AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE
Beilage zur Dochenzeitung „Das Parlament"
Die Veröffentlichungen in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte” stellen keine Meinungsäußerung der herausgebenden Stelle dar. Sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung.
RAYMOND ARON Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir aus dem Buche von Raymond Aron: „DAS OPIUM DER INTELLEKTUELLEN", Kiepenheuer & Witsch, Köln-Berlin, 1957, Teil III: „Die Entfremdung der Intellektuellen", Kapitel VII.
Die Intellektuellen und ihr Vaterland
Alle Gesellschaften haben ihre Schreiber gehabt, die in den öffentlichen und privaten Verwaltungen saßen, ihre Literaten oder Künstler, die das Kulturerbe umformten oder bereicherten, und ihre Fachleute: Rechtsgelehrte, die den Fürsten oder Reichen die Kenntnis der Texte und die Kunst des Disputes vermittelten, oder Wissenschaftler, die die Geheimnisse der Natur enträselten, die Menschen lehrten, Krankheiten zu heilen oder auf dem Schlachtfeld zu siegen. Keiner dieser drei Typen gehört im eigentlichen Sinn der modernen Zivilisation an. Diese zeigt nichtsdestoweniger eigentümliche Züge, die die Zahl und den Stand der Intellektuellen beeinflussen.
Die Verteilung der Arbeitskraft innerhalb der einzelnen Beschäftigungsarten verändert sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung-der Prozentsatz der in der Industrie beschäftigten Arbeitskräfte steigt, der Prozentsatz der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft nimmt ab, während der Umfang des sogenannten tertiären Sektors anschwillt, der verschiedenste Berufe von unterschiedlichem Ansehen umfaßt, von dem des „Papierkratzers" in einem Büro bis zu dem des Forschers in seinem Laboratorium. Die Industriegesellschaften beschäftigen Nichthandarbeiter in einer größeren Zahl — und zwar absolut wie relativ — als alle früheren Gesellschaften. Organisation, Technik und Verwaltung werden immer komplizierter, als ob sie das Ziel hätten, die Handgriffe der eigentlichen Arbeiter möglichst stark zu vereinfachen.
In der modernen Wirtschaft werden auch Proletarier gebraucht, die lesen und schreiben können. Mit zunehmendem Wohlstand stellt die Allgemeinheit wachsende Summen für die Erziehung der Jugend zur Verfügung: die Ausbildung in der höheren Schule dauert länger und wird mit jeder Generation einem größeren Teil der Jugend vermittelt.
Die Zahl der drei Typen von Nichthandarbeitern, Schreiber, Fachleute und Künstler, nimmt gleichmäßig zu, wenn auch nicht im gleichen Rhythmus. Die Bürokraten eröffnen Schreibern von geringerer Qualifikation Arbeitsmöglichkeiten, die Einteilung der Arbeiter und die Organisation der Industrie verlangen zahlreiche Fachleute mit immer wachsenden Spezialkenntnissen, die Schulen, die Universitäten, die der Zerstreuung und Mitteilung dienenden Einrichtungen (Kino und Radio) beschäftigen Literaten, Künstler, Techniker des Wortes und der Schrift, Fabrikanten des Massengeschmacks. Gelegentlich degradiert die Einbeziehung in solche Unternehmen den Literaten zu einem durchschnittlichen Fachmann: der Schriftsteller wird zum Nachschreiber (rewriter). Die Vervielfachung der Beschäftigungsmöglichkeiten bleibt ein sehr kompliziertes Problem, das keiner verkennt, dessen Bedeutung aber nicht immer richtig eingeschätzt wird.
Fachleute oder Literaten bildeten nicht immer eine Art GelehrtenRepublik, die über ihre Unabhängigkeit eifersüchtig gewacht hätte. Jahrhundertelang blieben Denker und Künstler innerlich den geistlichen und weltlichen Würdenträgern eng verbunden, denen also, die die Aufgabe hatten, die Glaubenslehre der Kirche oder des Gemeinwesens zu bewahren oder auszulegen. Sozial gesehen, hingen sie von denen ab die ihnen den Lebensunterhalt sicherten, also von der Kirche, von den Mächtigen und Reichen oder vom Staat. Die Art der Kunst, nicht allein die Lage des Künstlers, änderte sich mit der Herkunft des Auftrages oder dem Charakter der gebildeten Klasse. Man könnte die Kunst von Gläubigen und für Gläubige der zum Gebrauch für Krieger oder Handelsleute gegenüberstellen.
