§ 1. EINLEITUNG Als politische Lehre bezeichnet man gewöhnlich eine Theorie über die Natur und bestmögliche Wirksamkeit des Staates, des Rechtes und der Regierung. In diesem Sinne gibt es keine kommunistische politische Lehre. Die Kommunisten betrachten den Staat und seine Wirksamkeit nicht als Einrichtungen von selbständiger Bedeutung, sondern als einen bloßen „überbau" über der allein wirklichen Grundlage der Produktionsverhältnisse. In diesem Sinne sehen die Kommunisten Staat, Recht und Regierung als sekundäre Erscheinungen an, während sie die geschichtlich sich entwickelnden Produktionsmethoden als primär betrachten. Daher haben die Kommunisten an Stelle einer politischen Philosophie nur eine Geschichtsphilosophie und eine wirtschaftliche Soziologie.
Folglich haben die Kommunisten übersehen, daß die politische Macht ihre eigenen Gesetze hat und darüber hinaus ihre eigenen Gefahren, Gefahren, die den Menschen weit ernsthafter bedroht haben, als jene, die die Kommunisten der Macht des Privateigentums zuschreiben. Die Kommunisten haben geflissentlich jede historische Erfahrung ignoriert, die beweist, daß herrschende Klassen sich mehr auf dem Wege der Kontrolle der „Verwaltungsmittel'’ als der „Produktionsmittel“ an der Macht halten können. In der asiatischen Gesellschaft zum Beispiel war durch Tausende von Jahren hindurch die Bürokratie die herrschende Klasse; eine Klasse, die nicht die Produktionsmittel besaß (s. K. Wittfogel, Oriental Despoti sm, Yale University Press, 1957). Das Fehlen einer besonderen politischen Lehre hat zum Entstehen der schlimmsten politischen Übel unter kommunistischen Herrschaften beigetragen.
Erstens betrachten die Kommunisten den Staat, das Recht und die Regierung als sekundär — die historisch sich entwickelnden Produktionsverhältnisse sind als primär vorausgesetzt. Zweitens halten die Kommunisten Staat, Recht und Regierung für zeitweilige Erscheinungen. Politische Gebilde entsprechen in ihren Augen keinen natürlichen Bedürfnissen allen menschlichen Lebens, sondern treten nur in gewissen Zeitaltern der Geschichte auf — jenen Zeitaltern in denen die Gesellschaft in Klassen gespalten ist. Ursprünglich, so behaupten sie, war das nicht der Fall, und nach dem erhofften Sieg der kommunistischen Revolution wird es auch nicht mehr so sein Die „Macht der Personen" würde dann ersetzt werden durch die „Verwaltung von Dingen und die Leitung von Produktionsprozessen" (Engels). Staat, Recht und Regierungen sind daher für die Kommunisten nur Symptome einer Art vorübergehender Krankheit der menschlichen Gesellschaft, nämlich der Krankheit des Privateigentums und der Klassenspaltung.
Viele christliche politische Schriftsteller sehen gleicherweise die politischen Einrichtungen nur deshalb als notwendig an, weil die In der Ausgabe der Beilage vom 3. Juli 1957 /BXXV/57 begannen wir mit dem Abdruck der ersten beiden Kapitel aus dem „HANDBUCH DES WELTKOMMUNISMUS", herausgegeben von Prof. Dr. J. M. Bochenski und Prof. Dr. G. Niemeyer, das demnächst im Verlag Karl Alber, Freiburg/München, erscheinen wird.
In dieser Ausgabe fahren wir mit dem Abdruck der Kapitel III „Politische Grundlehren des Kommunimus", IV. „Die Partei" fort. menschliche Natur der Verderbnis anheimgefallen ist, aber sie sind der Ansicht, daß gerade durch den Fall in die Verderbnis die politischen Einrichtungen nun im Interesse aller Menschen erforderlich sind und daß sie im besten Falle vorteilhafteste Wirkungen auf das menschliche Leben ausüben.
Die Kommunisten weigern sich anzunehmen, daß politische Einrichtungen einem gemeinsamen Interesse aller Menschen dienen. Trotzdem halten sie politische Institutionen und Tätigkeiten nicht für unwichtig. Die kommunistische Theorie befaßt sich im Gegenteil über-
INHALT § 1. Einleitung A. Der Klassenkampf § 2. Die Ursache des Klassenkampfes § 3. Die völlige Entfremdung von Klasse zu Klasse § 4. Die Unversöhnlichkeit des Klassenkampfes B. Der Mythos vom Proletariat § 5. Die erlösende Rolle des Proletariats § 6. Der „Rolltreppen" -Begriff der Geschichte § 7. Die Diktatur des Proletariats C. Die revolutionäre Strategie § 8. Die Gesetze des Kampfes § 9. Der Staat § 10. Die Kommunistische Partei a. Die Lehre von der Ungleichheit b. Organisation der „Berufsrevolutionäre" und „Kontakt" mit den Massen c. Ausrichtung auf die Zukunft anstatt auf die Interessen der Lebenden d. „Unabhängiges Denken" und Politik als Parteiherrschaft § 11. Die Lehre von den zwei Revolutionen § 12, . Die Bündnisstrategie D. Sowjetische internationale Strategie § 13. „Imperialismus" — die kommunistische Neu-Interpretation des Kapitalismus § 14. Die „Zwei-Lager" -Theorie der Weltpolitik § 15. Die Lehre vom Krieg § 16. Platz der Sowjetunion in der kommunistischen globalen Strategie wiegend mit politischen Problemen. Wenn Kommunisten die Politik analysieren, so sind sie aber nicht darauf bedacht, herauszufinden, wie Staat, Recht und Regierung zu einem besseren Dasein führen können. Sie gehen vielmehr davon aus, daß alle bedeutenden historischen Entscheidungen durch politische Mittel zuwege gebracht wurden. Die Kommunisten sind sich völlig im klaren über die entscheidende Bedeutung der politischen Macht und der Mittel, jene Macht zu gewinnen und festzuhalten. Sie betrachten den Staat und seine Funktionen als die wirksamsten Werkzeuge im Kampf zwischen den sozialen Klassen. Deswegen ist die politische Lehre des Kommunismus vor allem die Lehre des Klassenkampfes. Sie befaßt sich al mit der Natur des Klassenkampfes, b) mit der proletarischen Revolution als dem historischen Höhepunkt des Klassenkampfes, und c) mit der Strategie der kommunistischen Partei in diesem historischen Drama.
A. Der Klassenkampf
Das politische Denken beginnt gewöhnlich mit der Annahme, daß die Menschen eine allgemeine menschliche Natur besitzen. Dementsprechend haben sie trotz vieler Interessenkonflikte grundlegende Allgemeininteressen, die sie befähigen, eine politische Gemeinschaft zustande zu bringen. Die Kommunisten betrachten die Menschen als völlig durch ihre Klassensituation geprägt Die einzigen „Allgemein" -Interessen der Menschen seien Klasseninteressen. Keine Allgemeininteressen können die Klassenteilungen der Gesellschaft überbrücken. Und die Interessen der verschiedenen Klassen sind notwendig antagonistisch. Während also andere politische Lehren die Elemente der Einheit als grundlegende politische Wirklichkeit angesehen haben, glauben die Kommunisten dementsprechend, daß die grundlegende politische Wirklichkeit der Klassen k a m p f ist. „Die Geschichte der ganzen bisherig existierenden Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." „Aber jeder Klassenkampf ist ein politischer Kampf" (Kommunistisches Manifest). Jede Beschreibung der kommunistischen politischen Lehre muß deshalb mit dem Klassenkampf beginnen, „diesem Gesetz aller Gesetze".
Die bedeutendsten Punkte der kommunistischen Lehre des Klassenkampfes a) der Klassenkampf wird durch Bedingungen mehr die sozialen als durch die menschliche Bosheit hervorgerufen; b) in Klassen eingefügte Menschen sind einander völlig entfremdet; c) solange Klassen bestehen, ist der Kampf zwischen ihnen unversöhnlich.
Diese Punkte sollen nun erläutert werden.
§ 2 . DIE URSACHE DES KLASSENKAMPFES Streitigkeiten in der menschlichen Gesellschaft sind am häufigsten auf bösartige Beweggründe des menschlichen Willens zurückgeführt worden. Die kommunistische Lehre besagt aber, daß der Kampf keine Angelegenheit der Absicht sei: er ist wegen der Existenz von Klassen unvermeidbar. Bösartige Beweggründe sind nicht Ursache des Kampfes, sondern eher eine Folge der Klassenspaltung der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist in Klassen aufgeteilt, solange die Produktionsmittel in privatem Besitz sind. Privateigentum gestattet bestimmten Menschen, die Produktionsmittel zu kontrollieren und ihren Willen denjenigen aufzuzwingen, die nicht jene Mittel kontrollieren.
Das notwendige Ergebnis, sagen die Kommunisten, ist die Ausbeutung der Menschen durch die herrschende Klasse und der Antagonismus zwischen den ausgebeuteten und ausbeutenden Klassen. Da vorausgesetzt wird, daß dieser Antagonismus nicht üblen Beweggründen, sondern mehr den sozialen Einrichtungen entspringt, kann ihm auch nicht durch den Versuch abgeholfen werden, die Beweggründe zu kontrollieren und zu bessern.
Der kommunistische Klassenbegriff ist eine grobe Vereinfachung. Bei seiner Anwendung auf die aktuellen Situationen stoßen die Kommunisten mit der Tatsache auf dauernde Schwierigkeiten, da die meisten Menschen kein Bewußtsein ihrer Klassensituation haben und deshalb nicht handeln, wie es ihre angeblichen Klasseninteressen von ihnen verlangen. Die Kommunisten sprechen manchmal von Klassen als den wahren Ursachen historischer Ereignisse und manchmal als von einem Bewußtseinszustand, zu dem die Massen erzogen werden müssen. Der Klassenbegriff ist unzweifelhaft ein Beitrag zu einer schärferen Untersuchung der Gesellschaft gewesen. Aber er war nicht imstande, das Ganze irgendeiner gegebenen Gesellschaft oder aller menschlichen Handlungen zu erklären. Und bei der Untersuchung einer Gesellschaft wie z. B.der der Vereinigten Staaten ist er mehr ein Hindernis als eine Hilfe. In der kommunistischen Theorie hat sich der Klassen-begriff allmählich von einem Werkzeug der Untersuchung zu einem Dogma entwickelt. Als solches ist er sicherlich die Grundlage kommunistischen politischen Denkens, wie aus den folgenden Texten hervorgeht: „In der gesellschaltlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaltliche Bewußtseinsformen entsprechen. ... Es ist nicht das Bewußtsein der
Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. . . . Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinne von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus . . .“ (Karl Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, Berlin 1947, S. 13— 14 passim).
„Marx spricht vom . Volk'. Wir wissen aber, daß er die kleinbürgerlichen Illusionen von der Einigkeit des . Volkes'und vom Nichtvorhandensein des Klassenkampfes innerhalb des Volkes rücksichtslos bekämpfte. Mit dem Wort , Volk'pflegte Marx nicht die Klassenunterschiede zu vertuschen, sondern jene bestimmten Elemente zusammenzufassen, die geeignet sind, die Revolution zu Ende zu führen" (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, Nachwort;
K A W 1, S. 526 /A W 3, S. 120).
§ 3 . DIE VÖLLIGE ENTFREMDUNG VON KLASSE ZU KLASSE Da die Kommunisten die Auffassung ablehnen, die Klassen seien Teil eines größeren Ganzen, meinen sie auch nicht, daß irgendeine Verpflichtung zwischen oder über den Klassen besteht. Aus dem kommunistischen Begriff des Klassenkampfes entspringt die Vorstellung, daß es keine allgemein verbindende Moral gibt, sondern daß der Kampf zwischen den Klassen das „moralische" Gesetz sei. Indem sie den Klassenkampf für die grundlegende politische Wirklichkeit halten, überlassen sich die Kommunisten der Vorstellung, daß die Menschen einander völlig entfremdet sind, und zwar entfremdet nicht als Individuen, sondern als Klassenangehörige. Die Kommunisten fordern, daß die Menschen ihrer eigenen Klasse mehr Loyalität, Treu und Glauben schulden, als anderen Menschen in ihrer Eigenschaft als menschliche Wesen.
Die einschlägigen Texte aus Lenin wurden oben (II § 14 d) angeführt.
Dieselbe Auffassung findet man schon im „Kommunistischen Manifest";
„Die Gesetze, die Moral, die Religion sind für ihn (den Proletarier)
ebenso viele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebenso viele bürgerliche Interessen verstecken" (Kommunistisches Manifest MEGA I, 6 S. 536).
„Die Arbeiter haben kein Vaterland" (ebd. MEGA I, 6 S. 543).
§ 4. DIE UNVERSÖHNLICHKEIT DES KLASSENKAMPFES Obwohl andere Theorien des Klassenkampfes — darunter einige von Marx und Engels abgeleitete — sich eine mögliche Aussöhnung der sozialen Klassen vorstellen, betonen die Kommunisten, daß der Klassenkampf in seinem eigensten Wesen unversöhnlich ist. Solange Klassen bestehen, glauben die Kommunisten, muß Kampf herrschen. Deshalb sind die Kommunisten gezwungen, den Kampf zu schärfen, zu schüren und ihn zum vollständigen Sieg über alle Klassenfeinde vorwärts zu treiben, anstatt ihn abzuschwächen.
„. . . die zivilisierte Gesellschaft (ist) in feindliche und dazu noch in unversöhnlich feindliche Klassen gespalten . . ." (Lenin, Staat und Revolution, AW 7, S. 9 /KAW 2, S. 164).
„. . . das Bestehen des Staates beweist, daß die Klassengegensätze unversöhnlich sind“ (e b d. AW 7, S. 6 /KAW Bd. 2, S. 161).
„Nach Marx hätte der Staat weder entstehen noch sich halten können, wenn eine Versöhnung der Klassen möglich wäre" (e b d., AW 7, S. 7 /KAW 2, S. 161 f.).
„. . . wenn der Staat das Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über der Gesellschaft stehende und . sich ihr mehr und mehr entfremdende'Macht ist, so ist es offensichtlich, daß die Befreiung der geknechteten Klasse nicht nur ohne gewaltsame Revolution, sondern auch ohne Vernichtung jenes Apparates der Staatsgewalt (unmöglich ist) . . ." (ebd., AW 7, S. 8 /s. a. KAW 2, S. 162). „Nicht vom Auigeben des Klassenkampfes erwartet das Proletariat sein Heil, sondern von seiner Entwicklung, von der Steigerung seines Umfanges, seiner bewußten Führung, seiner Organisiertheit und Entschiedenheit“ (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, AW 3, S. 114 /s. a. KAW 1, S. 506).
. in der Klassengesellschaft (sind) Revolutionen und revolutionäre Kriege unvermeidlich . . daß es sonst unmöglich ist, in der Entwicklung der Gesellschaft einen Sprung zu tun, unmöglich ist, die reaktionäre herrschende Klasse zu stürzen, damit das Volk die Macht in seine Hände nimmt" (Mao Tse-tung, ü b e r d e n Wi derspruch, AS 1, S. 397).
„. . . kann man sagen, daß Politik ein unblutiger Krieg, der Krieg aber blutige Politik ist“ (Mao Tse-tung, über den langdauernden Krieg, AS 2, S. 192).
B. Der Mythos vom Proletariat
Der Kommunismus hält in der Menschheit die Hoffnung wach, daß die Klassenkämpfe der Geschichte unter Umständen ein Ende finden werden. Dieses würde durch eine letzte Revolution geschehen; die Revolution einer Klasse, die keinen eigenen Besitz hat. Sie würde die Produktionsmittel ihren Eigentümern entreißen und damit das Privateigentum vollständig abschaffen. Die Klasse, welche nach Marx von der Geschichte dazu erwählt ist, ist das Proletariat. Das Proletariat entwickelt sich nur in der kapitalistischen Gesellschaft und wird schließlich der einzige Widersacher des Bürgertums, der herrschenden Klasse jener Gesellschaft. Nach Marx wird zum Zeitpunkt der Revolution das Proletariat alle anderen Klassen in sich ausgenommen haben und die überwiegende Mehrheit des Volkes bilden. Deswegen wird es nicht nur zahlenmäßig stark sein, sondern auch die Interessen der Mehrzahl vertreten. Die Machtübernahme durch das Proletariat und die Unterdrückung der herrschenden Klasse würde angeblich alle Menschen von der Klassenherrschaft und vom Klassenkampf befreien.
Diese Vorstellungen sind im späteren kommunistischen Denken weitgehend verändert worden. Insbesondere erwarten die Kommunisten nicht länger, daß das Proletariat am Tage der Revolution die Mehrheit bilden werde. Ebensowenig erwarten sie, daß das Proletariat die anderen Klassen außer dem Bürgertum absorbiert habe. Nichtsdestoweniger klammert sich die kommunistische Lehre noch an die Grundbegriffe der Klasse des Proletariats, der proletarischen Revolution, der Diktatur des Proletariats und der Erlösung der Menschheit durch die proletarische Herrschaft über alle Klassen. Aber diese Lehre spielt nun eher die Rolle eines Mythos als die eines Leitfadens zu politischer Aktion.
Der Mythos vom Proletariat besteht aus drei Teilen:
a) der erlösenden Rolle des Proletariats, b) der historischen Unvermeidbarkeit der siegreichen proletarischen Revolution und c) der Umformung der Gesellschaft in das klassenlose Ideal auf dem Wege der Diktatur des Proletariats. Diese drei Vorstellungen zusammen werden als Rechtfertigung der kommunistischen Herrschaft und Politik gebraucht.
§ 5. DIE ERLÖSENDE ROLLE DES PROLETARIATS Wenn der Klassenkampf ein uralter Fluch der Menschheit ist, dann ist das Proletariat nach kommunistischer Anschauung der Prinz oder Siegfried, der allein die Menschheit von diesem Fluch befreien kann und sicherlich befreien wird. Denn „alle geschriebene Geschichte ist eine Folge von Klassenkämpfen gewesen", die in ihrem Ergebnis nichts anderes hervorgebracht haben, als neue herrschende Klassen und neue Kämpfe. Der Bannkreis kann nur von einer Klasse durchbrochen werden, die selbst durch Privateigentum nicht verdorben ist und deshalb die Revolution nicht durchführen würde, um eine nene Ausbeuterklasse zu werden. Die kommunistische Lehre besagt, daß im Laufe der historischen Entwicklung der Menschheit diese „Erlöserklasse" sich aus dem Schoße der kapitalistischen Gesellschaft erheben wird. Wenn sie schließlich die Herrscher jener Gesellschaft überwältigt hat, werde die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen für immer zu Ende sein.
„Das Neue, das ich zu erweisen hatte, war: 1. daß die Existenz von Klassen allein mit besonderen historischen Phasen der Produktionsentwicklung verbunden ist; 2 daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bedeutet . . ." (Karl Marx, Brief an J. Weydemeyer).
„Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbs unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen . . .
Alle bisherigen Bewegungen waren Bewegungen von Minoritäten oder im Interesse von Minoritäten. Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl" (Kommunistisches Manifest, MEG A 1, 6 S. 536).
„Wenn das Proletariat im Kampfe gegen die Bourgeoisie sich notwendig zur Klasse vereint, durch eine Revolution sich zur herrschenden Klasse macht und als herrschende Klasse gewaltsam die alten Produktionsverhältnisse aufhebt, so hebt es mit diesen Produktionsverhältnissen die Existenzbedingungen des Klassengegensatzes, der Klassen überhaupt und damit seine eigene Herrschaft als Klasse auf“
(ebd., M E G A 1, S S. 546).
„Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen, ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse"
(ebd., M E G A I ßd. 6 S. 535).
„Indem die kapitalistische Produktionsweise mehr und mehr die große Mehrzahl der Bevölkerung in Proletarier verwandelt, schafft sie die Macht, die diese Umwälzung, bei Strafe des Unterganges, zu vollziehen genötigt ist" (Friedr. Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin 1907, S. 48). -
„Diese weltbefreiende Tat durchzuführen, ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats. . . .der zur Aktion berufenen, heute unterdrückten Klasse die Bedingungen und die Natur ihrer eigenen Aktion zum Bewußtsein zu bringen, ist die Aufgabe . . .des wissenschaftlichen Sozialismus" (ebd. S. 54).
§ 6. DER „ROLLTREPPEN" -BEGRIFF DER GESCHICHTE Die kommunistische Lehre behauptet, daß die „Erlöserklasse" sich nur in einer bestimmten historischen Situation erhebt: „im Schoße" der verfallenden kapitalistischen Gesellschaft. Es ist klar, daß es keine „Befreiung der Welt" durch das Proletariat geben kann, wenn die Entwicklung aller menschlichen Gesellschaften nicht zuerst zu einer bürgerlich-kapitalistischen Phase führt, von welcher man umgekehrt annimmt, daß sie aus einer „feudalistischen Gesellschaft" entstehen muß. Die kommunistische Lehre betont deshalb, daß die Entwicklung aller Gesellschaften nach einem starren Schema fünf Phasen durchläuft, deren jede mit Notwendigkeit der anderen folgt. Die Geschichte wird dementsprechend als eine Art Rolltreppe begriffen auf welche sich die Menschheit mit dem ersten klassengeteilten Typ der Gesellschaft begibt, und welche sie unvermeidlich zur proletarischen Revolution und dem Triumph des Kommunismus tragen muß.
Diese Auffassung der Geschichte steht zu gewissen anderen Begriffen des Marxismus in Widerspruch. Zuerst einmal haben Marx und Engels selbst zugegeben, daß andere Typen der Gesellschaft als die oben erwähnten fünf existierten (zum Beispiel die asiatische Gesellschaft, die weder eine Sklaven-noch eine feudale Gesellschaft war, sondern eine von einer Bürokratie als herrschender Klasse regierte Gesellschaft (s. Wittfogel, Oriental Despotism, Yale University Press, 1957). Wenn das zutrifft, dann kann es nicht wahr sein, daß aus jeder dieser Gesellschaftstypen der folgende Typ notwendig entsteht. Zweitens lehnt die marxistische Philosophie jede „absolute Wahrheit, unabhängig von Zeit und Raum" ab und besteht darauf, daß Wissen aus der Praxis stamme. Aber die „fünf Phasen" der Geschichte werden als absolute Wahrheit hingestellt, die sich in Zeit und Raum nicht verändert. Die kommunistischen Führer erkannten bald, daß der ganze Mythos vom Proletariat nicht aufrechterhalten werden konnte, wenn nicht die Geschichte als eine unentrinnbare Rolltreppe begriffen wurde. Unter Lenin wurde deshalb das Fünf-Typen-Muster autoritativ festgelegt und unter Stalin keine Abweichung mehr davon gestattet.
Die Lehre von der notwendigen Entwicklung jeder Gesellschaft durch die fünf „Grundtypen" wurde oben (II § 12) dargestellt und aus Lenin belegt. Auch die folgenden Texte sind hier von Bedeutung:
„Die Marxisten sind der Ansicht, daß sich die Produktionstätigkeit der menschlichen Gesellschaft Schritt für Schritt von niederen zu höheren Stufen entwickelt . . . Erst als mit dem Aufkommen riesiger Produktivkräfte — der Großindustrie — das moderne Proletariat auf den Plan trat, konnten die Menschen zum allseitigen geschichtlichen Verständnis für den Prozeß der historischen Entwicklung der Gesellschaft kommen . . (Mao Tse-tung, über die Praxis, AS 1, S. 334).
„... es (ist) ein reaktionärer Gedanke . . die Erlösung der Arbeiterklasse anderswo zu suchen als in der weiteren Entwicklung des Kapitalismus. . . . Die bürgerliche Revolution ist eben eine sold^e Umwälzung, die am entsdiiedensten die Überreste der alten Zeit, die Reste der Leibeigenschaft . . . hinwegiegt“ (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, AW 3, S. 71 /KAW 1, S. 450).
„Die Kommunisten müssen wissen, daß die Zukunft auf jeden Fall ihnen gehört . . . * (Lenin, Der Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 137 /s. a. KAW 2, S. 745).
„Bereits am Vorabend der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution schrieb W. I. Lenin: . Alle Völker werden zum Sozialismus gelangen, das ist unausbleiblich, aber sie werden dahin nicht auf ganz dem gleichen Wege gelangen (N. S. Chruschtschow, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag, XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956. Zitat: SW 19, S. 281).
§ 7. DIE DIKTATUR DES PROLETARIATS Die Tat, durch die das Proletariat nach der kommunistischen Lehre die Menschheit erlösen wird, ist die proletarische Revolution, die die Diktatur des Proletariats aufrichtet. Nach der Machtergreifung würde sich angeblich das Proletariat als herrschende Klasse konstituieren, um sowohl die alte herrschende Klasse mit Gewalt zu unterdrücken, als auch die Produktionsmittel zu entwickeln. Das Ergebnis dieser diktatorischen Herrschaft würde angeblich das Verschwinden aller Klassen sein. Sobald genügend Waren zur Verfügung stünden, würde der Staat als Instrument der Unterdrückung „absterben" (Engels). Es würde eine Gesellschaft entstehen, in der es keine Bürokratie, keine Polizei, keine Armee gäbe, in der die Ordnung durch die sich selbst regulierende Wirtschaft und die sozialen Instinkte der Bürger aufrecht erhalten bliebe und in der „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Kommunistisches Manifest).
Diesen Mythos von der proletarischen Revolution muß man unterscheiden von der Theorie der praktischen Revolution, die etwas ganz anderes ist. (Diese Theorie wird unten beschrieben werden.) Trotzdem ist der Mythos von der proletarischen Revolution ein unentbehrlicher Bestandteil der kommunistischen politischen Lehre, weil er den Begriff enthält, der — wie die Kommunisten glauben — ihre Parteiherrschaft rechtfertigt. „Revolutionär" ist ein Wort, das in der kommunistischen Welt starke Empfindungen auslöst.
Die kommunistische Lehre will uns glauben machen, daß eine Periode der gewaltsamen und gesetzlosen Herrschaft automatisch Freiheit für alle Menschen hervorbringen wird. Um diese Behauptung einleuchtend zu gestalten, macht sie geltend, daß diese Herrschaft von einer ganzen Klasse ausgeübt wird, und daß die von dieser Klasse geübte Gewalt und Gesetzlosigkeit Freiheit schaffe, weil sie eben nicht dazu benutzt würden, um Eigentumsinteressen zu verteidigen. Die Kommunisten definieren eine herrschende Klasse als eine Klasse, die die Produktionsmittel besitzt. Wenn es als herrschende Klasse betrachtet wird, weil es die politischen Machtmittel kontrolliert, dann muß man feststellen, daß das Proletariat als eine Klasse die politischen Machtmittel nicht kontrolliert. In Sowjetrußland werden heutzutage sowohl die Produktionsmittel, als auch die politischen Machtmittel von der kommunistischen Partei kontrolliert. Um aus der gefühlsmäßigen Anziehungskraft des „Mythos der proletarischen Revolution" Nutzen zu ziehen, muß die Partei aber darauf beharren, daß es „das Proletariat"
und nicht die Partei ist, welches die diktatorische Macht handhabt, (s. unten das letzte Zitat.)
„Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch den Staat als Staat. . . . Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unterdrückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft und dem in der bisherigen Anarchie der Produktion be gründetem Kampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kollisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu reprimieren, aas eine besondere Repressionsgewalt, einen Staat, nötig machte. . . . Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem anderen überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung von Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht „abgeschafft", er stirbt ab.“ (Friedr.
Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin 1907, S. 48— 49 passim.)
„Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes bis zur Anerkennung der Diktatur des Proletariats ausdehnt“ (Lenin, Staat und Revolution, AW 7, S. 31 /s. a.
KAW 2, S. 182).
„Die Diktatur des Proletariats ist die durch kein Gesetz beschränkte und sich auf Gewalt stützende Herrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie — eine Herrschaft, die die Sympathien und die Unterstützung der werktätigen und ausgebeuteten Massen besitzt" (Lenin Staat und Revolution, wie zit. in FdL S. 44).
„Es ist immer noch notwendig, dFe Bourgeoisie und ihren Widerstand niederzuhalten. . . . Aber das unterdrückende Organ ist hier bereits die Mehrheit und nicht, wie dies immer, sei es unter der Sklaverei, der Leibeigenschaft oder der Lohnsklaverei, der Fall war, die Minderheit der Bevölkerung. Wenn aber die Mehrheit des Volkes selbst ihre Bedrücker unterdrückt, so ist eine besondere „Repressionsgewalt“ schon nicht mehr nötig! In diesem Sinne b e -
ginnt der Staat abzusterben." (Lenin, Staat und Revolution, AW 7, S. 39 /KAW 2, S. 189.)
