungen. Als im Jahre 1942 der polnische Befehlshaber General W. Anders aus Rußland zurückkehrte, durfte er nur 70 000 Offiziere und Mannschaften und 42 000 Zivilisten (einschließlich 10 000 Kinder unter 12 Jahren) mit sich nehmen.
Den Vorwand für einen erneuten Abbruch der diplomatischen Beziehungen verschaffte den Sowjets die Forderung der polnischen Regierung auf eine unparteiische Untersuchung (durch das Internationale Rote Kreuz) über die Auffindung mehrerer tausend Leichen ermordeter polnischer Offiziere im Walde von Katyn.
Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen bereitete die Sowjetregierung systematisch die Besitzergreifung Polens vor. Zu diesem Zweck wurden politische Körperschaften eingesetzt; eine unter ihnen wurde dann als die polnische Regierung anerkannt und übernahm, nach der Besetzung Polens durch die sowjetischen Truppen, die Macht. Gefälschte Wahlen, begleitet von Terror und Deportationen, hatten die Errichtung der „Polnischen Volksrepublik" zur Folge, welche vollständig von den Kommunisten beherrscht und der Sowjetunion unterworfen wurde.
In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war der kommunistische Einfluß unbedeutend, doch sind die kommunistischen Agenten immer aktiv gewesen. Die polnische Kommunistische Partei war im Jahre 1938 durch die Komintern aufgelöst worden und die meisten führenden polnischen Kommunisten kamen in den großen russischen Säuberungsaktionen von 1938— 1939 um. In den Jahren 1941— 1942 wurde die polnische Kommunistische Partei unter dem Namen „Polnische Arbeiterpartei" wieder ins Leben gerufen. Im Jahre 1943 wurde in Moskau eine „Vereinigung Polnischer Patrioten" geschaffen. Am 22. VII. 1943 erfolgte die Gründung des „Polnischen Komitees der Nationalen Befreiung"; dieses rief sich selber zur Provisorischen Regierung Polens aus (Dezember 1944) und traf mit der Sowjetunion ein Abkommen (16. VIII. 1945), welches die Legalisierung der Annexion des nahezu halben polnischen Territoriums zum Zwecke hatte.
Freie Institutionen, Parteien und Organisationen wurden unterdrückt.
Besonders streng verfolgte man die polnische Untergrundbewegung, welche während fünf Jahren gegen die deutsche Besetzung kämpfte;
sechzehn ihrer Führer wurden nach Moskau in die Falle gelockt (März 1945), vor Gericht gestellt und des Verbrechens der Sabotage überführt. Ein Scheinreferendum (1946) und gelenkte Wahlen (1947) machten der rechtmäßigen Opposition gegen das kommunistische Regime ein Ende.
§ 11. DIE BALTISCHEN STAATEN: LITAUEN, LETTLAND, ESTLAND Nach erfolglosen Versuchen, den drei Baltischen Staaten im Jahre 1918 ein kommunistisches Regime aufzuzwingen, anerkannte die Sowjetregierung deren Unabhängigkeit, verzichtete „freiwillig und für immer auf alle vormals von Rußland ausgeübten Souveränitätsrechte" (Friedensvertrag mit Estland: Communist Takeover of Estonia, Washington 1955), und schloß mit jedem dieser Länder im Jahre 1920 einen Friedensvertrag. Ferner unterzeichnete die Sowjetregierung mit allen drei Baltischen Staaten die Konventionen betreffend Definition des Angreifers (1933) sowie Nichtangriffs-Pakte, welche, wie im Fall Polens, bis zum 31. XII. 1945 gültig und bindend waren. Schließlich war die Sowjetunion verpflichtet, gegenüber diesen drei Staaten die Grundsätze der Völkerbundssatzung, der alle drei seit 1921 als Mitglieder angehörten, einzuhalten. Die gemeinsame sowjetisch-nationalsozialistische Verschwörung zur Unterdrückung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten wurde im gleichen Geheimprotokoll des Molotov-Ribbentrop-Paktes vom 23. August 1939 festgelegt, das den feindlichen Einfall in Polen einleitete. Art. 2 dieses Protokolls lautet wie folgt:
„Im Falle einer territorialen und politischen Neuordnung der den baltischen Staaten angehörenden Gebiete Finnland, Estland, Lettland, Litauen) soll die Nordgrenze Litauens die Demarkationslinie zwischen den beiden Einflußsphären Deutschlands und der UdSSR darstellen.'
(Nazi-Soviet Relations 1939 — 1941, S. 78.)
Nach dem Zusammenbruch Polens war das Schicksal der drei Baltischen Staaten besiegelt. Die diplomatischen und militärischen Aktionen der Sowjets, die zu deren Eingliederung in die Sowjetunion führten, erfolgten fast nach ein und demselben Muster. Im September und Oktober 1939 wurden alle drei Staaten durch Einschüchte-rungen dazu gebracht, daß sie Verträge über „gegenseitigen Beistand" unterzeichneten (durch die Errichtung von Militärstützpunkten auf baltischem Boden wurde über die Unabhängigkeit dieser Länder im Grunde verfügt). Im Juni des folgenden Jahres besetzten die sowjetischen Streitkräfte die drei Länder. Kommunistische oder kryptokommunistische Regierungen wurden ihnen aufgezwungen, Schein-wahlen durchgeführt, und im August 1940 , kam‘ der Oberste Sowjet der UdSSR den von den ernannten kommunistischen Delegationen vorgebrachten . Wünschen entgegen'und nahm die drei Staaten in die Herde der Sowjetunion auf. Nach einem Zeitraum von 22 Jahren bestätigten somit die Ereignisse die Folgerichtigkeit und Unnachgiebigkeit, womit die sowjetischen Zielsetzungen, wie sie bereits im Jahre 1918 in einem Artikel der offiziellen Moskauer Zeitung Iswestija (25. XII. 1918) offen vorlagen, verwirklicht wurden:
„Estland, Lettland und Litauen liegen direkt auf dem. Weg von Ruß-land nach Westeuropa und sind deshalb ein Hindernis für unsere Revolution." (Zitiert in: Communist Takeover and Occupation of Lithuania, Special Report No. 14, Select Committee on Communist Aggression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, S. 5.)
a. Litauen Am 16. Februar 1919 faßte der litauische Nationalrat einmütig eine Resolution, die die Wiedererrichtung eines unabhängigen litauischen Staates forderte. Eine provisorische Verfassung wurde bekanntgegeben und im November desselben Jahres die erste Regierung gebildet. Im Dezember 1918 bis Januar 1919 drangen sowjetische Truppen in das Land ein und riefen eine Litauische Sowjetrepublik aus. Doch Ende des Jahres 1919 wurden sie aus dem Lande vertrieben, und am 12. VII. 1920 unterzeichnete die Sowjetunion mit der rechtmäßigen litauischen Regierung den Friedensvertrag von Moskau, worin sie anerkannte:
„. . . die Souveränität und Unabhängigkeit des litauischen Staates mit allen aus einer solchen Anerkennung sich ergebenden Folgerungen und verzichtet freiwillig und für immer auf alle von Rußland über das litauische Volk und Territorium beanspruchten souveränen Rechte."
(Communist T akeover of Lithuania, S. 4.)
Am 28. IX. 1926 schlossen die beiden Länder untereinander einen Nichtangriffspakt, dessen Dauer am 4. IV. 1934 bis auf Ende Dezember 1945 verlängert wurde. Eine Konvention über die Definition des Angreifers wurde am 5. VII. 1933 in London von Sowjetrußland und Litauen unterzeichnet, ähnlich jener Übereinkunft, die Rußland zwei Tage vorher mit Lettland, Estland und anderen Nachbarstaaten der Sowjetunion getroffen hatte.
Im deutsch-sowjetischen Geheimprotokoll vom 23. VIII. 1939 war Litauen der deutschen Einflußsphäre zugesprochen worden. Doch auf Grund des zweiten Molotov-Ribbentrop-Abkommens vom 28. IX. 1939 wurde der Großteil des litauischen Territoriums in die Sowjetrußland zugewiesene Zone einbezogen als Ersatz für polnisches Territorium in den Provinzen Warschau und Lublin, das von den Deutschen besetzt werden sollte. Der ganze Handel erinnert stark an die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert. Im Geheimen Zusatzprotokoll vom September einigten sich die beiden Partner über folgende Punkte:
„. . . das Territorium des litauischen Staates fällt in die Einflußsphäre der UdSSR, während andererseits die Provinzen von Lublin und Teile der Provinzen von Warschau in die Einflußsphäre Deutschlands fallen . . . Sobald die Regierung der Sowjetunion zum Schutze ihrer Interessen besondere Maßnahmen bezüglich des litauischen Territoriums treffen wird, soll die gegenwärtige deutsch-litauische Grenze, die den Entwurf einer natürlichen und einfachen Grenzscheide bezweckt, in der Weise berichtigt werden, daß das südwestlich der Grenzlinie gelegene Territorium . . . Deutschland zufällt." (Nazi-Soviet Relations 1939 — 1941, US Department of State, 1949, S. 107.)
Die „besonderen Maßnahmen", auf die das obige Protokoll anspielte, traten im Juni 1940 in Erscheinung, als Molotov nach einer kurzen Periode von Rechtsverdrehungen der litauischen Regierung ein ultimatives Begehren stellte: nämlich die Entlassung und Verurteilung eines ihrer Mitglieder und die Bildung einer litauischen Regierung, „die fähig sei, die genaue Einhaltung des Vertrages über gegenseitigen Beistand zu gewährleisten". (Communist Takeover and Occupation of Lithuania, S. 10).
b. Lettland Das Schicksal Lettlands war demjenigen Litauens ähnlich: zweimal wurde es besetzt und schließlich in eine lettische Sowjetrepublik umgewandelt. Die Hauptdaten sind: 17. XL 1917: Deklaration der Ersten Lettischen Nationalversammlung, die das Recht auf Selbstbestimmung forderte.
Dezember 1918: der erste sowjetische Einfall, der im Frühjahr 1919 durch die lettischen Truppen zurückgeschlagen wurde. 1. II. 1920: Waffenstillstand. 11. VIII. 1920: Friedensvertrag von Riga. 5. 2. 1932: Nichtangriffspakt (am 4. IV. 1934 verlängert und somit gültig bis 31. XII.
1945). Alle diese Verträge wurden durch den Molotov-Ribbentrop-Pakt gebrochen. (Communist Takeover and Occupation of Latvia, Washington 1955, S. 75.) 16. VI. 1940: Sowjetisches Ultimatum; ein Tag später: Besetzung des Landes. 20. VI. 1940: Bildung einer Regierung durch A. Vysinskij, dem bevollmächtigten Sowjetkommissar für auswärtige Angelegenheiten, 14. /15. VII.: Scheinwahlen (ebd., S. 10), 19. VII.: Proklamierung der Lettischen Sowjetrepublik. 5. VIII.
1940: Aufnahme in die Sowjetunion.
c.
Estland Genau dasselbe geschah mit Estland:
Die wichtigsten Etappen sind kurz folgende: 24. II. 1918: Proklamierung der Unabhängigkeit durch den estnischen Nationalrat. November 1918: Einfall sowjetischer Truppen, Errichtung einer estnischen Sowjetregierung. Frühjahr 1919: Vertreibung der sowjetischen Truppen. 2. II. 1920: Friedensvertrag von Tartu, in welchem Rußland „freiwillig und für immer auf alle . . . über das estnische Volk ausgeübten Souveränitätsrechte" verzichtete. (Communist Takeover of E s t o n i a , S. 2.) Später wurden noch weitere Verträge und Konventionen unterzeichnet (1932; 3. II. 1933). Aber mit dem Ribbentrop-Molotov-Pakt wurden alle gebrochen: 28. IX. 1939 wurde Estland ein „gegenseitiger Beistands" -Pakt aufgezwungen, der den Russen die Stationierung sowjetischer Garnisonen in Estland ermöglichte. 16. VI.
1940: Ultimatum (auf 81/2 Stunden befristet) (ebd., S. 9). 18. VI. 1940:
vollständige Besetzung des Landes. 14. VII.: Scheinwahlen (ebd., SS. 11 bis 12). Der Präsident K. Päts wurde zum Rücktritt gezwungen und nach Rußland deportiert. 6. VIII. 1940: Aufnahme der Estnischen Sowjetrepublik in die Sowjetunion.
§ 12. FINNLAND über einen Zeitraum von dreißig Jahren anerkannte Sowjetrußland die Unabhängigkeit und Souveränität der Republik Finnland, indem sie mit ihr drei Friedensverträge und zahlreiche Vereinbarungen und Abkommen, einschließlich eines bis zum 31. XII. 1945 gültigen Nichtangriffspaktes, schloß. Doch in derselben Zeit mußten sich die Finnen dreimal gegen sowjetische oder kommunistische Truppen zur Wehr setzen und zweimal gegen offene Versuche der Errichtung eines kommunistisch-finnischen Staates. Rußland unterzeichnete mit dem nationalsozialistischen Deutschland das Geheimprotokoll vom 23. VIII.
1939, welches Finnland der sowjetischen Einflußsphäre zuwies, und eröffnete zweimal die Feindseligkeiten gegen Finnland ohne vorausgehende Kriegserklärung. Der russische Angriff auf Finnland im November 1939 führte zur Ausweisung der Sowjetunion aus dem Völkerbund. Die gegenwärtige Stellung Finnlands, das zwar die demokratischen Freiheiten seiner Staatsbürger beibehält, dem aber in internationalen Angelegenheiten nur eine beschränkte Handlungsfreiheit eingeräumt ist, ergab sich aus der Respektierung der bewaffneten Neutralität Schwedens durch Sowjetrußland und aus dem allgemeinen Gleichgewicht Nordeuropas. Die wahre sowjetische Haltung gegenüber Finnland kommt am besten zum Ausdruck im Vertrag des Gegenseitigen Beistandes, der am 4. XII. 1939 von Molotov und dem ehemaligen Sekretär der Komintern Kuusinen als Oberhaupt der „Volksregierung der Demokratischen Republik Finnlands" unterzeichnet wurde.
