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Die formale Struktur des Kommunismus | APuZ 25/1957 | bpb.de

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APuZ 25/1957 Handbuch des Weltkommunismus Die formale Struktur des Kommunismus Philosophische, soziologische und wirtschaftstheoretische Grundlehren

Die formale Struktur des Kommunismus

JOSEPH M. BOCHENSKI

/ 19 Minuten zu lesen

Das Wort „Kommunismus" hat wenigstens vier verschiedene Bedeutungen Man bezeichnet damit nämlich entweder (1) den sozialen Zustand, der nach Plato in der Klasse der „Wächter des Staates" herrschen sollte oder (2) jede sozial-ökonomische Verfassung in welcher gemeinschaftliches Eigentum und Kontrolle der Gemeinschaft über das Individuum grundlegend ist, oder (3) den Zustand, den Karl Marx in seiner Eschatologie beschrieben hat (manchmal mit anderen Lehren von Marx), oder endlich (4) die umfassende Bewegung, deren Träger die von Lenin gegründete Partei ist.

Abbildung 1

Mögen diese vier Bedeutungen voneinander abhängen, so ist doch von größter Wichtigkeit, sie klar auseinanderzuhalten. Viele Mißverständnisse über den Kommunismus sind dadurch entstanden, daß man diese Unterscheidungen nicht gemacht hat.

Das vorliegende Werk handelt vom Kommunismus in der vierten Bedeutung des Wortes, beschreibt also das, was sich aus der Lehre und der organisatorischen Tätigkeit Lenins ergeben hat. Man könnte also auch sagen, es beschreibt den Leninismus, falls man dadurch nicht nur Lenins Lehre, sondern alle Aspekte der leninistischen Bewegung, und zwar in ihrer historischen Entfaltung, versteht.

§ 1. DIE VIELSCHICHTIGKEIT DES KOMMUNISMUS Der Kommunismus ist ein außerordentlich vielschichtiges Phänomen. Seine sachlichen Grundelemente sind eine Lehre, eine Organisation und eine Verhaltensweise. Jedes wiederum ist in sich selbst vielschichtig.

(1) Die Lehre enthält wenigstens drei verschiedene Teile: erstens eine Eschatologie, eine Beschreibung des mythischen Zukunftsstaates, auf den sich die Menschen nach Ansicht des Kommunismus hinbewegen sollen; zweitens eine allgemeine Philosophie, welche die Gesetze beschreibt, die die Entwicklung der Welt und der menschlichen Gesellschaft regieren; drittens eine Methodologie des Wirkens, die lehrt, wie die Macht zu ergreifen und zu dem Zweck zu gebrauchen ist.

(2) Auch die Organisation ist vielschichtig. Sie enthält zuerst die eigentliche Partei, die wieder gegliedert ist; zweitens den Herrschaftsbereich, der gegenwärtig aus der Sowjetunion, China und verschiedenen anderen kommunistischen Staaten besteht;

drittens eine Anzahl verschiedener Parteiorganisationen. (3) Das Handeln der Kommunisten stellt eine wahrhaft verblüffende Vielfalt der Methoden und Verfahren zur Schau. Ohne Übertreibung kann gesagt werden, daß die Kommunisten in einem Land zu einer bestimmten Zeit oft genau das Gegenteil von dem sagen und tun, was sie in einem anderen Land zu einem anderen Zeitpunkt sagen und tun.

Die wohlbekannten Beispiele sind: die den Buddhisten und Christen dargebotene „ausgestreckte Hand“, das Bündnis mit Hitler im Jahre 1939 und die Förderung des Nationalismus in verschiedenen Ländern.

Dabei unterliegt es keinem Zweifel, daß die Kommunisten nicht zugeben dürfen, irgendeine Religion, Nationalsozialismus oder Nationalismus sei an sich gut und wertvoll; in den meisten Fällen stehen sie allen dreien außerordentlich feindlich gegenüber. Und doch tuen sie zu gewissen Zeiten und in gewissen Ländern alles, was in ihrer Macht steht, um jenen Bewegungen oder Bekenntnissen zu helfen.

Die gleiche Verschiedenartigkeit der Taktiken zeigt sich in der wechselnden Haltung gegenüber Menschen und Dingen, die das eine Mal als außerordentlich gut bezeichnet, und das andere Mal mit äußerster Härte verdammt werden. Die Kapitel V, VII und XI des vorliegenden Werkes liefern zahlreiche Beispiele solcher Meinungsumschwünge. Diese Vielschichtigkeit ist dazu angetan, bei jemanden, der den Kommunismus studiert, Verwirrung zu stiften, um so mehr als zwischen seinen vielen verschiedenen Erscheinungsformen ein scharfer Widerspruch zu bestehen scheint.

