Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Marxismus und russisches Erbe im Sowjetsystem | APuZ 28/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 28/1957 Die Verschwörung der Kremlärzte Marxismus und russisches Erbe im Sowjetsystem

Marxismus und russisches Erbe im Sowjetsystem

WERNER MARKERT

Die Tübinger Vorträge über Marxismus und Sowjetstaat, die unter dem Leitthema „DER MENSCH IM KOMMUNISTISCHEN SYSTEM" als Bd. 8 der von H. Rothfels, Th, Eschenburg und W. Markert herausgegebenen „Tübinger Studien zur Geschichte und Politik" (J. C. B. Mohr [Paul Siebeck], Tübingen 1957, VII, 119 S., kart. DM 8, 60) erscheinen, spannen den Bogen der heutigen Marxismus-Diskussion vom Menschenbild des jungen Marx bis zur Krise des Stalinismus. Die Sammlung eröffnet der letzte Vortrag des verstorbenen Philosophen Erwin Metzke, dessen Andenken dieser Band gewidmet ist, über „Mensch und Geschichte im ursprünglichen Ansatz des Marxschen Denkens." Der Nationalökonom Hans Peter würdigt „Die politische Ökonomie bei Marx" im Zusammenhang der klassischen Theorien des 19. Jahrhunderts. Woldemar Koch gibt in seiner Analyse „Geschichtsgesetz und Strategie bei Lenin" den Schlüssel für das Verständnis der Dynamik. Nach einem Beitrag von Werner Markert über die Rezeption des Marxismus in Rußland und seine Verschmelzung mit dem „russischen Erbe" zu dem heute auf Europa zurückwirkenden Sowjetsystem stellt Theodor Eschenburg die Frage nach dem „Recht des Menschen in der Sowjet-Demokratie" zu den Äußerungen des XX. Parteikongresses und untersucht die konkreten Sicherungen des Menschen im Sowjetstaat. Hans Rothfels stellt das Schicksalsproblem von „Gesellschaftsform und Koexistenz" in den Raum der europäischen Geschichte und Gegenwartsentscheidung. Den Abschluß bildet ein Vortrag von Iring Fetscher, dem Bearbeiter der Marxismus-Studien, „Von Marx zur Sowjetideologie''.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tübingen veröffentlichen wir nachstehend den Vortrag des Tübinger Historikers und Herausgebers dieses Bandes Professor Dr. Werner Markert, der das Osteuropa-Institut an der Universität Tübingen leitet.

Auf die Frage nach dem Anteil und dem Zusammenwirken von Marxismus und russischem Erbe im Bolschewismus und im Sowjetsystem wird niemand eine bündige Antwort erwarten oder auch nur für möglich halten. Die Geschichte der bolschewistischen Herrschaft und des Sowjetsystems in Rußland läßt sich nicht analysierend auseinanderfalten. Wohl aber wird und soll die Fragestellung der Klärung dienen in der Verwirrung, die um die Begriffe Bolschewismus, Marxismus und Kommunismus innerhalb und außerhalb der Sowjetunion mit gutem Grund gestiftet wird. Ist doch das Hauptargument der Sowjet-Kommunisten in aller Welt die These: „der Marximus“ hat 1917 in Rußland gesiegt: von Lenin weiterentwickelt hat der Marxismus-Lenismus die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zur industriellen Weltmacht umgestaltet; ihm verdankt die Sowjetunion den Sieg im zweiten Weltkriege, ihm ihre starke Stellung in der heutigen Welt. „Der Marxiwns“ habe das Leben von Hunderten von Millionen Menschen in Rußland und in China umgestaltet, die Sowjetvölker an die Spitze der Menschheit geführt und durch den Erfolg der Geschichte habe er seine „Wahrheit“ bewiesen, die für alle Völker der Erde Geltung besitze.

Die Gegenthese lautet etwa: Auch die bolschewistische Revolution war eine russische Revolution. Der Marximus gab nur die intellektuelle Hülle echt russischer Kräfte der Empörung, der Sehnsucht, des Messianismus. Die Industrialisierung war bereits zuvor angelegt; ihre gewaltsame Durchführung in wenigen Jahrzehnten ist ein Ergebnis russischer Leidensfähigket und russischer Gewöhnung an die Autokratie, sei es auch eines Stalin in der Tradition Peters des Großen. Der Sieg im zweiten Weltkriege und die Besetzung des östlichen Mitteleuropa und Mitteldeutschlands waren nicht ein Triumph des revolutionären Geistes, sondern der Erfolg des militanten sowjetischen Patriotismus, zu dessen Gelingen der Moskauer Patriarch die Waffen segnete. Die Maßnahmen der Sowjetbehörden in den besetzten Ländern entsprangen dann im ersten Stadium nicht ideologischem Programm, sondern einer inzwischen in der Sowjetunion ausgebildeten Verwaltungspraxis und Sozialpolitik. Wenn schließlich seit dem Jahre 1947 in der öffentlichen Diskussion nach dem Lob des „heldetrkaften großen rassischen Volkes" und der „lebenspendenden Kraft des Sowjetpatriotistaus" wieder auf den Marxismus zurückgegriffen wurde, -so geschah es mit Absicht, in der Begegnung mit den marxistischen Strömungen und Gruppen im neuen Machtbereich eine Auslegung des Marxismus durchzusetzen, die die in rund 30 Jahren geprägte Sowjetdoktrin für alle Kommunisten der Welt als verbindlich erklärte. Die imperiale russische Großmacht bediente sich der dem internationalen Marxismus innewohnenden Dynamik und Revolutionstheorie nur als ideologischer Rechtfertigung der Herrschaft und der Expansion.

Der Historiker wird geneigt sein, keine der beiden Thesen in ihrer radikalen Ausdeutung zu akzeptieren. Zu offenkundig sind einerseits die Konstanten in der Geschichte Rußlands bis zur Gegenwart, trotz des revolutionären LImbruchs. Andererseits ist es nicht weniger einsichtig, daß mit dem Bolschewismus seit 1917 eine neue Kraft in der Weltpolitik aufgetreten ist, die durch den Antagonismus der Systeme und die Revolutionslehre des Leninismus und Stalinismus eine neue Epoche eingeleitet hat. Die Umbildung des Marxismus zur leninistisch-stalinistischen Staatsdoktrin ist gebunden an den Prozeß der institutionellen Ausformung der Herrschaft des Bolschewismus über Rußland. So gliedert sich im historischen Aspekt die Fragestellung nach dem Zusammenwirken von Marxismus und den russischen Kräften in zwei zeitliche Phasen: Wodurch konnte „der Marxismus“ als Weltanschauung und eine an der westeuropäischen bürgerlich-industriellen Gesellschaft exemplifizierte Theorie in dem rückständigen agrarischen Rußland überhaupt an Boden gewinnen und in seinen Anhängern dort zur Macht gelangen? Und ferner: lassen sich in der Umwandlung des Marxismus zur bolschewistischen Staatsdoktrin seit der Machtergreifung und durch seine Verbindung mit anderen Elementen des Sowjetsystems Aussagen gewinnen, die zur Klärung der Gegenwart beitragen können.

Die Frage nach der Rezeption des Marxismus in Rußland führt zur Bewegung der vormarxistischen revolutionären Intelligenz, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihre eigene Dynamik und bald auch eigene Tradition besaß. LInter den revolutionären Wellen, die in diesem Jahrhundert in Europa die alten Gewalten anliefen, war die der russischen jungen Generation der 60er und 70er Jahre intellektuell bei weitem die radikalste, vergleichbar nur in manchen Zügen mit Frankreich am Vorabend der 48er Revolution. Die Ideen des französischen utopischen Sozialismus wirkten zwei Jahrzehnte später in Rußland ein, als sich dieses nach dem Krimkrieg im Zustande einer schweren geistigen und sozialpolitischen Krise befand. Das alte Rußland ging in den Reformen der 60er Jahre zu Ende, das neue war noch nicht geboren. Zwischen beiden mußte es beinahe, um Metternichs Wort von Europa auf Rußland abzuwandeln, ein Chaos geben. In diesem geistigen Umbruch, der in den großen Romanen Turgenews „Väter und Söhne“ und „Rauch“

und in Dostojewskijs „Dämonen“ in Erscheinung und Tiefe wie selten ein Zeitgefühl getroffen ist, in jener Zeit des sogenannten „Nihilismus“ der russischen Jugend zeichnen sich die Wesenszüge der russischen revolutionären Bewegung ab, die durch die Revolutionen von 19O 5 und 1917 hindurch bis in die frühsowjetische Periode hinein die Gesinnung geprägt haben.