Die Gelehrten besitzen in unserer Zeit eine Geltung und ein Ansehen, die sie den Einflüssen der Kirche entziehen (Ausnahmen sind selten und im Rahmen der Gesamtheit ohne Bedeutung). Das Recht der freien Forschung, selbst auf Gebieten, die die Dogmatik berühren — Ursprung des Menschen, Entstehung des Christentums —, wird kaum angefochten. In dem Maß, wie das Publikum an Zahl zunimmt und die Mäzene verschwinden, gewinnen Schriftsteller und Künstler an Freiheit; dabei verdienen viele sich ihren Lebensunterhalt durch irgendeinen Beruf, der mit ihrer schöpferischen Tätigkeit wenig zu tun hat. Weder die Privatunternehmer noch der Staat bezahlen etwas, ohne Gegenleistungen zu verlangen. Aber sowohl Filmgesellschaften wie Universitäten erwarten außerhalb der Studios oder der Hörsäle kaum eine orthodoxe Haltung. Schließlich bieten alle politischen Regimes denen Chancen, die das Talent besitzen, mit Worten und Ideen umzugehen. Nicht mehr der Feldherr besteigt dank seinem Mute oder seinem glücklichen Geschick den Thron, sondern der Redner, dem es gelungen ist, die Massen, die Wähler oder die Kongresse zu überzeugen, und der Doktrinär, der ein Gedankensystem ausgearbeitet hat. Geistliche, Gelehrte und Künstler haben es niemals abgelehnt, die Macht zu rechtfertigen, aber in unserer Zeit braucht diese Macht Fachleute der Kunst des Wortes. Theoretiker und Propagandist werden ist eins: der Generalsekretär der Partei arbeitet die Doktrin aus und führt zu gleicher Zeit die Revolution an.
Von der „Intelligentsia"
Nicht nur zahlreicher, sondern auch im Besitze von mehr Freiheit und Ansehen, selbst von Macht erscheint uns in unserem Jahrhundert eine soziale Kategorie, die wir sehr unbestimmt mit dem Begriff „berufsmäßige Intelligenz" bezeichnen. Die Definitionen dieses Begriffs sind in gewisser Hinsicht aufschlußreich und verhelfen dazu, die verschiedenen Züge dieser Kategorie zu analysieren.
Die umfassendste Bezeichnung ist die der Nichthandarbeiter. In Frankreich wird aber niemand einen Büroangestellten als Intellektuellen bezeichnen, selbst wenn dieser eine Universität besucht und einen akademischen Grad erworben hat. Der Akademiker, der in ein Kollektivunternehmen ausgenommen und auf eine ausführende Tätigkeit beschränkt ist, bleibt doch nur ein Handlanger, dem die Schreibmaschine als Arbeitsinstrument dient. Die Qualifikation, die erforderlich ist, um den Titel eines Intellektuellen zu verdienen, nimmt mit der Zahl der Nichthandarbeiter zu, d. h. mit der wirtschaftlichen Entwicklung. In jedem unterentwickelten Land gilt jeder Akademiker als Intellektueller: ein nicht ganz falscher Brauch. Ein junger Mann, der aus irgendeinem arabischen Land gekommen ist und in Frankreich studiert hat, nimmt tatsächlich gegenüber seinem Vaterland die typische Haltung eines Wissenschaftlers an. Der „bäuerliche“ Akademiker entspricht in diesen Ländern einem Schriftsteller der westlichen Welt.
Eine zweite, weniger umfassende Bezeichnung unterscheidet Fachleute und Literaten. Die Grenze zwischen den Schreibern und den Fachleuten ist verschwommen: allmählich geht eine Kategorie in die andere über. Gewisse Fachleute, wie z. B. die Ärzte, bleiben selbständig und Angehörige der sogenannten freien Berufe. Die Unterscheidung zwischen „Selbständigen“ und „Gehaltsempfängern“, die manchmal die Denkmethoden beeinflußt, ist nichtsdestoweniger sekundär. Die Kassenärzte der Sozialversicherung hören nicht deshalb auf, Intellektuelle zu sein (soweit sie es jemals gewesen sind), weil sie ein Gehalt bekommen. Bezieht sich der entscheidende Gegensatz überhaupt auf das Wesen der Nichthandarbeit? Der Ingenieur oder der Arzt beschäftigen sich mit der anorganischen Natur oder mit den Lebensphänomenen, der Schriftsteller oder Künstler mit den Worten, mit einem Gegenstand, den er nach der Idee formt. In diesem Falle würden die Juristen oder die Organisatoren, die mit Worten oder Menschen umzugehen wissen, zur gleichen Gattung gehören wie die Schriftsteller oder Künstler, während sie sich tatsächlich mehr den Fachleuten, den Ingenieuren oder den Ärzten annähern.