Einige dieser Widersprüche sind sehr real, nämlich jene, welche an den Grundlagen der kommunistischen Philosophie selbst haften.

Die kommunistische Philosophie, eine künstliche Verbindung zweier philosophischer Anschauungen (Hegelianismus und Materialismus), ist offensichtlich widerspruchsvoll. Am auffälligsten ist'der Widerspruch zwischen der Behauptung, daß alles sich notwendig so ereignen werde, wie es die kommunistische Philosophie darstellt, und der Forderung, daß der Mensch heldenhaft für die Erreichung derselben Ziele kämpfen solle (s. II. § 22).

Aber die meisten Menschen sind von anderen Widersprüchen tiefer beeindruckt: so davon, wie schon gesagt, daß die Praxis des Kommunismus öfters offenbar seinen Grundlehren zuwiderläuft. Darüber hinaus pflegen die Kommunisten, während sie eine solche Praxis ausüben, mit dem größten Nachdruck Lehren und Schlagworte aufzustellen, die mit ihren wahren Überzeugungen nicht nur nichts zu tun haben, sondern sogar in Gegensatz zu ihnen stehen.

Zu jener sozusagen systematischen Vielschichtigkeit muß noch eine andere hinzugefügt werden, die wir die „historische" nennen. Der Kommunismus ist als Tatsache eine menschliche Erscheinung und dementsprechend eine historische Erscheinung, die von den Umständen beeinflußt ist und sich mit der Zeit entwickelt. Es kann z. B. kein Zweifel darüber herrschen, daß die besondere nationale Herkunft der Menschen, die der kommunistischen Partei angehören, in gewissem Ausmaß die Aktivität des Kommunismus beeinflussen. Ebenso klar ist, daß der Kommunismus im Laufe der Zeit nicht unverändert geblieben ist.

§ 2. DIE OBJEKTIVE EINHEIT DES KOMMUNISMUS Und doch besitzt der Kommunismus trotz alledem eine weitgehende Einheit. Erstens gibt es eine durchgehende Einheit der Lehre, Organisation und Praxis, gegründet auf den zentralen kommunistischen Grundsatz von der „dialektischen" Einheit von Theorie und Praxis. Zweitens gibt es eine logische Einheit der Lehre. Drittens besteht eine Einheit der Organisation, entsprechend der zentralistischen Befehlsgewalt. Und schließlich besitzt sogar die scheinbar so widerspruchsvolle Praxis eine tiefgehende Einheit, der gleichen zentralisierten Befehlsgewalt und der allgemeinen operativen Grund-lehre entsprechend.

(1) Der marxistische Grundsatz von der dialektischen Einheit zwischen Theorie und Praxis wird unten erläutert (II § 13). Demnach ist die Theorie für die Praxis da und erwächst aus der Praxis. Die Praxis dient den Zielen, die von der Theorie aufgerichtet sind, und wird dabei von ihr geleitet. Da die kommunistische Organisation aufgebaut ist, um zu handeln, stellt sie eine Seite der Praxis dar und als solche steht sie in ähnlich „dialektischer" Beziehung zur Lehre. Unter anderem betrachtet sie die Lehre als ihr kostbarstes Gut und tut alles, um sie zu verbreiten. Auf der anderen Seite bezieht sie die Grundsätze ihrer eigenen inneren Ordnung und ihrer Taktik aus der Lehre.

(2) Die kommunistische Lehre gibt vor, eine geschlossene logische Einheit zu sein. So wird von der Philosophie als Ganzem gesagt sie erweise, daß der eschatologische Zustand mit Notwendigkeit erreicht werden wird; daß er nicht ohne die Zwischenstufen erlangt werden kann; daß die richtigen Methoden, beides zu erlangen, jene sind, die sich aus den Grundprinzipien der Philosophie ergeben. Auf der anderen Seite liefert die Eschatologie der Philosophie eine treibende moralische Kraft: sie zeige angeblich, daß der eschatologische Zustand von den Menschen erlangt werden soll.

(3) Die kommunistische Organisation besitzt eine durchgehende Einheit, entsprechend der Gemeinsamkeit fundamentaler Ziele, der Lehre und der Gemeinsamkeit der alleinigen zentralen Befehlsgewalt.