Das Zentralproblem jener Intelligenz, das alle anderen Fragen bald überschattete, war das der eigenen Existenz im Verhältnis zum Volk, d. h. zur breiten Masse des großen bäuerlichen, von der Europäisierung kaum erfaßten russischen Landvolkes in dem weiten Agrarland. Die Leugnung jeder Transzendenz nach dem Zusammenbruch des idealistischen Denkens in den 40er Jahren führte in der Zeit der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen zur Verabsolutierung der diesseitigen Welt und zu jenem „Glauben“ an die Wissenschaft und ihre Methoden der Gesetzlichkeit und Beweisbarkeit, der den europäischen Gedankensystemen des Materialismus einen breiten Boden sicherte. Die Welt-und Seinsvorstellung der Orthodoxie von der einen, gottdurchdrungenen Welt, die keinen Dualismus kennt, trug ebenfalls dazu bei.

Das Suchen nach dem Sinn des eigenen Lebens, das die junge Generation in dem Zwiespalt zwischen dem zerbrochenen Glauben der untheologischen, vielfach erstarrten und staatsabhängigen Orthodoxie und der dominierenden Geltung des französischen Positivismus mit aller Unbedingtheit und mit dem Eifer der Persönlichkeit des Glaubenwollenden erfüllte, führte nach der Phase der , Befreiung und nach der Depression des , Nihilismus' zu der kategorischen Frage „Was tun?“. Die Antwort, die ihnen ihre Lehrmeister Ende der 60er Jahre gaben und die sie selbst in den westlichen Sozialtheorien zu finden meinten, lautete: Bewährung in der Gesellschaft, in der Allgemeinheit, d. h. im Volke, das der tragende Grund des Seins ist. Der Wunsch nach individueller Freiheit der . kritisch denkenden Persöulid'ikeit' fand seine Grenzen in der Einsicht in die Ohnmacht jener dünnen . Intelligenz' aus der Jugend des Adels und der aussteigenden kleinbürgerlichen Schichten gegenüber dem Volke des russischen Dorfes, das das eigentliche Rußland war. Unkundig des Lesens und Schreibens, hilflos der Willkür der Gutsbesitzer, Pächter und Gouvemementsbeamten ausgesetzt, erschien das eben erst (1861)

aus der Leibeigenschaft entlassene Landvolk als das russische Volk schlechthin, außerhalb dessen sich jene studierende und städtische Jugend als Entwurzelte und Heimatlose fühlten. Der Typ des „reuigen Adligen“, dem die „Schuld“ der Väter am Volke das Wirken für dieses zur Pflicht machte, war keine Einzelerscheinung.

Aber nicht nur, daß der Adel und die kleine städtische Schicht der Beamtenschaft, des Offizierskorps und der Gebildeten gleichsam verlorene Inseln in dem weiten Meere des russisch-ostslawischen Bauerntums darstellten, nicht nur, daß das zahlenmäßige Verhältnis und das Lebens-niveau eine extreme Divergenz zwischen herrschender Oberschicht und breiter bäuerlicher Masse zeigte, in ihnen begegneten sich verschiedene Kulturen und verschiedene Jahrhunderte. Adel und Intelligenz dachten europäisch, in den modernsten Denkweisen des 19. Jahrhunderts. Die in der orthodoxen Glaubenswelt gebundene Landbvölkerung lebte und dachte russisch in Lebensformen und Vorstellungen, die sich nur wenig von der des vorpetrinischen 17. Jahrhunderts unterschieden. Der slawophile Politiker Jurij Samarin hat es damals geradezu als die Aufgabe des Adels nach der Bauernemanzipation bezeichnet, das hilflose, zurückgebliebene Bauerntum aus seinem Zustande des 17. Jahrhunderts in die Gegenwart zu geleiten.

Noch wenige Jahre zuvor hatten die Slawophilen unter dem Einfluß des Volkstumsgedankens der deutschen Romantik das von der Europäisierung unberührte russische Bauernvolk als das echte, unverbildete russische Wesen, als den Träger des wahren christlichen Glaubens, als den Urgrund künftiger russisch-slavischer Menschheitskultur verherrlicht, in dessen Schoß die durch die Europäisierung entfremdete Oberschicht wieder zurückkehren müsse, um der Gemeinschaftlichkeit teilhaftig zu werden. In dem bäuerlichen Gemeinde-Eigentum am Boden hatte man ein russisch-slawisches Urprinzip zu entdecken gemeint, ein Prinzip der Gemeinsamkeit des Lebens, Wirtschaftens und Glaubens, das geeignet sei, Rußland vor den sozialen Krankheiten des Westens, des „Pauperismus“ und des „Proletariates“ zu schützen. Der konservative preußisch-westfälische Agrarpolitiker Freiherr von Haxthausen ) vertrat nach seiner Rußlandreise und den Gesprächen mit den Moskauer Slawophilen in seinem Bericht 1847 die Auffassung, daß die Gemeinschaftsformen des „Communismus und des Socialismus“, die in Frankreich als das Heil der Zukunft erstrebt würden, in Rußland noch von altersher vorhanden seien. Der Mythos vom russischen Mushik war aber mehr als ein romantischer Gedanke intellektueller Sehnsucht. Er durchzog die gesamten sozialpolitischen Vorstellungen eines künftigen Rußland, sofern sie von der Gesamtheit her gedacht waren.

So wurden alle sozialethischen Postulate des französischen Sozialismus und Positivismus, die dort in der Krise des entstehenden industriellen Proletariates von Paris, Lyon oder Marseille noch vor der Einführung des allgemeinen Wahlrechts entstanden waren, bevor also noch die Massen wenigstens der Form nach ihre Stimme erheben konnten, in Rußland auf eine andersartige soziale Welt umgedeutet. Die soziale Problematik, alle Theorien von der Gesellschaft kreisten um die Spannung: Persönlichkeit und Volk, Held und Masse, die ein „bewußtes Leben“ führende Intelligenz und die dahinvegetierende bäuerliche Bevölkerung. Die soziale Sphäre wurde für die jungen Generationen seit den 60er Jahren zu einem Ersatz der religiösen; alle ethischen und moralischen Werte wurden auf das „Soziale“ und auf das „Gesellschaftlid'ie" verlagert, in dem die Bewährung des Einzelnen zu erfolgen habe, für das kein Opfer zu groß sei. Aus diesem Untergrund ging die einzigartige Jugend-Bewegung des „Gehens ins Volk“ der Narodniki in den 70er Jahren hervor und ebenso der individuelle Terror; aus dieser Gesinnung entstanden Generationen von Berufsrevolutionären in fanatischer Hingabe. Die Überbewertung des Sozialen übertönte die Postulate des europäischen Liberalimus, der freilich dem agrarischen, immer noch gemeindegebundene Rußland keinen Weg in die Zukunft weisen konnte. Die westeuropäischen Begriffe des Sozialen wurden angewandt auf das „Volk“, nicht als Gemeinschaft aller, sondern eben auf jenes andere, zwar durch Sprache, Kirche und Heimat verbundene, aber doch so fremde Bauernvolk. Bis in die 80er Jahre hielt sich die Zuversicht, daß das künftige ideale Rußland des menschheitlichen Fortschritts seine Kräfte aus dem agrarischen sozial-ökonomischen Prinzip des Gemeindeeigentums entwickeln und mit Überspringen der europäischen zerspaltenen Klassengesellschaft einen „höheren Typus“ der menschlichen Kultur darstellen werde. Jetzt ging es freilich nicht mehr um ein Aufgehen im Volk, sondern um die volkserzieherische Aufgabe der Intelligenz, das unwissende, abergläubische, hungernde und verkommende Volk dem Fortschritt zuzuführen.