. . wo der Widerstand der Kapitalisten bereits endgültig gebrochen ist, wo die Kapitalisten verschwunden sind, wo es keine Klassen mehr gibt (werden die) Menschen sich allmählich gewöhnen . . ., die elementarsten, von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschriften wiederholten Regeln des Zusammenlebens einzuhalten, einzuhalten ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterordnung, ohne den besonderen Z wa n gsapparat, der Staat heißt“
(Lenin, Staatund Revolution, AW 7, S. 80 f. /KAW 2, S. 225 f.).
„Wir sind keine Utopisten und leugnen durchaus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit von Ausschreitungen einzelner Personen sowie die Notwendigkeit, gegen solche Ausschreitungen vorzugehen. Aber . . . das wird das bewaffnete Volk selbst ebenso einfach und leicht bewerkstelligen, wie eine beliebige Ansammlung zivilisierter Menschen sogar in der heutigen Gesellschaft raufende Menschen auseinanderbringt oder die Vergewaltigung einer Frau verhindert" (ebd. S. 82 f. /S. 227).
„Die Arbeiter werden nach Eroberung der politischen Macht den alten bürokratischen Apparat zerschlagen, ihn bis auf den Grund zerstören, nicht einen Stein auf dem anderen lassen; sie werden ihn durch einen neuen, aus denselben Arbeitern und Angestellten gebildeten Apparat ersetzen, wobei man gegen deren Verwandlung in Bürokraten sofort . . . Maßnahmen treffen wird . . .'(ebd. S. 101 i S. 243).
„Die Diktatur des Proletariats ist der Klassenkampf des Proletariats, das gesiegt und die politische Macht erobert hat“ (Lenin, Wie das Volk mit den Losungen der Freiheit und Gleichheit betrogen wird, Vorwort; zit. nach FdL S. 154).
„Verwirklicht die Partei die Diktatur des Proletariats . . ., so bedeutet das noch nicht, daß die „Diktatur der Partei“ (die führende Rolle) i d e n tisch ist mit der Diktatur des Proletariats ... In allen diesen Fällen ist die handelnde Person das Proletariat als Klasse.
. . . Wer daher die führende Rolle der Partei der Diktatur des Proletariats gleichgestellt, der verwechselt die Klasse mit der Partei“ (FdL S. 153/154).
Diesen Texten ist folgende Bemerkung hinzuzufügen: Es werden 'hier, wie übrigens im ganzen Werk, mehrere Texte von Stalin angeführt. In jedem Falle zeigt es sich, daß er nur den gleichen Ideen Ausdruck verleiht, die schon durch Lenin formuliert worden sind. Gleichwohl sind hier Zitate aus den Schriften Stalins aufgeführt, weil sie eine sehr einfache und deutliche Sprache sprechen und Lenins Ideen in einer volkstümlicheren Weise wiedergeben.
C. Die revolutionäre Strategie
Das mythische Endziel des Kommunismus — eine Zukunftsgesellschaft ohne Staat, zusammengehalten durch eine sich selbst regulierende Wirtschaft und geordnet durch die natürlichen sozialen Instinkte der Menschen — spielt keine größere Rolle in der kommunistischen Literatur. Nur an einer einzigen Stelle seines umfangreichen Schrifttums beschäftigt sich Lenin mit diesem Ziel im einzelnen. Die politische Theorie des Kommunismus ist von diesem anarchistischen Ideal kaum beeinflußt. Sie ist vielmehr aus der Analyse der „Periode des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft" abgeleitet. Es ist eine Theorie der unmittelbaren praktischen Ziele der kommunistischen Partei. Sie befaßt sich mit den strategischen Prinzipien, von denen die Kommunisten hoffen, daß sie sie zur Vernichtung ihrer Gegner führen und ihnen eine politische Macht sichern werden, die imstande ist, Sitten, Ideen, Klassen und das Volk umzuformen.
Die Tatsache, daß die politische Theorie des Kommunismus politische Kampfstrategie und nicht eine Theorie der politischen Gemeinschaft ist, kann auch aus dem dialektischen Materialismus erklärt werden (s. o.). Die Geschichte entwickelt sich dialektisch, in „Sprüngen“. Die Zukunft ist „noch in den unentwickelten Wirtschaftsver-hältnissen verborgen" (Engels), und kann nicht, hu voraus bekannt sein. Nach kommunistischer Auffassung aber ist. praktisches Leben unversöhnlicher Klassenkampf. Die Kenntnis der Zukunft wird deshalb aus der Praxis des Klassenkampfes entstehen. Aus diesen Gründen betrachten die Kommunisten politische Theorie als das Wissen von den „Gesetzen des Kampfes". Uni die Worte eines führenden ungarischen Kommunisten zu gebrauchen, kann man in der kommunistischem politischem Lehre „sehr wenig über dem Sozialismus als Zustand lindem ... Die konkrete'Erkenntnis des Sozialismus ist. — ebenso wie dieser selbst. — ein Produkt des Kampfes, der um ihn geführt wird" (Georg Lukacs, Lenin, Berlin 1924, S, 64).
Das paradoxe Ergebnis ist, daß die Kommunisten eine Theorie über die Schritte besitzen, die In Richtung auf ein Ziel unternommen Werdern müssen — von dem sie (wiederum) sagen, daß es nicht bekannt sein kann, bis sie dort, ankommen. Einerseits glauben sie, daß das Ziel vom gegenwärtigen Standpunkt in der Geschichte nicht erkannt werden kann. Andererseits sind sie überzeugt, daß es die ausschließliche Sendung der kommunistischen Partei ist, dieses Ziel zu erlangen. Dio ganze Zeit behaupten sie, daß ihre politische Theorie »Wissenschaft« lieh" sei, weil sie angeblich mehr auf dem Wissen von den Abläufen der Geschichte als auf den absoluten Idealen dm Gesellschaft gegründet sei, Im Namen dessen, was noch in der Zukunft verborgen liegt, fahren sie fort, alle gegenwärtigen Gesellschaften zu zerstören und benutzen alle lebenden Menschen als bloße Werkzeuge für ihre Absichten. § 8 . Dili GESETZE DIS KAMPFES Der Ausgangspunkt kommunistischen politischen Denkens ist das Axiom, daß der Klassenkampf ein Kampf ist, der mit.den Mitteln politischer Macht geführt wird: „Jeder Klassenkampl ist ein politischer Kampf (K o m munistis c h e sManifest) und daß sein linde nur durch die „gewaltsame Uberwältigung aller bestehenden Sozialverhältnisse erreicht werden kann" (ebd.). Die Gewalt muß nicht nur — wenn auch nicht notwendigerweise'— bei der Macht« Übernahme gebraucht werden, sondern vor allem, nachdem die Kommunisten die Kontrolle'! des Staates erlangt haben.
Da das letzte Ziel „noch in den unentwickelten Wil tschaftsverhältnissen verborgen" ist, ist der Zweck des kommunistischen Kampfes nicht irgendwie sachlich festgelegt, sondern mehr in der stets wachsenden Stärke der Partei zu suchen, „Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter" (Kommunistisches Manifest). Nachdem die Partei die Macht ergriffen lud, muß sie daher fortfahren, gegen die „Macht der Gewohnheit" zu kämpfen, die? noch die'meisten Menschen davon abhält, sich das wahre „sozialistische Bewußtsein" anzueignen.
Ein bedeutender Gesichtspunkt der kommunistischen strategischen Theorie-! ist die? Einschätzung der bestehenden politischen Kräfte, das Proletariat eingeschlossen. Die? kommunistische Strategie wurde’ auf der Erkenntnis aufgebaut, daß die Kräfte der Revolution a) zum Zeitpunkt der Machtübernahme eher eine'Minderheit als eine Mehrheit sein weiden, b) sogar nach der Machtübernahme schwächer als das Bürgertum sein werden. Das bedeutet, daß die kommunistische Partei bei anderen Klassen als dem Proletariat Bündnisse'suchen und entsprechend andere Anziehungskräfte benutzen muß, als jene'der kommunistischen Ideologie.
Die Gesetze? des kommunistischen Kampfes sind dagegen von dem sich automatisch entwickelnden Kräften der Revolution wie? sic? Marx beschrieben hat, weit entfernt. Die? kommunistische? Strategie? sucht einen mit politischen Machtmitteln und -methoden geführten Kampf, der aut ständig wachsende? Stärke'hinzielt, aber von einem Zustand der Schwäche unter den nichtkommunistischen Verbündeten ausgehl.
Die Führung dieses Kampfes erfordert eine? Partei, die straff in Richtung der „richtigem Theorie" der kommunistischem Strategie geschult ist. Diese komplexe Theorie wird unten unter dem Uberschi iften „Der Staal", „Die Partei", „Die Theorie der zwei Revolutionen" und „Dio Theorie der Bündnisse" erläutert werden.
§ 9 . DER STAAT Dio Kommunisten lehren, daß die wahre Quelle der Macht, in einer Gesellschaft das Eigentum Ist. Es gibt andere Quellen der Macht In der Gesellschaft: politische Autorität, religiöse Autorität, kulturelle Autorität. Freilich ermöglicht Eigentum seinen Besitzern einige Macht, zu handhaben. Deshalb ist. es wichtig zu fragen, wer die Macht kontrolliert, cito in einer sozialistischen Gesellschaft durch die? Konzentration allen Eigentums in den Händen dos Staates ‘erzeugt wird. Es ist deutlich, daß dieses weder das Proletariat als Klasse noch das Volk Ist.
Außerdem ist alles Eigentum an den Produktionsmitteln (und damit die Macht, Arbeit zu geben oder zu versagen) in einer Hand mit der politischen Macht vereinigt, d. h.der Macht, die die Ziele für die gesamte Gesellschaft festsetzen und allo Andersdenkenden best raten kann. Es Ist deswegen außerordentlich wichtig zu beachten, was für Ziele die kommunistische Lehre für den Slaal aufgerichtet hat.
Für die kommunistische Lehre ist der Staat keim? Einrichtung, die das Allgemein wohl fördern soll. Vielmehr wird der Staat während der Periode'des Übergangs von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft als Macht Werkzeug in den Händen des „Proletariats" (d. h., der Partei) angesehen.
Seine Funktion während dieser Periode? ist es, die? früher herrschenden Klassen zu Unterdrückern und „durch Gewalt die alten Produktionsverhältnisse beiseite zu legen" (Kommunistisches M a nifest ).
Der sozialistische Staat, muß deshalb „seine Macht bis zum äußersten" entwickeln (Stalin), und rücksichtslos jeden Widerstand gegenüber kommunistischer Politik als „bürgerliche Ideologie" ausrotten (Lenin). Der sozialistische? Slaal ist nicht dazu bestimmt, während der Periode des Überganges die'Freiheit zu fördern. Diese „Periode'des Überganges", die? Engels sich ganz kurz vor, stellte, wird nun als von unbestimmter Dauer bezeichnet. Ihr Ende ist. nicht abzusehen. Für die absehbare? Zeil wird also die? kommunistische'Partei mit den Mitteln des Staates einen „langwierigen Kampl" (Lenin) nicht nur gegen die äußeren, sondern auch gegen die inneren Feinde führen. Sogar nach der Abschaffung der Klassen nehmen sic? an, daß innere Feinde von enormer Stärke noch weiter existieren durch die Wirksamkeit der „Macht der Gewohnheit". Deswegen ist es die'Aufgabe des sozialistischen Staates, einen langwierigen Kampf zu führen, um die bürgerlichem Gewohnheiten in „sozialistisches Bewußtsein" zu verwandeln. Mil anderen Worten: ein Regime „willkürlicher Eingriffe" in die? „alle? Sozialordnung" (Kommunistisches Manifest) ist. für einen unbestimmten Zeitraum tortzusetzen. Gleichzeitig jedoch benutzt die? kommunistische'Lehre noch immer die'völlig staatenlose Gesellschaft der Zuknüll als Rechtfertigung des Diktaturstaates der Gegenwart.
„Was für eine Umsoi iiiiing wird der Slaal in der kommunistischen Gesllschaft dtirehnuHhenif . . . Zwischen der liapilalisliisclien und der konuniinistlsclu'n Gesellschaft liegt eine Periode revolutionärer Uinformung der einen in die andere. Dem enlnpricht eine politische Übergangszeit, in der der Staat nichts anderes als die i e v o I u 11 o n ä r e Diktat u r d e s P r o I e t a r I a I s sein kann" (Marx, K r I I i k el e s G o t h a e r P r o g r a m m s , Berlin 1948, S. 15).
„Die Diktatur des Proletariats ist der rilckhallloseste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen den mächtigeren Peind, gegen die Bourgeoisie, deren Widerstand durch ihren Sturz (sei es auch nur in e I n e m Lande) sieh v e r z e h n I a c h t und deren Macht nicht nur in der Stärke des Internationalen Kapitals, in der Stärke und Pestlgkeit der Intel nationalen Veihindungcn der Bourgeoisie besteht, sondern auch In der Macht der Gewöhn hell, In der Stäike des K lein b c I i i e h e s. . . . Aus allen diesen Gründen ist die Diktatur des Proletariats notwendig, und der Sieg über die Bourgeoisie ist unmöglich ohne einen laugen, hatInikkigen, vcrzwellellen Krieg aut Lehen und Tod . . ." (Lenin, D e r „R a dikali s m u s“, d i e Kind e r k r a n k h eit i m K o m m u n i s m u s , AW 10, S. 57 /KAW 2, S. 672).
„. . . kann die Trage n u r s o sieben: bürgetUche oder sozialistische Ideologie. Bin Mittelding gibt es hier nicht (denn eine „dritte" Ideologie hat die Menschheit nicht ausgearbeitet, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerrissen wird, keine außerhalb oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Daium bedeutet jede Herabsetzung der sozialistischen Ideologie, jedes S I c h e n I I e r n e n von ihr gleichzeitig eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie" (Lenin, Was tun ? AW 2, S. 62 /KAW I, S. 207 f.).
„Das Proletariat braucht den Staat mir vorübergehend. Wir gelum mit den Anarchisten In der Trage der Abschailung des Staates als Alei gar nicht auseinander. Wir behaupten, daß zur Trrelchung dieses Ziels eine zeitweilige Ausnutzung der Organe, Mittel, Methoden der Staatsgewalt g eg e n die Ausbeuter notwendig ist . . ." (Lenin, S I a a t ii ii d R e v > I i. i I i o ii , AW 7, S. 55 /KAW 2, S. 204).
„Bis zum Eintritt der „höheren" Phase des Kommunismus fordern die Sozialisten die s t r e n g s t e Kontrolle seilens der Gesellschaft und s e II e n s d e s S t a a t e s über das Maß der Arbeit und das Maß der Konsumtion , , (o b d. S. 08 /S. 232).
„Dabei betonen wir, daß dieser Prozeß von langer Dauer Ist und vom Entwicklungstempo der höheren Phase des Kommunismus abhängt, wobei wir die Trage der Fristen . . . vollkommen offenlassen'
(Lenin, S I a al und Revolution, KAW 2, S. 232 /s. a. AW 7, S. 87).
„Die Grundfrage der Revolution Ist die Frage der Macht" fl. cnin).
»Bedeutet das, die Sache sei damit abgetan, daß man die Macht ergreift, sie an sieh rclfjtf Neitr, keineswegs. Die Machtergreifung Ist nur der Anfang. , . . Deshalb kommt alles darauf an, die Macht zu behaupten, sie zu festigen, sie unbesiegbar zu machen" (FdL S. 40). „Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, daß die Erfüllung dieser Aufgaben in kurzer Zeit, die Durchführung alles dessen in ein paar Jahren ein Ding der Unmöglichkeit ist. Deshalb darf man die Diktatur des Proletariats, den Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus nicht als eine schnell vorübergehende Periode mit einer Reihe von „hochrevolutionären" Akten und Dekreten betrachten, sondern man muß sie als eine ganz historische Epoche betrachten, die ausgefüllt ist mit Bürgerkriegen und äußeren Zusammenstößen, hartnäckiger organisatorischer Arbeit und wirtschaftlichem Aufbau, Angriffen und Rückzügen, Siegen und Niederlagen" (FdL, S. 41 f.).
Einerseits unterstreichen die Kommunisten die Bedeutung des von ihnen kontrollierten Staates, andererseits lehren sie, daß sie mit irgendeinem anderen Staat kein Treueverhältnis oder Band der Verpflichtung verbinde. Sie betrachten sich in einem solchen Staat als völlige Fremdlinge, deren wahre Heimat in der geschichtlichen Zukunft liegt und deren Treue der Sowjetunion gehört. Das Hauptkennzeichen einer nichtkommunistischen Gesellschaft ist in ihren Augen, daß sie dem Untergang geweiht ist. Anstatt ein schöpferisches Interesse an den Problemen anderer Staaten zu nehmen, betrachten sie es als ihre einzige Aufgabe, die Massen von dem gegenwärtig bestehenden Staat zu trennen und sie an die „Zukunft" zu binden. Und schließlich, jenen Staat zu zerschmettern, um auf den Ruinen die Herrschaft der Partei aufzurichten. .
„. . . (der) nächste Versuch der französischen Revolution . . ., nicht mehr wie bisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einer Hand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen...“
(Karl Marx, Briefe an Kugelmann, Berlin o. J., Brief vom 12. April 1871, S. 100).
„Die Weltgeschichte führt jetzt zweifelsohne in ungleich größerem Ausmaß als 1852 zur . Konzentrierung aller Kräfte'der proletarischen Revolution auf die Zerstörung der Staatsmaschinerie" (Lenin, Staat undRevolution, AW 7, S. 30 /KAW 2, S. 181 f.).
„Die Kunst des Politikers (und das richtige Verständnis des Kommunisten für seine Aufgaben) besteht gerade darin, die Bedingungen und den Augenblick richtig einzuschätzen, wo die Avantgarde, des Proletariats die Macht mit Erfolg ergreifen kann . . ." (Lenin, „Der Radikalismu s", die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 85 /KAW 2, S. 697 f.).
„Für den Revolutionär ... ist ... die revolutionäre Arbeit die Hauptsache und nicht die Reform, für ihn ist die Reform ein Nebenprodukt der Revolution. Deshalb verwandelt sich die Reform bei einer revolutionären Taktik, sofern eine bürgerliche Macht besteht, naturgemäß in ein Werkzeug zur Festigung der Revolution, in einen Stützpunkt zur weiteren Entwicklung der revolutionären Bewegung. — Der Revolutionär ist für die Reform, nur um sie als Anknüpfungspunkt zur Kombinierung der legalen mit der illegalen Arbeit und als Deckung zur Verstärkung der illegalen Arbeit zu benutzen zwecks revolutionärer Vorbereitung der Massen zum Sturz der Bourgeoisie" (FdL, S. 83 f.).
. . Revolutionäre, die es nicht verstehen, die illegalen Kampfformen mit allen legalen zu verknüpfen, sind sehr schlechte Revolutionäre"
(Lenin, Der „Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 132 /KAW 2, S. 740).
„. . . „wir" müssen . . . dafür sorgen, daß die Leute, die eigentlich nur mit den Zuständen in der Universität oder im Semstwo usw. unzufrieden sind, auf den Gedanken der Untauglichkeit des gesamten politischen Regimes gestoßen werden" (Lenin, Was tun? AW 2, S. 104 !
KAW 1, S. 245). '
§ 10. DIE KOMMUNISTISCHE PARTEI Wie wir gesehen haben, haben die Kommunisten keine besondere Theorie der politischen Gemeinschaft. Ebensowenig haben sie eine folgerichtige Theorie der sozialen Klassen entwickelt. Ihr Denken ist in der Hinsicht außerordentlich verschwommen und mythisch. Der Wahre Brennpunkt kommunistischen politischen Denkens ist mehr der Begriff der Kommunistischen Partei. Hier ist die Lehre präzis, sorgfältig ausgearbeitet — und sehr aufschlußreich. Wer die kommunistische Politik im Staat, in der Wirtschaft, in der Kultur und in anderen Bereichen begreifen will, sollte eindringlich die kommunistischen Schriften über ihre Partei studieren.
Im. kommunistischen Denken über die Partei kann man die folgenden Hauptpunkte unterscheiden: a) die Lehre von der kommunistischen Ungleichheit (die Partei als Elite); b) die Lehre vom notwendigen „Kontakt mit den Massen" (Die Partei als Teil des Proletariats);
c) die stärkere Hinwendung der Partei auf die Zukunft als auf die Interessen der Lebenden; d) „unabhängiges Denken" anstatt Klassen-zugehörigkeit als Kriterium des Kommunisten.
a. Die Lehre von der Ungleichheit Marx sah die Revolution als die Aufgabe einer „erwählten Klasse"
an, aber als die Aufgabe aller Proletarier, die sich in einer „Klasse und entsprechend in einer politischen Partei" organisieren würden (Kommunistisches Manifest). Die Kommunisten selbst wurden von ihm nicht als Partei beschrieben („Die Kommunisten bilden keine gesonderte Partei ..."), sondern als „die fortgeschrittenste und entschlossenste Gruppe der Parteien der Arbeiterklasse in jedem Land, die Gruppe, welche alle anderen vorwärtstreibt" (ebd.). Im Gegensatz dazu weist die gegenwärtige kommunistische Lehre das Werk der Revolution einer kleinen, exklusiven, festgefügten Organisation von „Berufsrevolutionären" zu, der kommunistischen Partei.
Man glaubt, daß die Partei durch die Wirkung ihres „revolutionären Bewußtseins" über den Massen steht. Die Arbeitermassen können jenes Bewußtsein nicht haben, bis es ihnen von außen durch die „sozialistische Intelligenz" zugetragen wird. Die letzteren haben die Gesetze der Geschichte und die Gesetze des Kampfes entdeckt Sie allein besitzen die „wahre Theorie". Die wahre Theorie ist die notwendige Basis für eine revolutionäre Bewegung (s. oben II § 1 a). Jede Abweichung davon ist unvermeidbar reaktionär.
Die kommunistische Lehre reserviert deshalb für die Besitzer der wahren Theorie den Platz der obersten und unbestreitbaren Macht in der revolutionären Bewegung und im sozialistischen Regime.
Sie allein bestimmen die Ziele und die Mittel des Kampfes. Ihre Aufgabe ist es, ihren Willen auf die Massen zu übertragen und alle Menschen zum richtigen Grad „revolutionären Bewußtseins" zu erziehen, was natürlich wiederum nur an der Unterstützung der „wahren Theorie" erkannt werden kann.
„Wir haben gesagt, daß die Arbeiter ein sozialdemokratisches Bewußtsein noch nicht haben konnten. Dieses konnte ihnen nur von außen gebracht werden. Die Geschichte aller Länder zeigt, daß die Arbeiterklasse aus ihren eigenen Kräften einzig und allein ein trade-unionistisches Bewußtsein herauszuarbeiten vermag . . . Die Lehre des Sozialismus ist jedoch aus jenen philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien herausgewachsen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz, geschaffen wurden . . . sie ist als natürliche und unvermeidliche Folge der Ideenentwicklung in der revolutionär-sozialistischen Intelligenz entstanden" (Lenin, W a s t u n ? AW 2, S. 52 f. /KAW 1, S. 199).
„Einerseits ist der Bolschewismus im Jahre 1903 auf der festesten Grundlage der marxistischen Theorie entstanden. . . . aber diese — und nur diese — revolutionäre Theorie (ist) richtig . . ." (Lenin, Der „Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 58 /KAW 2, S. 673).
„Wenn von einer selbständigen, durch die Arbeitermassen selbst im Verlaufe der Bewegung ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein kann, so kann die Frage n u r s o stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht . . . Darum bedeutet jede Herabsetzung der sozialistischen Ideologie, jedes S i c h -
entfernen von ihr gleichzeitig eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie" (Lenin, W a s t u n ? AW 2, S. 62 /KAW 4, S. 207 f.).
„Sie umgeben das Proletariat von allen Seiten mit dem kleinbürgerlichen Element, durchtränken es damit, demoralisieren es damit, rufen beständig innerhalb des Proletariats Rückfälle in kleinbürgerliche Charakterlosigkeit, Zersplitterung, Individualismus, Übergang von Begeisterung zu Mutlosigkeit hervor. Strengste Zentralisation und Disziplin innerhalb der politischen Partei des Proletariats sind notwendig, um dem zu widerstehen . . . Die Diktatur des Proletariats ist ein hartnäckiger, blutiger, gewaltsamer und friedlicher, militärischer und wirtschaftlicher, pädagogischer und administrativer Kampf gegen die Mächte und Traditionen der alten Gesellschaft. Die Macht der Gewohnheit von Millionen und aber Millionen ist die furchtbarste Macht.
Ohne eine eiserne und im Kampf gestählte Partei, ohne eine Partei, die das Vertrauen aller Rechtschaffenen in der gegebenen Klasse genießt, ohne eine Partei, die die Stimmung der Massen zu beobachten und sie zu beeinflussen versteht, ist es unmöglich, einen solchen Kampf erfolgreich zu führen" (Lenin Der „Radikalismu s", die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 78 /KAW 2, S. 691).
b. Organisation der „Berufsrevolutionäre" und „Kontakt"
* mit den Massen Die Besitzer der „wahren Theorie" müssen entsprechend der Auffassung Lenins einen kleinen, festgefügten Kern gut disziplinierter „Berufsrevolutionäre" bilden. Diese Gruppe ist „die Verkörperung der Einheit des Willens" (Stalin). Obschon sie gleichzeitig als „die höchste Form proletarischer Klassenorganisation" (Lenin) betrachtet wird. Die „Berufsrevolutionäre" müssen deshalb notwendig „in Kontakt mit den Massen" bleiben. Der Zweck dieses Kontaktes jedoch ist nicht, den Willen des Volkes herauszufinden, sondern vielmehr, die Unterstützung der Massen für den Willen der Partei zu erlangen. Die Aufgabe der Unterstützung der Partei ist nicht auf die Proletarier beschränkt. Andere „Massen" sind als Infanterie für den „Generalstab" — die Partei — ebenso gesucht. Instrument des „Kontaktes" sind eine Reihe nicht zur Partei gehöriger Organisationen, die locker um den Kern der „Berufsrevolutionäre" gruppiert sind. Diese Organisationen werden „Transmissionen" genannt. Ihre Aufgabe ist es, den Willen der Partei auf jeden Teil der Bevölkerung zu übertragen und zur gleichen Zeit die falsche Vorstellung aufrechtzuerhalten, daß die Partei vom „Vertrauen der Massen" getragen wird. Zu diesen „Transmissionen" gehören auch die Regierungseinrichtungen (Sowjets, Gewerkschaften etc.).
„Es müssen Leute ausgebildet werden, die der Revolution nicht nur ihre freien Abende, sondern ihr ganzes Leben widmen . . (Lenin, Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung, AW 2, S. 15).
„Ein kleiner festgefügter Kern der zuverlässigsten, erfahrensten und gestähltesten Arbeiter, der in den Hauptbezirken seine Vertrauensleute hat und der nach allen Regeln der strengsten Konspiration mit der Organisation der Revolutionäre verbunden ist, kann unter breitester Mitwirkung der Masse und ohne feste Form sämtliche Funktionen durchaus erfüllen, die der Gewerkschaftsorganisation obliegen" (Lenin, W a s t u n ?, AW 2, S. 135 /KAW 1, S. 272).
„Unter den „Klugen“ sind, wie ich schon wiederholt betont habe, in organisatorischer Beziehung nur die Berufsrevolutionäre zu verstehen, einerlei, ob Studenten oder Arbeiter zu Berufsrevolutionären werden. Und ich behaupte: 1. daß keine einzige revolutionäre Bewegung ohne eine widerstandsfähige und die Kontinuität wahrende Führerorganisation von Dauer sein kann-, 2. daß die Notwendigkeit einer solchen Organisation um so fester sein muß, je breiter die Masse ist, die spontan in den Kampf hineingezogen wird, die die Grundlage der Bewegung bildet und an ihr teilnimmt, (denn um so leichter wird es allerhand Demagogen fallen, die rückständigen Schichten der Masse mitzureißen); 3. daß eine solche Organisation hauptsächlich aus Leuten bestehen muß, die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit belassen“ (Lenin, W a s t u n ?, AW 2, S. 140 /KAW 1, S. 277).
„Die Zentralisierung der konspirativen Funktionen durch eine Organisation der Revolutionäre wird nicht schwächend, sondern bereichernd wirken auf diese Ausdehnung und den Gehalt der Tätigkeit einer ganzen Masse anderer Organisationen, die auf eine breite Masse berechnet und darum möglichst lose und möglichst wenig konspirativ sind: sowohl der Gewerkschaftsverbände der Arbeiter, der Arbeiter-zirkel für Selbstbildung und der Lesezirkel für illegale Literatur als auch der sozialistischen und demokratischen Zirkel in allen übrigen Bevölkerungsschichten usw. Solche Zirkel, Verbände und Organisationen sind überall in m ö g 1 i c h s t großer Zahl und mit den mannigfaltigsten Funktionen erforderlich, aber es ist sinnlos und schädlich, sie mit der Organisation der Revolutionäre zu verwechseln“ (ebd. S. 142 /S. 278 f.).