Am 6. XII. 1917 proklamierte der finnische Reichstag die unabhängige Republik Finnland, die am 4. I. 1918 von Sowjetrußland formell anerkannt wurde (The Finnish Blue Bock. Published for The Ministery of Foreign Affairs of Finland, Philadelphia 1940, S. 7). Doch die Roten Truppen, die nicht zurückgezogen wurden, besetzten Ende Januar die Schlüsselpunkte der Hauptstadt; eine sowjetische Regierung wurde eingesetzt. Später (Januar-März) wurden die Russen vertrieben und der Friedensvertrag von Tartu (14. X. 1920) mit Finnland unterzeichnet, der dessen früherer Union mit Rußland endgültig ein Ende machte (Treaty of Peace between the Republic of Finland and the R. S. F. S. R., The Government Printing Office, Helsingfors 1921, S. 5).
In den nachfolgenden Jahren wurden weitere Abkommen unterzeichnet, einschließlich des Nichtangriffsvertrages (21. I. 1931 in Helsinki unterzeichnet); die Konvention zur Versöhnung (Helsinki, 22. IV. 1932); die Konvention über die Definition des Angreifers (London, 3. VII. 1933); Protokoll über die Verlängerung bis 31. XII. 1945 des Nichtangriffsvertrages (Moskau, 7. IV. 1934). Ebenso wurden Neutralitätserklärungen während des deutsch-polnischen Krieges ausgetauscht (1. X. und 17. IX. 1939).
Alle diese Verpflichtungen wurden mit dem Molotov-Ribbentrop-Pakt (23. VIII. 1939) verletzt.
Der sowjetische Drude setzte früh im Oktober ein: Rußland wollte vollständige Unterwerfung, ähnlich derjenigen der baltischen Staaten.
Nach verlängerten Verhandlungen (Molotov beschuldigte die Finnen der Beschießung sowjetischer Truppen, 26. XL 1939) kündigte es den Nichtangriffspakt (28. XI.) und brach die diplomatischen Beziehungen ab. Tags darauf wurden die Feindseligkeiten durch sowjetische Truppen und Luftstreitkräfte ohne Kriegserklärung eröffnet; Helsinki wurde von der Luft aus stark bombardiert. Am 14. XII. 1939 verurteilten die Völkerbundsversammlung und der Völkerbundsrat den Angriff; der Völkerbundsrat erklärte, „daß sich die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken durch diese ihre Handlungen von selbst außerhalb des Völkerbundes gestellt habe". (League of Nations. Official Journal, 1939).
Molotov gab zur Antwort, daß Moskau mit „dem finnischen Volke"
nicht auf dem Kriegsfuße stehe. Eine von Kuusinen angeführte Marionettenregierung gab am 1. XII. 1939 von einem Grenzdorf aus eine Erklärung ab, worin sie ihre Hauptaufgabe „im Sturz der Regierung der finnischen Weißgardisten" ankündete. Mit dieser Regierung unterzeichnete Molotov am 4. XII. einen „Vertrag des gegenseitigen Bei-standes und der Freundschaft", der Rußland alle seine territorialen Forderungen zugestand (Text in: The U. S. S. R. and Finland". Soviet Russia Today, New York, 1940, SS. 61— 64). Obwohl Kuusinen geltend machte, daß „die Massen des finnischen Volkes die ... Rote Armee mit gewaltigem Enthusiasmus willkommen heißen" (ebd., S. 57), legte das finnische Volk einen unvergleichlichen Beweis der Einigkeit und des Mutes an den Tag und brachte den sowjetischen Truppen mehrmals eine Niederlage bei.
Als die Verhandlungen wieder ausgenommen wurden, stand Finnland nicht als besiegte Nation da, doch konnte es nicht lange ohne Hilfe von außen standhalten. Mit dem Friedensvertrag (Moskau, 12. 3.
1940) erreichte Rußland den Großteil seiner Operationsziele, doch gelang es ihm nicht, Finnland niederzuzwingen. Kuusinens „Volksregierung" wurde aufgegeben; er selber wurde später zum Vorsitzenden des Obersten Sowjetpräsidiums der Karelo-Finnischen Republik ernannt. Am 12. XI. 1940, neun Monate nach der Unterzeichnung des Vertrages, bestand Molotov in einer Unterredung mit Ribbentrop auf freie Hand in bezug auf Finnland: — „Die finnischen Fragen sind noch immer ungelöst" — sagte er — „und er ließ beim Führer anfragen, ob das deutsch-russische Abkommen, soweit es Finnland betreffe, immer noch in Kraft sei" (Nazi-Soviet Relations, S. 232). Bereits im Juni 1940 forderte Sowjetrußland die Entmilitarisierung oder gemeinsame Verteidigung der Aalandinseln an; im September bestand es auf der angeblichen Konsultationspflicht; gegen Ende Oktober begann es auf eine Abtretung der Nickelminen von Petsamo zu drängen.
Zwischen März 1940 und Juni 1941 verzeichneten die finnischen Autoritäten 109 Fälle von Verletzung ihres Territoriums durch sowjetische Streitkräfte (Finland Reveals Her Documents. Official Blue-White Book of Finland, New York, 1941).
Als Hitler am 22. VI. 1941 den Angriff auf Rußland begann, konnte Finnland nicht Neutralität bewahren, und es ergab sich somit, daß es sich auf Seiten der von den Alliierten besiegten Nationen gestellt sah.
Durch das Waffenstillstandsabkommen (19. IX. 1944) und den Friedensvertrag (Paris, 10. II. 1947) verlor Finnland die Provinz von Petsamo an Rußland, mußte den Flottenstützpunkt von Porkkala-Udd an Ruß-land verpachten (am 26. I. 1956 wurde der Stützpunkt von Sowjetrußland wieder zurückerstattet) und andere beschwerliche Bedingungen auf sich nehmen.
§ 13. TSCHECHOSLOWAKEI Kein Land Mittel-oder Osteuropas war unermüdlicher in seinen Anstrengungen als die Tschechoslowakei, den sowjetischen Forderungen schon halbwegs entgegenzukommen. Sie schloß mit Sowjetrußland zwei Bündnisverträge (1935 und 1943) und ein Abkommen über die gemeinsame Aktion gegen Deutschland (1941). Auf das Geheiß Moskaus brach Dr. Benes — der Ministerpräsident im Exil — die Verhandlungen mit der polnischen Regierung Sikorski ab, die sich um eine tschechoslowakisch-polnische Föderation nach dem Kriege drehten, und kam mit den tschechischen Kommunisten über die Grundsätze der künftigen Organisation des Landes überein (das „Programm von Kosice"). . Aber das alles erwies sich als nutzlos. Als im Jahre 1944 gegen die Deutschen ein bedeutender slowakischer Aufstand ausbrach, griff die Rote Armee wie im Falle Warschaus bei der Unterdrückung durch Hitler nicht ein. Trotzdem die Kommunisten in den Wahlen von 1946 einen echten Erfolg errangen (nahezu 40 Prozent der Sitze im Parlament), wurde die Tschechoslowakei durch eine Reihe von Gewaltmaßnahmen, die im Staatsstreich vom Februar 1948 ihren Höhepunkt fanden, in eine „Volksdemokratie" ’verwandelt.
Im Gegensatz zu Polen, Ungarn und Rumänien waren seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die pro-russischen Gefühle der Tschechen lebendig gewesen. Die demokratischen Anschauungen Th. Masaryks standen in Widerspruch zur Philosophie des Kommunismus;
doch was die Außenpolitik anbetraf, so war er wie auch sein Nachfolger Dr. E. Benes der Meinung, daß die Tschechoslowakei eine aktive Mittlerrolle in der Herbeiführung einer Annäherung zwischen Sowjetrußland und dem Westen spielen könnte.
Am 16. V. 1935 unterzeichneten die Tschechoslowakei und die Sowjetunion einen Gegenseitigen Beistandspakt. Ein weiteres Abkommen über ein gemeinsames Vorgehen im Krieg gegen Deutschland wurde im Jahre 1941 getroffen. Im Jahre 1943 begab sich Dr. Benes nach Moskau, wo am 12. XII. 1943 das Abkommen über Freundschaft, gegenseitigen Beistand und Nachkriegszusammenarbeit unterzeichnet wurde.
Beide Seiten verpflichteten sich, „ihre Unabhängigkeit und Souveränität sowie auch die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates" zu respektieren (Text in: F. L. Schuman, Soviet P o 1 i t i c s , New York, 1946, S. 470— 472). Während seines Aufenthaltes in Moskau entwarf Dr. Benes die Prinzipien zu einer zukünftigen Organisation des Staates, wobei er sich darüber mit K. Gottwald, dem exilierten Führer der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei einigte. Dies wurde dann im „Programm von Kosice" (veröffentlicht am 5. IV. 1945) weiter ausgeführt und ergänzt, das sich früh genug gleichsam als Vorwurf für die kommende Sowjetisierung des Landes erwies (S. H. Harrison Thomson: Czechoslovakia in European History, Princeton University Press, 1953). Mehrere altherkömmliche Parteien wurden aufgehoben und eine Nationale Front mit einer überwiegend kommunistischen und sozialistischen Mehrheit gebildet. Z. Fierlinger, der ganz moskauhörig war, wurde zum Ministerpräsidenten ernannt. Am 29. VI. 1945 unterzeichnete er einen Vertrag, der die Abtretung der unteren Karpatoukraine an die Ukrainische Sowjetrepublik vorsah, vielleicht als Ersatz für die sowjetische Unterstützung gegen Polen im Gebiet von Teschen (vgl. Survey of International Affairs, 1939 — 1946, America, Britain, Russia, London, 1953, S. 608).
Die Belohnung für all diese weitreichenden Konzessionen war ein ununterbrochener Betrug und letztlich die brutale Sowjetisierung des Landes. Während der Münchner Krise „machte die Sowjetunion nicht die geringste Andeutung eines bedingungslosen Beistandsangebotes“
(M. Beloff: The Foreign Policy of Soviet Russia, New York 1949, Bd. II, S. 155). Als die Rote Armee im Sommer 1944 die Karpaten erreichte, wurde bei Banska Bystrica vom slowakischen Befehlshaber ein Aufstand proklamiert (29. VIII. 1944); man brauchte mehrere deutsche Divisionen, um diese Erhebung niederzuschlagen, die von den slowakischen Sozialdemokraten und den liberalen Gruppen unterstützt worden war. Diese hatten nämlich mit den slowakischen Kommunisten ein Weihnachtsabkommen zur Wiederherstellung der Tschechoslowakei „in enger Zusammenarbeit mit der Sowjetunion" unterzeichnet (1943). Aber die Rote Armee, der dieser Aufstand sehr gelegen kam, wurde in ihrem Vormarsch — wie es bei Warschau der Fall war — während längerer Zeit aufgehalten. Ungefähr 30 000 Slowaken aller politischen Schattierungen fanden dadurch den Tod (Communist Takeover and Occupation of Czechoslovakia, Special Report No. 8 of The Select Committee on Communist Agression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, Washington 1955).
Am 6. V. 1945 wurden die Truppen General Pattons, die einen Punkt acht Meilen westlich Prag erreicht hatten, zurückbeordert, nachdem von der sowjetischen Heeresleitung Einspruch erhoben worden war.
Prag wurde befreit und bis Dezember 1945 von sowjetischen Truppen besetzt, die dann gleichzeitig mit den amerikanischen Armeen zurückgezogen wurden. Aber eine so kurze Besetzungsperiode im Verein mit dem „Kosice Programm" genügte den Kommunisten, um die meisten Schlüsselstellungen zu besetzen; unter anderem übernahmen sie die Ministerien des Innern und der Polizei. Mit den ersten Wahlen (26. V. 1946) errangen sie ihren größten echten Wahlerfolg (114 Sitze von 298). Der Kommunist K. Gottwald wurde Ministeipräsident. Es hatte den Anschein, daß alle kommunistischen ehrgeizigen Pläne auf legalem Wege verwirklicht worden waren.
Doch die eigentliche Sowjetisierung der Tschechoslowakei mußte mit Gewalt herbeigeführt werden: Eine Reihe von Polizeiaktionen (Herbst 1947 bis März 1948) ebnete den Boden für den Staatsstreich vom 22. bis 25. II. 1948. Den Vorwand dazu bot der Rücktritt von zwölf nichtkommunistischen Mitgliedern aus dem Kabinett Gottwald aus Protest gegen die rasche kommunistische Durchdringung der Polizei. Der sowjetische Bevollmächtigte Außenminister W. A. Zorin wurde nach Prag abgesandt, um der Kommunistischen Partei an Ort und Stelle beizustehen. Die Zeitung Iswestija schrieb, daß „die 200 Millionen Menschen der Sowjetunion hinter dem heroischen Kampf der tschechoslowakischen Partei stehen" (ebd., S. 23). Die Kommunistische Partei schritt mit ihrer Polizei zu Hausuntersuchungen und Verhaftungen; Polizei und von Kommunisten gelenkter Pöbel besetzten die Büros und Druckereiwerkstätten der anderen Parteien und Zeitungen. Am 25. II. 1948 wurde der kränkliche Benes von der „Notwendigkeit überzeugt", eine neue Gottwald-Regierung, ein gefügiges Werkzeug in der Hand Moskaus, zu bestellen. Der Außenminister Jan Masaryk (Sohn des ersten Präsidenten) beging am 3. III. 1948 Selbstmord oder wurde ermordet. Benes demissionierte am 4. VI. 1948 und starb, an Körper und Seele gebrochen, am 3. IX. 1948. Die Sowjetisierung der Tschechoslowakei war vollendet.