Mit dem Nachdenken über diesen „Fortsdiritt“ hing ein weiterer Kreis jener „verfluchten Fragen“ zusammen, die zwingend jeden denkenden Russen der zweiten Jahrhunderthälfte bedrängten und quälten, der Fragenkomplex . Rußland und Europa'. Wird, soll und kann der Zustand Westeuropas, dessen Erscheinungsbild man aus der Ferne voll hellsichtiger Kritik beobachtete, das Schicksal Rußlands von morgen oder übermorgen sein? Selten ist wohl ein Volk in seinen denkenden Menschen so intensiv zum Ringen um das eigene geschichtliche Bewußtsein gezwungen worden wie die Russen durch die Nachbarschaft und die Verhaftung mit Europa. Das Problem . Rußland und Europa'

war seit den napoleonischen Kriegen zum Zentralproblem des russischen Geschichtsdenkens und die Geschichtsphilosophie zum bevorzugten Zweig des Philosophierens überhaupt geworden. In der staatlichen Sphäre war die Entscheidung durch die großen Reformen der 60er Jahre für Europa gefallen. Eine neue Welle der Europäisierung flutete über Rußland und erfaßte allmählich die Lebenssphären. Die russische Gebildetenschicht erlebte mit wachen Sinnen und voller Skepsis den geschichtlichen Prozeß der rapiden Veränderung, erlebte Geschichte als Geschehen nach fremden, europäischen Gesetzen, deren Wirkungen auf das eigene Land sie voller Unruhe analysierte. Dieses Geschichtsverständnis unterschied sich wesentlich vom Entwicklungsdenken des zeitgenössischen Europa. Rußland war in gewissem Sinne das erste . unterentwidtelte Land', das von der Europäisierung erfaßt wurde. Viele der Krisenerscheinungen einer zerstörten Sozialordnung haben seitdem in den Ländern Asiens entsprechende Parallelen gezeitigt. Wenig später begann das Problem der Europäisierung auch die ersten Vertreter der chinesischen und der indischen Intelligenz zu beschäftigen.

Mit dem scharfen Blick der Kulturkritik sahen konservative ebenso wie radikale Russen voller Mißtrauen auf jenes Europa, das sich ihnen als antagonistische Klassengesellschaft darbot, dessen religiöses Leben sie als Verfall der Kirche in Subjektivismus und Kritizismus empfanden, in dessen auch von ihnen anerkannter großartiger technisch-industrieller Leistung der Mensch zum Rädchen im Räderwerk entwürdigt und seinem allseitigen Menschentum entfremdet werde, ein Opfer des formalen bürgerlichen Rechtsdenkens. Aus der Ablehnung der bürgerlich-industriellen Gesellschaft Westeuropa nach dem selbsterhebenden Schlagwort vom „faulenden Westen“ und aus dem Bemühen um die Klärung eines eigenen Ideals künftiger harmonischer Sozialordnung, — darin waren sich Konservative wie Nikolaj Danilewskij und Dosto-jewskij mit den radikalen Volks-Sozialisten wie Lawrow und Michajlowskij einig, — erhielt der Messianismus des russischen Zukunftsdenkens neuen Antrieb. Der Gedanke von der weltgeschichtlichen Aufgabe des Russentums, der Menschheit den Weg zur erlösenden, endlichen Harmonie des Lebens zu weisen, findet in vielen Variationen beredten Ausdruck. Wohl sämtliche europäischen Geschichtstheorien des 19 Jahrhunderts sind auf die Konzeption hin diskutiert worden, daß nach dem baldigen, ja schon begonnenen Verfall der Kultur der romanisch-germanischen Völker, also des Abendlandes, eine russisch-slawische Kultur das Wort der Geschichte sagen werde. In den 70er Jahren ist es dann vor allen Dingen der Positivismus Auguste Comtes, von dem die russische Intelligenz von der Befähigung des menschlichen Geistes erfuhr, im dritten und höchsten Stadium des menschlichen Fortschritts die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens zu erkennen und vernunftsmäßig zu lenken.

Das Gesetz der Macht

In dieser von so zwingenden Fragen bewegten geistigen Situation fand die erste Auseinandersetzung mit Karl Marx statt. Wie alle sozialökonomischen Werke Europas-war der erste Band des , Kapital 1 sofort nach seinem Erscheinen in russischen Zeitschriften besprochen worden. 1872 erschien eine russische Übersetzung des Soziologen Nikolaj Danielons. Zunächst interessierte die theoretische Analyse und Kritik der westeuropäischen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, deren Ende Marx als zwangsläufig vorauszusagen schien. AIs der große Verneiner der gegenwärtigen europäischen Zivilisation, wie man sie gern in Rußland verstand, und als Prophet einer klassenlosen harmonischen Idealgesellschaft der Zukunft fand Marx in der russischen Intelligenz weithin Zustimmung. Der Weg freilich, den Marx zu diesem Fernziel wies, der Weg des Kapitalismus und der Entstehung einer breiten Massenschicht des Proletariates als „Totengräber“ dieses Kapitalismus warf für die ungeduldige russische Intelligenz neue Fragen auf. Ja dieser Weg schien für das agrarische Rußland gar nicht gangbar zu sein.

Danach mußte es die Geduld noch vieler Generationen erfordern, bis Rußland etwa den Zustand der derzeitigen kapitalistischen Wirtschaft Englands oder Belgiens erreicht haben würde. Der den Narodniki nahe-stehende Danielson veröffentlichte 1879 eine umfangreiche national-ökonomische Gegenschrift, die dem Nachweis gewidmet war, daß in Rußland die Grundvoraussetzungen fehlten, aus denen sich die Automatik des Kapitalismus entwickeln könne. Rußland müsse einen eigenen Weg aus dem agrarischen Zustande heraus zum allgemeinen Wohlstande des Volkes steuern. Das Buch von Danielson (Nicolajon)

eröffnete eine lebhafte nationalökonomische Diskussion der 80er und 90er Jahre zwischen den Vertretern des agrarsozialistischen Narodniktums und den . legalen Marxisten wie Tugan-Baronowskij, Struve, Issajew und vielen anderen, die auch für Rußland keinen anderen Weg als den der industriellen Europäisierung sahen und mit Enqueten und Statistiken das Gedeihen der jungen Großindustrie und den Einzug des Kapitalismus in Rußland bewiesen. Lenins umfangreiche, in der Verbannung geschriebene Abhandlung über „die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland“ (1899) steht etwa am Ende der durch die Entwicklung schon überholten Diskussion und war der Beweisführung gewidmet, daß sich Rußland bereits im Zustande des Kapitalismus befinde, daß auch das russische Dorf bereits im Stadium der , Zerschiditung‘ in Großbauern (Kulaken) und ein Dorfproletariat zerfalle, daß also auch in allen anderen Folgerungen der Marxismus für Rußland Geltung besitze.