„Dre Autorität der Partei beruht auf dem Vertrauen der Arbeiterklasse. Das Vertrauen der Arbeiterklasse aber wird nicht durch Gewalt erworben, — durch Gewalt könnte es nur vernichtet werden —, sondern durch die richtige Theorie der Partei, durch die Ergebenheit der Partei für die Sache der Arbeiterklasse, durch ihre Verbundenheit mit den Massen der Arbeiterklasse, durch ihre Bereitschaft, ihre Fähigkeit, die Massen von der Richtigkeit ihrer Losungen zu überzeug e n“ (FdL, S. 156).
„Die Partei verwirklicht die Diktatur des Proletariats. Aber sie verwirklicht sie nicht unmittelbar, sondern mit Hilfe der Gewerkschaften, durch die Sowjets und deren Verzweigungen. Ohne diese Transmissionen würde eine einigermaßen feste Diktatur unmöglich sein“ (ebd.
-S. 151).
„Verneinung der Partei und der Parteidisziplin — das ist bei der Opposition herausgekommen. Das aber ist gleichbedeutend mit der völligen Wehrlosmachung des Proletariats zugunsten der Bourgeoisie" (Lenin, Der „Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 77 /KAW 2, S. 690).
c. Ausrichtung auf die Zukunft, anstatt auf die Interessen der Lebenden Die kommunistische Partei nennt sich selbst die „Vorhut" der Revolution. Sie sieht sich selbst an der Spitze aller anderen Menschen kraft ihrer „Bewußtheit", das heißt, in ihrer Hinwendung auf die sich dialektisch entwickelnde Zukunft. Ihre Theorie der dialektischen Entwicklung des Klassenkampfes liefert der Partei den Begriff der „wahren" Interessen aller Klassen. Dieser Begriff, dem „Bewußtsein"
entsprungen, wird den angeblich falschen Interessen entgegengestellt, die die verschiedenen Klassen gegenwärtig spontan empfinden. Diese „Spontaneität", d. h. die Gefühle, Wünsche und Überzeugungen der in der Gegenwart lebenden Menschen — wird als reaktionär zurückgewiesen. Folgerichtig kann der oben erwähnte „Kontakt mit den Massen" der kommunistischen Lehre nicht mit irgendeiner Vorstellung des Dienstes am gegenwärtigen Willen oder für die Interessen der lebenden Menschen verwechselt werden. „Wir revolutionären Sozialdemokraten . . . sind mit einer solchen Anbetung der Spontaneität, d. h.dessen, was im „gegebenen Moment“
besteht, unzufrieden . . ." (Lenin, Was tun?, AW 2, S. 44 /KAW 1, S. 192).
.. jede Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, jede Herabsetzung der Rolle des „bewußten Elementes“ ... ob .. . (man)
es wünscht oder nicht, — (bedeutet) die Stärkung des Einflusses der bürgerlichen Ideologie auf die Arbeiter...“ (ebd. S. 60 /S. 206).
„Jeder, der von der „Überschätzung der Ideologie“, von der Übertreibung der Rolle des bewußten Elements spricht, glaubt, die reine Arbeiterbewegung könne und werde aus eigenen Kräften eine selbständige Ideologie herausarbeiten . . (a. a. O.).
„Diese Tatsache beweist, daß es unsere allererste, allerdringendste Pflicht ist, die Schulung von Revolutionären aus Arbeiterkreisen zu unterstützen, die in der Parteitätigkeit auf demselben Niveau stehen wie die Revolutionäre aus den Kreisen der Intellektuellen . . .
Darum muß die Hauptaufmerksamkeit darauf gerichtet sein, die Arbeiter auf das Niveau von Revolutionären emporzuheben, nicht aber darauf, selbst unbedingt zur „Arbeitermasse“ hinabzusteigen, wie es die Ökonomisten wollen . . (Lenin, ebd., S. 147 / S. 283).
„Die „Theorie" der Spontaneität ist die Theorie des Opportunismus, die Theorie der Anbetung der Spontaneität der Arbeiterbewegung, die Theorie der tatsächlichen Leugnung der leitenden Rolle der Avantgarde der Arbeiterklasse, der Partei der Arbeiterklasse. . . . sie ist dafür, daß die Partei lediglich auf die spontane Bewegung höre und hinter ihr einhertrotte“ (FdL, S. 26).
d. „Unabhängiges Denken" und Politik als Parteiherrschaft Im Einklang mit der Betonung der „Bewußtheit" — im Gegensatz zur „Spontaneität" — glaubt man, daß das die Kommunisten kennzeichnende Merkmal das „unabhängige politische Denken" ist (Lenin). Diese Phrase bedeutet natürlich nicht Freiheit der Kritik innerhalb der kommunistischen Partei. „Unabhängig" ist die Art politischen Denkens, die sich aller Bindungen an die gegenwärtige Gesellschaft und die lebenden Menschen entledigt, und die „wahre Theorie" der kommunistischen Elite in sich ausgenommen hat. Wo auch immer solch „unabhängiges Denken" gefunden wird, ist eine Basis für kommunistische Politik vorhanden, ungeachtet der Entwicklungsstufe der wirtschaftlichen Produktion oder der sozialen Klassen. Diese Vorstellung, die ganz im Gegensatz zu Marx'Betonung bestimmter wirtschaftlicher Entwicklungsstufen als Erfordernis einer revolutionären Bewegung steht, hat dem Kommunismus den Namen einer „Ideokratie" eingetragen. Das heißt, daß die kommunistische Politik überall darauf hinzielt, die Herrschaft von Menschen aufzurichten, deren Denken sich einer zentral gesteuerten Ideologie angepaßt hat.
„In diesen Ländern gibt es fast gar kein Industrieproletariat. Nichtsdestoweniger haben wir auch dort die Rolle des Führers übernommen und müssen das tun. Unsere Arbeit hat uns gezeigt, daß in diesen Ländern gewaltige Hindernisse zu überwinden sind, aber die praktischen Ergebnisse unserer Arbeit haben auch gezeigt, daß es trotz dieser Schwierigkeiten möglich ist, auch dort, wo es fast kein Proletariat gibt, in den Massen das Streben nach selbständigem politischen Denken und nach selbständiger politischer Tätigkeit zu wecken.“
(Lenin, Bericht der Kommission für die nationale und die kolonialeFrage auf dem II. Kongreß derKommunistischen Internationale, AW 10, S. 235.)
„Zuerst Bruch mit diesen Vorurteilen, mit Schwächen, Schwankungen und mit den Leuten, die diese Auffassungen und Eigenschaften predigen, verteidigen und verkörpern" (Lenin, Falsche Re den über Freiheit, AW 10, S. 263).
„. . . die berüchtigte Freiheit der Kritik (bedeutet) nicht die Ablösung einer Theorie durch eine andere . . ., sondern die Freiheit von jeder einheitlichen und durchdachten Theorie, . . . sie (bedeutet) Eklektizismus und Prinzipienlosigkeit . . ." (Lenin, W a s t u n ?, AW 2, S. 46 /KAW 1, S. 193).
„Unter solchen Umständen kann ein auf den ersten Blick . unwichtiger'Irrtum die schlimmsten Folgen haben" (ebd. S. 47 /S. 194).
„Die Kunst des Politikers (und das richtige Verständnis des Kommunisten für seine Aufgaben) besteht gerade darin, die Bedingungen und den Augenblick richtig einzuschätzen, wo die Avantgarde des Proletariats die Macht mit Erfolg ergreifen kann, wo sie während und nach der Ergreifung der Macht auf eine genügende Unterstützung genügend breiter Schichten der Arbeiterklasse und der nichtproletarischen werktätigen Massen rechnen kann, wo sie nach der Madrtergreifung ihre Herrschaft behaupten, festigen und erweitern kann durch Erziehung, Schulung und Heranziehung von immer breiteren Massen der Werktätigen" (Lenin, Der „Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, AW 10, S. 85 /KAW 2, S. 697 f.). § 11. DIE LEHRE VON DEN ZWEI REVOLUTIONEN Die Vorstellung, eine Revolution mit einer exklusiven und berufs-mäßigen Partei zu machen, führt die Kommunisten notwendig zu einer Minderheitenstrategie. Die Grundannahme dieser Strategie ist, daß das Proletariat (Lies: Kommunistische Partei) verglichen mit seinen Gegnern im Augenblick schwach ist und sogar eine lange Zeit nach der Machtübernahme schwach sein wird. Ihr Ziel totaler Macht kann deshalb nur durch zwei Revolutionen erreicht werden, deren erste nicht sozialistisch, sondern „bürgerlich" sein würde. Mit anderen Worten, die Kommunisten müssen zuerst einer Revolution mit nicht-kommunistischen Schlagworten und nicht-kommunistischen Begründungen die Aufgabe überlassen, die Vernichtung ihrer Feinde zu beginnen, bevor sie hoffen können, zur eigentlichen proletarischen Revolution fortzuschreiten. Nichtsdestoweniger muß die kommunistische Partei sogar in der „bürgerlichen" Revolution die Führung übernehmen und darf sie niemals mit anderen Parteien teilen. Da es zwei Revolutionen gibt, gibt es auch zwei entsprechende Arten der Diktatur. Die erste ist die Diktatur der Arbeiter und Bauern, die zweite die eigentliche Diktatur des Proletariats. Die Strategie der zwei Revolutionen ist besonders für Agrarländer bestimmt, wo die Bauernschaft stark und das Proletariat schwach ist.
„. . . die unsinnigen, halbanarchistischen Ideen einer unmittelbaren Verwirklichung des Maximalprogramms, der Eroberung der Macht zwecks sozialistischer . . ." (Lenin, Zwei Taktiken Umwälzung 'der Sozialdemokratie, KAW 1, S. 430 /s. a. AW 3, S. 49).
„Aus diesem Grunde ist die bürgerliche Revolution für das Proletariat im höchsten Maße vorteilhaft. Die bürgerliche Revolution ist im Interesse des Proletariats unbedingt notwendig" (ebd„ AW, S. 71 /KAW 1, S. 450).
„Der Marxismus lehrt den Proletarier nicht die Abkehr von der bürgerlichen Revolution, nicht die Teilnahmslosigkeit ihr gegenüber, und er lehrt ihn auch nicht, die Führung der Revolution der Bourgeoisie zu überlassen“ (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, AW 3, S. 73 /KAW 1, S. 452).
„Nur im Falle eines vollen Sieges der demokratischen Revolution wird das Proletariat im Kampfe gegen die inkonsequente Bourgeoisie nicht mit (e b d. S. 82 /S. 460). gebundenen Händen dastehen"
. . wir werden sofort nach der demokratischen Revolution, und zwar in dem Maße unserer Kraft, der Kraft des klassenbewußten und organisierten Proletariats, den Übergang zur sozialistischen Revolution in Angriff nehmen" (Lenin, Das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Bauernbewegung, AW 3, S. 138).
. . wir werden aus allen Kräften der gesamten Bauernschaft helfen, die demokratische Revolution durchzuführen, damit wir, die Partei des Proletariats, es dann um s o 1 e i c h t e r haben, möglichst schnell an die neue und höhere Aufgabe, die sozialistische Revolution, heranzugehen“ (a. a. O.).
„Und ein solcher Sieg wird eben eine Diktatur sein, d. h. er wird sich unausbleiblich auf militärische Gewalt . . . und nicht auf diese oder jene, auf „legalem", „friedlichem" Wege geschaffenen Institutionen stützen müssen. . . . Doch wird das selbstverständlich keine sozialistische, sondern eine demokratische Diktatur sein." (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, AW 3, S. 78— 79 / KAW 1, S. 456— 457.)
„Wir haben eine neue Losung: die revolutionäre demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ (e b d. S. 82 /. S. 460).
„. . . das Proletariat allein ist imstande, zuverlässig bis zum Ende zu gehen, denn es geht viel weiter als die demokratische Umwälzung"
(e b d. S. 102 /S. 495).
„Schließlich ist nicht zu bezweifeln, daß auch bei uns in Rußland der Erfolg des Kampfes der Bauern, d. h.der Übergang des ganzen Grund und Bodens an die Bauern, eine vollständige demokratische Umwälzung . . . nicht aber eine sozialistische Umwälzung bedeuten wird.
. . .der Sieg der demokratischen Revolution (wird) erst den Weg zum wirklichen und entscheidenden Kampf für den Sozialismus auf dem Boden der demokratischen Republik ebnen. Die Bauernschaft wird als grundbesitzende Klasse in diesem Kampfe dieselbe verräterische, schwankende Rolle spielen, die die Bourgeoisie jetzt im Kampfe für die Demokratie spielt." (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, Nachwort, AW 3, S. 123 /KAW 1, S. 528 f.)
§ 12. DIE BÜNDNISSTRATEGIE Seitdem die Kommunisten dessen gewahr geworden sind, daß sie • eine kleine Minderheit bilden, sind sie sich der Notwendigkeit besonders stark bewußt, im Kampf um die Macht Verbündete zu haben. Sie sind sicher, daß sie allein nicht imstande sein würden zu siegen; nicht einmal mit Unterstützung der gesamten proletarischen Masse. Sie wissen, daß im Kampf um die Macht die zum Sieg notwendige Stärke von der Unterstützung der Massen kommt. Sie sehen, daß die Majorität des Volkes keine Proletarier sind. Folglich sind die Haupt-masse der Kämpfer, auf die sie zählen, nichtproletarische Verbündete Die Bündnisstrategie ist bereits in der Konzeption von den beiden Revolutionen enthalten. In verschiedenen strategischen und sozialen Situationen erwarten die Kommunisten verschiedene Verbündete zu haben. Sie sind dazu entschlossen, in jedem Bündnis die Führer und nicht nur Partner zu sein. Bündnisse sind in kommunistischen Augen nur für zeitweilige Situationen gut, und die Kommunisten betrachten ihre Verbündeten von heute als ihre Feinde von morgen. Dem russischen Beispiel folgend, sind die Kräfte, mit denen sie sich zu verbünden suchten, in vielen Ländern die Bauern. Aber unter anderen Umständen haben sie sich auch mit dem nationalen Bürgertum verbündet (siehe unten, § 14).
„Ein konsequenter Kämpfer für die Demokratie kann nur das Proletariat sein. Ein siegreicher Kämpfer für die Demokratie kann das Proletariat nur unter der Bedingung werden, daß sich die Bauernmasse seinem revolutionären Kampl anschließt" (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, AW 3, S. 83 /KAW 1, S. 460).
„Warum sind die Bedingungen des demokratischen Kampfes und die des sozialistischen Kampfes nicht die gleichen? Weil die Arbeiter in dem einen und in dem anderen Kampf immer verschiedene Verbündete haben werden. Den demokratischen Kampf führen die Arbeiter zusammen mit einem Teile der Bourgeoisie, insbesondere mit dem Kleinbürgertum, den sozialistischen Kampf aber werden die Arbeiter gegen die gesamte Bourgeosie führen. Den Kampf gegen die Bürokratie und die Gutsbesitzer muß und soll man zusammen mit allen Bauern, selbst mit den wohlhabenden und mittleren, führen. Der Kampf gegen die Bourgeoisie aber, das heißt also auch gegen die wohlhabenden Bauern, kann nur zusammen mit dem ländlichen Proletariat aussichtsreich geführt werden." (Lenin, Kleinbürgerlicher und proletarischer Sozialismus, AW 3, S. 146).
„Im Kampfe gegen diese Vergangenheit, im Kampfe gegen die Kon terrevolution ist die „Einheit des Willens" des Proletariats und der Bauernschaft möglich, weil die Einheit der Interessen vorliegt. Ihre Zukunft ist der Kampf gegen das Privateigentum, der Kampf des Lohn-arbeiters gegen den Unternehmer, der Kampf für den Sozialismus. Hier ist eine Einheit des Willens unmöglich." (Lenin, Zwei Taktiken der Sozialdemokratie, AW 3, S. 95 /KAW 1, S. 484.)
„Daraus folgt der zeitweilige Charakter unseres , Vereint schlagen'
mit der Bourgeoisie: die Pflicht, , auf den Verbündeten ebenso wie auf den Feind'behutsam aufzupassen . . ." (Lenin, Zwei Taktiken, AW 3, S. 96 /KAW 1, S. 485).
„Das bedeutet jedoch nicht, daß die Macht einer Klasse, der Klasse der Proletarier, die die Macht mit anderen Klassen nicht teilt und nicht teilen kann, zur Verwirklichung ihrer Ziele nicht der Hilfe, des Bündnisses mit den werktätigen und ausgebeuteten Massen anderer Klassen bedarf. Im Gegenteil. Diese Macht, die Macht einer Klasse, kann nur durch eine besondere Form des Bündnisses zwischen der Klasse der Proletarier und den werktätigen Massen der kleinbürgerlichen Klassen, vor allem den werktätigen Massen der Bauernschaft, 'errichtet und bis zu Ende verwirklicht werden. . . . Diese besondere Form des Bündnisses, besteht darin, daß die führende Kraft dieses Bündnisses das Proletariat ist. Diese besondere Form des Bündnisses besteht darin, daß der Führer des Staates, der Führer im System der Diktatur des Proletariats eine Partei ist, die Partei des Proletariats, die Partei der Kommunisten, die die Führung mit anderen Parteien nicht teilt u n d n i c h t t e i 1 e n k a n n." (FdL, S. 144.)
„. . . Idee des Bündnisses des Proletariats mit der Bauernschaft, . . .
Idee der Hegemonie des Proletariats in diesem Bündnis . .
(ebd. S. 145).
„Wir helfen den Bauern aus dem Grunde, weil ohne das Bündnis mit der Bauernschaft die politische Macht des Proletariats unmöglich und nicht zu halten ist. . . . Wir helfen den Bauern, weil das unerläßlich ist dafür, daß wir die politische Macht erhalten. Das höchste Prinzip der Diktatur ist die Wahrung des Bündnisses des Proletariats mit der Bauernschaft, damit das Proletariat die leitende Rolle und die Staatsmacht behaupten kann.“ (Lenin, Bericht über die Taktik der KPR (B), AW 9, S. 253.)
D. Sowjetische internationale Strategie
Solange der Klassenkampf allein durch die Partei und die Tarnorganisationen nur innerhalb der Nationen ausgetragen wurde, war eine revolutionäre Strategie alles, was die Kommunisten brauchten.
Nachdem es ihnen jedoch geglückt war, eine machtvolle Nation zu erobern, brauchten sie auch eine Theorie, die diese Nation ihrem Kampfplan einfügte. Sie mußten den Klassenkampf auf internationaler Ebene planen. Die Lehre, die dementsprechend entwickelt wurde, ist heute das Kernstück kommunistischer Propaganda geworden.
Die Theorie der kommunistischen internationalen Strategie besteht aus drei. Hauptpunkten: a) dem Begriff des „Imperialismus", der das Schicksal des Kapitalismus mit dem Kampf zwischen den Nationen verbindet; b) der „Zwei-Lager" -Lehre, die die Nationen nach Begriffen des Klassenkampfes einteilt; c) der kommunistischen Lehre von „gerechten" und „ungerechten" Kriegen. Es heißt, daß der Kapitalismus — der angeblich in seiner Schlußphase ist — sowohl Ursachen dauernder Kriege hervorbringe, als auch ganze Nationen durch die Industriemächte ausbeute. Die ausgebeuteten Nationen werden eine revolutionäre Macht, dem Proletariat sehr ähnlich, das sich nach Marx'Untersuchung „im Schoß der kapitalistischen Gesellschaft" entwickelt. Ihre Revolution würde endlich nicht nur den Imperialismus beseitigen, sondern auch die Ursache der Kriege. Der internationale Kampf, der unter sowjetischer Führung gefochten wird, dient also der Hoffnung einer Welt ohne Kriege. Inzwischen, sagen die Kommunisten, sind Kriege, die dieses revolutionäre Ziel fördern, „gerecht".
Die kommunistische Lehre behauptet daher, daß Gegensätze zwischen sozialen Kräften, Gegensätze zwischen Völkern, Gegensätze zwischen Regierungen, Gegensätze zwischen Armeen — kurzum, alle Gegensätze in der Welt durch einen weltgeschichtlichen Sinn verbunden sind, und daß der Schlüssel zu diesem Sinn in den Händen der Sowjetunion sei. Sie haben dadurch die theoretische Grundlage für eine Weltstrategie gelegt, die einheimische politische Kräfte, nationalistische Bewegungen, internationale Diplomatie und die sowjetische Militärmacht zu einer vielgestaltigen Offensive in Richtung der kommunistischen Weltmacht verbindet.
§ 13. „IMPERIALISMUS" — DIE KOMMUNISTISCHE NEU-INTERPRETATION DES KAPITALISMUS Der Kapitalismus, behauptet die Lehre, ist jetzt in eine neue Phase eingetreten, die Marx nicht voraussehen konnte. In dieser Phase — dem Endstadium des Kapitalismus — nimmt das Monopol den Platz des Wettbewerbs ein (s. oben II § 21 e). Der Kapitalismus wird angeblich nicht länger durch die Marktkräfte beherrscht, sondern durch die kontrollierende Macht der Banken. Diese Monopolisten diktieren angeblich auch die Politik der Regierungen und zielen darauf ab, die politische Kontrolle der wirtschaftlichen Vermögenswerte auf der ganzen Erde zu erlangen.
Infolgedessen konkurrieren die imperialistischen Länder politisch miteinander, um die Welt zu verteilen und neu zu verteilen. Das charakteristische Merkmal dieser „imperialistischen Phase des Kapitalismus" ist deshalb angeblich der Krieg. Imperialismus und internationaler Krieg sind angeblich nicht eine Politik, welche die Industrieländer einfach aufgeben könnten, sondern ein unvermeidliches Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus.
Diese Theorie kann nicht die unzähligen Beispiele erklären, in denen industrielle Länder einen Kurs eingeschlagen haben, welcher der monopolistischen Kontrolle der Vermögenswerte der Welt entgegenläuft (zum Beispiel die Politik der nationalen Unabhängigkeit und Selbstregierung, wie sie von den Vereinigten Staaten auf den Philippinen und von Großbritannien in Afrika verfolgt wurde). Sie behauptet, aber beweist nicht, daß die Bankiers einen entscheidenden Einfluß auf die Regierungen besitzen, während in Wahrheit viele andere Einflüsse bei politischen Entscheidungen eine Rolle spielen. Sie führen die Entstehung von Weltreichen auf die kapitalistische Entwicklung zurück, während Weltreiche seit Beginn der Geschichte existiert haben.
Sie erklärt gleicherweise Kriege allein mit Begriffen des Wettstreits zwischen Monopolisten und hält die Hoffnung aufrecht, daß Kriege abgeschafft sein würden, wenn nur der Kapitalismus überwältigt werden könnte — eine Theorie, die der ganzen historischen Erfahrung widerspricht. Es ist eine oberflächliche Theorie, die ihren Erfolg nicht der Stärke der Beweise verdankt, die sie beibringt, sondern den Emotionen, mit denen sie spielt.
„Der Imperialismus erwuchs als Weiterentwicklung und direkte Fortsetzung der Grundeigenschaften des Kapitalismus überhaupt. Zum kapitalistischen Imperialismus aber wurde der Kapitalismus erst dann, als auf einer bestimmten, sehr hohen Entwicklungsstufe einige seiner Grundzüge sich in ihr Gegenteil umzuwandeln begannen...der Imperialismus (ist) das monopolistische Stadium des Kapitalismus“ (Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, AW 5, S. 74— 75 /KAW 1, S. 838— 839).
„Derartige Monopole sind am festesten, wenn alle Rohstoffquellen in einer Hand zusammengefaßt werden ... einzig und allein der Kolonialbesitz garantiert den Erfolg der Monopole ..." (e b d„ S. 69— 70 /S. 834).
„ ... (es) ist für den Imperialismus kennzeichnend, daß einige Groß-mächte um die Hegemonie wetteifern, d. h. bestrebt sind, Länder zu erbeuten nicht so sehr für sich, als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie..." (ebd., S. 78 /S. 842).
§ 14. DIE „ZWEI-LAGER" -THEORIE DER WELTPOLITIK Die kommunistische Lehre hat den Begriff des Klassenkampfes auf die Nationen angewandt: Sie teilt die Welt ein in eine Gruppe „imperialistischer" und „ausgebeuteter" Nationen und in eine andere „kolonialer" und „ausgebeuteter" Nationen. Die ersteren, behaupten sie, sind um ihres Reichtums und ihrer Macht willen auf die Ausbeutung der letzteren angewiesen. Gleichzeitig besagt die Lehre, daß die Kolonialvölker stärker werden, weil die imperialistischen Nationen die Industrialisierung in den unterentwickelten Ländern beleben. Ebenso, wie man glaubt, daß alle Klassengegensätze auf den entscheidenden Gegensatz zwischen Proletariat und Bürgertum zurückzuführen sind, so glaubt man dementsprechend an die Entstehung eines einzigen und entscheidenden Gegensatzes auf der Weltbühne: das Lager des „Imperialismus" (das Kapitalismus, Ausbeutung und Krieg verkörpert) auf der einen Seite, und das Lager der nationalen Freiheit (das den Kolonialkampf, Sozialismus und Frieden verkörpert) auf der anderen Seite. Die letzte Schlacht wird zum Sieg des „Friedenslagers" und gleichzeitig zum Untergang des „Imperialismus" führen.
Diese Lehre stellt den Versuch der Kommunisten dar, die Unterstützung der asiatischen Völker zu erlangen. Es handelt sich um-einen Versuch, die revolutionären Möglichkeiten des Kampfes um die nationale Unabhängigkeit auszunutzen, genauso wie sie den Kampf der Bauernschaft um Land für ihre eigenen Zwecke ausnutzten. In jedem Falle sind bäuerliches Eigentum und nationale Unabhängigkeit Ziele, die unvereinbar mit dem Begriff der Kommunisten von der proletarischen Revolution sind. Sie stellen nur Stufen auf dem Wege zur kommunistischen Alleinherrschaft dar. Die Lehre vom Imperialismus übersieht vollständig die Errungenschaften des westlichen Regimes in den Ländern tausendjähriger asiatischer Despostie. Westliche Herrscher brachen in vielen Fällen zum ersten Mal die Macht der asiatischen herrschenden Klasse — der Bürokratie — und machten das Heranwachsen unabhängiger Machtzentren und einer dezentralisierten Gesellschaft möglich (s. K. Wittfogel, Oriental Despotism, Yale University Press, 1957).
„Der Leninismus bejaht diese Frage, d. h. er vertritt die Ansicht, daß im Schoße der nationalen Befreiungsbewegung der unterdrückten Länder revolutionäre Potenzen vorhanden sind, und hält es für möglich, diese für den Sturz des gemeinsamen Feindes, für den Sturz des Imperialismus nutzbar zu machen" (Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin 1951, S. 65).
„Die Welt ist in zwei Lager geteilt: in das Lager einer Handvoll zivilisierter Nationen, die über das Finanzkapital verfügen und die die gewaltige Mehrheit der Bevölkerung des Erdballs ausbeuten, und in das Lager der unterdrückten und ausgebeuteten Völker der Kolonien und der abhängigen Länder, die diese Mehrheit bilden“ (Stalin, Fragen des Leninismus, Berlin 1951, S. 67).
„ ... die Teilung der politischen Mächte, die auf internationaler Ebene operieren, in zwei Hauptlager: das imperialistische und antidemokratische Lager auf der einen Seite und das antiimperialistische und demokratische Lager auf der anderen. Die hauptsächlich treibende Kraft des imperialistischen Lagers sind die USA ... Die Hauptabsicht des imperialistischen Lagers ist es, den Imperialismus zu stärken, einen neuen imperialistischen Krieg auszuhecken, Sozialismus und Demokratie niederzuschlagen und alle reaktionären und antidemokratischen profaschistischen Regimes und Bewegungen zu unterstützen“
(A. Zdanov, Rede aus Anlaß der Gründung des Kominform, Sept. 1947).
§ 15. DIE LEHRE VOM KRIEG Die kommunistische Lehre behauptet jetzt, daß ihr Ziel ebensosehr der Weltfriede wie die „klassenlose Gesellschaft" sei. Gleichzeitig macht sie geltend, daß der Weltfriede vom schließlichen Triumph der „Kräfte des Friedens" (lies: der kommunistischen Partei und ihrer Verbündeten) abhängen werde. Um diesen Triumph zu erlangen, muß Gewalt nicht nur in nationalen Revolutionen, sondern auch in internationalen Kriegen gebraucht werden. Die kommunistische Lehre unterscheidet zwischen „gerechten" und „ungerechten" Kriegen. Ungleich der älteren (christlichen) Lehre vom gerechten Krieg behauptet die kommunistische Lehre nicht, daß die Gerechtigkeit eines Krieges von der Gerechtigkeit der Sache abhänge, sondern mehr davon, wer gegen wen kämpft. Kriege, die von den imperialistischen Nationen (lies: alle der Sowjetunion gegenüber nicht freundschaftlichen Nationen) geführt werden, sind „ungerecht", aber die Kriege der „Mächte des Friedens" (lies: die Sowjetunion, ihre Freunde und „Verbündete") sind „gerecht". Der Kampf um den Frieden schließt auch den bewaffneten Kampf ein, und „friedliebend" ist sogar eine offizielle Bezeichnung für Länder, die wie die Volksrepublik China in aggressive Feindseligkeiten verwickelt sind. Die Sowjetunion handelt deshalb sogar dann im Interesse des Friedens, wenn sie zwischen anderen Ländern Kriege anstiftet.