(4) Die kommunistische Aktivität besitzt ebenfalls, trotz ihrer ungeheuren Vielschichtigkeit und offensichtlichen inneren Widersprüchen, eine durchgehende Einheit. Diese wird durch die schon erwähnte Einheit der Befehlsgewalt hergestellt, durch die Einheit der operativen Lehre und insbesondere durch das höchste moralische Prinzip kommunistischen Handelns, nach dem alles was den Zielen der kommunistischen Partei dient, gut und moralisch ist (Lenin).

• Trotz des klaren Charakters all dieser Glieder mag daran gezweifelt werden, ob die Einheit des Kommunismus nicht (i) durch den Zeitfaktor, (ii) durch den geographischen Faktor illusorisch gemacht wird.

(i) Es wird mitunter eingewandt, daß ebenso, wie keine menschliche Schöpfung während einer langen Zeitspanne unverändert bleibt, auch der Kommunismus, der Menschenwerk ist, sich ändern muß und sich geändert hat. Das jedoch ist kein ernsthafter Einwand gegen die fundamentale Einheit. Es besteht kein Zweifel daran, daß viele Einzelheiten der Lehre, der Organisation und der Praxis des Kommunismus sich geändert haben und sich mit der Zeit ändern.

Aber die Frage ist, ob sich auch etwas Wesentliches geändert hat. Es ist kein Grund dafür vorhanden, a priori an so etwas zu glauben: viele große ideologische Bewegungen (unter anderem Religionen) sind dafür bekannt, daß sie ihr Wesen durch viele Jahrhunderte hindurch bewahrt haben und das trotz der Tatsache, daß ihre Geschlossenheit geringer als die des Kommunismus war. Und letzterer existiert erst kaum ein halbes Jahrhundert als reale Macht.

Wir müssen unbeirrt die Tatsachen betrachten. Und in diesen Tatsachen liegt nichts, was irgendeine wesentliche Veränderung des Kommunismus seit den Tagen seines Schöpfers, Lenin, andeuten würde.

(ii) Ein scheinbar besserer Einwand geht von der Annahme aus, daß der Kommunismus, soweit bis heute bekannt, eine nahezu ausschließlich russische Erscheinung gewesen ist. Auf andere Völker übertragen, würde er sich notwendig dem verschiedenen Charakter jener Völker entsprechend verändern. Auch hier kann es keinen Zweifel daran geben, daß z. B.der chinesische Charakter die Praxis und möglicherweise sogar die Lehre des Kommunismus in vielen Fällen beeinflußt hat. Wieder ist jedoch die Frage zu stellen, ob nationale Unterschiede den Kommunismus wesentlich beeinflußten. Das allerdings muß nachdrücklich unter Berücksichtigung all dessen verneint werden, was über die nicht-russischen Kommunisten bekannt ist. Die wichtigsten Tatsachen sind hier die folgenden:

a) Alle Kommunisten der Welt erkennen ohne jede Ausnahme Lenin als höchste Autorität an und betrachten seine Lehre als unbestrittenes Dogma. Wo auch immer diese Lehre ihren Ursprung haben mag — und viel davon ist russischen Ursprungs — sie alle betrachten ihre Prinzipien als Axiome.

b) In allen Ländern, die direkt von Rußland kontrolliert werden (z. B. alle Sowjetrepubliken und Satellitenstaaten), ist es die russische kommunistische Partei, die de facto herrscht. Dieselbe russische kommunistische Partei kontrolliert ebenfalls offensichtlich alle kommunistischen Parteien in den nicht-kommunistischen Staaten. So sind wir überall einem wesentlich russischen Kommunismus gegenübergestellt.

c) Nicht nur in jenen Ländern, sondern sogar in solchen, die nicht direkt von Rußland abhängen, wird die russische kommunistische Partei von den Kommunisten als bestes Beispiel betrachtet, das in allem nachzuahmen ist.

Das klassische Beispiel ist China, das ganz bestimmt kein Satellitenstaat ist, sondern eher ein Juniorpartner der Achse, und das nicht von den Russen kontrolliert wird. Und doch gibt es nur wenig Nachahmer des russischen Kommunismus, die ergebener und begeisterter sind als die chinesischen Kommunisten. Was im Kapitel XI über die Kollektivierung in China gesagt ist, ist ein schlagendes Beispiel für jene Ergebenheit.

So verbietet uns also der russische Charakter des Kommunismus, wie er sich im Augenblick darstellt, nicht nur die Einheit der Lehre, Organisation und Betätigung der Partei zu leugnen; er bildet sogar einen weiteren und wichtigen Grund, um sie zu betonen.