Während sich die . legalen Marxisten für die Nationalökonomie bei Marx im Sinne eines neuen Westlertums interessierten, ohne zugleich den dialektischen Materialismus und den Klassenkampf zu akzeptieren, fand der revolutionäre Marxismus auf anderem Wege Eingang in die russische revolutionäre Bewegung. Die volkserzieherische Bewegung der Narodniki hatte mit einem Fiasko geendet. Die mißtrauischen Bauern ließen sich nicht von den jungen Studenten erziehen und aufklären. Die revolutionäre Intelligenz stand vor den Trümmern ihres Programms des . etliisdten Sozialismus'. Die Jagd der . Narodnaja Volja'

auf den Zaren und seine Ermordung im März 1881 war ein Akt der Verzweiflung. Die Gruppe um Plechanow und Vera Sassulitch, die sich schon 1878 getrennt hatte und in die Schweiz gegangen war, stand dort bald unter dem Eindruck des Aufstiegs der deutschen'Sozialdemokratie und der Anschauungen von Engels'Anti-Dühring. Zu Beginn des Jahres 1881 wandte sich Vera Sassulitsch noch einmal an die Autorität Marx in London mit der Frage, ob nicht doch für Rußland ein unmittelbarer Übergang vom bäuerlichen Gemeindeeigentum zur klassenlosen Gesellschaft ohne die Zwischenphase des Kapitalismus möglich sei, und erhielt von ihm einen nicht ganz ablehnenden Bescheid. Marx hat sich erst in diesen Jahren, in denen der . Nihilismus' der russischen Terroristen die Weltöffentlichkeit beunruhigte, näher mit den Vorgängen in Rußland beschäftigt, ohne freilich zu einer abschließenden Meinug zu gelangen. Plechanow wurde in der Emigration der erste namhafte russische Marxist, der vor allem die Gedankengänge von Engels aufnahm und durch seine Schriften im Sinne der spätmarxistischen Weltanschauung nach Rußland hineinzuwirken versuchte. Die alten Probleme von . Elite und Masse' und der . Rolle der Persönlichkeit', erschienen nun eingefügt in den Prozeß des evolutionären Fortschritts. Die Intelligenz wurde auf das neue Ziel gewiesen: die Arbeiterklasse, deren Klassenbewußtsein es zu wecken galt. Der Hinweis auf die Arbeiterschaft als revolutionären Faktor gewann seit den 90er Jahren zunehmend an Beweiskraft; denn die Streiks in der von Jahr zu Jahr anwachsenden Großindustrie in Petersburg, Moskau, Charkow, Warschau Tiflis, Baku und anderen industriellen Zentren erwiesen sich nicht weniger als ein Faktor der Unruhe als die Studentenunruhen um die Jahrhundertwende. Der maßgebliche Einfluß im Sinne der marxistischen Klassenideologie, der auch zur Gründung einer Sozial-Demokratischen Arbeiter-Partei Rußlands (1898) führte, erfolgte durch die zahllosen Kanäle der unmittelbaren Beziehungen der Intelligenz und der Arbeitergruppe im ostmitteleuropäischen Raum. Die deutsche Sozialdemokratie, nicht weniger die Österreichs und insbesondere Galiziens strahlten ihre Wirkung auf Polen, auf das Judentum in Polen-Litauen, auf die Ukrainer und ferner auf Armenier und Georgier wie andererseits auf Finnland und die Ostseeprovinzen aus, wo überall der Förderalismus der Austromarxisten besonderen Anklang fand; ebenso wirkte er weiterhin auf die russischen Städte und industriellen Zentren. Fast gleichzeitig entstanden innerhalb weniger Jahre allenthalben Gruppen und Grüppchen, die sich zum marxistischen sozialdemokratischen Programm der Zeit bekannten.

Lenin (geb. 1870) war durch den Tod seines Bruders in die revolutionäre Bewegung gestoßen worden, der 18 87 wegen angeblicher Beteiligung an einer Verschwörung gegen den Zaren hingerichtet wurde. Der Narodnikkult war ihm schon fremd als er in die studentischen Zirkel geriet, in denen Plechanow ebenso wie die . legalen Marxisten diskutiert wurden. Seine erste Auslandsreise 189 5 galt dem Besuch bei Plechanow und Axelrod in der Schweiz und bei Paul Lafarge, dem Schwiegersohn von Marx, in Paris. Die vierjährige Verbannung nach Sibirien (1896— 1900) brachte Lenin eine Zeit der Distanz und der Konzentration, ehe er erfüllt von der revolutionären Aktionsbereitschaft .des unruhigen Petersburg ins Ausland reiste, um mit Unterstützung der deutschen Sozialdemokraten die revolutionäre Agitation für Ruß-land mit neuen Mitteln zu beginnen.

Innerhalb der revolutionären Bewegung in Rußland, die seit der Jahrhundertwende sich in zentralen Organisationen zu formieren beginnt, nimmt die marxistische Richtung in der breiten Front von den linken Konstitutionellen Demokraten (Kadetten) bis zu den Anarchisten nur einen bescheidenen Platz ein. Dieses Verhältnis hat sich auch im Revolutionsjahre 1905 und bis 1917 nicht verändert. Und innerhalb der russischen Sozialdemokratie blieb die Parteigruppe der Bolschewiki eine Minderheit. Die Führung der revolutionären Aktionen lag bei den Sozialrevolutionären. Sie verkörperten am stärksten die Revolutionsgesinnung des bewaffneten Aufstandes, des individuellen Terrors, der Selbstaufopferung der Attentäter, der Kampfgruppen mit dem unklaren Programm einer russischen Volks-und Agrarrevolution.

Zwischen der sozialrevolutionären Taktik des Terrors und der Propaganda des Umsturzes und andererseits dem zum Revisionismus der deutschen Sozialdemokratie neigenden Flügel der russischen Sozialdemokratie um Plechanow, der damit rechnete, daß auch Rußland erst im Zuge der fortschreitenden Industrialisierung und Proletarisierung einst revolutionsreif werden würde, steht Lenin. Er ließ sich in seiner Agitationsweise weniger, von dem legalen Demokratismus, der Prinzipien-treue und dem Rechtsdenken der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie leiten als vielmehr von dem Kampfwillen der nicht-marxistischen russischen revolutionären Bewegung. So sehr auch er durch Engels den Weg zu Marx gefunden hat, suchte er sich doch von dem so stark naturwissenschaftlich gefärbten Entwicklungsdenken und Geschichtsdeterminismus zu befreien und einen eigenen Zugang zur Marx’schen Dialektik zu finden. Nicht zufällig hat Lenin, der ja die Schriften des jungen Marx nicht kannte, 1916 in Zürich Hegel studiert.

Dazu hatte er sich in derZeit des revolutionären Rückschlags 1908/1909 in der Arbeit am . Etupiriokritiziswus' intensiv mit der zeitgenössischen Philosophie beschäftigt und den Marxismus für seine Gefolgschaft zur Weltanschauung abgerundet. Marx’sches Geschichtsdenken und russische Revolutionsgesinnung sind in Lenin, seiner utopischen Zuversicht und seinem fanatischen Kampfeswillen zu einer unlösbaren Einheit verschmolzen. Der Staatsstreich und die Machtergreifung der Bolschewiki im November 1917 sind in erster Linie ein Problem der Persönlichkeit Lenins.

Weder verfügten die Marxisten, Bolschewiki und Menschewiki zusammen, über eine ausreichende Mehrheit innerhalb der revolutionären Bewegung Rußlands, noch war in der Führung der Bolschewiki eine Gruppe oder eine Persönlichkeit vorhanden, die mit gleicher Autorität die Zuversicht des bewaffneten Gewaltstreichs und den Mut zur alleinigen, totalen Regierungsmacht vereint hätte, auch Trotzkij nicht. Der Koalitionsgedanke nach europäischem Vorbild spielte während des Jahres 1917 noch eine dominierende Rolle und erfüllte die revolutionären Gruppen bis zur Konstituante mit ihrer sozialrevolutionären Mehrheit im Januar 1918, als es bereits zu spät war. Von dem erfahrenen Taktiker, unbedenklichen Agitator und Staatsmann Lenin ist jedoch der Marxist und sozialistische Utopist nicht zu trennen. Dem Marxismus verdankte Lenin die durchdachte Theorie einer geplanten Revolution des „Durchstoßens“ durch die liberale Februarrevolution und des Um-sturzes im rechten Zeitpunkt, die Stalin später systematisiert hat. Aus dem marxistischen Geschichtsverständnis gewann er die subjektive Legalität seines Handelns, die er seiner Gefolgschaft der Bolschewiki und den Anhängern der Komintern verständlich und verbindlich zu machen verstand. Die ebenfalls marxistischen Menschewiki unter der alten Autorität Plechanows verweigerten ihm dagegen die Anerkennung der Diktatur. Der vom Revisionismus beseitegeschobenen Marx’schen Parole von der . Diktatur des Proletariats' entnahm Lenin den Ansatz zu seiner den russischen Verhältnissen angepaßten Führungstheorie von der Ausübung dieser Diktatur des Proletariates durch dessen . Avantgarde, die bolschewistische Partei, in deren Führung sich die Intelligenz mit dem . bewußtesten Teil' der Arbeiterklasse zusammenfinden sollte. Hierdurch wurde das alte Problem von . Intelligenz und Masse' in der Herrschaft der Partei über die Arbeiterschaft und über die Masse aufgehoben. Schlechthin entscheidend für die weitere Entwicklung Rußlands unter dem Bolschewismus wurden die marxistische Auffassung vom industriellen Proletariat als dem künftigen Träger der Menschheitsgeschichte und der damit verknüpfte Industrie-Optimismus der Marxisten, weil er die Bolschewiki trotz des Paktierens mit der Agrarrevolution im Jahre 1917 gradlinig auf den Weg der Industrialisierung wies.