§ 14. UNGARN In einem Zeitraum von nicht mehr als hundert Jahren übte Ruß-land viermal einen unheilvollen Einfluß auf das Schicksal der ungarischen Nation aus. Im Jahre 1849 spielte die russische Armee eine entscheidende Rolle in der Vernichtung des unabhängigen ungarischen Staates, der unter Kossuths Führung die Befreiung von der österreichischen Herrschaft forderte. Im Jahre 1919 wurde unter Bela Kun eine ungarische Räterepublik errichtet. Diese vier Monate kommunistischer Herrschaft hinterließen bei der Bevölkerung eine unauslöschliche Erinnerung an Terror und Mißhandlung aller Gesellschaftsschichten. Im Jahre 1944 wurde Ungarn von neuem das Opfer russischer Herrschaft und Ausbeutung und nach der Revolution 1956/57 zum viertenmal unterjocht. Es ist ein Paradox der geschichtlichen Situation Ungarns (ein Paradox, das es mit Rumänien teilt), daß es, nachdem das Land in der Folge der sowjetischen Kollaboration mit Hitler unter den Machteinfluß des nationalsozialistischen Deutschlands geraten war, nun für die ihm von Hitler aufgezwungene Beteiligung am Krieg gegen Rußland den Preis zu bezahlen hatte. Die Behandlung Ungarns durch die Sowjets ist noch härter und strenger gewesen als diejenige der anderen Staaten. Und doch, trotz der zwölf Jahre polizeilichen Terrors, politischer Unterdrückung und kommunistischer Propaganda, hat das ungarische Volk im Jahre 1956 die Waffen gegen die russische Besetzung und das ihm auferlegte Regime ergriffen. Die Unterdrückung der ungarischen Freiheitsbewegung durch die russischen Panzer im November 1956 ist ein prägnantes Beispiel des sowjetischen Imperialismus.
Das sowjetisch-nationalsozialistische Abkommen vom 23. VIII. 1939 wies Ungarn der deutschen Einflußsphäre zu. Hitler soll dies am 13. XL 1940 bekanntgegeben haben (Nazi-Soviet Relation s, S. 160 bis 161). Rußland anerkannte dies scheinbar, doch machte es ständig sein Interesse an Ungarn geltend. So gab Molotov am 25. VI. 1940 eine Erklärung ab, worin er gewisse ungarische Forderungen billigte, und Stalin ließ den ungarischen Minister Kristoffy ausdrücklich anfragen, warum Ungarn nicht Rumänien angreife (berichtet von J. F.
Montgomery, dem früheren amerikanischen Botschafter in Ungarn, in:
Hungary , the Un wil lingSat e 11 i t e , New York, 1947, S. 138).
Einige Tage vorher hatte Molotov den deutschen Botschafter unterrichtet, daß Sowjetrußland im Begriffe sei, Bessarabien nötigenfalls mit Gewalt zu annektieren. Ungarn ging aber auf diesen hinterlistigen Rat nicht ein. Später, zur Zeit des zweiten Wiener Schiedsspruches (30. VII.
1940) gab Molotov zu verstehen, „daß die Sowjetregierung an Rumänien und Ungarn interessiert sei". (Nazi-Soviet Relations , S. 187.)
Da Ungarn der deutschen Einflußsphäre ausgeliefert war, unterzeichnete es den Dreimächtepakt (20. XL 1940), erklärte den Vereinigten Staaten den Krieg (13. XII. 1941) und kämpfte gegen Rußland. An den Feindseligkeiten beteiligte es sich jedoch nur halben Herzens; nicht mehr als vier Divisionen scheinen an der Ostfront mitgekämpft zu haben (vgl. Tufton Beamish: Must Night Fall? London 1950, S. 97). Außerdem legte Ungarn einen beachtenswerten Grad wirksamen Widerstandes gegenüber dem nationalsozialistischen Druck an den Tag. Bis zu seiner Besetzung durch deutsche Truppen (im Jahre 1944) sind unter all seinen Regierungen (mit Ausnahme vielleicht derjenigen Bardossys) eine eindrucksvolle Anzahl offener oder geheimer prowestlicher Aktivitäten zu verzeichnen, z. B. gewährte Ungarn vielen Tausenden polnischer, oder anderer alliierter Staatsbürger eine Freistatt, viele Juden fanden in Ungarn ein Asyl, und mehr als 50 000 polnische Soldaten konnten Ungarn passieren, um in der polnischen Armee im Westen Kriegsdienste zu leisten (Zeugenaussage von Msgr.
Varga in: Communist Takeover and Occupation of Hungary, Special Report No. 10, Select Committee on Communist Agression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, Washington 1955, S. 8*). Bereits im Jahre 1943 bestanden Kontakte zwischen ungarischen und anglo-amerikanischen Vertretern, um den Übertritt Ungarns ins Lager der Alliierten herbeizuführen. Im März 1944 wurde eine amerikanische Militärmission durch Fallschirmabsprung in Ungarn abgesetzt (ebd. S. 7). Als schließlich die russischen Truppen in Ungarn eindrangen, schloß die mit Deutschland verbündete Regierung Horthy mit den Sowjets einen vorläufigen Waffenstillstand (1. X. 1944). Daraufhin verhaftete ein Einsatzkommando der Deutschen, die zur Sicherung der Nachschubwege in Ungarn stationiert waren, Admiral Horthy. An dessen Stelle wurde Szalassy mit seinen Pfeilkreuzlern gesetzt. Trotz dieser von den Deutschen abhängigen Marionettenregierung war Ungarn de facto von einem Deutschland verbündeten Land zu einem von den Deutschen besetzten Land geworden.
Die russischen Truppen jedoch behandelten Ungarn als Feindmacht und brachten während ihres weiteren Vormarsches durch ihre Ausschreitungen das Volk zur Verzweiflung. (Vgl. Bericht der schweizerischen Gesandtschaft über die russische Invasion Ungarns, Text in:
J. FL Montgomery, S. 239— 245.)
Eine Gruppe ungarischer Kommunisten war mit den sowjetischen Kommunisten ins Land zurückgekehrt und nahm nach und nach alle wichtigen Stellungen im politischen Leben in Besitz. Bei der Vorwahl am 21. XII. 1944 erhielten die Kommunisten 72 Sitze (bei einem Total von 230) in der Provisorischen Nationalversammlung in Debrecen, doch übten sie Kontrolle über die Polizei, das Verkehrswesen und die Agrarreform in der Koalitionsregierung von General D. Miklos aus.
(Communist Takeover and Occupation of Hungary, S. 13.) Diese Regierung unterzeichnete am 20. I. 1945 ein Waffenstillstandsabkommen; dieses sah eine Alliierte Kontrollkommission vor, deren Vorsitz der Sowjetmarschall K. Vorosilov führte und die ausschließlich von Russen gehandhabt wurde. Ungarn kehrte zu seinen Grenzen von 1937 zurück, und nicht geringe Kriegsentschädigungen wurden ihm auferlegt.
In den ersten Nachkriegswahlen (4. XL 1945) holten sich die Kommunisten nur 17% aller Stimmen trotz der von den Sowjetstreitkräften ausgeübten Kontrolle und des Terrors. Die Kleine Landwirte-Partei erhielt 57 %. Diese Partei wurde (XL 1945 bis IX. 1947) durch die üblichen Methoden falscher Anklagen, Verhaftungen und Einschüchterungen liquidiert. Eine zu gelegener Zeit aufgedeckte Verschwörung diente als Vorwand für die Verhaftung des Generalsekretärs und mehrerer prominenter Mitglieder dieser Partei; drei von ihnen wurden zum Tode verurteilt. Der Ministerpräsident F. Nagy und der Sprecher des Parlamentes, Msgr. B. Varga, fanden ihre Zuflucht im Ausland (V. —VI. 1947).
Die sozialdemokratische Partei zwang man mit ähnlichen Mitteln zu ihrer Verschmelzung mit der kommunistischen Partei (1948), und die demokratische Partei wurde 1949 aufgelöst. Im Mai 1949 fanden Wahlen nach dem sowjetischen Einlistensystem statt, die der „Volksfront“
eine unvermeidliche Mehrheit sicherte. (Communist Takeo v. er and Occupation of Hungary, S. 19— 23.)
Das Recht Rußlands, in Ungarn „so viele Streitkräfte zu unterhalten, als es zur Aufrechterhaltung der Verbindungslinien . . . mit der sowjetischen Besetzungszone in Österreich bedarf", (Peace Treaty, Paris 10. II. 1947, Art. 22; A 11 i e d Peace Treaties, Treaty of Peace with Hungary) wurde durch die sowjetische Ratifizierung des Friedensvertrages mit Österreich hinfällig (11. VI. 1955); doch der Warschauer Vertrag (14. V. 1955) trat für eine neue Rechtfertigung der Anwesenheit russischer Truppen auf ungarischem Boden an dessen Stelle.
Die ungarische Revolution war die direkte Folge der russischen Ausbeutung und der kommunistischen Mißherrschaft. Am 23. X. 1956 schossen Sicherheitstruppen auf eine Massendemonstration der Studenten vor dem Standbild des polnischen Generals Bem aus dem 19. Jahrhundert, woraus sich dann der Aufruhr entwickelte. Das war das Zeichen für einen weitverbreiteten Straßenkampf und für das erste Eingreifen russischer Truppen, offenbar auf Wunsch der ungarischen Regierung. Aber während der Nacht wurde die Regierung umgebildet und der Premier, Imre Nagy, ein früherer kommunistischer Premierminister, lehnte jede Verantwortung für dieses Ansuchen ab. Es wurde später dem Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei, Ernö Gero, zugeschrieben, der am 25. X. 1956 entlassen wurde.
Imre Nagy, der einige Zeit vorher bei der kommunistischen Partei in Ungnade gefallen war, sah sich selbst einem wachsenden Druck des Volkes ausgesetzt, der sich auf die Befreiung Ungarns von der sowjetischen Besetzung und auf die Errichtung eines wahrhaft demokratischen Regimes richtete. Er gab diesen Forderungen nach, indem er dreimal die Zusammensetzung der Regierung änderte (zwischen dem 24. X. und 4. XI. 1956) und nicht-kommunistische Politiker in sein Kabinett aufnahm. In der Zwischenzeit waren nach heftigen Kämpfen große Gebiete des Landes und Teile der Hauptstadt unter die Kontrolle der Aufständischen gekommen. Nagy verkündete den Zusammentritt der National-Versammlung, die Abschaffung des Ein-Parteien-Systems, den Austritt aus dem Warschauer Pakt und proklamierte die Neutralität Ungarns. Ebenso ersuchte er Rußland um den Beginn von Verhandlungen über den Abzug der sowjetischen Truppen.
Am 30. X. 1956 veröffentlichte die sowjetische Regierung eine offizielle Erklärung, in der sie versprach, bei den Beziehungen zwischen den Staaten der . großen Gemeinschaft sozialistischer Nationen ... an den Grundsätzen voller Gleichheit, der Achtung der territorialen Integrität, der staatlichen Unabhängigkeit und Souveränität und an der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten des anderen" festzuhalten. Die Erklärung besagte weiterhin, daß Rußland die Entwicklung der Ereignisse in Ungarn, die zum Blutvergießen geführt hätten, tief bedauere und daß „ ... die sowjetische Regierung an ihr Militärkommando die Anweisung gegeben hat, die sowjetischen Einheiten aus Budapest zurückzuziehen, sobald das von der ungarischen Regierung als notwendig angesehen wird." (Radio Moskau am 30. X., Übersetzung durch Reuter, New York Times, 31. X. 1956).
Aber schon am 31. X. kamen frische sowjetische Truppen nach Ungarn. Am 1. November protestierte der Premierminister Nagy wiederholt beim sowjetischen Botschafter gegen die neuerliche Invasion und informierte außerdem den Generalsekretär der Vereinten Nationen. Die Russen jedoch schienen zu beruhigen. Mikojan kam nach Budapest und der sowjetische Botschafter sprach von einer einfachen Umgruppierung der sowjetischen Streitkräfte. Am 3. November begann ein gemeinsames Komitee ungarischer und sowjetischer Militärvertreter mit Besprechungen in Budapest. Dann ließen die So-wjets die Maske fallen. Am 4. November 1956 gab Nagy über Radio Budapest die folgende Erklärung ab:
„Hier spricht Imre Nagy. Heute bei Tagesanbruch grillen sowjetische Truppen unsere Hauptstadt mit der klaren Absicht an, die legale demokratische ungarische Regierung zu stürzen. Unsere Truppen stehen im Kampl.. (Radio Freies Kossuth, 4. XI. 1956, 04, 20 Uhr, . The Revolt in Hungary, a Documentary Chronology of Events, Free Europe Committee, New York, S. 82).
Eine halbe Stunde später sprach Nagy zum letztenmal über Radio Budapest:
„Imre Nagy, Premier der Nationalregierung, fordert Pal Maleter, Verteidigungsminister, Istvan Kovacs, Chei des Generalstabes und die anderen Mitglieder auf, die sich in das sowjetische Armeehauptquartier um 10 Uhr letzter Nacht begeben haben,... sofort zurückzukehren. .
(ebd. S. 83/N e w Y o r k T i m e s , 13. XII. 1956).
Man hörte nichts mehr von diesen ungarischen Abgesandten. Ein umfassender Angriff sowjetischer Streitkräfte begann, der die ungarische Revolution niederwarf. Moskau stellte eine neue „Revolutionäre Arbeiter-und Bauernregierung" unter der Führung von J.
Kadar auf (4. November). Imre Nagy fand zuerst in der jugoslawischen Botschaft Zuflucht. Aber später wurde er von sowjetischer Sicherheitspolizei verhaftet, die Kadars offizielles Sicherheitsgeleit und sein Versprechen gegenüber der jugoslawischen Regierung nicht beachtete. Das ungarische Volk leistete weiterhin auf alle mögliche Art Widerstand, und zwar gegen eine solche Übermacht, daß diese Entschlossenheit nur einer Massenverzweiflung zugeschrieben werden kann.