§ 3. KOMMUNISMUS ALS PERSÖNLICHE HALTUNG Ein Kommunist ist der, der alle sachlichen Elemente des Kommunismus anerkennt: seine Lehre als wahr, seine Organisation als befugt und seine Handlungsweise als richtig. Geht man von der Vielschichtigkeit all jener Elemente aus, so muß demnach auch seine Haltung vielfältig sein. Dennoch ist es gerade die Einheit jener Haltung, die am einprägsamsten ist. Während die sachliche Einheit des Kommunismus in Frage gestellt sein mag, ist die Einheit der persönlichen Haltung seiner treuen (d. h. gutinformierten und gut-ausgebildeten’) Parteigänger real und umfassend.

Hierbei ist es notwendig zu unterstreichen, daß es viele Menschen gibt, die dem Kommunismus ohne Kenntnis auch nur eines einzigen seiner wesentlichen Bestandteile folgen; auf der anderen Seite ist offensichtlich, daß der Kommunismus nicht von solchen Menschen geführt wird, sondern von „wahren" Kommunisten. Ihre Haltung ist es, oder mehr der Idealfall ihrer Haltung, die hier besprochen wird.

Jene Einheit weist auf die Tatsache hin, daß der Kommunismus als Haltung ein dogmatischer Glaube ist,, der von einem tiefen moralischen Gefühl getragen wird.

(1) Der Kommunismus ist ein dogmatischer Glaube. Dieser Glaube enthält die folgenden Hauptgrundsätze: Daß allein die kommunistische Partei im Besitz der Wahrheit ist; daß sie in Lehre und Aktion unfehlbar ist; daß ihr Wirken zum einzig Guten führt.

Gewöhnlich leugnen Kommunisten, daß sie Gläubige sind, und ihre Lehre ein Glaube, -sie behaupten. Vertreter der Wissenschaft zu sein.

Doch geht aus dem unten (II § 15) Gesagten deutlich hervor, daß für die meisten der grundlegenden kommunistischen Theorien überhaupt keine wissenschaftliche Rechtfertigung vorhanden ist. Darüber hinaus ist die überaus dogmatische Art und Weise, in der die Kommunisten ihre Lehre aufstellen und verteidigen, genau das Gegenteil einer wissenschaftlichen Haltung. Auch die Art, wie sie die freie wissenschaftliche Forschung behandeln (s. Kapitel XII), ist sicherlich mit wissenschaftlichem Geist nicht in Übereinstimmung zu bringen, sondern kann nur durch einen dogmatischen Glauben erklärt werden.

a) Ein Kommunist glaubt, daß die kommunistische Partei die absolute Wahrheit besitzt. Dieser Grundsatz ist aus dem historischen Materialismus hergeleitet. Da aber der historische Materialismus selbst deshalb anerkannt wird, weil er zum Gedankengut der Partei gehört, so scheint es, daß dieser Grundsatz die axiomatische Grundlage der ganzen kommunistischen Haltung ausmacht.

Die Herleitung vollzieht sich wie folgt-die Wahrheit ist im Besitz des fortschrittlichsten Teils der Menschheit, d. h.des Proletariats. Die kommunistischen Partei aber ist der bewußte Teil des Pfoletariats.

Daraus folgt, daß sie die Wahrheit besitzt. Unter „Wahrheit" ist sowohl theoretische als auch praktische Wahrheit zu verstehen.

Der Beweis dafür, daß das ein Dogma des Kommunismus ist, wird von den vielen Fällen geliefert, in denen die Partei über die Wahrheit in der Philosophie, in den Wissenschaften usw. entschieden hat (s. Kapitel II § 1 b), und durch die totale Unterwerfung von Kommunisten unter solche Entscheidungen.

b) Ein Kommunist glaubt, daß die Partei nicht irren kann, weder in der Theorie noch in der Praxis. Ihre Mitglieder mögen Fehler zugeben, — die Partei selbst kann es nicht. Die einprägsamsten Beispiele für dieses Dogma ist die von den Kommunisten eingenommene Haltung, wenn sich Änderungen der Parteilinie ereignen. Ein wahrer Kommunist unterwirft sich dem mit Eifer und wenn es sein muß, mit Begeisterung. Das klassische Beispiel ist das Bündnis mit Hitler im Jahre 1939 — aber noch viele andere Fälle werden in den Kapiteln VI und VII erwähnt. Ein anderes Beispiel ist die Verdammung Stalins, der von allen Kommunisten zwanzig Jahre lang als genialer, guter und vollkommener Kommunist verehrt wurde: als die Partei ihn aber im Februar 1956 verdammte, folgten nahezu alle Kommunisten — einschließlich jener, die wie die Chinesen vom Kreml nichts zu fürchten haben — der „Linie".

c) Ein Kommunist glaubt, daß die kommunistische Eschatologie das einzig anzustrebende Gute ist und daß es nur auf dem vom Kommunismus beschriebenen Wege zu erreichen sei.