Lenins Formel: „Bolschewismus ist Sozialismus plus Elektrifizierung"

(1919) gab die Richtung, deren Befolgung die Sowjetunion ihre Weltmachtstellung verdankt. Nicht gegen die Maschine, sondern mit ihr und durch sie sollte der Weg zur Macht des Proletariates und zur Freiheit des Menschen in der Beherrschung der Natur beschritten werden. Mit diesem „Westlertum". das ihn von den agrar-sozialistischen Programmen und den anarchistischen Idealen der anderen revolutionären Gruppen trennte, fügte er die Herrschaft der Bolschewiki in den harten Trend des Jahrhunderts ein. Darin, daß die Bolschewiki von vornherein entgegen dem Ideal einer Demokratie des gesamten Volkes auf die Minderheitsherrschaft der Stadt über das weite Agrarland setzten, paßten sie sich den Traditionen der russischen Geschichte an. Für den Aufbau und die Verwaltung der im Krieg und Bürgerkrieg zerstörten Wirtschaft eines kapitalarmen, unterentwickelten und nur an Bodenschätzen und Menschen reichen Landes bot der Marxismus freilich auch als ökonomische oder sozialpolitische Theorie wenig konkrete Anweisungen.

Hierzu mußte der Weg aus dem . Kriegskommunismus' durch Anpassung an die Gegebenheiten Rußlands eingeschlagen werden, wie es Lenin in der . Atempause' der . Neuen ökonomischen Politik' (1921) einleitete.

Die zentralen Probleme, bei deren Bewältigung Marxismus und russisches Erbe eine unlösliche Verbindung eingegangen sind, kreisten um die Erhaltung der Macht im Inneren und nach außen, um die sozialen Grundlagen einer „Gesellsdtaft“ und um die Stellung des Menschen in dem sich festigenden Sowjetsystem.

Durch den Staatsstreich in Petrograd und Moskau und die Sprengung der Konstituante stellten sich Lenin und die Bolschewiki unter das Gesetz der Madtt, die sie ergriffen hatten. Trotz jahrelanger Zweifel am endgültigen Erfolg haben sie sich zur Erhaltung dieser Macht als dem obersten Gesetz ihres Handelns bekannt, dem alle anderen Entscheidungen nachgeordnet waren. Seit der Gründung der Komintern im Frühjahr 1919 steht auch der Weltkommunismus unter diesem Gesetz der Erhaltung und Stärkung der Sowjetmacht.

Innenpolitisch war für die Bolschewiki die Macht durch die Autokratie und ihre bürokratische Exekutive vorgeformt, die seit 1905 noch nicht liberalisiert worden war. Noch hatten sich auch in der Wirtschaft keine konkurrierenden Kräfte herausgebildet. Der hohe staatliche Anteil an der industriellen Produktion, an der Geldwirtschaft und am Verkehrswesen in der Zarenzeit half dem Staatskapitalismus auf den Weg. Durch die Anpassung an die alte zentralistische Machtstruktur gelang den Bolschewiki auch die Überwindung der stärksten Gegenkräfte, der nationalen Unabhängigkeitsbewegungen der nichtrussischen Völker.

Auch außenpolitisch trat die Räteregierung das Erbe des Zarenreiches an. So laut sie auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündete, der Sowjet-Föderalismus, der dem Nationalitätenprogramm der Austromarxisten und deren Auffassungen von den Rechten des Menschen so prinzipiell widersprach, diente dem Ziele, die Völker wieder in einem Reich zusammenzuführen und ihre Separationstendenzen durch die Verfassung der . Union' der Sowjetrepubliken aufzuheben. Der marxistische Internationalismus und der Antipatriotismus der Bolschewiki im Jahre 1917, der die nationalen revolutionären Gruppen so abgestoßen hatte, erhielt in der Abwehr der ausländischen Interventionen und im Kriege mit Polen 1920 seine erste russische und sowjetisch-patriotische Komponente im militanten Bolschewismus. Nach der Zerstörung der Illusionen über die erwartete Weltrevolution in Mitteleuropa, nach dem Ausbruch Rußlands aus der Kriegskoalition und der Absage an die internationale Verflechtung des Anleihekapitals und schließlich nach der Kampfansage an die gesamte übrige „kapitalistisdie“ Welt war die weltrevolutionäre Herrschaft der Bolschwiki zunächst auf die eigene Staatlichkeit zurückgeworfen. Bald wurde in manchen Kreisen der Emigration, wie in der Gruppe der „Eurasier", die Überzeugung geäußert:

es war doch eine russische Revolution, die durch diese gottlosen Marxi-sten vollzogen wurde. Rußland hat sich, wenn auch in dieser entarteten Weise, die doch zugleich typisch russische Züge trägt, gegen Europa behauptet und endlich aus der halbkolonialen wirtschaftlichen Abhängigkeit der europäischen Mächte befreit. Es wird nun in dem ihm von der Geschichte vorgezeichneten Raum seinen eigenen Weg gehen und der Menschheit sein Wort sagen. In der Sowjetideologie erfolgte mit der Stalinschen Losung vom „Sozialiswus in einem Lande“ eine folgenreiche Revision des marxistischen Gesellschaftsbegriffs und ein Bekenntnis zur Staatlichkeit des Sowjetreiches. Seitdem ist auch in der sowjet-marxistischen Ideologie das Problem der Macht des Sowjetstaates nicht zu eliminieren, so daß offizielle doktrinäre Verlautbarungen ihrem Wesen nach als ideologische Rechtfertigungen des sowjetischen Imperalismus aufzunehmen sind, der Schritt für Schritt in die Bahnen des Zarenreiches eingeschwenkt ist.

Die Organisation der Macht war durch die zentralistische Struktur der russischen Autokratie vorgezeichnet. Auch die Methoden der Be-herrschung durch Terror, Verbreitung von Furcht und Schrecken und durch Rechtlosigkeit in Ermangelung eines ausreichenden und ausgebildeten Beamtenapparates knüpften an verachtete Traditionen der Zarenzeit an. Von Lenins Rechtfertigung des Terrors führt die Linie zu Stalins Liquidierungsprozessen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre und zu den in Chruschtschows Geheimrede vom 24. /25. Februar 1956 geschilderten Zuständen in seinen letzten Lebensjahren. Trotz des Führungskollektivs im Politbüro und Zentralkomitee führte die Institutionalisierung der Macht bald wieder in die Formen einer Autokratie, zur persönlichen Diktatur Stalins und zum „Persönlichkeitskult“. Man wird in dieser Entwicklung, die bereits in den letzten Lebensjahren Lenins, wohl gegen dessen Widerstreben, einsetzte, nicht nur den Macht-hunger des Georgiers Dschugashwili, sondern zunächst auch ein russisches Erbe, das Bedürfnis der noch nicht rational begreifenden Bevölkerung nach Personifizierung der Autorität erkennen müssen.