Diese Doppeldeutigkeiten führen bei den Intellektuellen oft zu einer Verbindung mehrerer Wesenseigentümlichkeiten, die nicht immer gleichzeitig gegeben sind. Um den Begriff zu klären, ist es am zweckmäßigsten, von den klaren Fällen auszugehen, bevor man sich mit den zweifelhaften beschäftigt.
Die Romanschreiber, Maler, Bildhauer und Philosophen stellen den inneren Kreis dar, sie leben für und durch die Ausübung der Intelligenz. Wenn der Wert der Tätigkeit als Kriterium genommen wird, würde man nach und nach von Balzac zu Eugene Sue, von Proust zu den Autoren von Schundromanen oder zu den Redakteuren der Spalte „Überfahrene Hunde“ in den Tageszeitungen hinabsteigen. Die Künstler, die nur Herkömmliches schaffen, ohne neue Ideen oder Formen hervorzubringen, bilden mit den Professoren auf ihren Lehrstühlen und den Forschern in ihren Laboratorien die Gemeinschaft des Wissens und der Kultur. Darunter würden die Mitarbeiter von Presse und Radio ihren Platz finden, die die auf den höheren Stufen erreichten Resultate verbreiten und die Verbindung zwischen der Elite und der großen Masse aufrechterhalten. So betrachtet, bildeten in dieser Kategorie die Schöpfer die Mitte, und ihre Grenze wäre die schlecht zu umschreibende Zone, wo die Vereinfachet nicht mehr bloß abwandeln, sondern bereits Verrat üben: auf Erfolg oder auf Geld aus, als Sklaven eines Geschmacks, wie er dem Publikum unterstellt wird, werden sie den Werten gegenüber gleichgültig, denen sie angeblich dienen.
Eine solche Analyse hat den Nachteil, zwei Betrachtungen zu vernachlässigen, einerseits die soziale Lage und die Quelle der Einkünfte, andererseits das theoretische oder praktische Ziel der beruflichen Tätigkeit.
Es ist gestattet, nachträglich Pascal oder Descartes — der eine war Großbürger und enstammte einer Parlamentarierfamilie, der andere Ritter — Intellektuelle zu nennen. Man hätte nicht daran gedacht, sie im 17. Jahrhundert in diese Kategorie einzubeziehen, weil sie damals als Amateure galten. Diese sind jedoch nicht weniger Intellektuelle als die Professionellen, wenn man die geistige Qualität oder die Natur der Tätigkeit berücksichtigt. Aber in sozialer Hinsicht werden sie durch diese Tätigkeit nicht eingeordnet
Diese Analysen erlauben es nicht, sich dogmatisch für eine Definition zu entscheiden, sie zeigen nur die verschiedenen möglichen Definitionen.
Entweder man hält die Zahl der Fachleute für ein Charakteristikum der Industriegesellschaften und nennt „Intelligentsia“ die Kategorie der Personen, die auf den LIniversitäten oder den technischen Schulen ausreichend vorgebildet wurden, um solche scharf abgegrenzten Berufe auszuüben, oder man stellt die Schriftsteller, die Gelehrten und die schöpferischen Künstler in die erste Reihe, die Professoren oder Kritiker in die zweite, die Vereinfacher und Journalisten in die dritte. Aus dieser fallen wiederum die Praktiker, wie Juristen oder Ingenieure, in dem Maße heraus, wie sie sich dem Wunsch nach Leistung allein hingeben und sich um die Kultur nicht mehr kümmern. In der Sowjetunion neigt man zu der ersten Definition: die technische „Intelligentsia“ gilt als Maßstab, und sogar die Schriftsteller sind Ingenieure der Seele Im Westen würde man eher der zweiten Definition zuneigen und sie sogar noch einschränken, indem man sie nur für diejenigen gelten läßt, „deren Hauptberuf es ist, zu schreiben, zu unterrichten, zu predigen, auf der Bühne aufzutreten oder Künste und Wissenschaften auszuüben“
Der Begriff „Intelligentsia“ ist anscheinend zum erstenmal in Rußland im Verlauf des 19. Jahrhunderts geprägt worden: diejenigen, die durch die LIniversitäten gegangen waren und eine Kultur in sich ausgenommen hatten, die im wesentlichen westlichen Ursprungs war, bildeten eine wenig zahlreiche Gruppe außerhalb der traditionellen Schichten. Sie rekrutierten sich aus den jüngeren Söhnen aristokratischer Familien, aus den Söhnen des Kleinbürgertums oder selbst der wohlhabenden Bauern; losgelöst von der früheren Gesellschaft fühlten sie sich untereinander durch die erworbenen Kenntnisse und durch die Haltung, die sic gegenüber der bestehenden Ordnung einnahmen, verbunden. Der wissenschaftliche Geist und die liberalen Ideen trugen in gleichem Maße dazu bei, daß sich die bttelligeHtsia, die sich isoliert fühlte, den nationalen Traditionen feindlich gesinnt war und sich zur Gewaltanwendung angetrieben fühlte, der Revolution zuneigte.