Das hat den Grundsatz völligen moralischen Relativismus und Utilitarismus zur Folge: Handlungen sind allein entsprechend ihrer Nützlichkeit oder Schädlichkeit in Bezug auf das höchste Ziel gut oder schlecht. Und da jenes Ziel nur durch die Partei und ihren Sieg erreicht werden kann, ist gut, was der Partei dient, und schlecht, was ihr zuwiderläuft.

Eine bedeutsame Konsequenz jenes Dogmas ist es, daß einem wahren Kommunisten niemals geglaubt werden kann. Zwar mag er Schwächen haben und Mitleid, den moralischen Normen seiner Gesellschaft, Freundschaft usw. nachgeben. Aber ein gutausgebildeter Kommunist wird solche Schwächen stets als moralisch schlecht betrachten und wie die Geschichte zeigt, reicht seine ideologische Erziehung aus, um die meisten von ihnen zu überwinden.

(2) Der kommunistische Glaube wird von einem machtvollen Gefühl getragen. Dem Kommunisten erscheint die Erreichung des vom Kommunismus beschriebenen eschatologischen Zustandes als heilige Pflicht für jedermann. Jene Gemütsbewegung ist im allgemeinen wiederum durch die Unzufriedenheit mit den äußeren Bedingungen menschlichen Lebens bedingt.

Die Eschatologie stellt einen Zustand dar, in dem alle Sehnsüchte der Menschheit vollständig befriedigt sein werden und in dem ins-besonders volle Freiheit herrschen und alle Erniedrigung abgeschafft sein wird. Sie ist außerdem ein Zustand, in dem der Mensch mit Hilfe der Wissenschaft vollständig Herr seines Lebens und Herr der Natur sein wird.

§ 4. WAS DER KOMMUNISMUS NICHT IST Angesichts der Vielschichtigkeit und Einheit des Kommunismus können die beiden Hauptirrtümer, die bei seiner Deutung dauernd unterlaufen, leicht erklärt werden. Diese Irrtümer sind: (1) die Betrachtung des Kommunismus als eine Einheit, die ausschließlich aus einer Seite seines Aufbaus besteht; (2) die Leugnung j e d w e 1 -

eher Einheit des Kommunismus und seine Betrachtung als rein zufällige Sammlung praktischer Bestrebungen. Zu diesen Irrtümern mag ein dritter, vielleicht noch häufigerer, hinzugefügt werden, welcher darin besteht, (3) die kommunistischen Propagandaschlagworte als Ausdruck des wahren Wesens des Kommunismus zu nehmen Dieser dritte Irrtum vermag nur im Lichte weiterer Betrachtungen der kommunistischen Aktionsprinzipien richtig verstanden zu werden.

(1) Viele Menschen nehmen den Kommunismus für genau das, was er auch ist — aber nur in Bezug auf eine seiner Seiten. So wird liweder ein Aspekt seiner Lehre, seiner Organisation oder seiner Betätigung für das Wesen dieser Bewegung gehalten.

Am häufigsten ist vielleicht die Verwirrung zwischen den zwei Bedeutungen des Wortes „Kommunismus": die engere bezeichnet nur eine kollektivierte Wirtschaft und die weitere alle Bestandteile des zeitgenössischen Kommunismus, wie die Lehre, die Organisation und die Art und Weise der Betätigung. Jemand, der diesem sehr naiven Irrtum anheimfällt, hält den Kommunismus für eine menschliche Gesellschaftsform, die nur die kollektivierte Wirtschaft und sonst nichts einführen will. Solche „Kleinigkeiten" wie die kommunistische Philosophie, die kommunistische Diktatur des Proletariats, die kommunistische Partei, das kommunistische Reich usw. werden für belanglos erklärt.

Ein anderer schwerwiegender Irrtum besteht darin, den Kommunismus nur nach seiner Eschatologie zu beurteilen (die mehr als einfacher Kollektivismus ist).

Daß das völlig verfehlt ist, ergibt sich aus dem Material, das im Kapitel II über die Bedeutung der allgemeinen kommunistischen Philosophie und politischen Theorie aufgeführt ist. Außerdem ist es verfehlt, weil man, um ein Kommunist zu sein, nicht nur an die kommunistische Eschatologie glauben, sondern auch der Parteiorganisation angehören und zur Erreichung der Zwischenziele mittels vorgeschriebener Methoden hinarbeiten muß. Wie man sehen wird, spielt darüber hinaus die Eschatologie heutzutage in der kommunistischen Lehre eine ziemlich untergeordnete Rolle.