Die sowjetische Regierung ignorierte oder wies alle Einsprüche, Forderungen und Resolutionen der Vereinten Nationen zurück, die einen Abzug ihrer Truppen aus Ungarn verlangten. Rußland legte am 4. XL 1956 gegen eine Resolution des Sicherheitsrates ein Veto ein.
In der Vollversammlung wurden zwischen dem 4. X. und dem 12. XII.
1956 zehn Resolutionen über Ungarn angenommen. In ihrer Resolution beschloß an jenem Tage die Vollversammlung:
„...den Bruch der Charta durch die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (zu) verurteilen, der darin besteht, Ungarn seiner Freiheit und Unabhängigkeit und das ungarische Volk der Ausübung seiner Grundrechte zu berauben."
Die Marionettenregierung Kadar setzte sich über diese Resolutionen hinweg, indem sie Beobachtern der Vereinten Nationen Einreisegenehmigungen verweigerte und das Angebot des Generalsekretärs zurückwies, nach Budapest zu kommen. Am 10. I. 1957 beschloß die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit 59 gegen acht Stimmen die Einsetzung eines aus fünf Nationen gebildeten Komitees zur Beobachtung der Situation in Ungarn und für Befragungen ungarischer Flüchtlinge. 167 208 solcher Flüchtlinge war bis zum 16. I. 1957 in Österreich Asyl gewährt worden (N e w Y o r k T i m e s, 17. 1. 1957).
§ 15. RUMÄNIEN Am 3. IV. 1944 gab Molotov im Namen Sowjetrußlands folgende Erklärung ab:
„Die Sowjetregierung erklärt, daß sie nicht das Ziel verfolge, irgendeinen Teil des rumänischen Territoriums zu erwerben oder in irgendeiner Weise die existierende soziale Ordnung in Rumänien zu ändern'
(Communist Takeover and Occupation of Rumania, Special Report No. 11, Select Committee on Communist Agression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, Washington 1955, S. 5).
Am 23. VIII. 1944 wurde der pro-deutsche Ministerpräsident Rumäniens auf Befehl König Michaels verhaftet, der am selben Tage eine Proklamation veröffentlichte, die die Einstellung des Feuers in den militärischen Operationen gegen die Russen verkündete. Zwei Tage später, am 25. VIII., bestätigte Molotov seine frühere Erklärung, fügte aber den bedeutsamen Satz hinzu:
• . . oder weiterhin die Unabhängigkeit Rumäniens in irgendeiner Weise zu beeinträchtigen" (C ommu nist Takeover andOccupation of Rumania, S. 6).
Am 28. II. 1945 überreichte der stellvertretende sowjetische Außenminister A. Vysinskij dem König von Rumänien ein auf zwei Stunden befristetes Ultimatum, das die Entlassung der Regierung Radulescu verlangte. Nach einem Aufmarsch russischer Truppen in den Straßen von Bukarest und einer weiteren Druckausübung von seifen Vysinskij's und des sowjetischen Frontkommandanten Marschall Malinowskij wurde eine „Nationale Demokratische Front-Regierung" mit dem Kommunisten P. Groza an der Spitze gebildet. König Michael von Rumänien wurde am 30. XII. 1947 zur Abdankung gezwungen und Rumänien im April 1948 eine Verfassung nach sowjetischem Muster oktroyiert.
Im Geheimprotokoll (Molotov-Ribbentrop-Pakt) vom 23. VIII. 1939 (Art. 3) bekundete Sowjetrußland sein „Interesse an Bessarabien“ und der deutsche Partner sein „vollkommenes politisches Desinteressement in bezug auf diese Gebiete" (Nazi-Soviet Relations, S. 78).
Am 23. VI. 1940 benachrichtigte Molotov den deutschen Botschafter dahingehend, daß die Sowjetregierung „entschlossen sei", für die „Lösung der bessarabischen Frage Gewalt anzuwenden", und ebenfalls auf die Bukowina Anspruch erhebe (ebd. S. 155). Drei Tage später wurde der rumänischen Regierung ein Ultimatum gestellt; da ihr eine Unterstützung von außen versagt blieb (Hitler empfahl Unterwerfung, und eine Hilfe von selten der Westmächte schien unmöglich), gaben die Rumänen den sowjetischen Forderungen nach. Am 28. Juni 1940 strömten russische Truppen in Bessarabien und in die Nordbukowina ein, deportierten Tausende von Menschen und verursachten eine Massenflucht über die neue Grenzlinie.
Es folgten die Druckausübung von Seiten der Achsenmächte, die aufgezwungene Abtretung Siebenbürgens, die Abdankung König Karls, die Bildung einer diktatorischen Regierung mit General Antonescu an der Spitze. Die Zahl der deutschen Truppen, die in Rumänien einmarschierten, belief sich im Februar 1941 bereits auf 680 000. Einige Monate später trat Rumänien unter der Diktatur Antonescus an der Seite Deutschlands in den Krieg gegen Rußland ein, trotz der Opposition des Führers der Bauernpartei, Maniu, und desjenigen der Liberalen Gruppen, D. Bratianu.
Dessen ungeachtet bemühten sich Vertreter Rumäniens im Ausland um Kontaktaufnahme mit den alliierten Mächten. Im März 1944 wurde ein mit Vollmachten ausgerüsteter Geheimvertreter König Michaels nach Ägypten gesandt, um dort die Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten zu besprechen. Von Molotovs Erklärung vom 3. IV. 1944 ermutigt, erließ König Michael am 23. VIII. 1944 eine Proklamation, die den Austritt Rumäniens aus dem Krieg verkündete. Antonescu wurde verhaftet und eine proalliierte Regierung unter General Sanatescu gebildet. Die Deutschen übten Vergeltung mit einer dreitägigen Bombardierung Bukarests von der Luft aus. Die ersten sowjetischen Truppen marschierten am 28. VIII. 1944 in die Hauptstadt ein, wobei sie sich in ihrer üblichen Art barbarisch benahmen. Moskau verlieh dem König den sowjetischen „Siegesorden" (ebd. SS. 274— 275). Das Waffenstillstandsabkommen wurde am 12. IX. 1944 in Moskau unterzeichnet. Die Sowjetisierung Rumäniens ging nun unter der sowjetischen Besetzung rasch vonstatten trotz der (von Anna Pauker zugegebenen)
Tatsache, daß sich die Zahl der lokalen Kommunisten ehemals auf weniger als tausend belief (Text in: T. Beamish, S. 134). Das kommunistische Regime Grozas wurde eingeführt. Die ersten Nachkriegswahlen (19. XI. 1946) wurden unter kommunistischem Druck, Einschüchterung und Terror durchgeführt. Die Zahl der den Oppositionsparteien zugewiesenen Sitze im Parlament war im voraus bekannt; die von der Regierung bekanntgegebenen Wahlergebnisse willkürlich zurechtgestutzt (vgl. Communist Takeover and Occupation of Rumania, S. 8). Während des Jahres 1947 wurden die Oppositionsparteien und selbst die mit der Regierung zusammenarbeitenden nichtkommunistischen traditionellen Gruppen in ihrer Tätigkeit gelähmt oder liquidiert. Den bekannten Bauernführer Maniu verurteilte man zu lebenslänglichem Zuchthaus, und seine Partei wurde aufgelöst. Im Februar 1948 belegten die Kommunisten und die von den Kommunisten kontrollierten Gruppen 405 von 414 Sitzen im Parlament (für Zahlenangaben vgl. H. Prost: Le destin de la Roumanie, Paris, 1954, S. 188— 215). Am 30. XII. 1947 wurde König Michael zur Abdankung gezwungen und mußte das Land verlassen. Rumänien wurde am 13. April 1948 offiziell zur „Rumänischen Volksrepublik* erklärt. Sowjetische Truppen blieben auch nach dem Abschluß des Friedensvertrages (Paris, 10. II. 1947) auf rumänischem Boden stationiert. Ihre Anwesenheit ist jetzt durch den zwischen Sowjetrußland und den unterjochten Ländern Zentral-und Osteuropas unterzeichneten Warschauer Vertrag (14. V. 1955) gedeckt.
§ 16. BULGARIEN Das Schicksal Bulgariens gleicht ungefähr demjenigen Rumäniens. Bulgarien hielt sich bis zur Zeit der nationalsozialistisch-sowjetischen Zusammenarbeit von jeder antisowjetischen Aktivität in der Außenpolitik fern. Doch Sowjetrußland erhob Anspruch auf dieses Land, insofern es zu seiner „Sicherheitszone" gehöre. Bulgarien mußte, nachdem es zu einem Bündnis mit Deutschland gezwungen worden war, den alliierten Westmächten den Krieg erklären, aber ließ sich auf keine Feindseligkeiten gegen die Sowjetunion ein. Als es im Jahre 1944 aus dem Kriege austreten wollte, erklärte ihm Sowjetrußland plötzlich den Krieg und verwarf dessen Waffenstillstands-gesuch. Das Land wurde von sowjetischen Truppen besetzt, die Regierung verhaftet und eine kommunistisch-bulgarische Volksrepublik ausgerufen.
Die Hauptdaten sind kurz folgende: 26. XI. 1940: Unterzeichnung des fünften Geheimprotokolls zwischen Sowjetrußland und Deutschland, durch welches Bulgarien der sowjetischen Interessensphäre zugeteilt wurde (Nazi-Soviet Relations, S. 259). 1. März 1941: Beitritt Bulgariens zum Dreimächtepakt. 12. XII. 1941: Kriegserklärung an Großbritannien und USA. (Communist Takeover and Occupation ofBulgaria, Special Report No. 7, Select Committee on Communist Agression, House of Representatives, 83rd Congress, 2nd Session, Washington 1955, S. 5). Juni 1944: der führende Politiker S. Musanov wird beauftragt, im Ausland Verhandlungen mit den Westmächten aufzunehmen. 23. VIII.: Erklärung des Ministerpräsidenten Bugrianow im Parlament, daß Bulgarien . offiziell aus dem Kriege ausgetreten sei" (ebd. S. 7). 5. IX. 1944: Sowjetrußland erklärt Bulgarien den Krieg. 8. IX.: Einmarsch sowjetischer Truppen in Bulgarien. 9. IX.: Verhaftung der legalen Regierung. XI. 1945: Die unter terrorartigen Verhältnissen durchgeführten Wahlen (zahlreiche Ermordungen und Verhaftungen) ergaben für die von den Kommunisten kontrollierte „Volksfront" eine Mehrheit. IX. 1946: Proklamierung der „Volksfront".
E. Die östlichen Länder
§ 17. DER NAHE UND MITTLERE OSTEN. ÜBERBLICK Lange Zeit ist die territoriale Ausdehnung in Richtung auf die warmen und offenen Meere ein wesentliches Merkmal russischer Außenpolitik gewesen. Der ständige Ehrgeiz war auf Zaren der die Besetzung Konstantinopels und einen Zugang zum Persischen Golf gerichtet, seitdem der russische Staat die Küsten des Schwarzen und Kaspischen Meeres erreicht hatte.
Diese Ziele wurden durch die sowjetischen Kommunisten ohne Änderungen übernommen.
Der in den Akten der deutschen Botschaft in Moskau gefundene „Vertragsentwurf“ über die Errichtung einer „neuen Ordnung" in den „natürlichen Einflußsphären" der Signatarmächte in Europa, Asien und Afrika enthält die folgende Erklärung:
„Die Sowjetunion erklärt, daß ihre territorialen Bestrebungen sich südlich des nationalen Territoriums der Sowjetunion in Richtung auf den Indischen Ozean konzentrieren.“ (Secret Protocol No. I, par. 4., Nazi-Soviet Relations, S. 257).
Am 26. XI. 1940 informierte Molotov den deutschen Botschafter, daß die Sowjetregierung geneigt sei, unter verschiedenen Bedingungen den obigen „Vertragsentwurf" anzunehmen. Im Hinblick auf den Nahen und Mittleren Osten sahen einige dieser Bedingungen so aus:
„Vorausgesetzt, daß innerhalb der nächsten Monate die Sicherheit der Sowjetunion in den Meerengen . . . durch die Errichtung eines Stützpunktes für Land-und Seestreitkräfte der UdSSR im Bereich des Bosporus und der Dardanellen mittels eines langfristigen Pachtvertrages gewährleistet ist.“
„Vorausgesetzt, daß das Gebiet südlich von Batum und Baku in Richtung auf den Persischen Golf als Mittelpunkt der Bestrebungen der Sowjetunion anerkannt wird.“ (ebd., S. 258, 159.)
Der Wortlaut der russischen Bedingungen macht deutlich, daß die Türkei, der Iran (und möglicherweise Afghanistan) in die „natürliche Einflußsphäre" der Sowjetunion einbezogen wurden.
Obwohl die sowjetische Politik in diesem Gebiet mehr als die übliche Anpassung und Täuschungsfähigkeit zur Schau stellt, so gibt es doch keinen Beweis einer echten Wandlung der Anschauung seit den mißlungenen Verhandlungen mit Hitler. Im Gegenteil, das gegenwärtige Interesse an den arabischen Ländern deutet auf eine weitere Ausdehnung der sowjetischen Absichten hin.
§ 18. TÜRKEI Die geheime Abmachungen von 1915, die eine Annektierung Konstantinopels und der Meerengen durch Rußland vorsahen, wurden im Mai 1917 von der Provisorischen Regierung des Prinzen Lvov aufgekündigt. Lenin unterstützte diese Politik energisch. Bald entwickelte sich eine kemalistisch-sowjetische Zusammenarbeit in Transkaukasien. In der Zeit zwischen den Weltkriegen fanden die guten Beziehungen zwischen den beiden Regierungen ihren Ausdruck in einer Reihe von Verträgen und Übereinkommen.