Die sozialen Umwälzungen

Bei der Umbildung der Partei der Bolschewiki, die 1918 den Namen einer „Kommunistischen Partei“ annahm, zum Instrument der politischen Herrschaft gehen verschiedene Vorgänge ineinander über. Lenin ist sich der Tragweite bewußt gewesen, wenn er die Zweifler tröstete, er werde mit den 23 600 Mitgliedern der Partei im Jahre 1917 bei disziplinierter Organisation „die 150 000 Adeligen“ ersetzen, mit denen der Zar regiert habe. Wenn auch die Prämissen Lenins dem marxistischen Gesellschaftsschema entsprechend insofern falsch bezeichnet waren, als der Zar nicht durch den Adel als landbesitzender Schicht, sondern durch die Bürokratie regiert hatte, so war die Aufgabe doch klar umrissen. Die bisherige Organisation der „Kampfpartei“, die sich bereits seit 1903 im Unterschied zur deutschen „Partei-Demokratie“ den russischen Verhältnissen angepaßt hatte, wie es auch die Sozial-revolutionäre taten, mußte in ein Instrument der Herrschaft mit Führungs-und Kontrollaufgaben, mit Regierungs-und Verwaltungsfunktionen umgebaut werden. Die Ausmerzung der unruhigen, individualistischen Weltanschauungsrevolutionäre, ihr Ersatz zunächst durch ruhigere Elemente der Arbeiterschaft und weiterhin die Ablösung der alten Garde durch die nach dem Gehorsams-und Leistungsprinzip ausgewählte, fachlich ausgebildete junge Generation, ist in den Prozessen der 30er Jahre zum Abschluß gebracht worden. Nach dem zweiten Weltkriege, in dem sich die Auswechselbarkeit der Aufgaben in Partei, Regierung, Verwaltung, Wirtschaft, Verkehr und Nachschub gezwungenermaßen eingespielt hatte, erfolgte der Schritt von der klein gehaltenen Elite (1939: 2, 3 Millionen) zur integrierenden Organisation der Oberschicht (1952: 6, 9 Millionen) mit gesondertem Parteiapparat.

Begleitet war diese Umwandlung von einer revolutionären „Kampfpartei“ zur disziplinierten Funktionärsorganisation und schließlich zum politischen Herrschaftsapparat einer breiten Oberschicht, wofür jeweils die alte Leninsche Formel von der , Partei neuen Typs' modifiziert wurde, von einer Beseitigung der Diskussion und aller liberalen Ansätze im Geistigen wie im Verhalten. Sie vollzog sich als ein Rückgriff auf die vorliberale Struktur der russischen Autokratie unter Nikolaj I., als eine „Enteuropäisierung“ (Hoetzsch) des kulturellen und politischen Lebens bis zum Verbot der freien marxistischen Beschäftigung mit Marx und Engels nach 1929/1930. Den sozialen Hintergrund dieser Strukturwandlung des Stalinismus bildete die fast totale Umschichtung durch die Ausmerzung der alten europäisch gebildeten Oberschicht und die Mobilisierung der Jugend der von der Europäisierung überhaupt noch nicht erfaßten Massen in Stadt und Land. Dafür entsprachen andererseits die seit 1934 aufkommende Heldenverehrung, der Sowjetpatriotismus mit seinen russisch-nationalen Zügen und die Heroisierung der russischen Geschichte der Geisteshaltung der aufsteigenden Unterschichten. Es wäre aber ein Mißverständnis, wollte man in dieser vordergründigen nationalen Fassade, in der Aufnahme alter Traditionen, Symbole und Enbleme der Zarenzeit allein das russische kulturelle Erbe erblicken. Es war vielmehr ein Zustand der Verarmung und der Verödung gegenüber der Vielfalt und dem geistigen Reichtum, den die russische Welt seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts im Anschluß an Europa und in der eigenwilligen Ausprägung westlichen Ideengutes entfaltet hat, einschließlich der Rezeption und Umdeutung des Marxismus. Nach der Auffassung vom „Kontakt mit den Massen“ und „dafl die Theorie, die die Massen ergreift“, zur „materiellen Gewalt“ werden soll, wurde der Konformismus der Sowjetdoktrin mit ihren widerspruchsvollen Komponenten zum Führungsmittel des Stalinismus für die Massen.

Unlösbar verbunden mit der Ausprägung der politischen Macht war das russische Erbe nicht weniger bedeutsam für die sozialen Umwälzungen unter dem Sowjetsystem. War das marxistische Denken auf den europäisch-internationalen Zusammenhang der west-und mitteleuropäischen industriellen Gesellschaft mit ihren Traditionen alter Bürger-und Handwerkskultur gerichtet, so traf es in Rußland auf eine völlig andere Sozialverfassung als das Marxsche Gesellschaftsmodell. Zentralrußland stand um 1917 im Prozeß beschleunigter Auflösung der alten gebundenen Agrarordnung, deren landbesitzender Adel auch seit Jahrzehnten im Verfall war. Die dünne, von Ausländern durchsetzte Unternehmerschicht, Handel und Bankwesen waren weder zu bestimmenden politischen Gruppen noch zu gesellschaftsprägenden Faktoren herangewachsen. Die relativ breite Schicht der , Intelligenz' hatte sich seit einem halben Jahrhundert in einem sozialen Hohlraum zur entscheidenden revolutionären Schicht im ganzen Lande entwickelt, war aber eben erst auf dem Wege, ein Bildungsbürgertum von gesellschaftlicher Bedeutung abzugeben. Kleinbürgertum und städtische Händlerschicht waren ebenso wie das in besonderen russischen Formen entwickelte Handwerk untere Mittelschicht geblieben. Die Arbeiterschaft stellte in den Großstädten, Häfen und industriellen Zentren einen gewichtigen sozialen Faktor dar. Sie hatte auch spontan 1905 und 1917 ihre Repräsentation der Arbeiter-Räte, der „Sowjets“ gebildet und besaß, wie der Kronstädter Aufstand 1921 und die Gewerkschaften bewiesen, die Ansätze zu einer Arbeiterintelligenz auch außerhalb des Gefolges der Intellektuellenparteien. Ihr fehlte aber die soziale Tradition und für das gesamte Reich mit seiner Disproportion von Stadt und Land konnte sie keine , gesellschaftliche Basis' abgeben. So blieb im Kern die slawische Landbevölkerung der Russen, Ukrainer und Weißruthenen mit ihrer extensiv arbeitenden, hauswirtschaftlich genügsamen und analphabetischen Masse des „Mushik" die tragende soziale Schicht. Aber auch sie befand sich seit der Aufhebung der bäuerlichen Gemeindeverfassung durch die Reform von 1906/1907 und die danach erfolgten Landzumessungen im Zustande der Individualisierung und Umstrukturierung. Die wilde, von den Sozialrevolutionären und Lenin provozierte Landnahme des Jahres 1917 und der Bürgerkriegszeit hatte die Tendenz der Differenzierung verstärkt, ohne daß das Ergebnis sich rasch hätte konsolidieren können.

Die Beseitigung oder Deklassierung der „Ehemaligen", des Adels, der Bürokratie und der besitzenden Oberschicht, ging in Revolution und Bürgerkrieg und durch die große Emigration vor sich; gegen die Reste wurde der , Klassenkampf' weitergeführt. Aber das Problem der . gesellschaftlichen Basis' und gar das einer künftigen sozialistischen Gesellsdtaft' blieben offene Fragen. Trotzkij hat das mit voller Schärfe der marxistischen Analyse gesehen. Die russischen Revolutionäre aller Färbungen hatten vom , neuen Menschen und von einer klassenlosen Gesellschaft' geträumt; auf das Individualbauerntum, das sich dem Zwang-gegenüber ablehnend verhielt, konnte sich die Herrschaft der Bolschewiki nicht stützen. So weisen die Diskussionen der Jahre 1925 bis 1928 um den, Weg zunt Sozialismus“ viele Aspekte auf, politische, doktrinäre, wirtschaftliche und soziologische. Ging es doch darum, nicht innerhalb einer industriellen Gesellschaft nach Marx’schem Modell den „Weg zum Sozialismus“ zu beschreiten, sondern auf den Trümmern der vorindustriellen Ordnung eines zurückgebliebenen Agrarlandes mit industriellen Punkten auf der Landkarte. Bereits Anfang der dreißiger Jahre wurde die unausbleibliche neue „Klassenbildung“ von den Trotz-kisten gegen Stalins „Verrat an der Revolution“ ins Treffen geführt.