Ein dritter Irrtum besteht darin, den Kommunimus allein mit seinen brutalen Methoden äußerer Aktivität zu identifizieren, während seine Eschatologie und Philosophie außer acht gelassen werden.

Viele andere Irrtümer der gleichen Art sind ebenso häufig.

(2) Die zweite Art des Irrtums unterläuft sehr oft westlichen Intellektuellen und Politikern, die im Kommunismus nur seine zynischen Praktiken erblicken und das höhere moralische Prinzip außer Acht lassen, dem dieser Zynismus dient. Diejenigen, die diesem Irrtum zum Opfer fallen, glauben, daß die Kommunisten nur Realpolitiker sind, die nach der Macht streben. Nun sind das die Kommunisten sicherlich in sehr starkem Maße — aber sie sind es nicht nur: denn erstens handeln sie im Namen einer Lehre (was ein gewöhnlicher Zyniker nicht zu tun pflegt) und zweitens benutzen sie eine politische Methode, die sich auf dieselbe Lehre gründet.

Der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Art Fehler liegt darin, daß jene, die den ersteren begehen, dem Kommunimus eine gewisse doktrinäre Einheit zugestehen; während die letzteren, die ihren eigenen Mangel an einer Weltanschauung auf die Kommunisten übertragen, hinsichtlich des doktrinären Elements im Kommunismus blind sind.

(3) Schließlich besteht eine dritte und weitverbreitete Art des Irrtums über den Kommunismus darin, ihn dafür zu halten, was seine Parteigänger in einem bestimmten Augenblick und in einem bestimmten Land darüber sagen. Daß das ein Fehler ist, geht nahezu aus allem hervor, was im vorliegenden Werk gesagt und eingehend dokumentiert ist. Die Kommunisten (1) geben selbst zu, daß jede Art der Lüge gut und moralisch ist, wenn sie den Zielen ihrer Partei zu dienen vermag, (2) haben eine bestimmte Art, die Dinge „dialektisch" zu sehen, d. h. sie so in der Gegenwart darzustellen, wie sie nach ihrer Eschatologie in der Zukunft sein werden, (3) setzen in der Praxis eine beispiellose Anzahl von Lügen in Umlauf, (4) tun in vielen anderen Fällen ihr Möglichstes, um die wirklichen Zustände zu verhehlen, die in den von ihnen beherrschten Ländern existieren.

Die Hauptschwierigkeit liegt nun darin, daß diese Lügen so ungeheuerlich sind und so beständig gebraucht werden, daß ein Nichtkommunist kaum zu glauben vermag, irgend jemand könne so weit gehen. Aber die Tatsachen sprechen für sich — so viele Tatsachen, daß kein Zweifel erlaubt ist. Darüber hinaus handelt es sich hier um eine dauernd von Lenin gepredigte Lehre, die seinem extrem politischen Amoralismus entstammt.

Ein Beispiel für die „dialektische" Art, die Dinge zu sehen, wird in einem Bericht von H. Gollwitzer angeführt, der in Rußland folgende Feststellung eines kommunistischen Professors mitanhörte:

„Wenn Sie sagen: das ist eine alte, schlecht getünchte Baracken-wand . . . dann haben Sie, metaphysisch'geurteilt, einen gegenwärtigen Moment herausgelöst. Wenn Sie aber sagen: das ist eine blendend weiße, schöne, neue Wand, dann haben Sie vom Moment her gesehen zwar unrecht; denn sie ist es noch nicht. Aber dialektisch gesehen haben Sie recht; denn morgen wird sie's sein. Wenn Sie zu Hause erzählen, die Sowjetmenschen leben in alten verwanzten Baracken, dann haben Sie gelogen, obwohl es weithin noch stimmt.

Wenn Sie aber erzählen, sie leben in schönen, neuen Häusern, dann haben Sie die Wahrheit gesagt, obwohl heute erst einige so wohnen.

Im Heute schon das Morgen zu erkennen — das heißt „dialektisch“

sehen!'" (Helmut Gollwitzer, ... und führen, wohin du nicht willst, München 1954, S. 152).

§ 5. WAS DER KOMMUNISMUS IST Der Kommunismus ist eine Lehre, eine Organisation, eine Verhaltensweise und eine Haltung, die von äußerstem Monismus undTotalitarismus gekennzeichnet sind. Mit Monismus ist die Tatsache gemeint, daß er auf e i n Ziel, eine Art des Lehrens, eine Autorität und eine Methode ausgerichtet ist, mit Totalitarismus die Tatsache, daß er alles und jedes diesem Einen unterordnet.