Bemerkenswert ist der Artikel 5 des Sowjetisch-Türkischen Freundschafts-und Zusammenarbeitsabkommens vom 16. III. 1921, der ausdrücklich den Abschluß eines jeden Vertrages seitens der Signatarmächte untersagt, der „... die volle Souveränität der Türkei oder die Sicherheit ihrer Hauptstadt Konstantinopel beeinträchtigen (könnte).“ (Sbornik dejstvujuscich dogovorov, soglasenii i konvencii, zaklucennych s innostrannymi gasudarstvami, Moskva, 1924 Bd. I. S. 156.)
Unter den weiteren sowjetisch-türkischen Abkommen jener Periode sollte der Freundschaftsvertrag erwähnt werden, der mit den Sowjetrepubliken Aserbaidshan, Armenien und Georgien am 13. Oktober 1921 unterzeichnet wurde; dann der Neutralitäts-, Nichtangriffs-und Freundschaftspakt vom 17. XII. 1925; das Marine-Protokoll vom 3. III.
1931; und schließlich die Konvention über die Definition eines Angriffes vom 3. VII. 1933.
Die Geheimverhandlungen Molotovs mit Hitler und Ribbentrop zeigen dagegen eindeutig, daß die Türkei in die „natürliche Einflußphäre" der Sowjetunion einbezogen wurde. Die Bestimmungen des Freundschaftsvertrages vom März 1921 ebenso wie alle anderen sowjetischen Versprechen und Verpflichtungen gegenüber der Türkei sind dementsprechend mit Hilfe Hitler-Deutschlands gebrochen worden.
Aber das Abkommen kam nicht zustande und die Türkei wurde durch die Auflösung der sowjetisch-nationalsozialistischen Partnerschaft vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt.
Wie dem auch sei, die territorialen Absichten auf die Türkei wurden nur zeitweilig aufgeschoben.
Am 19. III. 1945 kündigte die sowjetische Regierung den Vertrag mit der Türkei vom 17. XII. 1925.
Die russischen Bedingungen für den Abschluß eines neuen Vertrages wurden der türkischen Regierung am 25. VI. 1945 übermittelt und waren im folgenden Jahr in der sowjetischen Note an die Türkei vom 7. VIII. 1946 enthalten.
Sowjetrußland forderte, daß eine Neuregelung der Meerengenfrage unter alleiniger Teilnahme der Sdrwarzmeer-Mächte und unter Ausschluß aller anderen Staaten geschaffen werde; daß zweitens die Türkei und die Sowjetunion gemeinsam die Verteidigung der Meerengen übernehmen sollten, (The Problem of the Türkis h Straits, U. S. Dept. of State, Washington 1947, S. 49).
In dem diplomatischen Notenaustausch gegen Ende des Jahres 1946 widerstand die Türkei erfolgreich allen Versuchen, ihre Souveränität zu beschränken und Rußland irgendeinen Teil des Staatsgebietes zu verpachten oder zu überlassen. Infolgedessen konnte auch kein sowjetischer Militärstützpunkt im Bereich der Meerengen errichtet werden.
Die Türkei wurde durch die USA und Großbritannien gestützt, wo sich seit den Konferenzen von Yalta und Teheran ein bemerkenswerter Stimmungsumschwung vollzogen hatte.
Nach Stalins Tod versuchte Moskau einen neuen „Dreh". Am 30. V.
1953 stellte die Sowjetunion in einer Note an die türkische Regierung ausdrücklich fest, daß sie „absolut keine territorialen Forderungen gegenüber der Türkei habe", und sich mit der gegenwärtigen Regelung der Meerengenfrage einverstanden erkläre. (Keesing's Contemporary Archives, 1953, S. 13 101). Diese Position wurde nach außen hin aufrechterhalten.
Eine Erklärung für die relativ versöhnliche Haltung der Sowjets gegenüber der Türkei könnte man in dem neuen russischen Bestreben erblicken, den Nahen Osten mit Hilfe der arabischen Staaten zu durchdringen. Die Errichtung sowjetischer Stützpunkte oder die Bildung „befreundeter Regierungen" in diesem Gebiet würde in gefährlicher Weise die Türkei umklammern und könnte die Erneuerung russischer territoraler Ansprüche zur Folge haben.
§ 19. IRAN Die Regierung Lenins verurteilte nachdrücklich die Annexions-und Einmischungspolitik, die vom zaristischen Rußland seit den Zeiten Katharinas II. gegenüber Persien verfolgt worden war. In Noten an die persische Regierung vom 14. I. 1918 und vom 26. VI. 1919 verzichteten die Sowjets auf alle russischen Konzessionen und Privilegien im Iran, annullierten die persischen Schulden an Rußland und erklärten den anglo-russischen Teilungsvertrag von 1907 für null und nichtig. Artikel II des sowjetisdi-persischen Vertrages vom 26. II. 1921 brandmarkte die Politik der zaristischen Regierung als verbrecherisch und stellte fest:
„. . . Die Regierung der RSFSR verwirft jene verbrecherische Politik nicht nur deshalb bedingungslos, weil sie die Souveränität der asiatischen Staaten verletzt, sondern weil sie auch zu organisierter brutaler Gewaltanwendung europäischer Räuber gegenüber den Staatsorganismen der Völker des Ostens führt.“ (Sbornik dejstvujuscich dogovorov, S. 148.)
Diese sowjetischen Versicherungen erwiesen sich wie im Falle anderer russischer Nachbarstaaten als bedeutungslos. Mit Hilfe von Truppen der Roten Armee, die Teile iranischen Gebietes besetzten, versuchte Rußland zweimal, gewaltsam sowjetische Systeme in Nord-persien aufzurichten. Jedoch brachen die „Ghilanische Sowjetrepublik" (1920-1921), wie auch die „Autonome Republik Aserbeidschan“ und die „Kurdische Volksrepublik“ (1945-1946) nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zusammen.
Die sowjetischen Truppen verließen Iran im Jahre 1918, kamen aber bei der Verfolgung der Armee Denikins im Mai 1920 in die Provinz von Ghilan zurück. Eine „Persische Sozialistische Republik" wurde daraufhin in Ghilan ausgerufen. Sie nahm gegenüber der Regierung in Teheran eine drohende Haltung ein, brach aber zusammen, als sich die sowjetischen Truppen im September 1921 zurückzogen.
Während des zweiten Weltkrieges drangen sowjetische (und britische) Truppen in Persien ein. Am 29. I. 1942 schloß der Iran mit der SU und Großbritannien einen Bündnisvertrag, der in Art. 5 vorsah, daß die alliierten Truppen „nicht später als sechs Monate" nach Beendigung der Feindseligkeiten das Land verlassen sollten. Am 9. IX.
1943 erklärte der Iran Deutschland den Krieg.
Aber die sowjetischen Truppen zogen sich zur festgesetzten Frist nicht aus dem Lande zurück. Am 12. XII. 1945 wurde in Täbris eine „Autonome Republik von Aserbeidschan" ausgerufen und fast gleichzeitig eine „Kurdische Republik" (in den persisch-türkischen Grenzgebieten). Deren Regierungen schlossen am 23. IV. 1946 untereinander einen Bündnisvertrag ab.
Iran appellierte an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (Januar 1946). Am 6. V. 1946 zogen die sowjetischen Truppen plötzlich ab.
Die Gründe dieses Rückzuges sind noch nicht geklärt. Beide „Republiken" brachen gleich nach dem Abzug der sowjetischen Truppen zusammen — die iranische Wehrmacht wurde im Dezember 1947 als Befreier begrüßt.
§ 20. DER FERNE OSTEN; ÜBERBLICK Die weitreichenden territorialen und politischen Absichten der Russen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in St. Peters-burg Gestalt annahmen, schlossen Sachalin, die Kurilen, Korea, die Mandschurei, die Mongolei und wenigstens den nördlichen Teil des chinesischen Festlandes ein.
Die russische Expansion wurde allerdings nach dem Kriege von 1904-1905 von Japan unterbunden und bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht wieder ausgenommen. Im Anschluß an die Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg und an den Zusammenbruch Nationalchinas auf dem Festland entstand ein auf Moskau und Peking ausgerichteter kommunistischer Machtblock, der den russischen Einfluß bis an die Genzen von Indien, Burma und Thailand ausdehnte.
Die Ausbreitung kommunistischer Ideen unter den asiatischen Völkern galt schon lange als eine der Hauptaufgaben der bolschewistischen Partei. Bereits Lenin hatte das in Betracht gezogen:
„Der Ausgang des Kampfes hängt in letzter Instanz davon ab, daß Rußland, Indien, China usw. die gigantische Mehrheit der Bevölkerung der Erde darstellen." (Lenin, Lieber weniger, aber besser, AW 9, S. 434.)
Stalin bestand wiederholt auf der Notwendigkeit, „das eigentliche Hinterland des Imperialismus — die östlichen kolonialen und halb-kolonialen Länder" in Brand zu setzen (Soc. Bd. 5, S. 237— 238). Er dachte auch an eine „Union des japanischen Volkes mit dem Volk der Sowjetunion (ebd. Bd. 7, S. 228) und er hegte keinen Zweifel daran, daß das Anwachsen der revolutionären Bewegungen in China, Indonesien und Indien eine „entscheidende Bedeutung für das Schicksal des Weltimperialismus" haben würde (ebd. Bd. 10, SS. 282— 283).
Deshalb wurden in allen asiatischen Ländern intensive Anstrengungen von den Kommunisten unternommen.
Während die sowjetische Regierung den hemmungslosen Imperialismus der zaristischen Regierung brandmarkte, führte sie doch bald selbst eine ähnliche annexionistische Politik im Fernen Osten unter dem Vorwand der „Befreiung" von feudaler oder ausländischer Unterdrückung durch. So kamen chinesische Provinzen und abhängige Gebiete wie die Äussere Mongolei, Teile von Sinkiang, Tannu Tuva auf verschiedene Art und Weise unter die sowjetische Herrschaft oder Kontrolle.
In Yalta stieß die sowjetische Regierung ihre Haltung hinsichtlich der zaristischen Er werbungen im Fernen Osten offiziell um. Die sowjetische Teilnahme am Krieg gegen Japan wurde von der Wiederherstellung „früherer Rechte Rußlands, die durch den verräterischen Angriff Japans im Jahre 1904 verletzt wurden", abhängig gemacht. (D o -
c u m e nts on American Foreign Relations 1944 — 45, World Peace Foundation, Princeton).
Das Abkommen von Yalta — in nachfolgenden Verhandlungen bestätigt — gab Sowjetrußland die Ermächtigung, die Mandschurei, Dairen, Port Arthur und Südsachalin zu annektieren, ebenso die Kurilen und zwei kleine Inseln, die zum japanischen Hauptarchipel gehören. (Nach Artikel 9 der sowjetisch-japanischen „FriedensErklärung“ am 19. X. 1956 in Moskau unterzeichnet, sind die Inseln Habomai und Shihotan von Rußland an Japan nach dem Abschluß eines Friedensvertrages zurückzugeben. Nach New York Times vom 29. X 1956).
Die Besetzung der Mandschurei durch sowjetische Truppen (August 1945 — Mai 1946) war der Wendepunkt der Lage in China. Sie verschob das Gleichgewicht entscheidend zu Gunsten der kommunistischen Streitkräfte und führte zu ihrem darauffolgenden Sieg auf dem chinesischen Festland. Das Auftauchen dieser neuen kommunistischen Macht brachte weitere imperialistische Unternehmen im Fernen Osten mit sich: den Krieg in Indochina, die Invasion nach Korea und die de-facto-Annektierung Tibets durch das kommunistische China.
§ 21. CHINA a. Überblick Die Geschichte der Eroberung Chinas durch die Kommunisten umfaßt ungefähr dreißig Jahre und zerfällt in vier Abschnitte.
(1) Zuerst versuchten die Kommunisten die Kuomintang (KMT) durch Infiltration zu beherrschen. (2) Es folgte dann (1927-1936/37) der erste Bürgerkrieg, in welchem die in der Sowjetunion geschulten Kommunisten ihre eigenen Truppen aufstellten und von den von ihnen beherrschten Gebieten aus Krieg gegen die KMT führten. (3) Die dritte Periode (1937-1946/47) ist jene der „Einheitsfront" mit der KMT. (4) Endlich, nach der Besetzung der Mandschurei durch sowjetische Truppen (August 1945 — Mai 1946), kam es zum zweiten Bürgerkrieg. Mit Hilfe des japanischen Kriegsmaterials, das ihnen von den Sowjettruppen überlassen wurde, formten die Kommunisten ihre Guerillaarmee in eine reguläre Feldarmee um und siegten dann. Im Dezember 1949 verließ die Nationalregierung das Festland, auf dem die Chinesische Volksrepublik errichtet wurde.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern wurde also China nicht direkt durch die sowjetischen Truppen erobert. Diese haben nur durch eine vorübergehende Okkupation eines Teiles des Landes in entscheidender Weise zum Siege des Kommunismus beigetragen. Alle bekannten Methoden kommunistischer Taktik wurden dabei angewandt: Infiltration, trügerische Propaganda, offene Gewalt, der Bruch von Versprechungen usw.
Auf Einzelheiten dieser komplizierten Geschichte kann nicht eingegangen werden. Als Beispiele für die angewandten Methoden soll jedoch das Verhalten der Kommunisten während der Periode der „Einheitsfront" (1937-1947) und die sowjetische Taktik um 1945 angeführt werden.
b. Die „Einheitsfront"
In ihrem Abkommen mit der Nationalregierung vom 22. IX. 1937 verpflichtete sich die Chinesische Kommunistische Partei, u. a. „Die Sowjetregierung abzuschaffen und ein demokratisches System einzuführen, damit die Nation politisch eine Einheit bilde." Außerdem ... die Rote Armee als solche abzuschaffen und zu gestatten, sie in die Nationalarmee einfügen zu lassen." (The Strategy and Tactics of Communis m, Communism in China, Committee on Foreign Affairs, Washington 1949, S. 27).