Erst die zweite, die soziale Revolution, die mit der Kollektivierung der Landwirtschaft, der Beseitigung des restlichen . privaten Sektors' und mit der planmäßigen Industralisierung nach 1928 auf die erste, die politische Revolution des Jahres 1917 folgte, hat Rußland total erfaßt und bis in die Tiefe und bis ins fernste Dorf verändert. Unter den furchtbarsten Opfern wurde die Struktur des alten ländlichen Rußlands, die sich gerade zu differenzieren begann, unter der Parole des . Klassenkampfes auf dem Dorfe“ zerstört und durch das in der Theorie modern technisierte Kollektivsystem auf einem Zustand gebundener Arbeitsverfassung zurückgeworfen. Stalin hat später für diese Vergewaltigung mit einer weiteren Revision des marxistischen Revolutionsbegriffs die Interpretation einer „Revolution von oben“ gegeben. Mit ebenfalls nicht geringen Menschenverlusten wurde der Weg zu geplanten Staatsunternehmen durch das Institut der Zwangsarbeit beschritten, das sich auf alte russische Traditionen eines Peters des Großen oder der sibirischen „Katorga“ der Zarenzeit stützen konnte. Die mit Zwangsmitteln abgezogenen Menschen des Landes lieferten die ungelernten Arbeitshände für den Ausbau der Industrie. Die Identifizierung von „Aufbau des Sozialismus“ mit Planerfüllung und erreichten Produktionsziffern verabsolutierte europäisches Produktionsdenken in extremster Form. Der Mensch wurde in dieser „sozialistischen Planwirtschaft“ selbst zur Ziffer, noch weniger als ein Rädchen im Räderwerk. An die Stelle des alten russischen Wunschdenkens vom „Überspringen“ der Phase einer europäischen industriellen Klassengesellschaft trat Anfang der 30er Jahre die Parole vom „Einholen und Überlwlen“ der europäischen Industrieproduktion und vom Wettstreit der antagonistischen Wirtschaftssysteme. Die Rüstungspläne im Zeichen politischer Macht appellierten an Sozialismus und Patriotismus zugleich. Die aus politischen Erwägungen forcierte Industrialisierung des unterentwickelten Rußlands, die heute in Asien so gern als das Modell einer , Industrialisierung im verkürzten Zeitraum' im Llnterschied zu der europäischen Entwicklung von anderthalb Jahrhunderten bewundert wird, hatte zur Voraussetzung das russische Menschentum, seine Bedürfnis-und Anspruchslosigkeit in Ernährung, Kleidung und Unterbringung, seine Leidensfähigkeit und Fügung in das Schicksal sowie andererseits die Vitalität der russischen Jugend, die lernbegierig und begabt, erfüllt von Begeisterung für die Technik im , Glauben an den Fortschritt und getrieben von gesundem Aufstiegswillen für die Zukunft zu darben auf sich nahm. Auch in diesem Glauben an die Herrschaft des Menschen über die Natur, der so vielen Strömungen des europäischen Denkens einst eigen war, holte Rußland unter dem Sowjetsystem das europäische 19. Jahrhundert nach.

Und wie Europa im vergangenen Jahrhundert heftet heute die Sowjetunion die imposanten Wirkungen der Technik an die Fahnen ihres Systems.

Nach dem zweiten Weltkriege, nach rund anderthalb Jahrzehnten des Aufbaus der rüstungswirtschaftlichen Großindustrien und der Intensivierung der Kriegswirtschaft begann sich in Rußland das Stadium einer dritten Revolution abzuzeichnen, das der „industriellen Revolution“.

In zunehmendem Maße bedarf das industrielle Gefüge über alle zentral-gelenkte Planung und über die vorausdenkbaren Bezogenheiten hinaus der weiteren Differenzierung, der ergänzenden zusätzlichen Industrien, des ungebundenen Experimentierens und erweiterter Grundlagenforschung, immer empfindlicher wird das Geflecht technisch-wirtschaftlicher Zusammenhänge und das Gewicht ihrer Eigengesetzlichkeit. Bulganins Kritik auf dem XX. Parteitag wies deutlich auf die fühlbaren Schwierigkeiten dieses neuen Zustandes hin. Die differenzierte Produktion ist aber zugleich auf dem Wege, eine industrielle Gesellschaft hervorzubringen und auch im sozialökonomischen Bereiche das europäische 19. Jahrhundert nachzuholen. Das alte Ideal einer homogenen und klassenlosen Gesellschaft ist bereits 19 36 über Bord geworfen worden. Die Sowjetverfassung rechnet bereits mit den beiden „Klassen“ der industriellen Arbeiter und der kollektivierten Landbevölkerung als beständigen sozialen Faktoren. Inzwischen wurden die sich neu bildenden Schichten unter dem russisch und marxistisch gleichermaßen akzeptablen Terminus der „technischen Intelligenz" als einer dritten sozialen Kategorie bestätigt. Klammern wir uns nicht an terminologische Spitzfindigkeiten der Klassendifinition, so können wir die Bevölkerung der Sowjetunion heute als einen weithin durchgliederten Sozialkörper bezeichnen, der sich immer weiter von einer , klassenlosen Gesellschaft' entfernt. Eine ausgeprägte Oberschicht in Regierung, Verwaltung, Partei, Wirtschaft, Technik, Militär. Forschung, Unterricht und Gesundheitswesen mit einer breiten jungen , Intelligenzreserve' besitzt die Verfügungsgewalt über Privilegien, die den politischen oder auf Eigentum sich gründenden Vorrechten der Führerschichten in den . kapitalistisdten Ländern um nichts nachsteht. Mannigfach sind die Symptome der rechtlichen Institutionalisierung dieser Vorzugsstellen. Die Menge der wieder in Ränge gegliederten Beamtenschaft und der Angestellten steht nach dem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung wohl kaum hinter den westlichen Ländern in der Nachkriegszeit zurück. Innerhalb der Arbeiterschaft hat sich ebenfalls Tradition und eine durch die Arbeit geprägte Differenzierung herausgebildet, wie in Westeuropa vor 50 bis 80 Jahren. Die sogenannte „zweite industrielle Revolution“, die Voll-automation der übertragbaren industriellen Produktion, bietet der an Menschenmangel leidenden Sowjetwirtschaft in diesem Stadium neue Möglichkeiten der Ausnutzung ihrer industriellen Arbeiterschaft und technischen Intelligenz. Für die breite Masse der ungelernten Arbeiter, der Kolchosbauern, der Aufenthaltbeschränkten und der Zwangsarbeiter in der Periode des Stalinismus scheint sich der Prozeß der industriellen Revolution, der sich von den Zentren aus gleichsam in das Land hineinfrißt, bisher nur in beschränktem Umfange auszuwirken.

Verfolgen wir die Regungen seit dem Tode Stalins bis zum XX. Parteikongreß, so ist es die neue Oberschicht, die im Besitze der privilegierten Stellung befindliche . Klasse', deren Konsumbedürfnis mit allen Anzeichen der . Verbürgerlichung' Berücksichtigung erwartet. Ihre Forderung nach persönlicher Rechtssicherheit, nach Freiheit der privaten Sphäre, nach persönlicher Beweglichkeit bis zur Auslandsreise und nach Abkehr von dem auf die Massen berechneten Konformismus bewirkt die Veränderung des geistigen Klimas in Moskau. Zur gleichen Zeit hat eine Rezeption des literarischen Erbes der russischen Intelligenz der Vorkriegszeit stattgefunden, von Gontscharow über Tolstoy und Dostojewskij bis zu Jessenin. Zudem ist der Hunger nach Werken der außerrussischen Kultur offenkundig. Der „sozialistische Realismus“ dagegeen, der im Namen des , Kontaktes mit den Massen das Einheitsniveau propagiert, trifft ins Leere und konserviert eine überholte Problematik.