Der Kommunismus ist erstens extrem monistisch: es gibt nur ein Ziel, das wert ist, erreicht zu werden — nämlich das von der Eschatologie beschriebene. Alle anderen Werte und Ziele mögen als Mittel, niemals als Endzwecke betrachtet werden. Es gibt nur eine einzige wahre Lehre, nämlich die, die in der kommunistischen Philosophie enthalten ist; alles andere ist vollständig falsch. Es gibt nur eine einzige Gruppe von Menschen, die wissend ist und den Willen hat zu tun, was getan werden muß — die kommunistische Partei, alles und jedes ist nur insoweit gut oder schlecht, als es der Partei dient. Es gibt nur eine einzige richtige Methode, die Ziele der Partei zu erreichen: nämlich die in der kommunistischen Methodologie und von der kommunistischen Partei vorgeschriebene Methode; alle anderen Methoden sind vollkommen falsch. Darüberhinaus gibt es keinen Mittelweg zwischen dem Guten, Wahren und Wertvollen, das dem Kommunismus zu eigen ist, und dem Falschen, Bösen und Schlechten.

Zweitens ist der Kommunismus extrem totalitär: er umfaßt in einer überaus kategorischen und absoluten Weise alles ohne eine einzige Ausnahme. Die Partei ist im Besitz der absoluten Wahrheit und kann niemals irren: sie ist die Verkörperung des Absoluten; niemandem ist weder erlaubt zu zweifeln, noch der Partei zu widersprechen. Der Partei hat blind gehorcht zu werden: in irgendeiner Weise nicht zu gehorchen ist verbrecherisch. Das Ziel der Partei ist es, alles zu beherrschen. Das ist zuerst einmal im geographischen Sinne des Wortes wahr, d. h. die Partei hat alle Länder ohne Ausnahme zu beherrschen — sie soll die Weltherrschaft ausüben. Zweitens stimmt es in einem tieferen Sinne: die Parteiherrschaft erstreckt sich auf alles — politische Probleme, Recht, Nationalitätenfragen, Wirtschaft, geistiges Leben, Kunst und Wissenschaft, Religion und die privatesten Angelegenheiten des Menschen sind alle der Herrschaft der Partei unterworfen und entsprechend der kommunistischen Lehre umgeformt. Darüberhinaus wird alles das, dem Prinzip des Monismus entsprechend, beständig als Werkzeug für die Ziele des Kommunismus betrachtet.

§ 6. AN WAS DER KOMMUNISMUS IM MENSCHEN APPELLIERT Die obige Beschreibung des Kommunismus kann dabei helfen zu verstehen, was die Hauptanziehungskräfte des Kommunismus sind.

Es gibt deren viele, die in zwei Flauptgruppen zerfallen: (a) die falschen Anziehungskräfte, die sich auf eine verfälschte Schau der Natur des Kommunismus gründen, und (b) die echten Anziehungskräfte, die entweder aus seiner wahren Natur stammen, oder wenigstens daraus, was die Kommunisten dafür halten.

a. Die falschen Anziehungskräfte des Kommunismus Entsprechend dem Hauptprinzip kommunistischer Moral, daß „alles, was den Zielen der Partei dient, gut und moralisch ist", stellen seine Parteigänger den Kommunismus als übereinstimmend mit den Sehnsüchten der Menschen dar, die sie für ihre Sache zu gewinnen suchen, selbst wenn das ein völlig verfälschtes Bild des Kommunismus mit sich bringt.

Ein Beispiel ist der Appell an nationalistische Gefühle, der überall reichlich gebraucht wird, speziell aber in Ländern, die nach Unabhängigkeit von fremder Herrschaft streben. Ein anderes Beispiel ist der dauernde Appell an das Bestreben der Arbeiter, ihre Situation zu verbessern. Ein drittes liefert der Appell an die Wünsche der Bauern nach mehr Grund und Boden von den großen Gutsherrschaften.