In einer Resolution des Politbüros der Chinesischen Kommunistischen Partei vom Oktober 1937 heißt es allerdings:
„Die Umwandlung der Roten Armee in die Nationale Revolutionäre Armee war lediglich ein Wechsel äußerlicher Natur. Es handelte sich um keine Reorganisation." (The Strategy and Tactics of Communism, S. 24.)
c. Die Sowjetunion und der zweite Bürgerkrieg Am 14. VIII. 1945 schloß Sowjetrußland mit der chinesischen Nationalregierung einen Freundschafts-und Bündnisvertrag, in dem sie sich u. a. verpflichtete, die volle Souveränität Chinas anzuerkennen und allein der „Zentralregierung von China" ihren Beistand zu leihen (Text in Soviet News, Nr. 1247, 23. VIII. 1945). Rußland brach jedoch diesen Vertrag, indem es die Mandschurei besetzte und den chinesischen Kommunisten erlaubte, sich mit den dort eroberten Beständen an modernen Waffen auszurüsten. Als sich im November 1945 die sowjetischen Truppen aus der Mandschurei zurückzogen, befand sich der größte Teil des Landes in den Händen der chinesischen Kommunisten. Diese besaßen damit die nötige territoriale und materielle Basis, um den Kampf gegen die Nationalregierung erneut aufzunehmen. Von hier aus nahm der zweite Bürgerkrieg seinen Anfang. § 22. KOREA Die Eroberung Koreas war seit der Jahrhundertwende ein Ziel der russischen Politik; die Sowjetunion hat diese Politik aufrechterhalten, indem sie schon 1925 Vorbereitungen zur Bolschewisierung Koreas traf. Im Zusammenhang mit der Kriegserklärung an Japan im Jahre 1945 versprach die sowjetische Regierung Korea Freiheit und Unabhängigkeit. Nachdem aber die sowjetischen Truppen Nordkorea besetzt hatten, wurde dort mit den üblichen Methoden eine Koreanische Volksrepublik errichtet und eine relativ sehr starke Armee aufgebaut. Die freien Wahlen in Südkorea jedoch brachten gleichzeitig eine klare Niederlage für die Kommunisten. — Alle Versuche, die beiden Teile Koreas auf dem Verhandlungswege zu vereinigen, scheiterten.
Am 25. VI. 1950 griff die Nordkoreanische Armee ohne Kriegserklärung Südkorea an. Obwohl es sich um eine klare Aggression handelte, die durch die erdrückende Mehrheit der Vereinten Nationen verurteilt wurde (Beschlüsse des Sicherheitsrates Juni/Juli 1950), wurden die nordkoreanischen Kommunisten durch die Sowjetunion energisch unterstützt — auf diplomatischer Ebene, durch Materiallieferungen und schließlich durch Truppen (chinesische Freiwillige). Nur durch den Einsatz von Truppen der Vereinten Nationen konnte die Aggression schließlich . zurückgewiesen werden.
Die erste koreanische Kommunistische Partei wurde 1925 gegründet;
1928 durch die Komintern aufgelöst, nach 1935 neubegründet. Die koreanische Auswanderung nach Sowjetrußland wurde unterstützt, der Gebrauch der koreanischen Sprache unter den Emigranten gefördert.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde die chinesische kommunistische Hauptstadt Yenan ein Zentrum kommunistisch-koreanischer Betätigung. 1944 bildete sich in Yenan eine koreanische (kommunistische) Volksbefreiungs-Liga.
Die Sowjetunion schloß sich am 8. VIII. 1945 den Erklärungen ihrer Alliierten von Kairo (1. XII. 1943) und Potsdam (26. VII. 1945) an, nach denen „. . . zu seiner Zeit Korea frei und unabhängig werden solle".
Am 12. VIII. 1945 drangen sowjetische Truppen in Korea ein.
In den nördlichen Provinzen wurde daraufhin mit den üblichen Methoden eine Volksdemokratische Republik errichtet, deren Charakteristikum der Aufbau einer schlagkräftigen Armee war (im Mai 1950 hatte sie eine Stärke von 183 000 Mann, 197 Flugzeugen, 173 Panzern und 32 Marineeinheiten. Die südkoreanische Armee bestand aus rund 100 000 Mann, die über keinerlei Offensivwaffen verfügten; zit. nach: Korea and the United Nations, Published by the United Nations Department of Public Information, Oktober 1950, S. 84).
In Südkorea fanden am 10. V . 1948 freie Wahlen statt, bei denen die antikommunistischen Parteien trotz umfangreicher Störversuche der Kommunisten einen vollen Erfolg errangen. Damit war jeder kommunistische Einfluß in Südkorea ausgeschaltet.
Am 25. VI. 1950 wurde Südkorea ohne Kriegserklärung durch nord-koreanische Truppen angegriffen und infolge seiner militärischen Schwäche fast vollständig besetzt. Der Weltsicherheitsrat nahm am selben Tag eine Resolution an, in der er „feststellt, daß diese Aktion einen Friedensbruch darstellt", und „die Regierung Nordkoreas auffordert, ihre Streitkräfte sofort hinter den 38. Breitengrad zurückzuziehen" (ebd., S. 7). Am 26. VI. 1950 traf in Lake Success der Bericht der am 38. Breitengrad stationierten Kommission der UNO ein, in dem es u. a. heißt: „Sie (die südkoreanischen Streitkräfte) wurden vollständig überrascht, da sie nach ihren Nachrichtenquellen keinen Grund hatten, zu glauben, daß eine Invasion nahe bevorstand." (ebd., S. 9.)
Am 27. VI. 1950 forderte der Sicherheitsrat die Mitglieder der Vereinten Nationen zur Unterstützung Südkoreas auf. Fünfzehn Mitglieder boten daraufhin Bodentruppen an oder entsandten sie, acht Mitglieder Seestreitkräfte, sechs Mitglieder Luftstreitkräfte. Viele andere Mitglieder entsandten Sanitätseinheiten (darunter Indien) oder gewährten Wirtschafts-und finanzielle Hilfe. Die Sowjetunion dagegen verurteilte mehrfach das Eingreifen der Vereinten Nationen und stellte sich dabei auf den Standpunkt, daß . . die Koreaner das . . . Recht haben, nach ihrem eigenen Belieben ihre inneren Angelegenheiten in bezug auf die Vereinigung Nord-und Südkoreas zu einem einzigen Nationalstaat zu regeln . . ." (ebd., S. 23). Darüber hinaus unterstützten sie Nordkorea tatkräftig mit Kriegsmaterial und Ausrüstungsgegenständen und entsandten eine russische Militärmission in Stärke von 3500 Mann (P. Calvocoressi, Survey of International Affairs, S. 473). Zu einem späteren Zeitpunkt billigte Sowjetrußland auch die bewaffnete chinesische Intervention und unterstützte die nordkoreanischen und chinesischen Behauptungen, in denen die Streitkräfte der USA der Aggression beschuldigt wurden.
F. Die Kommunistische Internationale
§ 23. DIE KOMINTERN Obwohl nicht vorausgesetzt werden kann, daß ein vollständiges Programm der Kommunistischen Internationale vor dem Sechsten Weltkongreß (1928) angenommen worden ist, war es Lenin selbst, der die Ziele der Dritten Internationale bestimmte und die Methoden erarbeitete, mittels derer sie zu erreichen waren. In den Eröffnungs-und Schlußansprachen an den Ersten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale (1919), in den 21 Aufnahmebedingungen (2. Kongreß — 1920), deren Autor er war, und in seinen anderen Schriften zu diesem Gegenstand während der gleichen Zeit machte Lenin klar, daß a) es das letzte Ziel der Dritten Internationale war, den „Sieg der kommunistischen Weltrevolution" zu sichern (Lenin, Rede bei der Eröffnung des I. Kongresses der Kommunistischen Internationale, AW 10, S. 28).
b) die Methode, -diesen Sieg zu erringen, der „BürgeTkrieg" ist, „. . .
der nicht nur in Rußland, sondern auch in den entwickelten kapitalistischen Ländern Europas . . . zur Tatsache . . ." geworden ist. (ebd., S. 27.)
cj „. . . jene praktische Form, die dem Proletariat die Möglichkeit gibt, seine Herrschaft zu vervHrklichen . . . das Sowjetsystem mit der Diktatur des Proletariats . . ." ist. (a. a. O.)
Die Dritte Internationale (Komintern), die im März 1919 von Delegierten aus dreißig Ländern gebildet war, wurde offiziell am 15. V. 1943 aufgelöst. In der zweiten Hälfte des September 1947 entstand auf einer Delegiertensitzung aus neun europäischen kommunistischen Parteien (in Wilcza Gra in Polen) eine neue Internationale unter dem Namen des Kommunistischen Informationsbüros (Kominform).
Es würde unlogisch sein, wenn man annehmen wollte, daß während einer Zeitspanne von dreißig Jahren die gemeinsame Organisation der kommunistischen Parteien unverändert geblieben sei. Es ist jedoch höchst zweifelhaft, daß die beiden Auflösungen den wirklichen Charakter der Umwandlungen enthüllten. Die Jahre 1919 und 1947, als beide Kommunistische Internationalen formell gegründet wurden, markieren die Anfänge umfassender politischer Offensiven der Sowjets mit dem Ziel des gewaltsamen Umsturzes der „bürgerlichen" Gesellschaft. Auf der anderen Seite, sowohl 1943 als auch 1956, als die Auflösungen bekanntgegeben wurden, hatte sich die Sowjetunion für einen Wechsel der Taktik entschieden, die am besten mit dem trügerischen Schlagwort der „friedlichen Koexistenz" gekennzeichnet ist. Aber die Art des tatsächlichen Verhaltens der kommunistischen Parteien bei der Unterstützung des sowjetischen Standpunktes zeugt nicht davon, daß zwischen 1943 und 1947 der koordinierende Apparat aufgehört hatte zu arbeiten, der den internationalen Kommunismus mit Moskau verbindet. Es ist noch zu früh, um schließen zu können, welche Form die internationale Zusammenarbeit zwischen den Kommunistischen Parteien nach der Auflösung der Kominform im Jahre 1956 angenommen hat. Dieser Schachzug war offensichtlich ein Teil der neuen Linie, der Moskau nach Chruevs plötzlichen Enthüllungen auf dem XX. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Februar 1956) zu folgen beabsichtigte. Es scheint jedoch, daß dieser neue Plan durch die Ereignisse in Polen (Posener Aufstand, Juni 1956) und besonders durch die ungarische Revolution (Oktober/Dezember 1956) völlig in Unordnung geraten ist.
Man mag jedoch ein deutliches Anzeichen für die sowjetischen und kommunistischen Absichten in dem offiziellen Bericht über die Auflösung der Kominform sehen:
„. . . die einzelnen Parteien und Parteigruppen werden brauchbare . Methoden finden, Verbindungen untereinander zu schaffen." (New York Times, 18. IV. 1956.)
Die Moskauer „Prawda" vom 18. IV. 1956 betonte ebenfalls, daß „die kommunistischen Parteien durch die weitreichende Gemeinsamkeit ihrer Interessen zusammengehalten werden . . . die Einheit der Ziele und der Interessen der werktätigen Klassen in den verschiedenen Ländern der 'Welt." (New York Times, 19. IV. 1956.)
Die Frage, ob die kommunistischen Internationalen wirklich aufgelöst wurden, wie man es offiziell und als man es offiziell verkündete, sollte auch in dem Licht der Anweisung Lenins betrachtet werden, daß man nämlich „ . . . legale Arbeit mit der illegalen Arbeit verbinden" muß. (Lenin, AW 10, S. 45 vgl. V § 1). Der gleiche Gedanke wird nachdrücklich in Paragraph 3 der Aufnahmebedingungen der Komintern betont, die auf dem Zweiten Kongreß im Jahre 1920 angenommen wurden:
„Die Kommunisten . . . sind verpflichtet, überall einen parallelen illegalen Apparat zu schaffen, der im entscheidenden Augenblick der Partei helfen soll, ihre Pflicht gegenüber der Revolution zu erfüllen."
(Lenin, Aufnahmebedingungen der KI, AW 10, S. 195.)
Es hat niemals ein ernsthafter Zweifel über die innigen Beziehungen zwischen der Kommunistischen Internationale und der Sowjetrussischen Regierung bestanden. Lenin, der Erste Vorsitzende des Rates der Volkskommissare war der Urheber, Gründer und große Anreger der Kommunistischen Internationale. Ihre Aufgaben waren in der Lehre Lenins fest verankert:
„Die Erste Internationale legte das Fundament zum proletarischen, internationalen Kampf für den Sozialismus. — Die Zweite Internationale war die Epoche der Vorbereitung des Bodens für eine weite, die Massen erfassende Ausbreitung der Bewegung in einer Reihe von Ländern. — Die Dritte Internationale hat die Früchte der Arbeiten der II. Internationale übernommen . . . und begonnen, die Diktatur des Proletariats zu verwirklichen.“ (Lenin, Die III. Internationale und ihr Platz in der Geschichte, AW 10, S. 32.)
-Lenin zog darüber hinaus in Betracht, daß „ . . . alle unterdrückten Klassen die gegenwärtige Form der Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion anerkennen." (Lenin, Collected Works, Vol. XXIII, S. 366). Nach seiner Ansicht bestand zwischen der Regierung, die in Rußland durch die bolschewistische Revolution aufgerichtet worden war und der Macht, auf deren Errichtung die Dritte Internationale in allen anderen Ländern hinzielte, wo die kommunistische'
Revolution erfolgreich sein würde, völlige Übereinstimmung.
Nach Lenins Tod verpflichtete sich sein Nachfolger feierlich, seinen Spuren zu folgen:
„Als Genosse Lenin von uns schied, hinterließ er uns das Vermächtnis, den Grundsätzen der Kommunistischen Internationale die Treue zu bewahren. Wir schwören Dir, Genosse Lenin, daß wir unser Leben nicht schonen werden, um den Bund der Werktätigen der ganzen Welt, die Kommunistische Internationale, zu festigen und zu erweitern!“
(Stalin, Zum Tode Lenins, WW 6, S. 46.)