„Wir leben nicht nur in einem Stadt, sondern in einem System von Staaten, und das Bestehen der Sowjetrepublik neben imperialistischen Staaten ist aul die Dauer undenkbar. Am Ende wird der eine oder der andere siegen. Und bis es zu diesem Ende kommt, ist eine Reihe furchtbarster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich. Das bedeutet, daß die herrschende Klasse, das Proletariat, wenn es nur herrschen will und herrschen wird, dies auch durch seine militärische Organisation beweisen muß..." (Lenin, VIII. Parteitag der KPR (B), A W 8, S. 35f.).
„Die Sozialisten können nicht gegen jeden Krieg sein, ohne aufzuhören, Sozialisten zu sein ... Erstens waren die Sozialisten niemals und können niemals Gegner revolutionärer Kriege sein ... Zweitens.
Bürgerkriege sind auch Kriege ... Drittens schließt der in einem Lande siegreiche Sozialismus keineswegs mit einem Male alle Kriege überhaupt aus. Im Gegenteil, er setzt solche voraus. Die Entwicklung des Kapitalismus geht höchst ungleichmäßig in verschiedenen Ländern vor sich ... Daraus die unvermeidliche Schlußfolgerung: der Sozialismus kann nicht gleichzeitig in allen Ländern siegen. Er wird zuerst in einem oder einigen Ländern siegen, andere werden für eine gewisse Zeit bürgerlich oder vorbürgerlich bleiben. Das muß nicht nur Reibungen, sondern auch direktes Streben der Bourgeoisie anderer Länder erzeugen, das siegreiche Proletariat des sozialistischen Staates zu zerschmettern. In solchen Fällen wäre ein Krieg unsererseits legitim und gerecht..." (Lenin, Das Militärprogramm der Proletarischen Revolution, KAW 1, S. 876— 878 passim).
„Wir sind keine Pazifisten. Wir sind Gegner imperialistischer Kriege, die um die Verteilung der Beute unter den Kapitalisten geführt werden, aber wir haben es stets als Unsinn bezeichnet, daß das revolutionäre Proletariat auch revolutionären Kriegen abschwören sollte, die sich im Interesse des Sozialismus als notwendig erweisen können" (Lenin, Abschiedsbrief an die Schweizer Ar-bei t e r , A W 6, S. 18).
„Die Vaterlandsverteidigung anerkennen heißt die Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit des Krieges anerkennen. Gesetzlichkeit und Gerechtigkeit von welchem Standpunkt? Nur vom Standpunkt des sozialistischen Proletariats und seines Kampfes für seine Befreiung! Einen anderen Standpunkt erkennen wir nicht an. ... Wenn das Proletariat, das bei sich die Bourgeoisie besiegt hat, einen Krieg führt zur Stärkung und Entwicklung des Sozialismus, dann ist der Krieg berechtigt und „heilig" ... (Lenin, Uber „linke" Kinderei und Kleinbürgerlichkeit, AW 7, S. 365).
» ... müssen wir unsere Kräfte so gruppieren, daß die beiden (Deutschland—Westmächte; d. Vers.) miteinander in Streit geraten, denn wenn zwei Diebe sich in den Haaren liegen, so gewinnt der Ehrliche stets dabei .. . die praktische Aufgabe der kommunistischen Politik besteht darin, daß wir diese Feindschaft uns zunutze machen und die Kapitalisten gegeneinander aufstacheln ... wir Kommunisten müssen stets das eine Land gegen das andere ausspielen. Begehen wir damit nicht ein Verbechen am Kommunismus? Nein, denn wir tun das als sozialistischer Staat, der kommunistische Propaganda treibt, der gezwungen ist, jede ihm von den Umständen geschenkte Stunde auszunutzen, um möglichst rasch zu erstarken" (Lenin, Rede vor den Moskauer Zellensekretären am 2 6. November 1920, AW 8, S. 296— 299 passim).
§ 16. DER PLATZ DER SOWJETUNION IN DER KOMMUNISTISCHEN GLOBALEN STRATEGIE Nach der 'Eroberung Rußlands durch die Kräfte des Kommunismus mußte der Standort der Sowjetunion in der Weltstrategie des Kommunismus innerhalb der Lehre bestimmt werden. Die Lehre hatte nicht nur die Beziehung der Sowjetunion zu den Proletariern aller Länder zu bestimmen, sondern auch ihre Beziehung zu den verschiedenen Verbündeten des Kommunismus, deren Bestrebungen auf die Dauer mit den Zielen des Kommunismus nicht vereinbar sind.
Nach dem Siege des Sozialismus in der Sowjetunion hat dieses Land eine besonders geheiligte Rolle in der kommunistischen Lehre erworben. Einerseits ist es das sozialistische Vaterland aller Proletarier der Welt, die nach Marx bisher keine Heimat hatten (Kommunistisches Manifest). Treue gegenüber den Interessen der Sowjetunion ist nun die erste Pflicht der Kommunisten in allen Ländern. Andererseits ist der Kommunismus mit nichtproletarischen Kräften Bündnisse eingegangen, deren Bestrebungen er unterstützt, um seine eigene Macht zu fördern. Dementsprechend hat er sich in Agrarländern mit der Bauernschaft verbündet, und in kolonialen oder ehemalig kolonialen Ländern mit dem nationalen Bürgertum, das auf nationale Unabhängigkeit hinzielt. Mit Rücksicht auf diese Verbündeten hat die kommunistische Lehre die Sowjetunion als den Stützpunkt „aller unterdrückten Klassen" dargestellt (nicht nur der proletarischen). In der internationalen Politik ist die Sowjetunion als Führerin der „friedliebenden" Länder angesprochen worden. Mit Rücksicht auf den umfassenden globalen Kampf wurde die SowjetUnion als das Land bezeichnet, dessen Interessen mit „denen der Menschheit identisch" seien. Mittels dieser Begriffe ist die Macht-zunahme der Sowjetunion als ein geheiligtes Anliegen erklärt worden, in dem sich alle „fortschrittlichen" Elemente der Menschheit einig sein sollten.
„Die internationale proletarische Revolution stellt eine Verbindung von Prozessen dar, die zeitlich und charakterlich variieren; rein proletarische Revolutionen; Revolutionen eines bürgerlich-demokratischen Typs, die sich zu proletarischen Revolutionen auswachsen; nationale Befreiungskriege; koloniale Revolutionen. Die Weltdiktatur des Proletariats kommt erst als Endergebnis des revolutionären Prozesses."
(Programm des 6. Weltkongresses der Komintern, 1928.)
„Als Land der Diktatur des Proletariats und des sozialistischen Aufbaus, das Land der großen Errungenschaften der Arbeiterklasse, der Vereinigung der Arbeiter mit den Bauern, und einer neuen Kultur, die unter dem Banner des Marxismus marschiert — wird die USSR unvermeidlich die Basis der Weltbewegung aller unterdrückten Klassen, das 'Zentrum der internationalen Revolution, der größte Faktor der Weltgeschichte. In'der USSR gewinnt das Weltproletariat zum ersten-mal ein Land, das ihm wirklich selbst gehört und für die kolonialen Bewegungen wird die USSR ein machtvoller Anziehungspunkt" (a. a. O.)
Im Hinblick darauf, daß die UdSSR das einzige Vaterland des internationalen Proletariats, das Hauptbollwerk ihrer Errungenschaften und der bedeutsamste Faktor ihrer internationalen Emanzipation sind, muß das internationale Proletariat seinerseits sie mit allen seinen Machtmitteln gegen die Angriffe der kapitalistischen Mächte verteidigen.“
„Die weltpolitische Lage hat jetzt die Diktatur des Proletariats auf die Tagesordnung gesetzt, und alle Ereignisse der Weltpolitik konzentrieren sich notwendigerweise um einen einzigen Mittelpunkt: um den Kampf der Weltbourgeoisie gegen die Russische Räterepublik, die einerseits unvermeidlich die Rätebewegungen der fortgeschrittenen Arbeiter aller Länder, andererseits alle nationalen Befreiungsbewegungen der Kolonien und der unterdrückten Völker um sich gruppiert . . ." (Programm des 6. Weltkongresses der Komintern, 192 8; Zitat: Lenin, AW 10, S. 226). -
„. . . (man) muß eine Politik der Verwirklichung des engsten Bündnisses aller nationalen und kolonialen Freiheitsbewegungen mit Ruß-land treiben . . ." (Lenin, UrsprünglicherEntwurfderThesen zur nationalen und kolonialen Frage, AW 10, S. 226).
„Die Kommunistische Internationale muß ein provisorisches Bündnis mit der bürgerlichen Demokratie der Kolonien und der rückständigen Länder eingehen, darf sich aber nicht mit ihr verschmelzen, und muß unbedingt die Selbständigkeit der proletarischen Bewegung — sogar in ihrer Keimform — wahren." (Lenin, e b d. S. 230).'
„. . . (haben) wir einstimmig beschlossen, anstatt „bürgerlich-demokratische Bewegung" den Ausdruck „national-revolutionäre Bewegung"
zu setzen. Es unterliegt nicht dem gerinsten Zweifel, daß jede natio-
nalistische Bewegung nur eine bürgerlich-demokratische sein kann, -
denn die Hauptmasse der Bevölkerung in den rückständigen Ländern besteht aus der Bauerschaft, die Vertreter der bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse ist." (Lenin, Bericht der Kommission für die nationale und koloniale Frage auf dem 11. Kongreß der Kommunistischen Internationale, AW 10, S. 233).
„In diesen Ländern gibt es fast gar kein Industrieproletariat. Nichtsdestoweniger haben wir auch dort die Rolle des Führers übernommen und müssen das tun", e b d. S. 235).
„Können wir die Behauptung als richtig anerkennen, daß das kapitalistische Entwicklungsstadium der Volkswirtschaft unvermeidlich sei für diejenigen rückständigen Völker, die sich jetzt befreien ..Diese Frage haben wir mit einem „Nein" -beantwortet. . . . daß die rückständigen Länder mit Hilfe des Proletariats der vorgeschritten- sten Länder unter Vermeidung des kapitalistischen Entwicklungsstadiums zur Sowjetordnung und dann über bestimmte Entwicklungsstufen zum Kommunismus kommen können", (e b d. S. 236).
„Als Verkörperung einer neuen und höheren sozialen Ordnung spiegelt die Sowjetunion in ihrer Außenpolitik die Wünsche der fortschrittlichen Menschheit wider, die dauernden Frieden ersehnt und von einem neuen vom Kapitalismus ausgeheckten Krieg nichts zu erwarten hat." (A. Zdanov, Rede aus Anlaß der Gründung des Kominform, Sept. 1947).
. . die Einheit der Interessen der Sowjetunion und der gewaltigen Mehrheit der Menschheit . . . (fand) ihren konkreten Ausdruck." (Mao Tse-tung, Die Einheit der Interessen der So w j e t-union und der gesamten Menschheit, AS, 3, S. 57).
„. . . während der gesamten vergangenen langen Periode war die Außenpolitik der Sowjetunion stets eine konsequente Friedenspolitik, in der sich die Interessen der Sowjetunion mit den Interessen der gewaltigen Mehrheit der Menschheit verbanden", (e b d. S. 49).
„Die Regierungen Englands, der USA und Frankreichs hatten überhaupt nicht die richtige Absicht, den Krieg abzuwenden — im Gegenteil, sie trugen zu seiner Entstehung bei. Indem sie ein Abkommen mit der Sowjetunion ablehnten . . . zeigten sie, daß sie den Krieg und nicht den Frieden wollten" (e b d. S. 51).
Quellen:
Die wichtigsten Schriften der „Klassiker" des Kommunismus zur politischen Lehre sind:
Marx-Engels, Das kommunistische Manifest;
Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft;
Lenin, Was tun?
Lenin, Zwei Taktiken d'e r Sozialdemokratie in der demokratischen Revolution;
Lenin, Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus;
Lenin, Staat und Revolution;
Lenin, Der „Linke Radikalismu s", die Kinderkrankheit im Kommunismus;
Stalin, Fragen des Leninismus (F d L).
Literatur:
H. Kelsen, The Political Theory of Bolshevism, University of California Press, 1955;
H. B. Mayo, Democracy and Marxis m, Oxford 1955;
R. N. Carew Hunt, The Theory and Practice o f Co m - m u n i s m, 2. Ausl., New York 1954.
Die Partei
Dieses Kapitel wurde durch die Herausgeber übersetzt und durch ein einleitendes Kapitel ergänzt.
A. Historische und statistische Angaben
§ 1. VORGESCHICHTE Die älteste kommunistische Partei ist die russische. Sie hat sich aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands (SDAPR) entwikkelt. Die SDAPR entstand 1898 (erster Parteitag); bis zur russischen Revolution (1917) hielt sie fünf Parteitage ab, wobei die Anhänger Lenins (die Bolschewiken) meistens mit ihren Gegnern (den Menschewiken) zusammenarbeiteten. Das ist die Vorgeschichte der Partei, weil sie damals noch keine eigentliche Partei, sondern nur eine Richtung innerhalb einer anderen war.
Die SDAPR bildete sich im Jahre 1895, als etwa zwanzig Arbeiter-zirkel St. Petersburgs sich im „Kampfbund zur Befreiung der Arbeiterklasse" vereinigten (GKP I, 3 S. 23) . Der erste Parteitag der SDAPR wurde im März 1898 in Minsk abgehalten (ebd. S. 30). 1900— 01 wurde die Zeitung „Iskra" herausgegeben, die u. a. von Lenin redigiert wurde (ebd. S. 34, 36). Auf dem zweiten Parteitag (30. 7. 03 zuerst in Brüssel, dann in London) kam es zum Streit zwischen den Anhängern Lenins (der endlich die Mehrheit erhielt) und denen von Martov über einen an sich untergeordneten Punkt: ob — wie Lenin wollte — jedes Mitglied der Partei auch Mitglied einer der Parteiorganisationen sein sollte oder nicht. Von diesem Zeitpunkt an beginnen sich die Anhänger Lenins „Bolschewiki" („Mehrheitler") zu nennen (vom russischen bolsinstvo) im Gegensatz zu den „Menschewiki" von Martov (ebd. S. 57 ff) . Der 111. Parteitag wurde von den Bolschewiken in London im April 1905 und von den Menschewiken gesondert in Genf abgehalten (S. 84 f); genau ein Jahr später aber kam es auf dem IV. Parteitag in Stockholm (April 1906) zur Wiedervereinigung (ebd. S. 115).
Endlich fand der V. Parteitag im Mai 1907 gemeinsam mit den Menschewiken in London statt (ebd. S. 121).
§ 2. GESCHICHTE DER KPdSU Die Kommunistische Partei Rußlands — die später zur Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) werden sollte — ist 1912 als eine Fraktion innerhalb der SDAPR entstanden; eigene Statuten hat sie erst seit 1924; jedoch rechnen die Kommunisten ihre Parteitage so, daß als erster der Parteitag der SDAPR von 1898 gilt. Die Partei eroberte 1917 die Macht in Rußland und hielt im selben Jahre ihren ersten Kongreß ab. Lenin führte noch auf dem XL Parteikongreß im Jahre 1922 den Vorsitz; seit dem XII. (1923) wurde die Partei durch Zinovjev, Stalin und Kamenev geleitet. Vom Jahre 1925 ab entspann sich ein erbitterter Kampf zwischen Stalin und den beiden anderen, der zu Stalins Sieg und zwischen 1927 und 1938 zur Liquidierung fast aller anderen alten Kommunisten führte. Von dieser Zeit bis zu seinem Tode war Stalin der unbestrittene Alleinherrscher der Partei, und zwar in einem solchen Ausmaß, daß er von 1939 bis 1952 keinen Parteikongreß einberief. Nach seinem Tode (1953) wurde die Macht durch eine Gruppe von kommunistischen Führern übernommen, unter welchen zuerst Malenkov (bis 1954) und dann Chruev die bedeutendsten zu sein scheinen. Auf dem XX. Parteikongreß (Februar bis März 1956) wurde Stalin ein Verbrecher genannt und eine Reihe von Änderungen angekündigt.
Die Partei hat dreimal ihren Namen geändert. Sie heißt jetzt (vierter Name): „Kommunistische Partei der Sowjetunion" (KPdSU) Die wichtigsten Daten aus der Geschichte der Partei sind die folgenden:
I. 1912: Prager Parteikonferenz; Bildung des ersten bolschewistischen Zentralkomitees. — 8. 8. 1917: VI (eigentlich I.) Parteikongreß in Petrograd. — 7. 11. 1917 (neuen Stiles): Anfang der bolschewistischen („Oktober" -) Revolution. — 23. 10. 1917: Ernennung des ersten Politbüros (Lenin, Zinovjev, Kamenev, Stalin, Bubnov und Sokolnikov). — 6. -8. 3. 1918: VII. Kongreß zu Petrograd (mit nur 29 Delegierten); Annahme des Namens „Kommunistische Partei Rußlands". — 18. — 23. 3. 1919: VIII. Kongreß, Auseinandersetzungen zwischen Lenin und Bucharin. Neues Politbüro: Lenin, Trotzkij, Stalin, Zinovjev, Kamenev. — 29. 3. — 5. 4. 1920: IX. Kongreß in Moskau nach dem Siege im Bürgerkrieg; ein Sekretariat des ZK wurde gewählt (Krestinskij, Preobrazenskij und Serbrjakov). — 8. — 16. 3. 1921:
X. Kongreß, Beginn der „Neuen Ökonomischen Politik" (NEP). Politbüro unverändert. 27. 3. — 2. 4. 1922: XL Kongreß in Moskau; erster, der nicht mehr von Lenin geleitet wurde; erste Schritte Stalins gegen Trotzkij. Neues Sekretariat des ZK: Stalin (Generalsekretär), Molotov und Kujbysev. — 17. — 25. 4. 1923: XII. Kongreß. — 21. 1. 1924 Tod Lenins. ’— 23. — 31. 5. 1924: XIII. Kongreß. Trotzkij nicht mehr Delegierter. Neues Politbüro: Stalin, Trotzkij, Zinovjev, Kamenev, Bucharin, Rykov, Tomskij. — 18. — 31. 12. 1925: XIV. Kongreß (zweimal verlegt). Annahme der ersten Satzungen der Partei. Neue Mitglieder des Politbüros: Kalinin, Molotov, Vorosilov (Kamenev nur Stellvertreter). — November 1927: Trotzkij undZinovjev aus derPartei ausgeschlossen. — 2. — 19. 12. 1927: XV. Kongreß; erster ohne Opposition. Ausschließung von 75 Mitgliedern der Trotzkij-Zinovjevschen („linken") Gruppe. — 26. 6. — 13. 7. 1930: XVI. Kongreß; Eliminierung der „rechten" Oppositionellen (Bucharin, Rykov, Tomskij); in der Folge große Säuberung (etwa 300 000 Mitglieder). — 26. 1. — 10. 2. 1934: XVII Kongreß; Anfang der Verherrlichung Stalins. — Jan. 1935: erster Prozeß gegen die Opposition (Kamenev, Zinovjev und andere). — 26. 9. 1936: Ernennung von Jezov zum Generalkommissar der staatlichen Sicherheit: Beginn der „Jezovscina" (1936— 1939), der großen blutigen Säuberung. — 10. — 21. 3. 1939: XVIII. Kongreß. — 5. — 14. 10. 1952: XIX. Kongreß. — 5. 3. 1953: Tod Stalins. — Vom 14. 2. an: XX. Kongreß; „Absetzung“ Stalins; Verurteilung des „Persönlichkeitskultes".
INHALT A. Historische und statistische Angaben (von den Herausgebern) § 1. Vorgeschichte § 2. Geschichte der KPdSU § 3. Mitglieder und sozialer Aufbau der KPdSU § 4. Internationale Organisationen § 5. Einige andere Parteien B. Das vorgespiegelte Bild § 6. Demokratische Organisation § 7. Die Partei als Vertreterin der Massen § 8. Menschliche Ideale und Werte § 9. Gegen Gewaltanwendung t § 10. Der geweihte Monolith § 11. Die künftige Machtübergabe und Auflösung der Partei C. Das wahre Gesicht § 12. Die alleinige Partei § 13. Die Anwendung von Gewalt und Vernichtung § 14. Die Anforderungen an die Parteimitglieder § 15. „Demokratischer Zentralismus" § 16. Die Partei als Elite gegenüber der Masse § 17. Der Kern der Partei als Elite gegenüber den Parteimitgliedern a. Die Parteiorganisation b. Der Parteikongreß c. Das Mehrheitsprinzip d. „Kritik" e. „Kollektive Führung" § 18. Orthodoxie und Abweichung § 19. Das Problem der Korruption § 20. Verschmelzung von Partei und Regierung D. Richtlinien für interne Parteiangelegenheiten § 21. Keine Duldung föderalistischer Bestrebungen § 22. Das Vorhandensein von Feinden innerhalb der Partei § 23. Das Prinzip der Säuberungen § 24. Die Kontrolle über den Mitgliederbestand der Partei § 25. Der Vorrang der Partei der Sowjetunion § 26. Ausnutzung des einzelnen Mitgliedes § 3. MITGLIEDER UND SOZIALER AUFBAU DER KPdSU Die M i t g 1 i e d e r z a h 1 der KPdSU betrug: 1917 (April): 40 000; 1921: 730 051; 1930: 1 674 910; 1939: 2 477 666; 1945: 5 760 000; 1956 7 215 505. Im Laufe der letzten 20 Jahre hat sich die KPdSU aus einer Arbeiterpartei in eine ausgesprochene Intelligenzpartei entwickelt. Angehörige der Intelligenz bilden neuerdings mehr als drei Viertel der Delegierten auf Parteikongressen. • Seit 1930 werden keine Angaben über die soziale Herkunft der Mitglieder der KPdSU veröffentlicht. 1939 wurden aber alle Beschränkungen in Bezug auf die Herkunft aufgehoben. Die folgenden Zahlen geben ein Bild des sozialen Aufbaues der Partei und ihrer Entwicklung: Nach den Wirtschaftsbereichen, in denen die Mitglieder der KPdSU tätig sind, gliedern sie sich folgendermaßen:
Landwirtschaft 1 612900 Industrie 956 000 Verwaltung n. sonstige 4 646 100 Insgesamt 7 215 505 Das beweist, daß die Mitglieder der Partei zum größten Teil der Verwaltung angehören (auch die Kommunisten in der Industrie dürften zum großen Teil Funktionäre sein).
Der Bildung nach hatten die Delegierten des XX. Parteikongresses in den Jahren (in %)
1930 1934 1939 1952 1956 Hochschulbildung 7. 2 10. 0 31. 5 66. 5 64. 5 Oberschulbildung 15. 7 31. 0 22. 5 18. 7 12. 4 Vollbildung 22. 9 41. 0 54. 0 85. 2 76. 9 D. h., daß wenigstens 3/4 der Delegierten auf dem XX. Parteikongreß der Intelligenz angehörten. Tatsächlich mußte ihre relative Zahl noch öher sein, da auch die Funktionäre ohne Vollbildung zur selben Klasse gehören.
Uber den sozialen Aufbau der KPdSU geben auch Angaben über die Dauer der Parteizugehörigkeit der Delegierten der Kongresse Auskunft: sie zeigen, daß bei weitem die meisten während der Stalin-sehen Ära der Partei beigetreten sind.
Beitritt 1934 1939 1952 1956 vor 1917 22, 6 2, 4 1, 2 1, 6 1917 — 1920 57, 4 17, 0 6, 2 4, 5 1920— 1929 17, 4 37, 6 36, 4 24, 9 nach 1929/30 2, 6 43, 0 56, 2 69, 0 100, 0 100, 0 100, 0 100, 0 (Bericht von A. B. Aristov; zit. nach Boris Meissner: Das Ende des Stalin-Mythos, Frankfurt/M. 1956, S. 19 ff.; s. a. unter § 16.).
§ 4. INTERNATIONALE ORGANISATIONEN Es gab seit 1919 zwei offizielle internationale Organisationen, deren Mitglieder kommunistische Parteien waren: Komintern (1919 — 1943) und Kominform (1947 — 1956). Sie werden unten (VI § 23 f.).
behandelt. Wir führen hier nur einige statistische Daten über die erste Organisation an:
Kongreß Anfang Delegierte 1 Länder Vertr. Kommunisten bzw. Part. (außer SU)
1 Partei 1 Jugend II 19. 7. 20 217 41 887 745 III 26. 6. 21 605 52 779 102 VII 25. 7. 35 510 65 785 000 221 000 (1939) 1 200 000 ] 746 000 Auflösung . 15. 5. 43 15 11 (Nach originalen Quellen zusammengefaßt in V. Lazich, Les Par-
tis communistes d'E u r o p e , Paris 1956, SS. 33, 35, 41, 44, 43.).
Außer diesen Organisationen von Parteien verfügen die Kommunisten über eine lange Reihe (wenigstens 30) von internationalen Organisationen, die zum „Transmissions" -Typus gehören (s. o. II § 10 b). Jede dieser Tarnorganisationen besitzt in den meisten führenden Ländern der Welt Zweigorganisationen 1)
§ 5. EINIGE ANDERE PARTEIEN China:
Gegründet Juli 1921. Unter den Gründern: Mao Tse-tung. Von 1924— 1927 gemeinsame Front mit der KMT (Kuomintang). April 1927 Bruch mit der KMT, danach schwere Verfolgungen der KPC (Kommunistische Partei Chinas). Im Sommer 1928 6. Parteikongreß, abgehalten in Moskau; Politik der ländlichen Sowjets umrissen. 1928— 1934 ländliche Sowjets in Zentral-Südchina; Hauptstadt in der Provinz Kiangsi. 1934 Lage der „Zentral" -Chinesischen Sowjetregierung unhaltbar. Vom Herbst 1934 bis Herbst 1935 wird der „Lange Marsch"
in'den Norden Chinas unternommen (Formierung der bekannten 7. Armee). Von 1936— 1945 auf Wunsch Moskaus Einheitsfront mit der Kuomintang gegen die japanischen Okkupanten. 1945/46 Ausbreitung der Macht der KPC über die von den Sowjets besetzte Mandschurei. Ab 1947 allgemeiner Bürgerkrieg. Im Oktober 1949 nach Eroberung der Hauptgebiete Chinas Gründung der „Volksrepublik 1) Beispiele für solche Organisationen sind: Weltgewerkschaftsbund, Wetlfriedensbewegung, Internationale Studentenunion (IUS). China"; Proklamierung der „Demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern". 1954— 1956 Massenkollektivierung. 8. Parteikongreß im September 1956. Offizieller Übergang zur „Diktatur des Proletariats". Mitgliederzahl: 1921: 57; 1924: 980; 1927: 57 900; 1928: ca. 40 000; 1945: 1 210 000; 1956: 8 545 516. • Deutschland:
Gegr. Dez. 1918; versuchte ohne Erfolg die Macht 1919 (Berlin, München) und 1920 zu übernehmen. Hatte 1919 106 656, 1932 360 000, 1935 (unter dem Nazismus) 60 000 Mitglieder. Westdeutschland: Die KP erhielt in den Wahlen von 1949 1 360 443 (5, 7%), in denen von 1953 607 413
Frankreich:
Gegr. Dez. 1920. Innere Streitigkeiten: 1922 Austritt von L. O. Frossard, 1924 Ausschließung B. Souvarine's. Mitglieder: 1921: 131 000; 1933: 28 000; 1937: 328 296; 1946: 1 034 000; 1954: 506 250. Wahlstimmen: 1924: 875 000 (9, 7 %); 1945: 5 004 121; 1946: 5 489 288 (28, 6 %) — 174 Sitze.
Italien:
Gegr. (endgültig) Jan. 1921. Mitglieder: 1921: 70 000; 1943: Anfang: 5 000; Ende: 110 000; 1955: 2 145 317. Stimmen: 1921: 304 719 (4, 6%); 1953: 6 120 709 (22, 7 % — 143 Sitze).
Jugoslawien:
Gegründet April 1919. 1937: Säuberung des Sekretärs des ZK Milan Gorkic und vieler anderer. Leitung von Josip Broz-Tito übernommen. 1948 Bruch mit dem Kominform (28. Juni). Mai 1955 Wiederaufnahme der Beziehungen (Besuch Bulganins und Chruev’s). Mitglieder: 1919: 60000; 1932: 200; 1941: 12000; 1945: 141 000; 1954: 654 669. Stimmen: 1920: 198 736 (58 Sitze — 12, 9%); 1927: 43 114 (0 Sitze — 1, 8%).