Denn die alte Polarität der russischen Intelligenz „für das Volk“ hat sich verändert. In der industriellen Sowjet-Gesellschaft, die kaum ein Analphabetentum mehr kennt, ist auch die „Masse" mündig geworden und bedarf nicht mehr der Fürsprache durch die neue Intelligenz, die im Bewußtsein ihrer Leistung an die eigenen. Probleme zu denken sich berechtigt fühlt. Das offiziöse „Soziale“ tritt hinter dem Individuellen zurück. Die menschlichen Probleme schlechthin, nicht die politischen sind es, die heute auch in der Sowjetunion die geistige Welt beschäftigen, sofern die Machhaber im Zeichen des „Tauwetters“ der Äußerung und Diskussion Spielraum gewähren.

Jetzt erst, nach fast vier Jahrzehnten der Herrschaft des Bolschewismus und des Sowjetsystems, formt sich in der neuen Phase der industriellen Revolution eine „Gesellschaft“ aus, die aus den Reserven des russischen Volkes, in verminderter Weise auch der anderen Völker, und aus den Quellen der vormarxistischen Kultur ihre Kräfte zieht. Dominierend ist dabei wohl doch noch die unverminderte Zuversicht in die Beständigkeit des Fortschritts der Technik, die in diesem entwicklungsfähigen Erdteil noch sichtbar und planvoll das Leben der Menschen von Grund auf verändert. Der Mensch erscheint somit als der Beherrscher der Natur und als Herr der Technik. Gegenüber den konkreten Auf gaben und dem Sinn der Gegenwart verliert jedes Fernziel an Gewicht. Aus dem revidierten und evolutionär gedeuteten marxistischen Geschichtsdenken hat wohl nur der Rückschluß weiteste Verbreitung gefunden, daß auf dem unaufhaltsamen Wege der Menschheitsentwicklung die Sowjetunion bereits einen „höheren Typ“ des „sozialistischen“ Staatswesens darstelle und demnach an der Spitze der Menschheit marschiere. Der hieraus resultierende Anspruch auf die führende Stellung des Sowjetreiches nimmt die Traditionen des russischen Geschichts-denkens im 19. Jahrhundert wieder auf und verleiht dem Patriotismus eine ideologische Weihe. Stalin ist bis in sein letztes Lebenjahr bemüht gewesen, die davonlaufende Entwicklung ideologisch einzufangen und sowjetmarxistisch zu interpretieren. Für den XX. Parteitag war der Anlaß erneut gegeben. Das Ergebnis einer freien marxistischen Analyse des gegenwärtigen Zustandes der Sowjetunion würde dem einer . Klassengesellschaft“ wohl nicht unähnlich sein; sie würde freilich auch nur den Mechanismus der sozialen Dynamik erfassen und nicht die eingeschmolzenen Kräfte des russischen Erbes.

Ein zentraler Abschnitt gegenwärtiger Geschichte

Stalin hat in seinem Revolutionskatechismus der Kommunistischen Partei der Bolschewikij (19 3 8) das Sowjetmodell des politischen Um-sturzes und 1950 der sozialökonomischen . Revolution von oben im Namen des Marxismus-Leninismus-Stalinismus zur Anwendung empfohlen. Nach dem Kriege ist das aus Marxismus und russischem Erbe geprägte Sowjetsystem auch auf die Länder des europäischen Ostens übertragen worden. Die Sowjetisierung in den Ländern mit stärkerer abendländisch-christlicher Tradition, die auch im Denken der sozialistischen, selbst der kommunistischen Bewegungen nachwirkt, in Gebieten mit alter individualbäuerlicher Struktur und mit einer der westlichen Kultur verbundenen Intelligenz wirkt hier in doppeltem Sinne als Fremdherrschaft, als sowjetische und als russische. Die Diskussionen um die „verschiedenen Wege zum Sozialismus“ anstelle der Verbindlichkeit des unter dem Stalinismus seit 192 5 „in einem Lande“ ausgebildeten . Sowjetsystems' haben hierin ihre Wurzel.

Kehren wir zum Ausgangspunkt unserer Fragestellung zurück, so werden wir in historischer Sicht keine der genannten Alternativen gelten lassen. Weder ist das Sowjetsystem ein Werk „des Marxismus“, der damit seine geschichtliche Wahrheit erwiesen hätte, noch kann dieses gegenwärtige System etwa als ein autochthoner Ausdruck des Russentums und der anderen Völker der Sowjetunion erkannt werden. Aus dem Zerfall des alten Rußlands und dem kommunistischen „Experiment“ aus europäischer Wurzel ist ein Zustand hervorgegangen, der noch alle Zeichen der Bewegung und Veränderung trägt und sich noch nicht zu einer festen Struktur ausgeformt hat. Das Zusammenwirken von Marxismus und russischem Erbe ist ein zentraler Abschnitt gegenwärtiger Geschichte, deren Dynamik im Weltgeschehen allerdings heute bereits durch die Vorgänge in China überboten zu sein scheint.

Die Aufnahme des Marxismus in Rußland war nur ein Teilvorgang der Europäisierung im 19. und 20. Jahrhundert. Mit der Revolution von 1917 wurde der Prozeß der freien geistigen, politischen und sozialen Europäisierung unterbrochen; denn die Begründung des Sowjet-staatesdurch Lenin und sein Ausbau in der Periode des Stalinismus stehen von der ersten Stunde an unter dem Primat der Erhaltung der Sowjetmacht und bald in der Machttradition des Russischen Reiches. Die im Laufe von fast vier Jahrzehnten im Namen des Marxismus und Leninismus als Vorstufe eines künftigen . Kommunismus' ausgebildeten Herrschaftsorganisationen und Lebensweisen sind entstanden aus den Gegebenheiten des Landes in der ständigen Anpassung an den Aufstiegswillen einer intellektuell unverbrauchten und bedürfnislosen Bevölkerung. Die Ausbildung des sowjetischen Modells der zentral gelenkten Planwirtschaft ist gebunden an die Industrialisierung des an Bodenschätzen so reichen, aber wenig entwickelten Landes unter höchster Anspannung der Kräfte, die dem macht-und ideenpolitischen Gegensatz zur LImwelt entsprang. Ertragen, erduldet, aber auch entwickelt wurde dieses System von Menschen, in denen das Erbe Rußlands lebte und lebt. Daß aber für die Entfaltung des Menschen bis zum heutigen Tage noch keine gültigen Lebensformen gefunden worden sind, daß es vielmehr bis heute zunehmend als ein System des Zwanges empfunden wird, dafür wird man auch die Vorgänge der letzten Jahre und des XX. Parteikongresses als Anzeichen nehmen müssen.

Anmerkung Wolfgang, Leonhard, geb. 16. April 1922, Verfasser u. a.des vieldiskutierten Buches: „Die Revolution entläßt ihre Kinder", Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1955. Gegenwärtig befindet er sich zu Studienzwecken in der Oxford-Universität, England.

Markert, Werner, Dr. phil., UProf. f. osteuropäische Gesch. Dir. Inst, osteurop. Gesch. und Landeskde. Geb. in Leipzig 3. XII. 05. LBeauftr. Leipzig 35— 39, Doz. Göttingen 48, beamt, ao. P. Tübingen 53. Lehrgebiet: Neuere und osteurop. Geschichte.

Politik und Zeitgeschichte

AUS DEM INHALT DER BEILAGEN: Handbuch des Weltkommunismus

J.

M. Bochenski:

„Die formale Struktur des Kommunismus“

J. M. Bochenski, E. G. Walter „Philosophische, soziologische und und G. Niemeyer:

wirtschaftstheoretische Grundlehren“

Gerhart Niemeyer: „Politische Grundlehren"

John Reshetar: „Die Partei"

J. Reshetar, S. Possony und „Methodologie der Eroberung und des W. kulski: Herrschens"

Jan Librach: „Die Expansion des Reiches"

Walter Kolarz: „Die Nationalitäten"

Vladimir Gsovski: „Das Recht"

David J. Dallin: „Das Verbrechen und das Strafsystem"

Ralph James: „Die Wirtschaft"

Karl Wittfogel: „Die Bauern"

John Fizer: „Die Kultur"

J. M. Bochenski, J. Hay und W. Meysztowicz: „Die Religion"

W. W. Kulski: „Die Situation des Individuums"

Joseph M. Bochenski:

Zur Kritik des Kommunismus

Fussnoten

Weitere Inhalte