Nahezu drei Jahrzehnte lang blieb der unbestrittene Herr der Sowjetunion, in der Folge Erster Sekretär der Kommunistischen Partei, Ministerpräsident und Oberkommandierender der sowjetischen Streitkräfte, Stalin, seinem Schwur treu:
„Genosse Stalin nahm eine führende Rolfe bei der Ausarbeitung des Programms der Kommunistischen Internationale ein. Es gibt keine einzige bedeutende Entscheidung der Kommunistischen Internationale . . . die nicht von Stalins Fähigkeit durchdrungen ist, . . .dem Feind einen vernichtenden Schlag zu versetzen." (Outline History of the Communist International, Society öf Foreign Workers, Moskau 1934, S. 51.)
Ferner ist offensichtlich, daß vom Gesichtspunkt der sowjetischen Regierung aus die Dritte Internationale einem doppelten Zweck dient: die bolschewistische Revolution in alle anderen Länder der Welt, zu tragen und schließlich auf die „ ... Gründung der Internationalen Räterepublik ..." zu zielen (Lenin, Schlußrede auf dem I. Kongreß der Kommunistischen Internationale, AW 10: S. 29), wie auch der Verteidigung der Sowjetunion durch alle außerhalb bestehenden kommunistischen Parteien und durch alle „wahren Revolutionäre". Im einzelnen:
„In Hinblick auf die Tatsache, daß die UdSSR das alleinige Vaterland des internationalen Proletariats ist . muß (das letztere) seinerseits den Erfolg der-Arbeit des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR erleichtern und sie gegen die Angriffe der kapitalistischen Mächte mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen." (Programm der Kommunistischen Internationale, angenommen durch den VI. Weltkongreß im September 1928 in Moskau. Neu abgedruckt in: Blueprint for World Conquest, Washington 1946, S. 222.)
„Im Augenblick ist das einzig entscheidende Kriterium des revolutionären proletarischen Internationalismus: bist du für oder gegen die UdSSR, das Mutterland des Weltproletariats?" (Vysinskij in: VF, 1948, Nr. 2.)
Besser jedoch als alle Dokumente beweist die dauernde Unterstützung durch die kommunistischen Parteien außerhalb Rußlands bei allen Schwankungen der sowjetischen Politik zwischen 1919 und 1956, daß der internationale Kommunismus in jener Periode ein festgefügtes Ganzes war. Während dieser 37 Jahre ahmten alle von Moskau anerkannten kommunistischen Parteien sklavisch die sich wandelnden Taktiken der sowjetischen Außenpolitik nach, angefangen bei den klaren Offensivhandlungen nach außen, wie 1919 und 1947, über die arglistigen Täuschungen der „Einheitsfront" (1928) und „Volksfront" (1935), bis zum letzten Plan der „friedlichen Koexistenz", der dem Tode Stalins folgte, aber scheinbar schon 1952 erwogen war. , Es gab sieben Weltkongresse der Dritten Internationale, die alle in Moskau abgehalten wurden; 1919, 1920, 1921, 1922, 1924, 1928, 1935.
Die ersten vier fanden statt, während man in Moskau noch große Hoffnungen auf einen schnellen kommunistischen Sieg in Mittel-und Osteuropa hegte. In Wirklichkeit jedoch bedeutete der polnische Sieg in der Schlacht von Warschau (August 1920) einen vierundzwanzigjährigen Stillstand für das Fortschreiten des kommunistischen Systems westlich der sowjetisch-polnischen Grenze, wie man ihr in Riga zugestimmt hatte (18. III. 1921). Obwohl sich die bolschewistischen Führer dessen zu jener Zeit noch nicht bewußt gewesen sein dürften, so konnten in Europa doch keine neuen sowjetischen Systeme gebildet werden, außer sie wurden mit Gewalt durch die Rote Armee an die Macht gebracht.
Aber von Moskau her gesehen schien die kommunistische Flut immer noch zu steigen. Auf ihrem Zweiten Kongreß (17. VII. bis 7. VIII. 1920), der wenige Tage vor der völligen Niederlage der Roten Armee vor den Toren von Warschau zu Ende ging, nahm die Komintern eine Reihe von Dokumenten an, die einen rein revolutionären Charakter hatten. Es waren die Statuten der III. Internationale (Blueprint for World Conquest, S. 41— 72), die Thesen und besonders die 21 Aufnahmebedingungen (s. Lenin AW 10, S. 193— 205).
Zwischen dem Zweiten und Dritten Kongreß ereigneten sich bedeutende Rückschläge: die Schlacht von Warschau, der Abfall der Mehrheit der italienischen Sozialistischen Partei und das Mißlingen eines versuchten Putsches in Deutschland. Dementsprechend war es möglich, auf dem Dritten Kongreß (Juli 1921) und dem Vierten Kongreß (November 1922) die ersten Ausflüchte, die ersten Rückzüge von den direkten Methoden des Kriegskommunismus zu entdecken. Auf dem Dritten Kongreß sprach Lenin über die sich ändernde Bedeutung des Begriffes „Massen": . . mit der Änderung des Charakters des Kampfes." (Lenin, AW 10: 280.) Auf dem Vierten Kongreß gab er einen viel gedämpfteren Bericht über „Fünf Jahre Russische Revolution und die Perspektiven der Weitrevolution" (ebd., S. 314— 329).
Der Fünfte Kongreß (Juli 1924) kam nach dem Tode Lenins und dem Gezeitenwechsel kommunistischer revolutionärer Anstrengungen in Deutschland zusammen. Die doppelte Krisis fiel mit einer Periode relativer Stabilisierung zusammen, die dazu benutzt wurde, die kommunistischen Parteien außerhalb der UdSSR zu reorganisieren. Die frühere Tendenz wurde umgestoßen. Wieder handelte es sich um einen Rückzug von den Massen und um eine „Bolschewisierung" der kommunistischen Parteien.
Der Sechste Kongreß (September 1928) nahm die vollständigste Sammlung von Richtlinien, Zielsetzungen und Prinzipien in Form des „Programms der Dritten Internationale" und der „Satzung und Richtlinien der Kommunistischen Internationale" an (Blueprint for World Conquest, S. 149— 258). Außer einigen Verbesserungen auf dem Gebiet der Taktik (Taktik der Einheitsfront) zeigen diese Dokumente, daß sich in bezug auf das Ziel der Weltrevolution, wie es von Lenin auf dem ersten Kongreß im Jahre 1919 vertreten wurde, nichts geändert hatte.
Die nächsten sieben Jahre bis zur folgenden Versammlung des Weltkongresses im Jahre 1935 waren vom kommunistischen Standpunkt aus gesehen eine Periode der Enttäuschung. Die wachsende Drohung Hitler-Deutschlands veranlaßte die sowjetische Regierung, eine Linie der Zusammenarbeit mit den kapitalistischen und „bourgeoisen" Ländern und mit dem Völkerbund einzuschlagen. Die Resolutionen des Siebten und letzten offiziellen Weltkongresses der Dritten Internationale gaben dem neuen Standort der Sowjetunion Ausdruck. Sie forderten eine umfassende „antifaschistische Front" der Nationen und begünstigten die Bildung von „Volksfronten" in den kapitalistischen Ländern. Die sozialistischen Parteien in Vesteuropa waren das Hauptziel dieser Taktik.
Diese erste Periode „friedlicher Koexistenz" — ungefähr von 1932-1939 — endete mit dem Molotov-Ribbentrop-Pakt vom 23. VIII. 1939. Ohne Ausnahme zollten die offiziellen kommunistischen Parteien der räuberischen nazistisch-sowjetischen Zusammenarbeit Beifall und brandmarkten die britische und französische Hilfe für Polen in Ausführung ihrer Bündnispflichten als einen „imperialistischen Krieg". Von der Dritten Internationale war während jener Zeit wenig zu hören.
Nach dem deutschen Angriff auf Sowjetrußland (22. VI. 1941) richteten sich die kommunistischen Parteien wieder auf die neue sowjetische Position aus. Der Vaterländische Krieg hatte begonnen, über Nacht wurden die kommunistischen Parteien in England und Frankreich ebenfalls patriotisch und scharf antinazistisch.
Obgleich der Name zu jener Zeit nicht gebräuchlich war, so handelte es sich hier in der Tat um eine zweite Periode der „Koexistenz" mit den kapitalistischen westlichen Demokratien. Eine ihrer Höhepunkte war die laut angekündigte Auflösung der Komintern am 15. V. 1943. Ihr Zweck wurde von Stalin mit entwaffnender Deutlichkeit auseinandergesetzt: „Es enthüllt die Lüge der Hitler-Leute, daß Moskau angeblich beabsichtige, sich in das Leben anderer Nationen einzumischen und sie zu bolschewisieren. . . . Es enthüllt die Verleumdung . . . daß die kommunistischen Parteien in verschiedenen Ländern angeblich nicht im Interesse ihrer Völker handeln, sondern auf Befehl von außen." (The War of National Liberation, New York 1943, S. 40.) Die offizielle Auflösung der Komintern war ein Teil der sowjetischen diplomatischen Kampagne zur Verwirklichung weitreichender Kriegs-ziele. Am Vorabend der Konferenzen von Moskau (Oktober-November 1943) und Teheran (November-Dezember 1943) bedeutete das eine Hilfe für Sowjetrußland, einen Ruf der Ehrbarkeit zu erwerben. Sogar führende alliierte Staatsmänner wurden, oder gaben es vor, von ihrer Bedeutung irregeführt.
§ 24. DIE KOMINFORM Das Ende dieser zweiten Periode „friedlicher Koexistenz" und der Beginn des Kalten Krieges wurde durch den Widerstand des Westens gegenüber gewaltsamer sowjetischer Expansion zuwege gebracht oder doch wenigstens beschleunigt. Um die Wirkungen der Truman-Doktrin, des Marshall-Plans und des Niedergangs des kommunistischen Einflusses in Westeuropa abzufangen, rief Moskau das Kommunistische Informationsbüro ins Leben. Der Schade, der der kommunistischen Sache durch die offenen Erklärungen der Komintern-Periode angetan worden war, war nicht vergessen. Zdanovs Kriegserklärung an das „imperialistische und antidemokratische Lager", geführt von den Vereinigten Staaten im Bündnis mit Großbritannien und Frankreich, wurde durch pazifistische Bekenntnisse und einen Appell „der Drohung neuen Kriege und imperialistischer Expansion zu widerstehen", gemildert (Zdanov, Die internationale Situation, Erklärung auf der Eröffnungsversammlung der Kominform im September 1947; Prawda, 22. X. 1947). Aber das große Ziel der Weltrevolution war immer noch unmißverständlich vorhanden, obwohl weniger auffällig:
„Die anti-iaschistischen Kräfte machen das zweite Lager aus. Dieses Lager stützt sich auf die UdSSR und die neuen Demokratien. Es enthält ebenso Länder, die mit dem Imperialismus gebrochen haben . . . solche wie Rumänien, Ungarn und Finnland . . . Das antiimperialistische Lager wird durch die Arbeiter-und demokratische Bewegung und durch die kommunistischen Bruderparteien in allen Ländern gestützt, durch die Kämpfer für die nationale Befreiung in den Kolonien und abhängigen Gebieten durch die fortschrittlichen und demokratischen Kräfte in jedem Land.“ (Zdanov, ebd.)
Es ist strittig, ob die Kominform die wahre Nachfolgerin der Komintern war, oder mehr die sichtbare Stütze einer furchterregenderen aber verborgenen kommunistischen Organisation. Ihre Zusammensetzung schien eine engere und hauptsächlich europäische Aufgabe anzudeuten, möglicherweise mit besonderem Nachdruck auf Frankreich und Italien. Trotz der gewaltigen Stimmenzahl für die kommunistischen Parteien gingen ihre Hoffnungen mit dem Erfolg des Marshall-Planes in diesen Ländern zurück. Der Ausschluß der Jugoslawischen Kommunistischen Partei aus der Kominform (20. VI.
1948), schien zuerst — obwohl ein schwerer politischer Rückschlag — ein zweitrangiges Ereignis im Vergleich zu dem kommunistischen Fehlschlag, das Schicksal dieser großen westeuropäischen Nationen zu beeinflussen.
Was an der Oberfläche der Tätigkeit der Kominform zu bemerken war, mündete bald in eine großangelegte pazifistische Propagandakampagne, die Moskau im Frühjahr 1947 in Gang setzte. Sie war mit wilden Anschuldigungen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens verbunden, sie seien „Kriegstreiber". Aus der Rückschau betrachtet schienen in ihr schon die sowjetischen und kommunistischen „Direkten Aktionen", wie die Berliner Blockade und die Aggression in Korea, ihre Schatten vorauszuwerfen. In einer 1949 angenommenen Resolution stellte die Kominform fest:
„Die gesamte Politik des anglo-amerikanischen imperialistischen Blockes ist den Vorbereitungen für einen neuen Krieg untergeordnet.
. . . Dieser Politik wird durch den versklavenden Marshall-Plan und seine direkten Folgeerscheinungen, der Westeuropäischen Union und dem militärischen Nordatlantik-Block, gedient, die gegen alle friedliebenden Völker gerichtet sind . . (Sitzung des Informationsbüros der Kommunistischen Parteien im November 1949 in Ungarn. Broschüre, veröffentlicht durch die Zeitschrift „For a Lasting Peace, for a People's Democracy", 1950, S. 8— 9.)