Polen:
Gegr. 1918; viele Streitigkeiten. Im April 1938 durch die Komintern aufgelöst (die meisten Führer nach Moskau gerufen und hingerichtet, bzw. in der Haft gestorben). Jan. 1942 wiedergegründet als „Polnische Arbeiterpartei"; jetzt „Vereinigte Polnische Arbeiterpartei" (mit Sozialisten). Mitglieder: 1922: 10 000; 1930: 3 300; 1934: 30 000; 1948: 1 420 000; 1952: 1 296 938; Stimmen: 1920: 132 495 (2 Sitze); 1930: 412 000 (4 Sitze).
Vereinigte Staaten von Nordamerika:
Gegr. 1919. Streitigkeiten zwischen Jay Lovestone und Earl Browder, 1929. durch Stalin zugunsten der letzteren Fraktion entschieden. Hatte 1919— 1944 acht verschiedene Namen. Mitglieder: 1930: 7 500; 1945: 80 000; 1956 (Schätzung): 22 663. Stimmen: 1928: 44 748; 1932: 100 990; 1936: 79 306; 1940: 49 102 2).
B. Das vorgespiegelte Bild
Jede kommunistische Partei sucht ein bestimmtes Bild von ihrer Organisation, ihren Methoden, Prinzipien und ihrer Gefolgschaft zu entwerfen. Die hervorstechenden Aspekte dieses entworfenen Bildes lassen sich wie folgt kurz zusammenfassen: die Kommunistische Partei macht geltend, eine demokratische, die Massen vertretende Organisation zu sein, welche nach hohen menschlichen Werten strebe und Gewaltanwendung abzulehnen wünsche; daß sie ein gleichsam aus einem einzigen Block gehauenes Ganzes darstelle, zuletzt aber ihre Macht aus den Händen geben und sich auflösen werde.
§ 6. DEMOKRATISCHE ORGANISATION Die Kommunistische Partei gibt vor, eine demokratische Organisation zu sein, doch unterscheidet sie sorgfältig und für sie bezeichnend zwischen dem, was sie „bürgerliche Demokratie" nennt, und sowjetischem „Demokratismus". Die Kommunisten behaupten, daß innerhalb der KPdSU Diskussionsfreiheit bestehe. In den auf dem XIX. Kongreß im Oktober 1952 angenommenen Statuten heißt es, daß „Ein Parteimitglied das Recht hat:
a) auf Parteitreffen, oder in der Parteipresse an der freien und sachlichen Diskussion über parteipolitische Fragen teilzunehmen;
b) auf Parteitreffen an jedem Mitarbeiter der Partei Kritik zu üben.“
(Prawda, 14. X. 1952, S. 1).
Der Ausdruck „Innerparteiliche Demokratie" wird stets verwendet, und es wird geltend gemacht, daß tatsächlich vollkommene Aussprachefreiheit (Debattierfreiheit) hinsichtlich der Parteipolitik auf allen Stufen innerhalb der Organisation herrsche und daß das „höchste Organ der KPdSU der Pärteikongreß" sei (Statuten, Par. 29, ebd., S. 2).
„Kritik und Selbstkritik" — d. h. sowohl die Kritik, die von einzelnen Mitgliedern, als auch die Kritik, die von der Partei „an sich selbst" geübt wird — werden in der Parteiliteratur viel besprochen und nicht nur als überaus wünschenswert, sondern als unerläßlich angesehen.
„Genosse Stalin lehrt uns, daß Selbstkritik für uns notwendig ist, so gut wie Wasser und Luft; daß ohne sie die Partei keine Fortschritte erzielt hätte, unsere Fehler nicht hätte ausmerzen können. Selbstkritik ist geradezu ein Teil des Fundamentes unserer Partei“ (Chruev, am XIX. Kongreß der KPdSU im Oktober 1952, Prawda, 13. Oktober 1952, S. 2).
§ 7. DIE PARTEI ALS VERTRETERIN DER MASSEN Die Partei macht ferner geltend, daß sie wirklich die Massen der Bevölkerung vertrete, und daß sie selber aus den Massen hervorgehe.
„Theoretiker und Parteiführer, die die Geschichte der Völker kennen, die die Geschichte der Revolutionen von Anfang bis Ende studiert haben, sind zuweilen von einer peinlichen Krankheit befallen. Diese Krankheit heißt Scheu vor den Massen, Unglauben an die schöpferischen Fähigkeiten der Massen. Auf diesem Boden entsteht manchmal ein gewisser Aristokratismüs der Führer den Massen gegenüber, die zwar in der Geschichte der Revolutionen nicht bewandert, aber berufen sind, das Alte niederzureißen und das Neue aufzubauen. Die Furcht, daß das spontane Element entfesselt werden könnte, daß die Massen „allzuviel zerstören“ könnten, der Wunsch, die Rolle eines Schulmeisters zu spielen, der die Massen nach Büchern zu lehren sucht, aber nichts von den Massen lernen will — das ist die Grundlage dieser Art von Aristokratismus.“ (J. V. Stalin. „O Lenin e", Socinenija, 6, S. 60; WW 6, S. 60.)
„Die Stärke unserer Partei liegt in den unzerreißbaren Banden, durch welche sie mit der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung verbunden ist. Aus dieser lebenspendenden Quelle schöpft sie die Energie für neue Siege. Ein Abglanz dieser festen Bindungen unserer Partei mit den Massen und des grenzenlosen Vertrauens, das ihrer Politik und Führung entgegengebracht wird, ist die zunehmende politische und werktätige Aktivität der Arbeiter und Intelligenz.“
(Chruscev, auf dem XIX. Kongreß der KPdSU im Oktober 1952, Pravda, 13. X. 1952, S. 3.)
„Einzig unsere Partei der Kommunisten, die als eine kleine leninistische Gruppe ihren Anfang nahm, hat sich zur vielmillionenfachen und stärksten Partei der Gegenwart entwickelt. Dies erklärt sich aus der Tatsache, daß unsere Partei ihre Kraft aus zwei lebenspendenden Quellen schöpft. Die eine Quelle ist die ewig junge und aileserobernde Lehre des Marxismus-Leninismus, welche die gesamte praktische Tätigkeit der Partei nährt und die ihrerseits durch die Praxis ständig bereichert wird. Die andere Quelle ist die unauflösliche und immer stärker werdende Verbundenheit der Partei mit den breiten Volksmassen." (Dimitri T. 'Sepilov, in seiner Ansprache auf dem XX.
Kongreß der KPdSU im Februar 1956, I z v e s t i j a , 17. II. 1956, S. 3.)
§ 8. MENSCHLICHE IDEALE UND WERTE Die Partei gibt vor, daß sie sich für gewisse menschliche Werte einsetze, und verheißt allen, die sich ihren Anordnungen fügen, eine glückliche, goldene, gesicherte — freilich utopische — Zukunft, die einmal eintreten werde, aber natürlich nie unmittelbar bevorsteht, eine Zukunft frei von Prüfungen und Drangsalen. Im September des Jahres 1917 prägte Lenin den Satz, der in der nachstalinistischen Periode viel zitiert wurde:
„. . .der Partei glauben wir, in ihr sehen wir die Vernunft, die Ehre und das Gewissen unserer Epoche“ (V. I. Lenin, „P o 1 i t i c e s k 1 j s an taz", Socinenija, 25, S. 239; SW 21, S. 119).
Diese Werte sind oben (II § 23— 24) besprochen worden.
§ 9. GEGEN GEWALTANWENDUNG Besonders in den letzten Jahren betonte die Partei, daß sie keine Gewaltanwendung als Mittel zur Erreichung der Macht und zur Befreiung der Menschheit wünsche. Im Zusammenhang mit wesentlichen Veränderungen auf der Welt-bühne eröffnen sich auch neue Perspektiven für den Übergang von Ländern und Nationen zum Sozialismus (worunter der Kommunismus zu verstehen ist).
Schon V. I. Lenin schrieb am Vorabend der großen sozialistischen Oktoberrevolution: „Alle Nationen werden zum Sozialismus gelangen, dies ist unvermeidlich, doch nicht alle werden auf die gleiche Weise dahin gelangen . . (S o c i n e n i j a , 23, 4. A. S. 58).
„Die Erfahrung der Geschichte hat diesen genialen Leitsatz Lenins voll und ganz bestätigt. Heute gibt es neben der sowjetischen Form der Umgestaltung der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage die Form der Volksdemokratie . . . Es ist durchaus wahrscheinlich, daß die Formen des Übergangs zum Sozialismus immer mannigfaltiger sein werden. Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, daß die Verwirklichung dieser Formen unter allen Umständen mit dem Bürgerkrieg verbunden sein wird.“ (Chruev, Rechenschaftsbericht des Zentral-komitees der KPdSU an den XX. Parteitag, XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 35.)
In einem Gespräch mit H. G. Wells im Jahre 1934 erklärte Stalin:
. Sie haben unrecht, wenn sie glauben, die Kommunisten hätten sich in die Gewaltanwendung verliebt. Es wäre ihnen sehr genehm, wenn sie die gewaltsamen Methoden fallen lassen könnten, sofern nur die herrschenden Klassen einverstanden wären, der Arbeiterklasse nachzugeben. Aber die Erfahrung der Geschichte spricht gegen eine solche Annahme.“ (Stalin-Wells Talk, London, The New Statesman and Nation, 1934.)
§ 10. DER GEWEIHTE MONOLITH Die Partei stellt sich gleichsam als geweihter Monolith dar — unerschütterlich, unteilbar, unbesiegbar, rein und unberührt von Spaltungen, menschlicher Schwäche und Korruption.
„Die Kommunistische Partei tritt zu ihrem XIX. Kongreß stärker (monolithischer) zusammengeschweißt als je zuvor zusammen, geeint und machtvoll, festgemauert um ihr Zentralkomitee und ihren genialen Führer und Lehrer, Genossen Stalin." (Chruscev, in seiner Ansprache an den XIX. Kongreß der KPdSU, Prawda, 13. X. 1952, S. 1.) „Die tiefe Überzeugung von der Richtigkeit und Größe dieser Aufgabe /der Stärkung des Kommunismus] beflügelt den Kommunisten, vermehrt seine Kraft um das Zehnfache, tieibt ihn an, jeder Gefahr zu trotzen, die härtesten Prüfungen zu bestehen und alle Hindernisse auf dem Weg zum Zief zu überwinden („clen partii — aktivnyj bojec za delo kommunizma". [Das Parteimitglied — Ein aktiver Kämpfer für die Sache des Kommunismus], Kommunist, 1955, 3, S. 3.)
§ 11. DIE KÜNFTIGE MACHTÜBERGABE UND AUFLÖSUNG DER PARTEI Die Partei erklärt ferner, daß sie letzten Endes die Macht aus den Händen geben und sich auflösen werde, obwohl eine Äußerung Lenins, daß „die herrschenden Klassen die Macht nie freiwillig aus den Händen geben", dagegen spricht. Sie hebt diesen Widerspruch auf, indem sie geltend macht, daß sie alle Klassen abschaffen werde.
„Eine politische Partei durchläuft gleichsam wie ein menschliches Wesen die Stadien der Kindheit, der Jugend, des Mannesalters und Greisenalters. Die Kommunistische Partei Chinas ist kein Kind oder minderjähriger Junge mehr. Sie ist zur Volljährigkeit gelangt. Wenn ein Mensch alt wird, stirbt er bald; das gleiche gilt auch von politischen Parteien. Mit der Abschaffung der Klassen werden auch alle Werkzeuge des Klassenkampfes — die politischen Parteien und der Staatsapparat — ihre Funktionen einbüßen, überflüssig werden und allmählich absterben, nachdem sie ihre historische Sendung erfüllt haben. Die menschliche Gesellschaft wird dann auf einer höheren Stufe angelangt sein." (MaoTse -tung, on People's Democratic Dictatorship, Peking, Foreign Languages Press, 1950, S. 3.)
„Wir sind für das Absterben des Staates. Wir sind jedoch gleichzeitig für die Verstärkung der Diktatur des Proletariats, der stärksten und mächtigsten Staatsmacht, die jemals beständen hat.“ (J. V. Stalin, „P o 1 i t i c e s k i j otcet centralnogo komiteta XVI S'ezdu VKP(b) *, Socinenija 12, S. 368 /„Politischer Rechenschaftsbericht des ZK an den XVI. Parteitag der KPdSU(b)“, WW 12, S. 323.)
z Die Kommunisten wollen somit der Menschheit weismachen, daß sie ernstlich beabsichtigen, die Politik selber abzuschaffen.
C. Das wahre Gesicht
Doch die Partei ist nicht, was sie zu sein vorgibt. Sowohl in ihrer Theorie wie in in ihrer Praxis weist sie charakteristische Züge auf, die das gerade Gegenteil der oben beschriebenen verraten. So duldet sie — obschon sie behauptet, eine demokratische Organisation zu sein— keine andere Partei und macht somit das ausschließliche Recht geltend, als die alleinige Partei zu gelten und zu wirken (§ 12); von ihren Mitgliedern verlangt sie bedingungslosen Gehorsam (§ 14); weit davon entfernt, die Massen zu vertreten, gründet sie auf dem Prinzip des Zentralismus (§ 15) und ist in Wirklichkeit die Organisation einer Elitegruppe (§ 16). Sie verwirft nicht nur nicht die Gewaltanwendung, sondern erachtet sie geradezu als notwendig (§ 13); auch bedient sie sich ständig der Begriffe der Orthodoxie und der linienuntreuen Abweichung (§ 18). Auch steht sie keineswegs da wie ein aus einem einzigen Steinblock geschaffenes Werk, sondern hat ernsthaft mit dem Problem der Korruption in den eigenen Reihen zu ringen (§ 19). Zu diesen Erscheinungen gesellt sich noch eine weitere: die Verschmelzung von Partei und Regierung (§ 20). Es muß jedoch nachdrücklich darauf hingewiesen werden, daß die Sprecher der Partei bei der Erörterung dieser Grundlagen größtenteils ebenso offen gewesen sind, wie bei der Propagierung des vorgespiegelten, künstlichen Bildes der Partei von zäher Ausdauer.
§ 12. DIE ALLEINIGE PARTEI Das Wort „Partei" geht zurück auf das lateinische Wort „pars“
(= Teil), und enthält somit die Bedeutung von „Teil eines Ganzen" und setzt die Existenz anderer Parteien voraus. Doch die Kommunisten anerkennen diese Bedeutung des Wortes „Partei" nicht und beanspruchen für sich eine Monopolstellung, obwohl dieser Anspruch die Möglichkeit formeller zeitweiliger Bündnisse mit anderen politischen Parteien nicht ausschließt, sofern eine solche Politik Vorteile verspricht.
„Diese Macht, die Macht einer Klasse, kann nur durch eine besondere Form des Bündnisses zwischen der Klasse der Proletarier und den werktätigen Massen der kleinbürgerlichen Klassen, vor allem den werktätigen Massen der Bauernschaft, errichtet und bis zu Ende verwirklicht werden . . . Diese besondere Form des Bündnisses besteht darin, daß der Führer des Staates, der Führer im System der Diktatur des Proletariats eine Partei ist, die Partei des Proletariats, die Partei der Kommunisten, die die Führung mit anderen Parteien nicht teilt und nicht teilen kann.“ [Von Stalin hervorgehoben. ] (Stalin, „Zu den Fragen des Leninismus", WW 8, S. 24.)
„Was die Freiheit verschiedener politischer Parteien anbetrifft, so vertreten wir hier einigermaßen andere Ansichten. Die Partei ist ein Teil der Klasse, ihr fortgeschrittenster Teil. Mehrere Parteien und folglich auch eine Freiheit der Parteien kann es nur in einer Gesellschaft geben, wo es antagonistische Klassen gibt, deren Interessen einander feindlich und unversöhnlich sind . . . * (Stalin, FdL, S. 633.)
„Lenin, der Gründer unserer Partei, schuf eine in ihrer Art neue Partei, die dem Proletariat den Sieg sicherte . . . Lenin lehrte, daß das Proletariat, um den Sieg davonzutragen, einer militanten Partei bedürfe, einer revolutionären Partei, die kühn genug sei, um das Proletariat in seinem Kampf um die Macht zu führen, und auch erfahren genug, um jeder Klippe auf der Fahrt zum Ziel auszuweichen.“
„Als Lenin die Partei als wunderbares Werkzeug des Proletariats gründete, lehrte er uns, daß die Partei die höchste Form der Klassen-organisationen des Proletariats — Gewerkschaften, Genossenschaften, staatliche Organisationen — darstelle, deren Werk sie voranzutreiben und zu lenken berufen sei . . . Lenin lehrte, daß die Diktatur des Proletariats nur dann vollkommen sein könne, wenn es von einer Partei, der Partei der Kommunisten, geführt werde, die die Führung mit anderen Parteien nicht teile noch teilen müsse." (A. Zdanov, Leninskie prednacertanija voplosceny v z i z n‘, Moskau, 1938, S. 12.)
„Der Marxismus-Leninismus lehrt, daß die Kommunistische Partei eine militante, zuversichtliche Organisation der Arbeiterklasse ist, welche zielstrebig denkt, dynamisch lebt, das Alte niederreißt und das Neue aufbaut.“ (F. Jakovlev, Kol lek ti vnosty rukovodstva — w y z s i j p r i n c i p partij nogo rukovodstva, Kommunist 1953, 11. S. 28— 38.)
§ 13. DIE ANWENDUNG VON GEWALT UND VERNICHTUNG Es ist dies ein fundamentales Prinzip der kommunistischen Ideologie, das schon Engels verkündete, wenn er schreibt, daß die Gewalt „die Hebamme jeder alten Gesellschaft sei, die mit der neuen schwanger geht" (in: Anti-Dühring). In den parteipolitischen Erklärungen wurde dies immer wieder, auch nach dem Tode Stalins, zum Ausdruck gebracht. In Wirklichkeit erteilen die Kommunisten den Nichtkommunisten die Warnung: wenn ihr die Gewalt vermeiden wollt, dann leistet uns keinen Widerstand!
„Wir müssen jetzt endlich offen und laut zugeben, daß die politischen Streiks unzureichend sind, müssen in den breitesten Massen für den bewaffneten Aufstand agitieren . . . Den Massen die Notwendigkeit eines verzweifelten, blutigen, vernichtenden Krieges als unmittelbare Aufgabe der bevorstehenden Aktion verhehlen, heißt sich selbst und das Volk betrügen.“ (Lenin, Die Lehren des Moskauer Auf-standes, SW, 10, S. 69.)
Im gleichen Artikel schrieb Lenin von der Notwendigkeit eines „bewaffneten, blutigen, verzweifelten Kampfes", wobei er erklärte;
„Angriff, nicht Verteidigung, muß die Losung der Massen sein, rücksichtslose Vernichtung des Feindes wird ihre Aufgabe sein . . (e b d.
S. 75.)
„Der Kapitalismus geht dem Verfall entgegen, doch darf man ihn nicht einfach mit einem Baum vergleichen, der in einem solchen Ausmaß morsch ist, daß er von selbst umstürzt. Nein, die Revolution, die Ersetzung eines Gesellschaftssystems durch ein anderes, ist immer ein Kampf gewesen, ein schmerzlicher und grausamer Kampf, ein Kampf auf Leben und Tod . . . Die Kommunisten idealisieren keineswegs die Methoden der Gewalt. Aber sie, die Kommunisten, wollen sich nicht überraschen lassen; sie können nicht damit rechnen, daß die alte Welt freiwillig von der Weltbühne abtrete; sie wissen, daß sich das alte System heftig zur Wehr setzt . . . Die reiche Erfahrung der Geschichte lehrt, daß bis heute keine einzige Klasse einer anderen Klasse freiwillig nachgegeben hat. Es gibj in der Weltgeschichte keinen solchen Präzedenzfall. Die Kommunisten haben sich diese geschichtliche Lehre gemerkt. Die Kommunisten würden ein freiwilliges Abtreten der Bourgeoisie (Stalin-Wells Talk, S. 13— 14.)
Diese Ausführungen Stalins haben eine auffallende Ähnlichkeit mit den Darlegungen Chruevs auf dem XX. Kongreß der KPdSU zwei Jahrzehnte später:
„Unsere Feinde lieben es, uns Leninisten immer und in allen Fällen als Anhänger der Gewalt darzustellen. Es ist lichtig, daß wir die Notwendigkeit der revolutionären Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische Gesellschaft anerkennen. Und das unterscheidet die revolutionären Marxisten von den Reformisten, den Opportunisten. Es besteht kein Zweifel, daß der gewaltsame Sturz der Diktatur der Bourgeoisie und die damit verbundene krasse Verschärfung des Klassenkampfes für eine Reihe kapitalistischer Länder unvermeidlich ist. . . . Der Leninismus lehrt, daß die herrschenden Klassen die Macht nicht freiwillig abtreten. Aber die größere oder geringere Schärfe des Kampfes, die Anwendung oder Nichtanwendung von Gewalt beim Übergang zum Sozialismus hängen nicht so sehr vom Proletariat als vielmehr vom Widerstand der Ausbeuter, von der Anwendung von Gewalt durch die Ausbeuterklasse selbst ab." (Chruev, Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XX. Parteitag, XX. ParteitagderKommunistischenParteider Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 35 f.)
§ 14. DIE ANFORDERUNGEN AN DIE PARTEIMITGLIEDER Obwohl die Kommunistische Partei vorgibt, eine Verfechterin der Demokratie innerhalb der Partei zu sein, so wird doch allgemein jenes Parteimitglied als mustergültig hingestellt, das den von den Zentralorganen herausgegebenen Befehlen unbedingten Gehorsam bezeigt. Für Dissidenten ist daher kein Platz vorhanden, erklärte doch Lenin auf dem Zweiten Kongreß im August 1903: „ . .. man darf nicht vergessen, daß jedes Parteimitglied für die Partei verantwortlich ist und daß die Partei für jedes Parteimitglied die Verantwortung trägt" ([von Lenin hervorgehoben] Lenin. SW 6, S. 36).
In den im Oktober 1952 angenommenen Statuten der KPdSU wird bei der Beschreibung der Pflichten der Parteimitglieder ausgeführt:
„Eine rein äußere Zustimmung zu den Parteientscheiden genügt für ein Parteimitglied nicht. Es ist Pflicht des Parteimitgliedes, für die Verwirklichung der Parteientscheide zu kämpfen. Eine passive und formelle Haltung seitens der Kommunisten gegenüber den Beschlüssen der Partei schwächt die Wirksamkeit der Partei und ist deshalb unvereinbar mit einer Mitgliedschaft." (P r a w d a , 14. X. 1952, S. 1.)
In der Debatte über die künftige Gestaltung der Parteiorganisation erklärte Lenin: „Es müssen. Leute ausgebildet werden, die der Revolution nicht nur ihre freien Abende, sondern ihr ganzes Leben widmen; es muß eine Organisation geschaffen werden, die genügend groß ist, um in ihr eine strenge Arbeitsleistung zwischen den verschiedenen Gebieten unserer Arbeit vornehmen zu können" (Lenin, Die dringendsten Aufgaben unserer Bewegung, AW, 2, S. 15).
„Im grausamen und unversöhnlichen Kampf gegen die Mächte der alten Welt wird das Heil des Volkes, der Kommunismus, erkauft. Dieser Kampf erfordert von den Parteimitgliedern treues Festhalten an den Grundsätzen, Härte, Unbeugsamkeit und Einheit des Willens. Die Partei hat Siege errungen und wird weiter siegen dank der strikten, wahrhaft eisernen Disziplin, die in ihren Reihen herrscht." (Kommunist, März 1955, 5, S. 4.)
Eine solche Auffassung der Partei widerspricht merklich den Beteuerungen hinsichtlich einer „innerparteilichen Demokratie".
§ 15. „DEMOKRATISCHER ZENTRALISMUS"
Während die Partei behauptet, nach innen eine demokratische Organisation zu sein, ist sie doch gleichzeitig auf organisatorische Prinzipien gegründet, die eine wirklich freie Meinungsbildung und Berücksichtigung der Meinungen von Minderheiten unmöglich machen und die einen Elitegedanken widerspiegeln. In der Formel „Demokratischer Zentralismus" überwiegt das zentralistische Element weitaus. In einer wahrhaft demokratischen Organisation kann die Minderheit — selbst wenn sie zur Zeit überstimmt wird — ungehindert in ihren Bemühungen fortfahren, die Mehrheit zu überreden, den getroffenen Entscheid rückgängig zu machen und sich der von der Minderheit vertretenen Meinung anzuschließen. Der Gedanke der Demokratie setzt die Annahme voraus, daß der Mehrheitswille — obwohl es der Wille der Mehrheit ist — falsch sein kann. Der „demokratische Zentralismus" leugnet dieses wesentliche Element einer echten innerparteilichen Demokratie und erst recht das zwischen parteiliche Element der Demokratie, das eine weitere Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft darstellt.
Der „demokratische Zentralismus" wurde im Paragraph 21 der Statuten (vom Jahre 1952) der KPdSU folgendermaßen definiert:
,, a) Bestellung aller parteilenkenden Körperschaften, von der untersten bis zur Spitze, durch Wahlen.
b) Periodische Rechenschaftsablegung der Parteikörperschaften an deren Parteiorganisationen.
c) Straffe Parteidisziplin und Unterwerfung der Minderheit unter die Mehrheit.
d) Die Beschlüsse der höheren Instanzen sind unbedingt verbindlich für die niederen." (P r a w d a , 14. X. 1952.)
„Das Organisationsbüro hält es für notwendig, darauf hinzuweisen, daß in der Frage der Unterzeichnung der Friedensbedingungen keine Einmütigkeit im Zentralkomitee bestand. Aber ein Beschluß, der einmal gefaßt ist, muß von der ganzen Partei unterstützt werden. In den nächsten Tagen wird der Parteitag zusammentreten, und erst dort wird es möglich sein, die Frage zu entscheiden, inwieweit das ZK die wirkliche Meinung der Gesamtpartei richtig vertreten hat. Bis zum Parteitag führen alle Parteimitglieder im Namen der Parteipflicht, im Namen der Erhaltung der Einheit in unseren eigenen Reihen, die Beschlüsse ihrer zentralen führenden Körperschaft, die Beschlüsse des ZK der Partei durch." (Lenin, „D ie St ellung d esZK derSD APR (b) zurFragedesSeparatfriedensohne Annexione n", SW 22, S. 318.)
Dieser Formulierung lag natürlich die Annahme zugrunde, daß zu Lenins Zeiten die Parteikongresse jährlich zusammentraten, aber es ist bemerkenswert, daß Lenin den Primat des Zentralkomitees während der langdauernden Perioden zwischen zwei Kongressen niemals in Frage stellte. Jene . Leninisten’, die heute Lenins geistige Erbschaft angeblich übernommen haben, stellen vermehrte Anforderungen in Bezug auf Disziplin an die Parteimitglieder, nachdem sie die Häufigkeit und Bedeutung der Parteitagungen verringert haben. Auch wäre es unrichtig, wollte man daraus folgern, daß Lenin ein Anwalt der Debattierfreiheit auf Parteikongressen war; schon 1903 äußerte er die Notwendigkeit, „die Schwätzer von denen zu unterscheiden, die wirklich arbeiten" (SW 6, S. 35). Und in seinen Ausführungen über die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) schreibt er im April 1920:
„Wer auch nur im geringsten die eiserne Disziplin der Partei des Proletariats schwächt {besonders während seiner Diktatur), der hilft in Wirklichkeit der Bourgeoisie gegen das Proletariat" („D er . Linke Radikalismus'", SW 25, S. 229).
Stalin erörtert die Frage der „eisernen Disziplin" der Partei in einer Abhandlung, die er im Jahre 1924, kurz nach Lenins Tod, verfaßte, mit folgenden Worten:
„Die eiserne Disziplin in der Partei aber ist undenkbar ohne die Einheit des Willens, ohne die völlige und unbedingte Einheit des Han- deins aller Parteimitglieder. Das bedeutet natürlich nicht, daß dadurch die Möglichkeit eines Meinungskampies in der Partei ausgeschlossen wird. Im Gegenteil, die eiserne Disziplin schließt Kritik und Meinungskampf in der Partei nicht nur nicht aus, sondern setzt sie vielmehr voraus. Das bedeutet erst recht nicht, daß die Disziplin , blind'sein soll.
Im Gegenteil, die eiserne Disziplin schließt Bewußtheit und Freiwilligkeit der Unterordnung nicht aus, sondern setzt sie vielmehr voraus, denn nur eine bewußte Disziplin kann eine wirklich eiserne Disziplin sein. Aber nachdem der Meinungskampf beendet, die Kritik erschöpit und ein Beschluß gefaßt ist, bildet die Einheit des Willens und die Einheit des Handelns aller Parteimitglieder jene unerläßliche Bedingung, ohne die weder eine einheitliche Partei noch eine eiserne Disziplin in der Partei denkbar ist." (Stalin, FdL, S. 95.).