Der Kommunismus hat mit solchen Bestrebungen nichts gemein: er sorgt weder für die Freiheit der Völker, noch kümmert er sich um die Verbesserungen der äußeren Lebensbedingungen der Arbeitet;

insbesondere aber nimmt er dem Bauern den Boden, den dieser besitzt, weg. Und doch benutzen die Kommunisten all diese Anziehungskräfte und erzielen bemerkenswerte Erfolge mit ihnen.

b. Die echten Anziehungskräfte des Kommunismus Aber selbst wenn wir von solch falschen Anziehungskräfte absehen und uns darauf beschränken, was sich auf die wahre Natur des Kommunismus gründet, so müssen wir sagen, daß noch nie in der Geschichte eine Bewegung den verschiedensten tiefen Sehnsüchten der Menschen so mächtige und viele Anziehungskräfte dargeboten hat. So appelliert der Kommunismus an den mächtigen Impuls, Anschauungen, Glaube und Handlungen nach einer absoluten Autorität, nach einem Dogma auszurichten. Er appelliert an den nicht weniger mächtigen Wunsch, die menschlichen Beziehungen zu verbessern. Er arpelliert an den prometheischen Drang, die Welt mittels eigener Kraft umzugestalten. Er nutzt den Glauben an die Wissenschaft und ihren Wert aus. Er verlangt Heldentum und Opfer, was schon immer eine große Anziehungskraft auf den Menschen ausgeübt hat. Aber er appelliert auch an den Verdruß über die gegenwärtigen Zustände und bietet die Möglichkeit, sie vollständig zu zerstören. Deshalb ist es kein Wunder, daß er so viele Anhänger in den verschiedensten Klassen und Völkern gewonnen hat.

Das dringende Verlangen nach einer absoluten Glaubensgrundlage, nach etwas, was dem Leben einen klaren Sinn und dem Denken eine feste Basis zu geben vermag, ist allen Menschen eigen und wird gewöhnlich durch die Religionen befriedigt. Aber wo auch immer die Religion nicht mehr lebenskräftig genug ist, befinden sich die Menschen in einem geistigen Vakuum, das schwer für sie zu ertragen ist.

In dieses Vakuum dringt der Kommunismus mit einem extrem dogmatischen und absolutistischen Glauben ein, erklärt alles, gibt dem Leben einen klaren Sinn, rechtfertigt das Handeln und unterdrückt die unsagbare Ungewißheit. Das erklärt auch, warum so viele Intellektuelle Kommunisten geworden sind: die Intellektuellen sind oft vollkommene Skeptiker und haben ein besonders feines'Gespür für jenes Vakuum.

Die Sehnsucht nach besseren menschlichen Beziehungen, nach Unterdrückung der Ungerechtigkeit, nach Hilfe für die Armen und Schwachen ist eines der tiefsten menschlichen Verlangen. Es ist in den meisten großen Religionen verkörpert und wurde ihre treibende Hauptkraft;

so im Buddhismus, im Christentum und im Islam. Der Kommunismus appelliert nun genau an diese Sehnsucht in seiner Eschatologie: er bietet das Ideal vollständiger Gleichheit, Wohlstand und Glück für jeden Menschen — er predigt ebenso die Abschaffung aller Ungerechtigkeiten und Verächtlichmachung.

Gleichzeitig appelliert der Kommunismus an das prometheische Streben im Menschen: er lehrt, daß eine Besserung von einer vollständigen Umformung der Welt und sogar des Menschen begleitet und vorbereitet sein muß, die mit Hilfe mutiger Taten des Menschen selbst durchzuführen ist. Dieses Ideal spricht besonders die Jugend an, der der Kommunismus das Leben als ein großes Abenteuer vor Augen stellt, als einen gigantischen Kampf gegen die ganze Welt, um sie zu verbessern.

Der rationalistische Sinn des modernen Menschen wird vom „wissenschaftlichen" Charakter des Kommunismus angesprochen: er entwirft ein System, das sich auf Vernunft und Planung gründet, ein System, in welchem alles wissenschaftlich erarbeitet und von wissenschaftlichen Kenntnissen geleitet sein wird. Nun sind die Ergebnisse der modernen Wissenschaft so erstaunlich und ihr Prestige ist so groß, daß diese Haltung eine andere machtvolle Anziehungskraft auf den Sinn des gegenwärtigen Menschen ausübt, besonders aber auf die Intellektuellen.

All das ist darüber hinaus einerseits mit einem Appell an den heldenhaften Opfermut verbunden, der tiefe Gefühle des Menschen anspricht — andererseits an das Ressentiment, welches in verschieden großem Ausmaß in jedem Menschen vorhanden ist. Die Unzufriedenheit mit der eigenen Lage in der Gesellschaft bekommt auf diese Weise einen Deckmantel edler moralischer Ideen und wird so vielfach zur unwiderstehlichen Kraft zugunsten des Kommunismus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl A Lalande, Vocabulaire technique et critique de la Philosophie 5., A., Paris 1947, S. 147 1,

  2. Vgl. Plato, D e r S t a a t, Buch III und IV, besonders 41611. (deutsch in: Sämtliche Werke, Berlin o. J. Bd. 2, S. 122 U.)

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