Die Auflösung der Kominform war die logische Konsequenz der „friedlichen Koexistenz", die nach Stalins Tod eingeschlagen und durch die „Belgrader Erklärung" (Mai 1955) dramatisch betont wurde, die auf einen „Friedensschluß" zwischen den kommunistischen Parteien und Regierungen der Sowjetunion und Jugoslawiens hinauslief. Als Folge der Verdammung Stalins durch Chruev auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion schien ein neuer Plan zu entstehen, auf den sich chinesische und jugoslawische Pressekommentare bezogen. Vielleicht war es die Vorstellung einer lockeren „marxistischen" Gruppierung anstelle einer mehr kommunistischen, bestehend aus sozialistischen, linken, neutralistischen und Mitläufer-Parteien und -Organisationen und möglicherweise einzelnen. Für Tito würde solch eine neue „Internationale" eine „Dritte Kraft" bedeutet haben. Für Moskau wäre es ein neuer taktischer Schritt auf dem alten Wege kommunistischer Expansion gewesen. Was auch immer es gewesen sein mag, so sind alle diese Pläne zertrümmert worden, vor allem durch die sowjetische bewaffnete Einmischung in Ungarn und den dadurch ausgelösten Stimmungsumschwung gegen Moskau in der zivilisierten Welt.
G. Zusammenfassung
§ 25. ZIELE, METHODEN UND ERGEBNISSE DER EXPANSION Seit vierzig Jahren ist nun in Rußland eine sowjetische Regierung an der Macht gewesen. Eine objektive Analyse ihres Verhaltens gegenüber der Außenwelt, d. h. ihrer Außenpolitik, führt zu den folgenden Schlußfolgerungen:
I. Ziele: Nichts hat sich an dem Ziel geändert, das Lenin der bolschewistischen Partei steckte und dem seine Nachfolger zustrebten, nämlich der Anstiftung einer Weltrevolution, die sich auf das „Vaterland des internationalen Proletariats", d. h. Sowjetrußland, stützt und von ihm gelenkt wird (Program of the Communist International, Blueprint of World Conquest, S. 222). Sie soll zur „Verschmelzung der Werktätigen der ganzen Welt in einer einzigen Sozialistischen Sowjetischen Weltrepublik" führen (Stalin, Socinenia 5, S. 155). Letzten Endes ist es unwichtig, ob dieses Programm der Weltherrschaft teilweise durch den uralten russischen Mystizismus eingegeben worden ist, durch den Traum von der Herrschaft Moskaus als „Drittes Rom". Die gegenseitige Durchdringung der beiden Faktoren, des national-russischen, der das notwendige Menschenmaterial liefert, und des doktrinär-kommunistischen, der die treibende Kraft darstellt, hat das unermüdliche Streben nach Ausdehnung und nach Beherrschung anderer Völker zur Folge. Vom Gesichtspunkt jener Völker aus unterlag das Wesen sowjetischer außenpolitischer Tätigkeit trotz plötzlicher Wechsel in der obersten sowjetischen Führung nur erstaunlich geringfügigen Veränderungen: so bei dem Tod Lenins, der Verbannung Trotzkijs, der Absetzung und Liquidierung der alten bolschewistischen Garde, -dem Tode Stalins und der Degradierung Malenkovs. Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen dem sowjetischen Verhalten gegenüber Finnland im Jahre 1918, Georgien im Jahre 1921, den Baltischen Staaten in den Jahren 1940 und 1944 und gegenüber Ungarn 1956/57.
II. Methoden: Die sowjetische Politik zeigt auf der Suche nach brauchbaren Mitteln, die kommunistische Herrschaft auszudehnen, große Elastizität und wenn es ratsam erscheint, eine völlige Mißachtung sowohl international anerkannter Regeln und Gebräuche als auch der selbst verkündeten Prinzipien. Die Fälle des Bruchs internationaler Verträge durch Sowjetrußland sind so zahlreich, daß sie eher als Regel denn als Ausnahme betrachtet werden müssen (s. Soviet Viola tions and Treaties). In beispiellosem Ausmaß wird Betrug geübt: man führt Verhandlungen und schließt Verträge einzig und allein, um die wahren Absichten zu verbergen; man verkündete politische Zielsetzungen, die dem wirklichen Ziel sowjetischer Politik direkt entgegengesetzt sind. Darüber hinaus wird die sowjetische Herrschaft widerstrebenden Völkern mittels militärischer Besetzung, Polizeiterror, gefälschter Volksentscheide und Scheinwahlen aufgezwungen.
Die bekanntesten Beispiele solcher Praktiken sind die Verhandlungen, die Rußland mit England und Frankreich im Jahre 1939 aufnahm, während im geheimen der Pakt mit Hitler vorbereitet wurde; die Verhandlungen von 1917 und 1919, die von Sowjetrußland als Vernebelung seiner Absichten auf die Ukraine benutzt wurden; die ähnliche Taktik, die in den Jahren 1920-21 angewandt wurde, als russische Truppen in Georgien, Aserbeidschan und Armenien eindrangen; Verhandlungen, die als Falle gedacht waren, um im März 1945 den stellvertretenden polnischen Premierminister und andere Führer der polnischen Untergrundbewegung festzunehmen; das im November 1956 in Budapest angewandte ähnliche Verfahren, um den ungarischen Verteidigungsminister und andere militärische Unterhändler der Regierung Nagy in das sowjetische Hauptquartier zu locken.
Mit zwei möglichen Ausnahmen (die Tschechoslowakei und Ungarn bis 1947) wurden die Wahlergebnisse sowohl in den nichtrussischen Ländern, die nach dem Ersten Weltkrieg in die Sowjetunion eingegliedert worden waren, als auch in den Satellitenstaaten Ost-und Mitteleuropas während und nach dem Zweiten Weltkrieg durch Zwang, Polizeiverfolgung und Betrug zuwege gebracht.
Die kommunistische Regierung, die kommunistische Partei und alle Publikations-und Propagandaorgane, die sich unter ihrer Kontrolle befinden, verkünden gleichzeitig mit der dauernden Anwendung der oben geschilderten Methoden ohne Unterlaß ihre vorgeblichen Ziele friedlicher Koexistenz, Achtung vor der Souveränität anderer Nationen, Selbstbestimmungsrecht der Völker, Fortschritt und Solidarität der Arbeiterklasse, Befreiung vom Joch des Kapitalismus und kolonialer Unterdrückung. In kritischen Augenblicken, zum Beispiel als der verbündete polnische Staat durch die Rote Armee und die Sicherheitspolizei überwältigt wurde (1944-46), als man die chinesische Nationalregierung mit der militärischen Operation in der Mandschurei hinterging (1945), oder als die Jugend und die Arbeiter Ungarns des Imperialismus beschuldigt und von sowjetischen Truppen niedergemäht wurden (1956) — wiederholte man solche Schlagworte bis zur völligen Verblödung.
Diese Methode ist auch für den internen kommunistischen Gebrauch gedacht, aber darüberhinaus erwartet man, daß früher oder später ein Teil der öffentlichen Meinung des Westens durch die große Hartnäckigkeit jener Behauptungen getäuscht werden wird.
III. Ergebnisse: Lenins Traum ist nicht in Erfüllung gegangen. Keine Weltrevolution hat den Erdball in Flammen gesetzt, und es ist keine weltumspannende Sowjetrepublik entstanden. Nichtsdestoweniger sind die materiellen Gewinne, die durch sowjetische Aktionen seit der bolschewistischen Revolution außerhalb des russischen Gebietes erlangt wurden, wahrhaft gewaltig: die Ukraine, Weißrußland, die drei transkaukasischen Republiken, die drei baltischen Staaten, nahezu die Hälfte Polens, Teile Deutschlands, Finnlands, Rumäniens und Japans sind von der Sowjetunion annektiert worden. Ohne Ausnahme wurden diese Einverleibungen gegen den Willen der Bevölkerung ausgeführt. Es ist fraglich, ob ein Teil der Bevölkerung Ostpolens oder Bessarabiens in einem freien Volksentscheid für Polen, Rumänien oder eine unabhängige Ukraine stimmen würde. Nicht fraglich ist dagegen, daß die überwältigende Mehrzahl der Einwohner jener Gebiete überaus abgeneigt ist, der Sowjetunion einverleibt zu werden. Es mag schwieriger sein, die wahren Wünsche der einigen dreißig Millionen Moslems in Sowjetisch-Zentralasien festzustellen. Aber die Deportationen des gesamten tatarischen Volkes von der Krim nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Haltung der Aserbeidschaner kann als bedeutendes Anzeichen dafür angesehen werden, welche Gefühle die anderen Moslemvölker Rußlands gegenüber der sowjetischen Herrschaft hegen.
Außer in den der Union eingegliederten Ländern und Gebieten übt Rußland noch in verschieden starkem Ausmaß eine politische Kontrolle über sieben vormals souveräne europäische Staaten aus: sowohl in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Albanien als auch dem Teil Deutschlands, der sich Deutsche Demokratische Republik nennt. In Asien annektierte Rußland Tannu Tuva (1944) und besetzte oder kontrolliert, allein oder zusammen mit dem kommunistischen China, die Äußere Mongolei, Sinkiang, Tibet, Nordkorea, Nord-Vietnam, Süd-Sachalin, die Kurilen und die japanischen Inseln Habomai und Shihotan.
Die Bevölkerung, die unter die kommunistische russische oder chinesische ist, macht gerechnet die Herrschaft gekommen grob Hälfte der Bewohner der Erde aus. Die kommunistischen Erwerbungen, durch direkte Einverleibungen oder in der Form politischer Beherrschung, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg aufgezwungen wurde, kommen auf fast 600 Millionen Menschen.
Die europäischen Satellitenstaaten (mit Ausnahme der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands) sind durdi die Unterzeichnung des Warschauer Paktes in ein Militärbündnis (14. V. 1955) eingefügt worden, das die Stationierung sowjetischer Truppen auf ihrem Gebiet vorsieht und eine Verpflichtung zu gegenseitiger Hilfe im Falle einer Aggression enthält (Art. 4).
Ein ausgedehntes System wirtschaftlicher Ausbeutung der Satellitenstaaten zum Vorteil Sowjetrußlands besteht seit Kriegsende. Dessen Ausmaß ist durch die Geheimhaltung verborgen, die sich auf die meisten Wirtschaftsdaten erstreckt, die Rußland und die kommunistisch beherrschten Satellitenländer betreffen. Abgesehen vom niedrigen Lebensstandard erlauben uns zufällige Einblicke, diese Wirtschaftspolitik nach ihren Folgen zu beurteilen. So etwas war der Fall, als der interne Streit innerhalb der Kommunistischen Partei Polens ihren Ersten Sekretär W. Gomulka zugeben ließ (20. X. 1956), daß Polen sich in der Lage eines „zahlungsunfähigen Bankrotteurs" befinde (Radio Warschau).
Mit Ausnahme der Republik von San Marino (15 000 Einwohner) kam kein kommunistisches Regime durch den freien Willen des Volkes zustande, noch war es fähig, sich ohne Hilfe der Roten Armee oder wenigstens der Drohung mit russischer Militärintervention zu halten. Sowjetrußland breitete sein Regierungssystem durch eine Kombinierung militärischer Aggression, Polizeiterror, politischen Bluffs und geschickter Propaganda aus. Die Bolschewisten sind darin außerordentlich findig gewesen, das Streben des Westens nach Frieden und wirtschaftlichem Fortschritt auszubeuten. Aber Handel und Warenaustausch kam, gemessen an den sowjetischen Versprechungen stets zu kurz. Zeiten politischen Vertrauens führten immer wieder zu neuen Wagnissen sowjetischer Aggression. Durch die Anregung und den Abschluß des Molotov-Ribbentrop-Paktes (23. VIII. 1939) teilt Sowjetrußland mit Hitler die Verantwortung am Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In einer weniger deutlichen Weise gab das Sowjetisch-Japanische Freundschafts-und Neutralitätsabkommen (13. IV. 1941) Japan freie Hand im Pazifik und ermutigte es, die Vereinigten Staaten und Großbritannien anzugreifen. Nachdem Sowjetrußland seine Kriegs-ziele in Europa und Asien durch Zusammenarbeit mit den anderen Großmächten erreicht hatte, griff Rußland zweimal — 1947 und 1956 — zu den Methoden des Kalten Krieges, der Schürung des Bürgerkrieges (Griechenland, Malaya, Indochina), der offenen Aggression (Korea) und der gewaltsamen Unterdrückung des Volkswillens (Ungarn). Man kann als sicher annehmen, daß vom Standpunkt des Kreml aus die sowjetische Politik während jener vierzig Jahre niemals das letzte Ziel, die kommunistische Weltherrschaft, aus den Augen verloren hat.
Auf der anderen Seite ist der Widerstand der geknechteten Völker, der ostdeutsche Aufstand (Juni 1953), die Ausschreitungen in Georgien (März—April 1956), der Posener Aufruhr (Juni 1956) und am meisten die ungarische Revolution (1956-57) ein unwiderlegbarer Beweis für die Tatsache, daß die kommunistischen Methoden der geistigen Durchdringung, Unterdrückung und Russifizierung keine Fortschritte zu verzeichnen haben und daß die sowjetischen Regime nur durch Gewalt aufgerichtet und gehalten werden können.
Quellen und Literatur: Scheint es auch merkwürdig, so gibt es doch überhaupt keine umfassende Quellensammlung zum Thema und nur ganz wenige Werke, die das Ganze der hier besprochenen Problematik behandeln. Dagegen verfügen wir über eine beachtliche Reihe erstklassiger Dokumentensammlungen und Monographien zu einzelnen Gebieten der sowjetischen Außenpolitik; diese sind in den ein -zelnen Kapiteln angeführt.
Unter den Schriften von allgemeiner Bedeutung sind zu nennen: Communist Takeover o f . s s (mit Namen zahlreicher Länder). 83d Congress, Special Reports NN. 1, 3-14, Washington 1954/55; W. Gurian (Hrsg.), Soviet Imperialism, its Origin and Tactics, (Notre Dame, Ind. 1953); A. V. Schelting, Rußland in Europa, Bern 1948