Der Minderheit steht es nicht frei, die Majorität davon zu überzeugen, daß sie unrichtig oder wahrscheinlich unrichtig gehandelt hat.
Ein bedeutsamer Meinungsaustausch erfolgte auf dem XIV. Parteitag der KPdSU im Dezember 1925. Lenins Witwe Nadecda Konstantinovna Krupskaja äußerte die Ansicht, daß „. . . es unmöglich ist, sich mit dem Gedanken zu beruhigen, daß die Mehrheit immer recht hat. In der Geschichte unserer Partei gab es Kongresse, auf welchen sich die Mehrheit geirrt hat. Rufen Sie sich zum Beispiel den Stockholmer Kongreß ins Gedächtnis zurück [vom Jahre 1906, auf welchem die Menschewiki die Mehrheit hatten]."
(XIV S’ezd RKP(b), stenograficeskij otcet, Moskau, 1926, S. 165.)
Diese Bemerkung bewog Michail Kalinin, der während mehrerer Jahre Vorsitzender des Obersten Rates der UdSSR war, zu folgender Erklärung:
„Die Idee, daß eine Wahrheit immer Wahrheit bleibt, ist in einem philosophischen Zirkel zulässig, aber in der Partei sind die Kongreßentscheide auch für jene allgemein verbindlich, die die Richtigkeit des Entscheides in Zweifel ziehen.“ (e b d., S. 321.)
Als man auf dem XX. Kongreß der KPdSU im Februar 1956 beschloß, Stalin posthum zu degradieren, erklärten sich offenbar nicht alle Parteimitglieder mit dieser Maßnahme einverstanden, und allem Anschein nach äußerten nicht wenige gewisse Vorbehalte hinsichtlich der neuen Parteilinie. Dies gab denn auch den Anstoß zu einer Auslegung der eigentlichen Bedeutung der kommunistischen „innerparteilichen Demokratie" in einem Leitartikel in der Parteizeitschrift Parti jnaja z i z n ':
„Freiheit der Diskussion, Einheit des Handelns — das ist es, was Lenin von der Partei verlangte. Unsere Partei ist kein Debattierklub, sondern ein. e Kampforganisation, und sie gestattet niemandem, Fragen, die bereits entschieden wurden, zum Gegenstand wortreicher Geplänkel von Demagogen zu machen. , Die politische Aktion muß einheitlich sein'— schrieb Lenin. Keine Einwendungen, die die Einheit entschiedener Aktionen verletzen, sind zulässig weder in Massenversammlungen noch auf Parteitreffen noch in der Parteipresse . . . Innerparteiliche Demokratie ist sich nicht selber Endzweck; sie hat die Aufgabe, das Kampfvermögen der Organisationen zu verstärken, in den Meinungen Einmütigkeit zu erzielen und die Einheit des Handelns sicherzustellen. Die Aussprache über die auf dem XX. Parteitag der KPdSU behandelten Fragen in den verschiedenen Parteiorganisationen bewies die große Einheit und Solidarität der Partei. Doch in einzelnen Organisationsversammlungen ertappte man Kommunisten, welche die innerparteiliche Demokratie, die Freiheit sachlicher Erörterung parteipolitischer Fragen zu demagogischen Zwecken auszunutzen versuchten, um die fundamentalen Grundsätze der Parteipolitik einer Prüfung zu unterziehen. Von der Linie abweichend überschritten sie die Grenzen, wo man aufhört Kommunist zu sein und wo der Mann von der Straße (o b y v a t e 1der Spießer, in Erscheinung tritt, dem die Sache der Partei fremd ist. Einige unter ihnen trugen geradeswegs die Behauptungen der bourgeoisen Propaganda vom Ausland vor. Andere, ideologisch unreife Kommunisten, faßten die Entwicklung der innerparteilichen Demokratie als Freiheit zur Untergrabung der Partei-disziplin auf.“ („Neuklonno sobljudat’ leninskie normy partijnoj zizni", P a r t i j n a j a z i z n ', April 1956, 7, S. 8.)
Die Anspielung auf Unmündigkeit und „Unreife" im obigen Auszug lassen auf das Ausmaß schließen, in dem die herrschenden Kreise der kommunistischen Partei eine Elite von eigenen Gnaden innerhalb dieser Elite bilden.
§ 16. DIE PARTEI ALS ELITE GEGENÜBER DER MASSE Strukturell gesehen entfaltet sich die Kommunistische Partei nach dem Prinzip der Auslese, und zwar in doppelter Hinsicht: in ihren Beziehungen zu den Massen betrachtet sie sich als eine Elitetruppe, und zweitens sind die „gewöhnlichen Sterblichen" unter den Parteimitgliedern, das Gros der Partei, einer höheren Parteischicht untergeordnet, die die eigentliche herrschende Elite darstellt.
Die KPdSU war ursprünglich bestrebt, die werktätigen Massen durch Eingliederung von Arbeitern und Bauern in ihren Reihen vertreten zu lassen.
So hieß der VIII. Kongreß der KPdSU, der vom 18. bis 23. März 1919 tagte, eine Resolution gut, in der ausgeführt wurde:
„Der zahlenmäßige Zuwachs der Partei macht nur in dem Maße Fortschritte, als gesunde proletarische Elemente aus Stadt und Dorf den Reihen der Partei zufließen. Das Tor zur Partei soll den Arbeitern, der Arbeiter-und Bauernjugend weit geöffnet werden. Doch muß die Partei immer auf die Veränderungen achtgeben, die in ihrer gesellschaftlichen Zusammensetzung eintreten . . . Die Eingliederung von nichtarbeiter-und nichtbäuerlichen Elementen in die Partei muß mit großem Unterscheidungsvermögen gehandhabt werden." (V K P (b) v rezoljucijach i resenijach s 'e z d o v , konferencij i plenumov CK [Die KPdSU(b) in den Beschlüssen und Entscheidungen der Kongresse, Konferenzen und Plenarsitzungen des Zentral-komitees], 5. A., Moskva, 1936, I. Teil, S. 311.)
Der XII. Parteitag der KPdSU im April 1923 faßte den Beschluß, „Bauern, Leute der Roten Armee und besoldete Personen" in die Partei aufzunehmen, machte aber zugleich darauf aufmerksam, daß die Partei „als Partei der Proletarier den Prozentsatz der Mitglieder aus den Reihen der Industriearbeiter systematisch zu erhöhen und gleichzeitig die Aufnahme aller anderen Elemente in die Partei zu regulieren und zu begrenzen hat" (e b d., S. 513). Der XIII. Parteitag der KPdSU im Mai 1924 erblickte „eine der besten Garantien gegen das Eindringen kleinbürgerlicher Einflüsse, und gleichzeitig die am meisten versprechende Gewähr für die unzerstörbare Einheit der Partei auf den Grundlagen des Leninismus in der größeren Homogenität der Partei, in der Erhöhung des Prozentsatzes des proletarischen Elementes“ (e b d., S. 582). Vor dem XII. Kongreß wurde beschlossen, eine „leninistische Anwerbung" von „Arbeitern von der Werkbank" zur Aufnahme in die Partei zu lancieren. Doch die XIV. Konferenz der KPdSU vom 27.
bis 29. April 1925 bemerkte in einer Resolution, daß „bis anhin der grundlegende Beschluß des XIII. Kongresses über die Regulierung der Zusammensetzung der Partei, und namentlich der Entscheid, daß der Anteil von direkt in die Produktion eingeschalteter Arbeiter nicht unter fünfzig Prozent der Gesamtmitgliederzahl sinken dürfe, nicht verwirklicht worden sind . . ." (e b d., 6. Ausl., II. Teil, S. 12).
Im Laufe der Zeit und nachdem die Kommunistische Partei fort-fuhr, die Sowjetunion zu beherrschen, veränderte sich die Zusammensetzung ihrer Mitgliederschaft so sehr, daß sie aufhörte, für die breiten Massen repräsentativ zu sein. Man mag allerdings fragen, ob sie es jemals gewesen war.
Chruev bemerkte auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956, daß es „in den Betrieben der Kohlenindustrie zum Beispiel . . .
etwa 90 000 Kommunisten (gibt) — unter Tage arbeiten aber nur 38 000". (Chruscev, Rechenschaftsbericht . . ., XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 109.)
Michail A. Suslov, Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU und Mitglied seines Präsidiums, erklärte auf dem XX. Parteikongreß, daß „der Anteil der Arbeiter und Kollektivfarmarbeiter in der Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft in vielen Parteiorganisationen sehr klein ist", und als Beispiele führte er die Sverdlovsk-Organisation an, in welcher die Arbeiter 47, 2 Prozent des Gesamtmitgliedbestandes ausmachten, sowie die Organisation von Novosibirsk (32, 2 Prozent), Omsk (31, 7) und Stalingrad (11, 4 Prozent)
Auf Grund der verschiedenen Berufe der Abgeordneten des XX.
Parteikongresses der KPdSU im Februar 1956 kann man einen Einblick gewinnen in den sozialen Hintergrund der Parteimitglieder. Aus dem Bericht des Vorsitzenden der Beglaubigungskommission geht hervor, daß von den 1355 stimmberechtigten Delegierten 506 Parteibeamte, 251 in der Industrie Beschäftigte und 187 in der Landwirtschaft Tätige waren
Daraus ist ersichtlich, wie diese Entwicklung in der Zusammensetzung und Verwaltung des Mitgliederbestandes der KPdSU das unvermeidliche Resultat eines Ausleseprinzips ist, nach welchem sie ursprünglich aufgebaut wurde, was auch immer die vorgegebenen Absichten und Bestrebungen Lenins gewesen sein mögen. Es ergab sich dies aus der Tatsache, daß die Kommunistische Partei sich von allem Anfang an als eine exklusive Gesellschaft, als eine angebliche „Vorhut" und Elitetruppe betrachtet hat, obwohl sie als Vertreterin der Massen gelten will. Diese Entwicklung vollzog sich trotz dauernder Warnungen, die Partei „müsse eng mit den Massen verbunden bleiben". Solche Warnungen jedoch vermochten nicht den Elite-gedanken zu beseitigen, der der Kommunistischen Partei innewohnt. Dem Vorwurf der „Bürokratie" begegnete und begegnet man dauernd in der Parteiliteratur.
Schon im März 1919 wurde auf dem VIII. Kongreß der KPdSU eine Resolution gutgeheißen, worin es unter anderem heißt:
„Viele Parteimitglieder, die wichtige Regierungsstellen bekleiden, sondern sich von den Massen ab und sind vom Geist des -Bürokratis mus angesteckt, was sehr oft auch bei vielen Arbeitern, Mitgliedern des Sowjets zutrifft." (V K P (b) v r e z o 1 j u c i j a c h . . 5. A., I.
Teil, S. 312.)
Damals wurde beschlossen, daß „Arbeiter, die während mehr als drei aufeinanderfolgender Monate mit rein sowjetischer (Regierungs-)
Arbeit beschäftigt sind, für die Dauer eines Monats in die Fabriken zurückgeschickt werden sollen" (e b d.). Doch weder diese noch andere Maßnahmen genügten, um einer natürlichen, den organisatorischen Prinzipien der Kommunistischen Partei anhaftenden Tendenz wirksam entgegenzutreten. Daher wurde ein Theoretiker, der über die „Kollektive Führung" schrieb, genötigt, „jene Anschauung von der Partei, die da behauptet, die Partei sei kein angeblich selbstbewußter, selbständiger Organismus, sondern so etwas wie ein komplexes Gebilde administrativer-exekutiver Institutionen mit Angestellten niederen und höheren Ranges [als] . . . gründlich irrige, die nichts mit dem Marxismus gemein hat" zu verurteilen. (Marx stand natürlich seinerzeit nicht an der Spitze einer herrschenden Partei, die zum Staate geworden war.)
„Diese verderbliche und gefährliche Anschauung von der Partei führt in der Praxis zu einer Bürokratisierung der Parteitätigkeit, zu einer Situation, in welcher die führenden Beamten sich als . Angestellte höheren Ranges'betrachten und all ihre Arbeit allein von Dekreten abhängig machen." (Jakovlev, bei Meissner, S. 205.) und Instruktionen . . die Partei der Proletarier [muß] als eine Kampfgruppe von Führern erstens ihrer Mitgliederzahl nach viel kleiner sein als die Klasse der Proletarier-, zweitens muß sie ihrem Klassenbewußtsein und ihren Erfahrungen nach höher stehen als die Klasse der Proletarier; und drittens muß sie eine geschlossene Organisation darstellen.“
(Stalin, „Die Klasse der Proletarier und die Partei der Proletarier", WW 1, S. 56.)
Diese Darlegung Stalins beruhte auf einer leninistischen Einstellunngzur Partei und ihrer Organisation. Ein halbes Jahrhundert später, ; ls Stalins Schützlinge sich entschlossen, ihren weisen Ratgeber zu entlarven (zu einer Zeit, da dieser nicht mehr auf Wiedervergeltung sinnen konnte) und der Pflege des „Personenkultes" zu bezichtigen, nahm man Zuflucht zum Begriff der „kollektiven Führung". Damit wollten sie den Anschein erwecken, daß das Gros der Partei nicht eigentlich von einer innerparteilichen Elite — ähnlich jenen „herrschenden Kreisen", die in der Vorstellung der Kommunisten die „kapitalistische Welt" regieren — gelenkt werde.
§ 17. DER KERN DER PARTEI ALS ELITE GEGENÜBER DEN PARTEIMITGLIEDERN a. Die Parteiorganisation Die kommunistische Parteiorganisation läßt sich mit zwei wesentlichen Begriffen kurz charakterisieren: Hierarchie und zentralistische Kontrolle, wobei letztere vorwiegt. Theoretisch, und nur theoretisch, ist der Parteikongreß das höchste Organ. Doch in Anbetracht seiner numerischen Größe und der Seltenheit seiner Tagungen hat er mehr das Gepräge einer rein zustimmenden Körperschaft, die weder Debatten noch Beratungen durchführt. Der Parteikongreß sieht sich jeweils vom Zentralkomitee vor vollendeten Tatsachen gestellt, oder es werden ihm vom ebengenannten Komitee politische Berichte vorgelegt, wobei ihm keine andere Wahl bleibt, als diese vorbehaltlos und ohne Abstrich gutzuheißen. Doch auch das Zentralkomitee ist nicht die Körperschaft, in deren Bereich die letztlich maßgebende Autorität liegt, besonders seitdem dieses Organ sich in kommunistischen Ländern seiner Mitgliederzahl nach vergrößert hat.
Die letztlich maßgebende Körperschaft ist das Politbüro oder Präsidium, welches numerisch klein ist und sich aus Leuten zusammensetzt, die sowohl in den Regierungen der von den Kommunisten beherrschten Staaten wie auch im Parteisekretariat Schlüsselstell Lingen innehaben.
Das Sekretariat, welches ursprünglich nur ein Organ des Orgbüros (Organisationsbüro, abgeschafft in der KPdSU im Oktober 1952) und später des Zentralkomitees war, sollte zu einer Körperschaft von höchster Wichtigkeit werden, als Stalin im Jahre 1922 Mitglied des Zentralkomitees, des Politbüros und des Orgbüros sowie Erster Sekretär wurde. Seither ist es immer ein Mitglied des Sekretariats, meistens der Erste Sekretär, der auf dem Kongreß der KPdSU im Namen des Zentalkomitees spricht.
Die lokalen Organisationen und Zwischenorganisationen der Partei sind vollständig von den zentralen Körperschaften abhängig und ihnen untergeordnet. Im Artikel 23 der Statuten der KPdSU (vom Jahre 1952)
heißt es:
„Alle Parteiorganisationen sind in der Entscheidung örtlicher Fragen autonom, sofern diese Entscheidungen nicht im Widerspruch zu den Parteibeschlüssen stehen." (Meissner, Die kommunistische Partei der Sowjetunion vor und nach dem Tode Stalins, Frankfurt/M. 1954, S. 59.)
Die Tatsache der Auswechselbarkeit des Parteipersonals deutet ebenfalls darauf hin, daß die zentralen Parteikörperschaften den lokalen Organisationen auf Unionsrepublik-, Provinz-und Distrikt-ebene nur ein ganz geringes Maß an Selbständigkeit zusichern.
So bekleidete N. S. Patolicev, der im Juli 1950 erster Sekretär der Kommunistischen Partei Weißrußlands wurde, vormals im Jahre 1946 die Stellung eines Zentralkomiteesekretärs in der Kommunistischen Partei der Ukraine, in den Jahren 1947 bis 1950 diejenige eines Ersten Sekretärs des obkom (Provinzkomitee) für Rostov, und während des Zweiten Weltkrieges wirkte er in der gleichen Funktion in Celjabinsk. Die Stelle eines Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei der SSR Kasakstan hatte in den Jahren 1954 und 1955 P. K.
Ponomarenko inne, der vorher die Stellung eines Sekretärs des Zentralkomitees der KPdSU in Moskau bekleidet hatte (1953— 1954) und Minister für Kultur in der UdSSR gewesen war (1953— 1954). Sein Nachfolger in Kasakstan wurde Leonid I. Breznev, der-vorher Erster Sekretär der Kommunistischen Partei der Moldauischen SSR gewesen war.
Zahlreiche weitere Beispiele ließen sich anführen, sind sie doch alle Ausdruck einer fundamentalen Parteipraxis.
b. Der Parteikongreß In der Theorie und in jeder neuen Ausgabe der Statuten der KPdSU wird immer wieder betont, daß „das höchste Organ der Partei der Kongreß sei". In Wirklichkeit aber ist der Kongreß mehr zu einem reinen Resonanzboden als zu einer Plattform für wirkliche Debatten geworden, zu einem organisierten Konklave, welches die allgemeine Parteilinie gutzuheißen hat, die diesem „höchsten Organ" theoretisch vom Zentralkomitee, heute jedoch praktisch von dessen Präsidium (dem vormaligen Politbüro), der innersten und höchsten Elite der Partei, vorgelegt wird.
Der Parteikongreß, der nur alle vier Jahre stattfindet, ist niemals imstande, als wirklich „höchstes Organ" zu wirken, es sei denn in einem rein formellen und nominellen Sinne. Zu Lenins Zeiten und noch in den nachfolgenden zwei Jahren trat der Kongreß jährlich zusammen und ließ -sich auch gelegentlich in so etwas wie lebhafte Debatten über Parteipolitik ein. Um zu wissen, was man von den Beteuerungen seitens der Nachfolger Stalins zu halten hat, sie hätten einer „Wiederherstellung der leninistischen Normen des Parteilebens"
das Wort geredet, braucht man sich bloß an die Änderungen hinsichtlich der Häufigkeit der Parteitreffen auf den verschiedenen Ebenen sowie hinsichtlich deren Beschaffenheit zu erinnern. Die nachstehende Tabelle zeigt die Häufigkeit an, mit der solche Treffen stattfanden und stattfinden sollen, wie dies in den jeweiligen Statuten der KPdSU vorgesehen ist.
Eine merkliche Verminderung in der Häufigkeit der Parteitreffen auf allen Ebenen ist zu Stalins Zeiten und in der nachstalinistischen Periode zu verzeichnen, obwohl Stalin immer wieder sein Festhalten am Leninismus beteuerte und seine Günstlinge später von einer angeblichen Auferstehung des Leninismus redeten. Es ist dies ein weiteres Anzeichen dafür, wie sehr die jeweilige Parteipolitik eine in einem auserlesenen, die Partei lenkenden Kreise abgekartete Sache ist. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht die Tatsache, daß die Zentralkomiteesitzungen, die ursprünglich zweimal monatlich und in den zwanziger Jahren alle zwei Monate einmal stattfanden, heute höchstens halbjährlich abgehalten werden. Die Mitglieder des Zentral-komitees werden vom Parteikongreß „gewählt"; dennoch kann ein Mitglied jederzeit vom Zentralkomitee selber seines Postens enthoben werden, und oft werden in der Zeit zwischen zwei Kongressen Mitglieder abgesetzt. Somit hat das „höchste Organ", der Parteikongreß, kein Mitspracherecht über die Frage der Absetzung von Mitgliedern, die es doch ins Zentralkomitee gewählt haben soll. In diesem Sinne ist Chruevs Erklärung auf dem XX. Parteitag der KPdSU zu verstehen, als er mitteilte, daß „einige [Partei-]Mitarbeiter, die das von der Partei in sie gesetzte Vertrauen nicht gerechtfertigt, haben, aus dem Zentralkomitee entfernt wurden" (in der Zeit zwischen 1953 und Frühjahr 1956). (Chruev, Rechenschaftsbericht . . ., X X. P a r -
teitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 99.) c. Das Mehrheitsprinzip Das Prinzip des „demokratischen Zentralismus", wie es in den Statuten der KPdSU definiert wird, schließt „straffe Parteidisziplin und Unterwerfung der Minderheit unter die Mehrheit" mit ein. Doch ist das angebliche Mehrheitsprinzip faktisch verworfen, da die dazu notwendigen Voraussetzungen gar nicht vorhanden sind. Es fehlen in den selten stattfindenden Kongressen der Partei die eigentlichen Diskussionen, und es kommt zur Bildung von automatischen Mehrheiten, zur Annahme von Direktiven durch Akklamation, Direktiven, die dem Kongreß vom Präsidium im Namen des Zentralkomitees vorgelegt worden sind.
Ein in dieser Hinsicht bedeutsamer Fall war der vermeintliche politische Umschwung, den die „Abdankung" Malenkovs als Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR im Februar 1955 im Gefolge hatte. Sein Nachfolger in diesem Amte wurde Bulganin, der, angeblich im Gegensatz zu Malenkov, eine Politik unterstützte, die der Entwicklung der Schwerindustrie den Vorzug gab. Nun schiene es doch angezeigt, daß eine solche grundlegende politische Entscheidung angenommen — Malenkovs Politik gab wirklich der Konsumgüterproduktion den Vorzug und bedurfte daher einer Revision — die Einberufung eines außerordentlichen Parteikongresses erfordert hätte, wie es in den Statuten der KPdSU vorgesehen ist. Ein so wichtiger Beschluß wie die Entthronung Stalins wurde nicht vom „höchsten Organ", dem Parteikongreß, gefaßt, sondern allem Anschein nach vom Präsidium — oder von einem Teil desselben — und kaum vom Zentralkomitee.
Der Mangel an Rücksichtnahme auf die numerische Mehrheit in der Partei, dessen sich die Führung der KPdSU schuldig macht, ist eine Haltung, die sich schon sehr früh in der Geschichte der Partei bemerkbar machte. Auf dem Zweiten Kongreß (Brüssel-London) im Jahre 1903, wo es bei der Behandlung der Frage, wer zur Partei zugelassen werden soll und wie deren Organisation zu gestalten sei, zur folgenschweren Spaltung (Bolseviki — Menseviki) kam, fand Lenins Parteistatutenentwurf nur infolge des Widerrufs von fünf Bundisten (Mitglieder des Jüdischen Sozialdemokratischen Bundes) und zweier „Ökonomisten"
In einer am 28. Januar 1924, kurz nach dem Tode Lenins gehaltenen Gedenkrede, brachte Stalin die grundsätzlich ablehnende Einstellung der Kommunisten gegenüber dem Mehrheitsprinzip sowohl innerhalb wie außerhalb der Partei zur Sprache, als er ausführte: „Es gab Momente in der Geschichte unserer Partei, da die Meinung der Mehrheit oder die Augenblicksinteressen der Partei mit den Grundinteressen des Proletariats in Konflikt gerieten. In solchen Fällen trat Lenin ohne Bedenken entschlossen für die Prinzipientreue ein und wandte sich gegen die Mehrheit der Partei. Mehr noch, er scheute sich nicht, in solchen Fällen buchstäblich einer gegen alle aufzutreten, wobei er davon ausging — wie er oft sagte —, daß die prinzipien-feste Politik die einzig richtige Politik ist." (Stalin, „über Lenin, WW 6, S. 52.)
d. „Kritik"
Die vielbesprochene „Kritik", ’ welche als ein Merkmal des kommunistischen Parteilebens gelten soll, besagt nicht etwa irgend eine Gesamtkritik an der obersten Führung der Kommunistischen Partei; und wird eines ihrer Mitglieder zur Zielscheibe der Kritik, so geschieht dies auf Anstiften der obersten Parteiführung selber und nicht auf Grund einer Initiative von Seiten der einfachen Mitglieder der Partei.
Die Schwierigkeit, mit der die Förderung der „Kritik" zu kämpfen hat, ergibt sich aus der Beschaffenheit der Beziehungen zwischen der Parteiführerschaft und dem Gros der Partei; sie ist wesentlich eine Beziehung von Vorgesetzten zu ihren Untergebenen, und nichts ist natürlicher, als daß die Untergebenen ihre Führer, die vermutlich „mehr wissen", nicht kritisieren.
„Wir haben von Lenin eine durch und durch bewährte und erprobte Formel, die das Parteimitglied definiert. Gemäß dieser Formel gilt jeder als Parteimitglied, der das Parteiprogramm akzeptiert, die Mitgliedgebühren entrichtet und in einer ihrer Organisationen arbeitet.
Beachte, daß Lenins Formel nicht von einer Bewältigung des Programms spricht, sondern von einer Akzeptierung des Programms. Dies sind zwei ganz verschiedene Dinge ...“ (Stalin, Mastering Bolshevism, New York, 1937, S. 61).
Die Statuten der KPdSU aus dem Jahre 1952 enthielten eine Einzel-bestimmung über die Pflicht der Mitglieder, das Programm und die Verordnungen der Partei zu akzeptieren. Wenn aber vom Untergebenen verlangt wird, auf Treu und Glauben das als das allein Richtige hinzunehmen, was die oberste Führung unternimmt, dann werden Kritik und Verständnis wirklich überflüssig. Die Schroffheit dieser Beziehung zwischen Führerschaft und Mitgliedern steht in Wechselbeziehung mit der beharrlichen Tendenz einer Gleichsetzung von Kritik mit Feind-begünstigung. „Jeder, der Kritik übt, hat außerdem der Form der Kritik nach Rücksicht zu nehmen auf die Lage der Partei, die von Feinden umgeben ist, und muß in bezug auf den Inhalt der Kritik durch seine eigene gierung der Fehler der Partei oder einzelner ihrer Mitglieder in der Praxis erproben" (Lenin, KAW, 2, S. 803).
In der Praxis hat sich die Kritik auf die Vervollkommnung von Methoden und Verfahren zu beschränken und darf unter keinen Umständen die Parteipolitik berühren — wenigstens nicht insofern es sich um ein gewöhnliches Mitglied handelt. Doch selbst diese Art von beschränkter „Kritik" ist nicht sehr verbreitet, und wenn sie einmal vorkommt, so geschieht dies in einer abgekarteten Art und Weise — zumal der „Bürokratismus" die kommunistische Parteiorganisation ständig wie ein Gespenst verfolgt.
„Um jedoch die Selbstkritik entfalten zu können, muß vor allem eine ganze Reihe von Hindernissen, die der Partei im Wege stehen, überwunden werden ... Doch eines der ärgsten Hindernisse,, wenn nicht das ärgste Hindernis überhaupt, ist der Bürokratismus [von Stalin hervorgehoben] unserer Apparate ... Es handelt sich um unseren Schwächen Fehlern die die Elemente, bürokratischen von und leben, die die Kritik der Massen, die Kontrolle der Massen wie Feuer fürchten und die uns hindern, die Selbstkritik zu entfalten, uns hindern, uns von unseren Schwächen, von unseren Fehlern zu befreien“
(Stalin, „Gegen die Vulgarisierung der Losung der Selbstkritik", WW 11, S. 116— 117).
Auf dem XIX. Parteitag der KPdSU im Oktober 1952 rügte Chruev jene „Kommunisten, die zwar in ihrem Treuebekenntnis zur Partei nie erlahmen, jedoch keine Kritik von unten ertragen können und dieselbe unterdrücken" (P r a w d a , 13. X. 1952). Der XIX. Kongreß hieß Parteistatuten gut, welche es den Parteimitgliedern zur Pflicht machten, „die Selbstkritik und die Kritik von unten zu entfalten, die Fehler und Schwächen in der Arbeit ans Tageslicht zu bringen und sich um deren Behebung zu bemühen“; doch dies machte die Bemerkung Chruevs auf dem XX. Kongreß, drei zweidrittel Jahre später, nicht überflüssig:
„Das Zentralkomitee hat die Parteiorganisationen zur breitesten Entfaltung der Kritik und Selbstkritik, zur kritischen Einschätzung der Ergebnisse der geleisteten Arbeit, zum entschlossenen Kampf gegen Schönfärberei, Prahlerei und Überheblichkeit aufgerufen“ (Chruscev, Rechenschaftsbericht ..., XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 100)
Jedoch sind der „Kritik und Selbstkritik" Grenzen gezogen und sie muß ausgerichtet sein auf die Erfüllung der Wünsche der obersten Parteileitung.
Stalin warnte im Juni 1928 vor einer „Art . Selbstkritik', die zur Zerstörung [von Stalin hervorgehoben] des Parteigeistes (p artijnost’), zur Diskreditierung der Sowjetmacht, zur Schwächung unseres Aufbaus, zur Zersetzung der Wirtschaftskader, zur Entwaffnung der Arbeiterklasse ... führt" (Stalin, „Gegen die Vulgarisierung der Losung der Selbstkritik", WW 11, S. 118).
Ein Leitartikel der P r a w d a vom 30. VIII. 1955 definierte „Kritik und Selbstkritik" als „die bewährte Methode zur Ei Ziehung unserer Kader im Geiste einer festen Vertretung der Interessen der Partei und des Staates, im Geiste eines aktiven und unablässigen Kampfes für die Verwirklichung der Partei-und Regierungsbeschlüsse".
e. „Kollektive Führung"
Die Verwendung des Schlagwortes von der „kollektiven Führung"
durch die KPdSU und die Denunzierung des „Personenkultes" im Zusammenhang mit der posthumen Entthronung Stalins haben am Wesen der obersten Parteiführung nichts geändert; gegenüber dem Gros der Parteimitglieder ist ihre Rolle die einer Elite geblieben. An die Stelle des „Personenkultes" trat der Kult des Kollektivs, genauer gesagt, der Kult des Präsidiums. Die Führerschaft der Partei wird weiterhin verherrlicht; die an Anbetung grenzende Verehrung eines Individuums, das sich selber zum Genie proklamiert hatte, wurde abgelöst von der Verehrung einer Gruppe von Oligarchen, die sich selber die Bezeichnung „Leninistisches Zentralkomitee" zugelegt hat.
Die Parteiführerschaft umgibt sich mit dem Nimbus der Unfehlbarkeit und man tritt als rechtmäßiger Erbe Lenins auf. Die Tatsache, daß die Beschaffenheit der Parteiorganisation von selbst zum „Personenkult"
führen mußte, wird geflissentlich übersehen. Der stark zentralistische Aufbau der Partei, der blinde Gehorsam und die „eiserne Disziplin", welche von den einfachen Parteimitgliedern gefordert werden, und das unnachgiebige Bestehen auf einer willkürlich definierten politischen Orthodoxie — all dies förderte die Entwicklung des „Personenkultes". Die mit dem Andenken Lenins betriebene ununterbrochene Lobhudelei und die Verehrung seiner sterblichen Überreste stellen eine sonderbare Anomalie dar in Anbetracht der Verurteilung des „Personenkultes", die innerhalb der KPdSU im Juli 1953 einsetzte und ihren Höhepunkt auf dem XX. Parteikongreß im Februar 1956 erreichte. Die übertriebene Lobpreisung Lenins begann schon im Jahre 1920 anläßlich seines fünfzigsten Geburtstages am 23. April. Kamenev sprach von Lenin als einem „Genie" und „Führer" (v o z d‘ — als einen solchen bezeichnete man später auch Stalin)
„Ehrfürchtiges Staunen befällt einen beim Anblick dieser großen Persönlichkeit, die auf unserem Planeten den Hebel der Weltgeschichte nach seinem Willen dreht . Ich habe große Männer gesehen, ich kannte Tolstoj und gewisse andere, doch diese kolossale Gestalt stellt sie alle in Schatten . . ." (Gorkij 5 0 -1 e t j e V 1a d i m i r a 11 i c a Uljanova-Lenina, 1870 — 23 aprelja — 1920, Moskva, 1920, S. 5— 16).
„Wie jetzt alle sehen, waren die von der Partei ergriffenen Maßnahmen richtig und zeitgemäß . . . Darin spiegeln sich anschaulich die engen, unlösbaren Bande, unserer Partei mit dem Volk, die Weisheit ihrer Leninistischen kollektiven Führung ... All die Jahre hindurch hat die Partei das große Banner des unsterblichen Lenin hochgehalten" (Chruscev, Rechenschaftsbericht XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 1 f ).
§ 18. ORTHODOXIE UND ABWEICHUNG Die Geschichte des Kommunismus ist durchsetzt von sogenannten „Abweichungen", und eines der Risiken, die die Parteimitglieder eingehen müssen, ist das eines Abirrens von der allgemeinen oder besonderen Parteilinie infolge „unrichtigen" Verstehens der Parteilinie oder weil man ihrer Änderung nicht zuvorgekommen ist. Zu den fast alltäglichen Irrtümern sind der „Opportunismus" und der „Reformismus" zu rechnen, welche beide in Gegensatz gebracht werden zu einer „revolutionären" Linie. Nebst der Verirrung des „Personenkultes", die neueren Datums ist, gibt es die Abweichung des „Dogmatismus" und diejenige des . Talmudismus und Exegese" — ungebührendes Vertrauen auf die . geweihten Schriften" des Marxismus-Leninismus oder deren „unrichtige" Auslegung. Die Scheidelinie zwischen Orthodoxie und „Abweichung", zwischen Loyalität und Verrat an der Partei ist in der kommunistischen Welt haarscharf gezogen. Loyalitätserklärungen gegenüber der Partei und die besten Absichten, die ein Mitglied haben kann, nützen ihm zu seiner Rettung meistens nichts, wenn es einmal der „Abweichung" von dem, was die oberste Führung als die allein „richtige" Parteilinie gelten läßt, bezichtigt worden ist. Ein „Abweichler" mag zu seiner Rechtfertigung noch so viele zu seinen Gunsten sprechende Stellen aus kommunistischen „Klassikern" anführen, es wird ihm dies nicht mehr helfen können; vielmehr würde er sich damit nur einer zusätzlichen „Abweichung" schuldig machen — nämlich derjenigen des „Zitatismus"
Man könnte wohl einwenden, daß in dieser Hinsicht Tito einen Ausnahmefall darstelle; dieser wurde als Führer der Kommunistischen Partei Jugoslawiens gerügt und im Jahre 1948 aus der Kominform ausgestoßen, um dann, in den Jahren 1955 und 1956, von den Sowjet-führern Chruscev und Bulganin wieder in die Herde ausgenommen zu werden, nachdem er die Auflösung der Kominform erreicht hatte.
Doch besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen Tito und einem Parteimitglied: hinter Tito stand die Kommunistische Partei Jugoslawiens, er hatte den Staatsapparat und die Armee unter seiner Kontrolle und er war in der Lage, der obersten Führung des internationalen Kommunismus mit Erfolg Trotz zu bieten. Man muß sich aber an zwei Tatsachen erinnern: Als die „Titoistische Abweichung" im Jahre 1948 ihren Anfang nahm, mußte sich Tito von allen anderen kommunistischen Parteien in der Welt alle nur denkbaren Schmähworte gefallen lassen — indessen Chruscev bei seinem Besuch in Belgrad im Mai 1955 die ganze Schuld bequem dem nicht mehr unter den Lebenden weilenden sowjetischen Polizeichef Berija zuschob. Zur gleichen Zeit bestrafte Tito streng die eigenen „Abweichler" innerhalb der Kommunistischen Partei Jugoslawiens, die entweder einer „stalinistischen" Auffassung huldigten oder die, wie Milovan Djilas (vormaliger Vizepräsident von Jugoslawien) oder Vladimir Dedijer (Titos offizieller Biograph), in ihren Forderungen nach Lockerung der Kontrollen und nach größerer politischer Freiheit zu weit gegangen waren
Viele „Abweichungen" sind ziemlich vage umschrieben, was besonders deutlich wird, wenn diese Begriffe konkrete Situationen erfassen sollen. Es gilt dies besonders von Bezeichnungen wie „Opportunismus", „Reformismus", „Nachtrabpolitik", „bourgeoiser Nationalismus", und „Sozialchauvinismus".
Es sollte ins Gedächtnis zurückgerufen werden, daß Lenin alle mit Schmähungen überhäufte, die mit ihm nicht übereinstimmten und daß die überwiegende Mehrzahl seiner Schriften, besonders vor und während des ersten Weltkrieges, polemischer Natur waren. „Seiner ganzen Natur nach geht der Opportunist stets einer klaren und unwiderruflichen Fragestellung aus dem Weg; er sucht eine Resultante, windet sich wie eine Schlange zwischen Standpunkten, die sich gegenseitig ausschließen, und bemüht sich, mit dem einen und mit dem andern . einverstanden zu sein', wobei er seine Meinungsverschiedenheiten aut kleine Verbesserungsanträge, Zweifel, gute und unschuldige Wünsche usw. beschränkt" (Lenin, S W 6, S. 426).
„Die Opportunisten sind bürgerliche Feinde der proletarischen Revovolution, die in Friedenszeiten ihre bürgerliche Arbeit im geheimen verrichten und sich in den Arbeiterparteien einnisten, in Krisen-epochen aber sich sofort [von Lenin hervorgehoben] als offene Verbündete der gesamten vereinigten Bourgeoisie erweisen, — von der konservativen bis zur radikalsten und demokratischesten, von der freigeistigen bis zur religiösen und klerikalen (Lenin, „Wa s weiter?" in S o c i a 1 -D e m o k r a t, 9. I. 1915, SW 18, S. 111.)
Das Parteiprogramm der KPdSU vom Jahre 1919, welches auf dem XVIII., XIX. und XX. Kongreß (in der Zeit von 1939 bis 1956) für veraltet erklärt, jedoch während dieser Zeit durch kein neues Dokument ersetzt wurde, definierte den „Sozialchauvinismus" als „Sozialismus in Worten, Chauvinismus in der Tat, der die Verteidigung der räuberischen Interessen der eigenen nationalen Bourgeoisie mit dem falschen Schlagwort der Verteidigung des Vaterlandes bemäntelt . . ." (V. KP.
(b) v r e z o 1 j u c i j a c h ..., 5. A., 1. Teil, S. 292).
Diese frühen, von Lenin im Verlauf seiner Polemiken entwickelten Definitionen der „Abweichungen" sind sehr bezeichnend und verraten ihren gefühlsbetonten und nicht sehr präzisen Charakter.
Die Beantwortung der Frage, worin das Wesen einer „Abweichung" besteht, wird durch die Tatsache erschwert, daß das, was in einem bestimmten Stadium eine „Abweichung" ist, später, leicht modifiziert, zur Parteipolitik werden kann oder früher einmal als solche gegolten hat.
• In den Jahren 1908 bis 1912 stellte Lenin die „Liquidatoren" an den Pranger, weil diese angeblich eine „offene", legale, nichtkonspirative russische Sozialdemokratische Partei „so wie in Europa" forderten und einer „Liquidierung" der illegalen Parteiorganisation das Wort redeten. Das „Liquidatorentum" wurde von Lenin in der P r a w d a im April 1913 verurteilt als „ein solcher Opportunismus, der bis zur Lossagung von der Partei geht" (Lenin, KAW 1, S. 594). Als Trotzkij zwischen Lenin und den „Liquidatoren" zu vermitteln versuchte, zog er sich den Zorn Lenins zu und wurde einer neuen „Abweichung" bezichtigt — des „Zentrismus“ —, ein Begriff, womit er seine eigene Stellung in seinen Bemühungen um eine Versöhnung der beiden Standpunkte bezeichnete.
Als im Jahre 1908 gewisse alte Parteimitglieder die Abberufung der sozialdemokratischen Deputierten aus der III. Reichs-Duma (oder russisches zaristisches Parlament) und die Einstellung jeder Arbeit in den Gewerkschaften und anderen legalen oder halblegalen Organisationen der Arbeiterklasse forderten, wurden sie von Lenin als „Abberufler"
(Otsowisten) oder als „Ultimatisten" gebrandmarkt. Obwohl es auf den ersten Blick scheinen möchte, daß sie sich im Lager Lenins befanden, zumal sie gegen die „Liquidatoren" und gegen eine Auflösung der illegalen Organisation der Partei eingestellt waren, wurden sie als „Liquidatoren der Linke" und als Vertreter eines „nach außen gekehrten Menschewismus" angeklagt. Obwohl die Position der „Abberufler" und „Ultimatisten" sich merklich von derjenigen der „Liquidatoren" abhob, wurden sie bezichtigt, „in der Tat dieselbe Politik betrieben zu haben wie die liquidatorischen Menschewiki". Man warf ihnen vor, daß sie „die Partei der Möglichkeit, legale Kampf-formen zu verwenden, berauben wollten und daß sie die Partei von den Massen absonderten ..." (BSE, 2. A., S. 360). Oberflächlich betrachtet, scheint es, daß die beiden Abweichungen einander diametral entgegengesetzt waren, indem die eine mit allem Nachdruck die legale Parteitätigkeit hervorhob, die andere die Abberufung der Deputierten aus der Reichsduma verlangte; in Wirklichkeit aber wurden zwischen den beiden Abweichungen nur ein Unterschied dem Grade nach festgestellt. Die beiden gegensätzlichen Richtungen wurden bezichtigt, einen „Block" gebildet zu haben, obwohl sie diametral entgegengesetzte Prinzipien vertraten. Es ist daraus ersichtlich, wie leicht man in der Partei in eine Falle geraten kann, wie es gerade der Fall der „Abberufler" beweist; diese waren „leninistischer" als Lenin selbst und gerieten infolgedessen in eine „Abweichung".
Die eigenen guten Absichten sind in Sachen „Abweichung" belanglos. „Es hat keine Bedeutung, welche Ziele die Liquidatoren in ihrer Predigt der offenen Partei verfolgen, was nun ihre Absichten und Anschauungen auch immer sind. Das ist eine subjektive Frage; es ist bekannt, daß der Weg zur Hölle mit „guten“ Vorsätzen gepflastert ist.
Wichtig ist, welche objektive Bedeutung der Predigt der offenen Arbeiterpartei zukommt . . ." (Lenin, Ob otkryto partii, Soc.
4. A. 18, S. 502).
Die richtige Kombination von theoretischem Wissen und praktischer Verwirklichung, worauf die Partei angeblich ein so großes Gewicht legt, kann den Parteimitgliedern ebenfalls Anlaß zu Schwierigkeiten geben, indem sie bezichtigt werden könnten, jeweils das eine oder das andere mit zu großem Nachdruck hervorgehoben zu haben.
„Hieraus folgt, daß wir im Kampf gegen den Subjektivismus die Entwicklung der Menschen beider erwähnten Kategorien so lenken müssen, daß sie sich das aneignen, was ihnen fehlt, damit die Grenze zwischen den Menschen dieser Kategorien allmählich verschwindet. Menschen, die über Buchwissen verfügen, müssen sich in praktischer Hinsicht entwickeln, und erst dann werden sie imstande sein, in den aus Büchern geschöpften Kenntnissen nicht zu erstarren, und werden Fehler dogmatischer Art vermeiden können. Menschen dagegen, die über Erfahrungen in der praktischen Arbeit verfügen, müssen sich mit theoretischem Studium befassen und gründlich mit Büchern arbeiten und nur dann werden sie ihre Erfahrungen systematisieren, Schlußfolgerungen aus ihnen ziehen und sie theoretisch verallgemeinern können; sie werden ihre beschränkten Erfahrungen nicht fälschlicherweise für allgemeine Wahrheit halten und Fehler empirischer Art vermeiden können. Sowohl der Dogmatismus als auch der Empirismus ist ein Ausdruck des Subjektivismus, obwohl sie ganz entgegengesetzten Quellen entspringen" (Mao Tse-tung, Für einen richtigen Arbeitsstil der Partei, AS, 4 S. 45 f.).
Ebenso kann das Problem der Festsetzung der Geschwindigkeit, mit welcher die Partei vorrückt, des Tempos, welches sie einschlägt, zu „Abweichungen" Anlaß geben.
„Wir sind gegen Nachtrabpolitik, aber auch gegen Abenteurertum und Übereilung" (Mao Tse-tung, Der Kampf für die Einbeziehung der M i 11 i o n e n m a s s e n in die antijapanische nationale Einheitsfront, AS 1, S. 329).
Das Phänomen der „Abweichung" steht in enger Beziehung zum Fraktionswesen („Spalterei"), das von der Partei verurteilt wird; und das Problem des Fraktionswesens seinerseits wirft wiederum die Frage der „freien Diskussion" auf, sowie die Frage nach der Grenze, wo das eine aufhört und das andere beginnt.
Die XIII. Konferenz der KPdSU, welche vom 16. bis 18. Januar 1924, also kurz vor Lenins Tod, tagte, faßte in bezug auf die Trotzkistische und die Radek-„Oppositionen" folgenden Beschluß:
„Die „Opposition" hat den Beschluß des X. Kongresses der KPR [Kommunistische Partei Rußlands], der die Bildung von Fraktionen innerhalb der Partei verbietet, offensichtlich verletzt. Der bolschewistischen Auffassung von der Partei als eines monolithischen Ganzen hält die . Opposition'eine Auffassung von der Partei als einer Summe von verschiedenen Strömungen und Fraktionen entgegen. Diese Strömungen, Fraktionen und Gruppierungen müssen gemäß der . neuen'
Auffassung der . Opposition'gleiche Rechte innerhalb der Partei genießen, und das Zentralkomitee der Partei stellt nicht die eigentliche Parteiführung als vielmehr einen einfachen Registrier-und Vermittlungsapparat zwischen den einzelnen Richtungen und Gruppen dar.
Eine solche Auffassung von der Partei hat nichts mit dem Leninismus gemein" (V K P (b) v r e z o 1 j u c i j a c h i ... 5. A., I. Teil, S. 553).
Die gleiche Konferenz forderte „... die führenden Parteikörperschaften auf, den Stimmen der breiten Parteimasse Gehör zu schenken, nicht jede Kritik als Manifestation einer Spaltungerscheinung zu betrachten und nicht auf diese Weise gewissenhafte und disziplinierte Parteimitglieder in die falsche Bahn der Verschwiegenheit und des Fraktionswesens zu treiben ... Die Partei darf unter keinen Umständen als eine Institution oder Kanzlei betrachtet werden; aber ebensowenig darf man sie als einen Debattierklub für jede Art von Tendenz betrachten“ (e b d., S. 548).
Diese Erklärungen, die den Beginn der großen Streitfrage widerspiegeln, die die kommunistische Welt in den zwanziger Jahren aufwühlte und der Stalin mit seiner Übernahme der Kontrolle über das Parteisekretariat ein Ende machte, weisen ebenfalls auf das Dilemma hin, das zu „Abweichungen" führen kann: einerseits gibt die Partei vor, sie wünsche freie Meinungsäußerung, andererseits aber verhindert sie eine solche durch ihre organisatorischen Ansprüche.
Fraktionen — so erklärte Kaganovic — entstehen nicht plötzlich und treten nicht auf einmal in voller Blüte auf, sondern „bilden sich aus kleinen Gruppen und Gruppierungen“ (Lazar Kaganovic, Kak p o • strojena RKP (b), Moskva 1926, S. 25). Wenn daher ein Parteimitglied die Weisheit oder den Wert auch nur einer in Vorschlag gebrachten Parteipolitik mit einem oder mehreren Parteigenossen außerhalb der Parteitagung erörtert und bespricht, so streut es damit den Samen des „Fraktionswesens" und der „Abweichung"
Dieses grundlegende Prinzip des Parteilebens kam bei der Verurteilung von Gorkis Capri-Partei-Schule in anschaulicher Weise zur Geltung. Diese Schule wurde im Juni 1909 vom erweiterten Redaktionsausschuß der P r o 1 e t a r i j i a verurteilt, der auf dem V. (Londoner)
Kongreß der S. D. A. P. R. gewählt worden war und dem als Mitglieder Lenin, der den Vorsitz führte, Rykov, Zinovjev. Kamenev, A. Bogdanov, Tromskij und Skrynik angehörten (alle diese — mit Ausnahme Lenins — wurden in den nachfolgenden Jahren in „Abweichungen“
verschiedener Art verwickelt). Die Resolution vom Jahre 1909 nahm Stellung zur Capri-Schule als einem „neuen Zentrum, das sich von der bolschewistischen Fraktion absonderte“ und bezichtigte die Begründer der Schule, „mit vielen russischen Komitees in Beziehungen getreten zu sein, ein eigenes, unabhängiges Finanzministerium und Geldsammlungen organisiert zu haben sowie ein eigenes Netz von Agenten ..."
Auch wurden die Initianten der Gorkij-Schule des „Widerrufertums, des Ultimatismus und des Gottschaffens" (V K P (b) v rezoljucij a c h . . . 5. Ausl., I. Teil, S. 152) bezichtigt. Später soll Gorkij „dank V. I. Lenins kameradschaftlicher Kritik" das Gottschaffen aufgegeben haben
J Anklage wegen „Abweichung" kann gegen jedermann — anscheinend mit Ausnahme von Marx, Engels und Lenin — erhoben werden, sei es zu Lebenszeiten des Betreffenden oder in posthumer Verurteilung, ohne Rücksicht auf die Stellung, die dieser bekleidet oder innehatte.
Als Beispiele für diese Eigentümlichkeit der „Abweichung" lassen sich die Fälle Stalins, Molotovs, Andre Martys, Nicolas Zachariades und vieler anderer anführen. Stalin wurde der Verletzung der „leninistischen Prinzipien der kollektiven Führung" und des „Personenkultes", dem er zu seinen Lebzeiten gehuldigt habe, bezichtigt
Molotov wurde als Außenminister der Sowjetunion genötigt, seine verfehlte Formulierung als „theoretisch unrichtig und politisch schädlich" einzugestehen, eine Formulierung, die er im Februar 1955, zur Zeit von Malenkovs „Rücktritt" angeblich geäußert hatte. Sein Geständnis und den Widerruf seiner Behauptung veröffentlichte er im Kommunist, der Zeitschrift des Zentralkomitees der KPdSU (September 1955); sein Irrtum soll darin bestanden haben, daß er in einer am 8. Februar 1955 gehaltenen Rede die Sowjetunion als ein Land bezeichnete, in welchem „die Fundamente der sozialistischen Gesellschaft gelegt worden sind". Dies stand aber in Widerspruch mit den Erklärungen über die „Errungenschaft des Sozialismus" und „Abschaffung der Klassen“ im Zusammenhang mit der Annahme der Verfassung von 1936 („Stalin-Verfassung").
Auf Molotovs angebliche Abweichung spielte Chruev auf dem XX. Kongreß der KPdSU an, wobei er gleichzeitig, aber indirekt auch auf Malenkovs Irrtümer Bezug nahm. Obwohl Malenkov in seinem „Rücktritts" -Brief vom 8. Februar 1955 keine ideologische Verirrungen zugab, nahm er doch die „Schuld und Verantwortung für die unbefriedigende Sachlage, die in der [sowjetischen] Landwirtschaft entstanden war", auf sich und verwies auf die „Erwünschtheit einer Übernahme des Postens eines Präsidenten des Ministerrates der UdSSR durch einen anderen Genossen, der größere Erfahrung in Regierungsangelegenheiten besitze“ (P r a w d a , 9. II. 1955). Chruscev bemerkte auf dem XX. Kongreß:
„Es fanden sich , Weise', die begannen, die Leichtindustrie der Schwerindustrie entgegenzustellen und zu behaupten, daß die vorrangige Entwicklung der Schwerindustrie nur auf den ersten Entwicklungsstufen der sowjetischen Wirtschaft erforderlich sei und daß man jetzt lediglich die Entwicklung der Leichtindustrie voranzutreiben brauche" (Chruscev, Rechenschaftsbericht ..., XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Düsseldorf 1956, S. 115).
In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß Malenkov in seinem Abdankungsbrief die „allein richtige Grundlage" für ein Parteiprogramm zur „Überwindung der Verzögerung in der Landwirtschaft" hervorhob — „eine weiterhin unverminderte Entwicklung der Schwerindustrie" (P r a w d a , 9. 2. 1955). (Vgl. auch Kapitel V.)
Andre Marty, die ehemalige treibende Kraft der Kommunistischen Partei Frankreichs, wurde seiner Parteiposten im Politbüro und im Sekretariat im Dezember 1952 enthoben und auch aus der Partei ausgeschlossen, und dies trotz seiner großen Verdienste um den Kommunismus und um die Sache der Sowjetunion (er war es angeblich gewesen, der die Meuterei der französischen Matrosen auf dem Schwarzen Meer im April 1919 und die Internationale Brigade — das tätsädrlich — während des spanischen Bürgerkrieges von 1936— 1939 organisiert hatte.
Auch müßte er wegen seiner Treue zur Sache der Partei und der Sowjet-union, für die er auch im französischen Parlament einsland, während mehrerer Jahre Gefängnisstrafen in seinem Heimatland abbüßen. Obwohl Marty des Trotzkismus und der Zusammenarbeit mit der französischen Polizei bezichtigt wurde, scheint es doch, daß der tiefere Grund seines Ausschlusses aus der Partei darin zu suchen ist, daß er eine zu wenig passive und zu stark „revolutionäre" Parteipolitik verfochten hatte.
Nicolas Zachariades, der in den Jahren 1946— 1949 den kommunistischen Aufstand in Griechenland organisiert hatte, wurde seines Postens als Generalsekretär der geächteten Kommunistischen Partei Griechenlands im März 1956 enthoben. Seine „unkorrekte Linkspolitik"
zur Zeit der Rebellion und des Bürgerkrieges in Griechenland wurde einer scharfen Kritik unterzogen, obwohl er darin von den Kommunistischen Parteien Jugoslawiens und Bulgariens größtenteils unterstützt worden war.
§ 19. DAS PROBLEM DER KORRUPTION Obwohl die Kommunisten öfters und gerne ihre Partei als makellos und von menschlichen Schwächen unberührt hinstellen, bleibt sie in Wirklichkeit von Korruptionserscheinungen nicht verschont. Die Kommunistische Partei ist nicht eine Zitadelle moralischer Unverderbtheit, wie sie es zu sein vorgibt: zahlreich sind die Beweise, die man den Erklärungen der Parteiführer entnehmen kann, die immer wieder auf die verschiedenen Arten von kleinen und großen Korruptionen in den Reihen der Partei hingewiesen haben.
„Ein weiteres unter gewissen Kommunisten verbreitetes Übel ist die Verhehlung der Wahrheit vor der Partei, die Tendenz, sich ihr gegenüber unehrlich und unaufrichtig zu verhalten. Es muß cften zugegeben werden, daß in vielen Partei-, Sowjet-und Wirtschaftsorganisationen das schlimme Übel verbreitet ist, daß bei der Auslese des Personals in perverser Weise vorgegangen wird, indem die Auslese nicht auf der Grundlage der beruflichen und politischen Befähigung getroffen, sondern von Rücksichten auf Freundschaft, persönliche Ergebenheit, Heimatverbundenheit, Verwandtschaft bestimmt wird ..
„Ein anderes Übel, dem man in unserer Partei begegnet, ist die Tatsache, daß einige Kommunisten die falsche Idee vertreten, es gebe in unserer Partei zwei Arten von Disziplinen — eine für die gewöhnlichen Mitglieder und eine andere für die Führer“ (Chruscevs Bericht an den XIX. Parteikongreß, Prawda, 13. X. 1952, S. 2).
§ 20. VERSCHMELZUNG VON PARTEI UND REGIERUNG Es gehörte schon immer zum Bestand der kommunistischen Propagandaschablonen, von Zeit zu Zeit darauf hinzuweisen, daß zwischen der Partei und einer kommunistischen „Volks" -Regierung ein gewisser Unterschied bestehe. Besonders zu Lenins Zeiten und in den zwanziger Jahren waren die Bemühungen, einen solchen Eindruck zu erwecken, offensichtlich. So erklärte Stalin am 25. Januar 1926, wobei er die Gedanken Lenins weiter ausführte:
„Die Partei verwirklicht die Diktatur des Proletariats. , Die Partei ist die unmittelbar regierende Avantgarde des Proletariats, sie ist der Führer' (Lenin). In diesem Sinne übernimmt die Partei die Macht, regiert die Partei das Land [von Stalin hervorgehoben]. Doch bedeutet das noch nicht, daß die Partei die Diktatur des Proletariats unter Außerachtlassung der Staatsmacht, ohne die Staatsmacht, verwirklicht, daß die Partei das Land unabhängig von den Sowjets, nicht durch die Sowjets, verteidigt. Das bedeutet noch nicht, daß man die Partei den Sowjets, der Staatsmacht, gleichstellen kann.“ (Stalin, FdL, S. 154.)
Anläßlich seines Interviews, das Chruscev, der Erste Sekretär der KPdSU, zusammen mit Bulganin einer Delegation japanischer Parlamentarier am 21. September 1955 in Moskau gewährte, sprach erst» rer mit einer gewissen Offenheit über seine Rolle in der Sowjetregierung, als nämlich ein Japaner erklärte, er selber sei nicht ein Mitglied der japanischen Regierung, obgleich Mitglied des Parlamentes: „Ich bin ebenfalls kein Mitglied der [Sowjet] Regierung, sondern nur ein Abgeordneter des Obersten Sowjets der UdSSR. Der Unterschied besteht darin, daß ich, wenn ich als Abgeordneter des Obersten Sowjets spreche, hoffe [sic]^ den Standpunkt meiner Regierung auszusprechen. Bei Ihnen ist die Lage natürlich anders.“ (P r a w d a , 24. IX.
1955.)
Freilich bestand da ein großer Unterschied, kamen doch in jenem Interview alle Äußerungen russischerseits aus dem Munde des Ersten Sekretärs Chruscev, während das nominelle Haupt der sowjetischen Regierung, Bulganin, größtenteils schwieg.
Partei und Regierung, sowohl in der Sowjetunion wie im kommunistischen China, sind so sehr miteinander verschmolzen, daß sie in praktischen Belangen nicht mehr auseinanderzuhalten sind. Seite 428
Seit dem XX. Kongreß im Februar 1956 bekleidet die überwiegende Mehrzahl der Mitglieder des Präsidiums der KPdSU auch wichtige Regierungsämter. N. A. Bulganin wurde Ministerpräsident. K. Je. Voroilov Vorsitzender des O. S. -Präsidiums; L. N Kaganovic, V. M Molotov, Malenkov, A. 1. Mikojan, M. Z. Saburov und M. G. Pervuchin wurden zu stellvertretenden Ministerpräsidenten; der Erste Sekretär Chruev ist „Mitglied des Präsidiums des Obersten Sowjet"; die Mitglieder-Kandidaten G. K.ukov und D. T. Sepilov zum Verteidigungsminister bzw. für kurze Zeit zum Außenminister. Die Verschmelzung von Partei und Regierung setzte schon zu Lenins Zeiten ein, als dieser die Funktionen eines Regierungschefs und eines Mitglieds des Politbüros ausübte. Stalin, der am 3. April 1922 Erster Sekretär der Partei wurde, erhielt erst am 6. Mai 1941 den Posten eines Ministerpräsidenten, hatte aber beide Stellungen bis zu seinem Tode im März 1953 inne. Schon
D. Richtlinien für interne Parteiangelegenheiten
Die Richtlinien, welche die Aktionen der Kommunistischen Partei bestimmen, lassen sich in zwei Kategorien einteilen: (I) in solche, welche das interne Parteileben betreffen und (II) in solche, nach denen sich die jeweilige allgemeine Partei-Politik und die Tätigkeit nach außen entfalten.
Die hauptsächlichsten Richtlinien der ersten Kategorie sind folgende: (I) Keine Duldung föderalistischer Bestrebungen, (2) Mit Feinden innerhalb der Partei muß man rechnen, (3) Periodische Säuberung unter den Parteimitgliedern, (4) Scharfe Überwachung der Mitglieder und Kontrolle der Mitgliederzahl, (5) Priorität der Partei der Sowjetunion vor allen anderen Kommunistischen Parteien, (6) Ausnützung der einzelnen Mitglieder.
§ 21. keine Duldung föderalistischer Bestrebungen
Die Partei darf keine Form von Föderalismus innerhalb ihrer Organisation dulden. Sie ist kein Bund oder Verband, obwohl sie immer wieder von der „Autonomie" ihrer lokalen Einheiten redet.
„Die Föderation ist schädlich, denn sie legalisiert die Absonderung und Entiremdung, erhebt sie zum Grundsatz, zum Gesetz." (Lenin,
SW 6, S. 18.)
Der VIII. Kongreß der KPR (B) hieß eine Resolution „über die Organisationsfrage" gut, die die folgende Erklärung enthielt:
„Gegenwärtig existieren die Ukraine, Lettland und Weißrußland als separate Sowjetrepubliken. In dieser Weise wurde die Frage nach der Form der [im Original hervorgehoben] Existenz entschieden."
„Doch dies bedeutet nicht im geringsten, daß die KPR [Allrussische Kommunistische Partei] sich nun auch ihrerseits auf der Grundlage einer Föderation von unabhängigen Kommunistischen Parteien organisieren müsse.“
„Der VIII. Kongreß der KPR beschließt somit: es ist unerläßlich, daß nur eine einzige [im Orig, hervorgehoben], zentralistische Kommunistische Partei mit einem einzigen Zentralkomitee, welches die gesamte Arbeit der Partei in allen Teilen der RSFSR lenkt, besteht. Alle Beschlüsse der KPR und ihrer zentralen Körperschaften sind für alle Glieder der Partei, ohne Rücksicht auf deren nationale Zusammensetzung, unbedingt verbindlich. Die Zentralkomitees der ukrainischen, lettischen und litauischen Kommunistischen Partei genießen die Rechte von Provinzkomitees und sind ganz dem Zentralkomitee der KPR
unterstellt.“ (V K P (b) v r e z o 1 j u c i j a c h...... 5. A., I Teil, S. 313.)
„Genosse Lenin kämpfte dafür, daß die Partei keine Föderation fBund) von Fraktionen, Gruppen und Gruppierungen wurde; er machte die größten Anstrengungen, die Schaffung einer einzigen, stählernen, monolithischen, proletarischen Partei zu erreichen — und erreichte es
auch.“ (Kaganovic, ebd., S. 8 f.)
§ 22. das Vorhandensein von Feinden innerhalb der Partei
Die Partei nimmt an, daß sich praktisch jederzeit „Feinde" in ihre Reihen einschleichen. Für einen außenstehenden Beobachter wäre es aber ein fruchtloses Unterfangen, bestimmen zu wollen, ob solche Feinde in Wahrheit wirklich vorhanden sind oder nur in der Einbildung existieren. Diese Mitglieder sollen angeblich das Werk von Parteifeinden verrichten; als solche sind nicht nur die nichtkommunistischen Staaten zu betrachten, sondern auch jene Schichten in den von den Kommunisten beherrschten Ländern, die sich noch nicht mit der kommunistischen Herrschaft abgefunden haben.
B XXVI /57
Lenins Nachfolger als Haupt der Sowjetregierung bis. 1929, Alexei I. Rykov, war gleichzeitig ein Mitglied des Politbüros gewesen. Rykovs Nachfolger auf dem Posten eines Ministerpräsidenten wurde V. M. Molotov, der diese Stellung von 1929 bis 1941 bekleidete und dessen Nachfolger in diesem Amte Stalin wurde; im Jahre 1925 wurde Molotov zum vollberechtigten Mitglied des Politbüros ernannt und hatte später ebenfalls den Posten eines Außenministers (Kommissar, vor 1946), in den Jahren 1939 bis 1949 und von 1953 bis 1956) und nach 1941 die Stellung eines Vizeministerpräsidenten inne 11).
Im kommunistischen China wurde Mao Tse-tung Vorsitzender des Parteisekretariats wie auch der Regierung, während Tschu En-lai zum Ministerpräsidenten und Außenminister ernannt wurde, wobei beide auch während dieser Zeit Mitglieder des Politbüros blieben.
„Die Dialektik der Geschichte ist derart, daß der theoretische Sieg des Marxismus seine Feinde zwingt, sich als Marxisten zu verkleiden. Der innerlich verfaulte Liberalismus versucht sich als sozialistischer Opportunismus neu zu beleben" [von Lenin hervorgehoben].
(Lenin, „Die Historischen Schicksale der Lehre von Karl Marx", KAW 1, S. 70.)
„Es ist notwendig, immer wieder die kapitalistische Umgebung scharf im Auge zu behalten, sich daran zu erinnern, daß die Feinde des sozialistischen Staates schon immer versucht haben und immer wieder versuchen werden, ihr Agentennetz zum Zwecke subversiver Tätigkeit über unser Land auszubreiten. Um ihre ekelhaften Ziele zu erreichen, versuchen feindliche Elemente in verschiedene Parteistellungen einzudringen, sich in staatliche und wirtschaftliche Organisationen einzunisten und Leute auszunützen, welche unvorsichtig, allzu gesprächig sind und Partei-und Staatsgeheimnisse nicht bewahren können."
(Chruscev, auf dem XIX. Parteikongreß, P r a w d a , 13. X. 1952.)
Der zweiundzwanzigste der fünfzig Leitsätze, die man im Juli 1953 anläßlich des sogenannten fünfzigsten Jahrestages der KPdSU zur Erinnerung an den Zweiten Parteikongreß und die bolschewistisch-menschewistische Spaltung erließ, enthielt folgende Warnung:
„Es muß daran erinnert werden, daß die Monopolstellung unserer Partei — besonders unter den obwaltenden Verhältnissen einer kapitalistischen Umgebung — große revolutionäre Wachsamkeit gegen die Intrigen des Klassenfeindes erfordert." (Pat'desjat let kommunisticeskoj
partij sovetskogo sojuza", Kommunist, Juli 1953, 11, S. 25.)
In der Zeit unmittelbar nach der ausdrücklichen posthumen Degradierung Stalins auf dem XX. Kongreß zogen offenbar gewisse Mitglieder die Klugheit dieser Maßnahme in Zweifel, wurden aber mit folgenden, nicht undeutlichen Worten zurechtgewiesen:
„Die Parteipresse hat die morsche Haltung jener Parteikomiteevertreter strengstens verurteilt, die während der Parteitreffen, auf welchen es zu parteifeindlichen demagogischen Ausbrüchen unreifer Leute oder solcher, die ganz zufällig in die Partei eintraten, kam, diese nicht
11) Im folgenden führen wir eine Zusammenstellung der wichtigsten Mitglieder sowohl der Regierung wie auch der regierenden Körperschaft der Sowjetischen Kommunistischen Partei für die Jahre 1952, 1954 und 1956 an (offizeile Rangordnung):
Regierung; 1. Stalin (Vorsitzender) 2. Molotow 3 Malenkow 4. Berja 5 Kaganovic 6. Bulganin 7. Mikojan Sommer 1952
Politbüro 1. Stalin (Vorsitzender) 2. Molotow 3. Malenkov 4. Berja 5. Chruscev 6. Kaganovic 7 Bulqanin 8 Mikojan Regierung; 1 Bulganin (Vorsitzender) 2. Kaganovic 3 Mikojan 4. Molotow 5. Pervuchin 6. Saburov 7 Malenkov Regierung; 1. Malenkov . (Vorsitzender) 2. Molotov 3-Bulganin 4. Kaganovic 5. Mikojan 6. Saburov 7. Pervuchin Frühjahr 1956
Sommer 1954
Präsidium des Zentral-Komitees 1. Bulqanin 2. Chruscev 3. Kaganovic 4. Mikojan 5. Molotov 5 Pervuchin 7. Saburov 8. Malenkov Präsidium des Zentral-Komitees 1, Malenkov (Vorsitzender) 2. Chruscev 3. Molotov 4. Bulganin 5. Kaganovic 6. Vorosilov 7. Mikojan 8 Saburov (nach B Meissner. Die Kommunistische Partei der Sowjetunion vor und nach dem Tode Stalins, Frankfurt M 1954, S 23 und: Das Ende des Stalin-Mythos. Ffm. 1956 S. 27 von den Herausgebern zugefügt). zurückwiesen, sondern feige stillschweigend verharrten, wie um die Kundgebungen der kleinbürgerlichen Zerrüttung zu unterstützen.
Unsere Partei ist eine kämpferische Vereinigung gleichgesinnter Kommunisten. Wie kann man nur dulden, daß solche, die nicht gleichgesinnt (wie wir), sind in unsere Vereinigung eindringen?" („Neuklonno sobljudat’ leninskie normy partijnoj zizni", Partijnaja zizn, IV; 1956, 7, S 8.)
§ 23. DAS PRINZIP DER SÄUBERUNGEN Da sich in den Reihen der Kommunistischen Partei unbedingt „Feinde" befinden, ist es notwendig, daß an den Parteimitgliedern periodisch eine Säuberung oder Reinigung vorgenommen wird Diese wird zwangsweise vollzogen. Man ist der Auffassung, daß die Partei Mitglieder abstoßen müsse wie eine Schlange, die sich häutet Der Säuberungsprozeß nimmt daher nie ein Ende; er mag zwar verschiedene Formen annehmen und jeweils verschiedenen Zwecken dienen, so stellt er doch einen bleibenden charakteristischen Zug im kommunistischen Parteileben und einen Teil von Lenins Erbe dar.
„In der Epoche der Herrschaft der Bourgeoisie kann die proletarische Partei nur in dem Maße wachsen und erstarken, in dem sie den Kampf gegen die opportunistischen, antirevolutionären und partei-feindlichen Elemente in ihrer Mitte und in der Arbeiterklasse führt.
Lasalle hatte recht, als er sagte, , daß sich eine Partei stärkt, indem sie sich purifiziert'.“ (Stalin, „Lenin als Organisator und Führer der KPR“, WW 4, S. 275.)
Die vierzehnte der einundzwanzig Aufnahmebedingungen der kommunistischen Internationale, die Lenin im Juli 1920 veröffentlichte, enthält folgende Verordnung:
„Die Kommunistischen Parteien derjenigen Länder, in denen die Kommunisten legal arbeiten, müssen periodisch Reinigungen (Umregistrierungen) des Mitgliederbestandes der Parteiorganisationen vornehmen, um die Partei planmäßig von den kleinbürgerlichen Elementen zu säubern, die sich unvermeidlich an sie anschmieren." (Lenin, „Aufnahmebedingungen der kommunistischen International e", SW 25, S. 347.)
Die erste in großem Ausmaß vorgenommene Säuberung der KPdSU — jene vom Jahre 1921 — war vom X. Kongreß unter Führung Lenins angeordnet worden und führte zur Entfernung von ungefähr einem Drittel des Mitgliederbestandes
„Durch alle diese Maßnahmen [während der Jagoda-Periode] erreichte es die Partei, daß sie ihre. Reihen von zufälligen, passiven, karrieristischen und direkt feindlichen Elementen säuberte und gleichzeitig eine Auslese der standhaftesten und ergebensten Menschen vollzog. Es läßt sich nicht behaupten, daß die Reinigung ohne ernstliche Fehler durchgeführt wurde. Leider wurden mehr Fehler begangen, als anzunehmen war. Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir die Methoden der Reinigung im M a s s e n maßstab nicht mehr anzuwenden brauchen. Doch war die Reinigung in den Jahren 1933— 1936 unerläßlich und zeitigte im wesentlichen positive Ergebnisse. Auf dem gegenwärtigen, dem XV 1I 1. Parteitag, sind ungefähr 1 600 000 Parteimitglieder vertreten, d. h. um 270 000 Parteimitglieder weniger als auf dem XVII. Parteitag. Daran ist jedoch nichts Schlimmes. Das ist im Gegenteil gut, denn die Partei festigt sich dadurch, daß sie sich vom Unratsäubert. Gegenwärtig ist unsere Partei etwas kleiner ihrer Mitgliederzahl, dafür aber besser ihrer Qualität nach." (Stalin, FdL, S. 713 f.)
„. . . Die Methode der Massensäuberungen unter den besonderen Umständen, als die kapitalistischen Elemente liquidiert wurden . . .
ist natürlich den veränderten Verhältnissen — nachdem sich die Partei bereits von den unzuverlässigen und zweifelhaften Elementen befreit hat — nicht gemäß und würde ihren Zweck verfehlen." (Zdanov, Izmenenija v u stave VKP (b), S. 17.)
„Die eigentlich wichtige Arbeit in der Säuberung der Partei von den Volksfeinden, Treulosen, Verrätern und Agenten des Faschismus setzte erst nach den Massensäuberungen ein . . . [und zwar infolge] der von den feindlichen Elementen angewandten neuen Methoden subversiver Tätigkeit . . ., [die] aus Falschheit, Vertuschung subversiver Tätigkeit mittels äußerer Zustimmung zur Parteilinie bestanden." (a. a. O.)
Das Säuberungsverfahren kann je nachdem verschiedene Formen annehmen: angefangen vom bloßen Ausschluß aus der Partei bis zu Gefängnishaft und Hinrichtung. Die Tatbestände, auf Grund derer Parteimitglieder Opfer einer Säuberungsaktion wurden, werden meistens mit ideologischen Ausdrücken verschleiert und als Meinungsverschiedenheiten in bezug auf parteipolitische Fragen dargestellt.
Diejenigen, die in diesen seltenen „Debatten" den kürzeren zogen, stellt man gleich als „Spione", „Volksfeinde"" und „Abweichler" hin (vgl. oben § 18 über „Abweichung" in der Partei). In Wirklichkeit der Motive und ist die Skala Ursachen, die Säuberungsaktion einer als Faktoren zugrundeliegen, sehr stufenreich. Zum Beispiel:
a) Offenes und ziemlich hartnäckiges Infragestellen der „Richtigkeit"
der Parteilinie in wesentlichen Belangen und Mißbilligung der jeweiligen Auslegung des ideologischen Erbgutes durch das maßgebende höchste Parteigremium.
b) Der Umstand, daß man sich enge Beziehungen und Verbindungen mit gewissen „Verrätern" zuschulden kommen ließ. So ereilte alle jene, die mit Trotzkij, Bucharin und Berija in naher Verbindung standen, dasselbe unerbittliche Schicksal. Der tiefere Grund hierfür ist in der kommunistischen Befürchtung einer „Ansteckung“ zu suchen. Das geräuschlose und vollständige Verschwinden des sowjetischen Politbüromitgliedes Nikolai Voznesensky im Jahre 1949 erfolgte wohl nicht so sehr auf Grund seiner wirtschaftspolitischen Anschauungen als vielmehr wegen seinen früheren, in der Mitte der dreißiger Jahre unterhaltenen Verbindungen zur Leningrader Parteiorganisation und ihrem Führer Andrei Zadanov. In ähnlicher Weise verschwand im Jahre 1953 der Sekretär der Leningrader Partei V. M. Andrianov.
c) Ein Fehler im richtigen Einschätzen des Tempos, das die Parteipolitik jeweils einschlägt oder einschlagen wird, indem man entweder zu sehr nach „links" hält und zu „hastig" vorgeht und somit der Abweichung der „Abenteurerei" verfällt, oder indem man zu „langsam" ist und sich der „Nachtrabpolitik" schuldig macht. Die Parteimitgliedschaft setzt gleichsam voraus, daß sich das einzelne Mitglied ein gewisses Maß an Vorausahnung und Vorherwissen aneignet, um jeweils dem Tempo, das der Hervorhebung eines bestimmten Aspektes der kommunistischen Doktrin zugemessen wird, zuvorzukommen, — sofern es der Säuberung entgehen will.
d) Jede ziemlich drastische Richtungsänderung in der Parteilinie, auch schon zeitweilige, von der Partei gemachte Zugeständnisse, jeder Parteimißerfolg erfordert eine Säuberung eines Teiles der Mitglieder, und dies nicht nur deshalb, damit sich die Partei ihrer unfähigen Mitglieder entledigen kann, sondern auch, damit sie Sündenböcke zur Hand hat, denen man alle Schuld und Verantwortung für die „falsche"
Einhaltung der „richtigen" Parteilinie aufbürden kann. Wird an der Generallinie eine Weiche umgestellt, so muß jemand dafür herhalten.
So wurde Earl Browder während des zweiten Weltkrieges des „Browderismus" bezichtigt — einer von der Kommunistischen Partei in den Vereinigten Staaten betriebenen Politik übermäßiger Zugeständnisse an den „kapitalistischen" Feind.
e) Periodische Säuberungsaktionen in den Reihen der Partei werden auch schon deshalb durchgeführt, weil man sonst befürchten müßte, die Partei könnte zu groß werden. Die Führerschaft ist ständig besorgt und beunruhigt wegen des Vorhandenseins unerprobter, unwürdiger und unzuverlässiger Kader in der Partei.
f) Auch zweitrangige Führer und selbst Angehörige der obersten Parteiführung — wie im Falle Berijas in der Sowjetunion und in demjenigen Kao-Kangs im Kommunistischen China — schafft sich die Partei zuweilen vom Halse, wenn solche im Verdacht stehen, für sich eine eigene Gefolgschaft (sei es von einzelnen Leuten oder ganzer Gegenden) organisiert zu haben, die auch nur im entferntesten den Primat und die absolute Autorität des maßgebenden obersten Parteigremiums herausfordern könnte.
g) Es ist auch möglich, daß persönlicher Antagonismus und Rachsucht bei der Säuberung einzelner Individuen eine Rolle spielen, wobei dann selbstverständlich die wahren Motive und Hintergründe mit Hilfe ideologischer Argumente oder falscher Bezichtigungen (der Häresie und des Hochverrates) vertuscht werden.
§ 24. DIE KONTROLLE UBER DEN MITGLIEDERBESTAND DER PARTEI Da die Partei mit Feinden rechnen muß, die sich immer wieder in die Reihen der Parteimitglieder einschleichen werden, erweist es sich als notwendig, daß sie nicht nur das Verhalten und die Gedanken ihrer Mitglieder streng überwacht, sondern auch eine scharfe Kontrolle über die numerische Größe der Partei ausübt, trotz der Behauptung, die Partei gehe „aus den Massen" hervor.
„Wir fürchten ein übermäßiges Anwachsen der Partei, denn an die Regierungspartei versuchen sich unvermeidlich Streber und Betrüger anzuschmieren, die nur erschossen zu werden verdienen." (Lenin, „D e r . linke Radikalismus'. . .", SW 25, S. 231.)
„Es gilt, sich ein für allemal einzuprägen, daß die Kraft und das Gewicht einer Partei, besonders der kommunistischen Partei, nicht so sehr von der Menge der Mitglieder als vielmehr von ihrer Qualität, von ihrer Standhaftigkeit und Treue für die Sache des Proletariats abhängen." (Stalin, „Uber die nächsten Aufgaben des Kom-munismus in Georgien und Transkaukasien", WW 5, S. 85.)
„Nach dem Ende des Krieges beschloß das Zentralkomitee der Partei, mit den Aufnahmen in die Partei etwgs zurückzuhalten; dessen ungeachtet erhöhte sich die Zahl der Neueingetretenen rapide. Die Partei mußte feststellen, daß das schnelle Anwachsen des Niitgliederbestandes auch seine schwachen Seiten hat, daß es zu einer Nivellierung des politischen Bewußtseins der Parteimitglieder und zu einer gewissen Verschlechterung der qualitativen Zusammensetzung der Partei führt. Es entstand ein Mißverhältnis zwischen dem quantitativen Anwachsen der Partei und dem Niveau politischer Aufklärung ihrer Mitglieder und Mitgliederkandidaten.“ (Malenkov, in seiner Berichterstattung auf dem XIX. Kongreß im Oktober 1952, Prawda, 6. X. 1952, S. 7.)
Diese das interne Parteileben betreffende Richtlinie spiegelt ebenfalls die Beschaffenheit der Kommunistischen Partei wider, die ganz auf dem Prinzip der Auslese aüfgebaut ist: obwohl sie immer wieder vorgibt, sie vertrete „getreulich" die Massen, so wird sie doch selber nie zu einer Massenpartei.
Zur Zeit ihres XX. Kongresses im Februar 1956 zählte die KPdSU 7 215 505 Mitglieder oder ungefähr drei Prozent der gesamten Bevölkerung der Nation (210 000 000). Die Kommunistische Partei Chinas weist noch ein größeres Mißverhältnis zwischen der Partei und den breiten Massen auf; nach Liu Schao-chi, dem führenden Parteitheoretiker, umfaßte die Kommunistische Partei Chinas im Februar 1954 nur 6 500 000 Mitglieder, wobei sie über eine Nation regiert, deren Bevölkerung auf 400 bis 600 Millionen geschätzt wird.
§ 25. DER VORRANG DER PARTEI DER SOWJETUNION KPdSU Die hat vor allen anderen Kommunistischen Parteien eine Vorrangstellung inne; ihr als der tonangebenden Partei haben alle anderen Parteien zu folgen und sie bei allen Gelegenheiten in Schutz zu nehmen.
„Das neue Jahrhundert nimmt seinen Anfang mit Ereignissen, die in uns den Gedanken aufkommen lassen, daß wir uns einem Vorrücken des revolutionären Zentrums nähern, nämlich dessen Verschiebung nach Rußland. . . . Rußland, das so viel revolutionäre Initiative vom Westen erhielt, ist nun — so hoffen wir — selber bereit, ihm als Quelle revolutionärer Energie behilflich zu sein." (Gorkij, 501 et ja Vladimira Ilica Ul j ano va-Lenina , S. 29.)
„Ist etwa der Leninismus nicht die Zusammenfassung der Erfahrungen der revolutionären Bewegung aller Länder? Sind etwa die Grundlagen der Theorie und Taktik des Leninismus nicht für die proletarischen Parteien aller Länder geeignet und obligatorisch? Hatte Lenin etwa nicht recht, als er sagte, , daß sich der Bolschewismus als Vorbild der Taktik für alle eignet? " (Stalin, FdL, S. 155.)
„Ein Revolutionär ist, wer ohne Vorbehalte, bedingungslos, offen und ehrlich, ohne militärische Geheimberatungen bereit ist. die UdSSR zu schützen und zu verteidigen, denn die UdSSR ist der erste revolutionäre proletarische Staat in der Welt, der den Sozialismus aufbaut." (Stalin, Vereinigtes Plenum des ZK und der ZKK d e r K P d S U (B), WW 10, S. 45.)
„Die Kommunistische Partei der UdSSR ist unsere beste Lehrmeisterin, und wir müssen von ihr lernen." (Mao Tse-tung, On P e o p 1 e ’ s Democratic Dictatorship, S. 25.)
Boleslaw Bierut, der die polnischen Kommunisten auf dem XX. Kongreß der KPdSU vertrat, sprach von der KPdSU als dem „. . . Leitstern der Werktätigen aller Länder (I z v e s t i j a , 17. II. 1956, S. 5). § 26. AUSNUTZUNG DES EINZELNEN MITGLIEDES Während sich die Partei als einen lebenswichtigen Organismus betrachtet, dessen Existenz der Menschheit unentbehrlich ist, wird dem einzelnen Mitglied kein Eigenwert zuerkannt und es ist in seiner Würde nicht unantastbar, im Gegenteil, wird als bloses Mittel zum Zweck gebraucht und kann in jeder Weise ausgenützt werden. Die Partei verwirft das Prinzip der Heiligkeit der Person. Die posthume Enthronung Stalins zwischen den Jahren 1953 und 1956 zeigte, wie weit ein solches prinzipielles Verfahren im Parteileben sich auswirken kann.
Die unermeßliche Zahl von Parteisäuberungen, die während der ersten Jahre der kommunistischen Herrschaft in der Sowjetunion einsetzten und sich bis in die nachstalinische Zeit erstreckten, legen Zeugnis davon ab, wie sehr in der Praxis nach dieser Richtlinie vorgegangen wird.
Die Partei ist mit allen Mitteln bestrebt, die Kontrolle über ihre Mitglieder nie aus den Händen zu verlieren. Die Aussprachen, die ab und zu in der Partei erfolgen, wickeln sich in einer steifen und gezwungenen Atmosphäre ab, wobei der Spontaneität niemals freies Spiel gelassen wird.
So traf man denn auch vorsorgliche Maßnahmen, um zu verhindern, daß die vermeintliche Verabschiedung des „Stalinismus" und die angebliche Wiedereinführung des „Leninismus" bedrohliche Folgen für die Parteiführung, die diese in der Sowjetunion lanciert hatte, nach sich zogen. Hingegen bediente man sich dieser neuen Aushängeschilder, um am 16. April 1956 Vulko Cervenko und am 18. Juli 1956 Matyas Rakosi von ihren Posten als Ministerpräsident von Bulgarien bzw.
Erster Sekretär der Ungarischen (Kommunistischen) Arbeiterpartei zu verjagen.
Quellen:
Die Hauptquellen für die Kenntnis der Kommunistischen Partei sind außer den Schriften Lenins sekundär jene von Stalin und die Sammlung VKP (b) v rezolucijach i resenijach s'ezdov, konferencji i plenumov CK (Die All-Russische Kommunistische Partei der Bolschewiki in den Beschlüssen und Entscheidungen der Kongresse, Konferenzen und der Plenarversammlungen des Zentral-Komitees) 5. A. Moskva Partizdat 1936; 6. A. Gosizdat Politizdat 1940. Die Beschlüsse der neueren Parteitagungen müssen in der Zeitschrift Bolsevik (jetzt: Kommunist) nachgeschlagen werden.
Literatur:
Zu den besten nichtkommunistischen Schriften über die Partei gehören jene von B. Meissner (im Europa-Archiv). Eine Zusammenfassung dieser Schriften in Englisch wurde von J. S. Reshetar Jr. herausgegeben: TheCommunistParty ofthe So vietUnion, New York 1956. — Andere wichtige Schriften: Fainsod, M. How Russia is Ruled, Harvard Univ. Press 1953. — W. W. Kulski, TheSovietRegime, CommunisminPractice, Syracuse Univ. Press 1954. — J. Towster, PoliticalPowerintheUSSR, 1 9 1 7 — 1 9 4 7. — B. D. Wolfe, Three Who Made a Revolution, New York 1956.
(Von den Herausgebern hinzugefügt.)