In den Gesellschaften, in denen die moderne Kultur von selbst und Schritt für Schritt auf dem historischen Boden hervorwuchs, vollzog sich der Bruch mit der Vergangenheit nicht so plötzlich. Die Akademiker unterschieden sich nicht so eindeutig von anderen sozialen Gruppen; sie lehnten die Struktur des in Jahrhunderten gewachsenen Zusammenlebens nicht unbedingt ab. Man hat sie deswegen nicht weniger beschuldigt und beschuldigt sic noch, die Revolutionen genährt zu haben, eine Beschuldigung, die der Intellektuelle der Linken als Ehre empfinden wird: ohne die Revolutionäre, die entschlossen waren, über die Gegenwart hinauszugelangen, würden die, alten Mißbräuche noch bestehen.
In mancher Beziehung ist die Beschuldigung gar nicht begründet. Es ist nicht wahr, daß die Intellektuellen als solche allen Gesellschaftsordnungen feind wären. Die chinesischen Wissenschaftler haben eine mehr moralische als religiöse Doktrin, die ihnen den ersten Rang einräumte und die Hierarchie sicherte, verteidigt und gepriesen. Die Könige oder die Fürsten, die gekrönten Helden oder die zu Reichtum gekommenen Kaufleute haben immer Dichter gefunden (die nicht notwendig schlechte Dichter waren), um ihren Ruhm zu verkünden. Weder in Athen noch in Paris, weder im 5. Jahrhundert vor unserem Zeitalter noch im 19. Jahrhundert nach Christi Geburt neigte der Schriftsteller oder der Phälosoph spontan zur Partei des Volkes, zur
Alle Doktrinen, alle Parteien — Traditionalismus, Liberalismus, Demokratie, Nationalismus, Faschismus, Kommunismus — hatten und haben ihre Sänger und ihre Denker. Sind es aber in jedem Lager die Intellektuellen, die Meinungen und Interessen in eine Theorie umwan-dein? Man kann es so definieren, daß sie sich nicht damit begnügen zu leben, sondern daß sie ihre Existenz auch gedanklich zum Ausdruck bringen wollen.
Nichtsdestoweniger schließt die übliche Vorstellung, die die Soziologen 5) in einer verfeinerten Form wieder ausgenommen haben, eine gewisse Wahrheit ein: daß nämlich die Intellektuellen infolge beruflicher Bestimmung revolutionär seien.
Die IHtclligetitsia ist begrifflich niemals,, tatsächlich nur selten ein streng in sich geschlossenes Gebilde. Jede privilegierte Klasse, die sich durch das Wissen oder die Tugend der Intelligenz auszeichnet, begünstigt, selbst wenn das wider ihren Willen geschähe, den Aufstieg der stärker Begabten. Plato gehörte zur aristokratischen Partei, aber bestätigte dennoch, daß der Sklave imstande sei, mathematische Wahrheiten zu lernen. Aristoteles leugnete die soziale Notwendigkeit der Sklaverei nicht, aber er untergrub ihr Fundament. Er verneinte, daß jeder einen Platz entsprechend seiner Natur einnehme. Auf dem Sterbebett befreite er seine Sklaven, die vielleicht nicht für die Sklaverei geboren waren. So betrachtet, verschließt sich der professionelle Intellektuelle nur selten einer Demokratie de jure, wenn er auch geneigt ist, um so stärker den Aristokratismus de facto zu unterstreichen: nur eine Minorität hat Zutritt zu der Welt, in der er lebt.
Entsprechend den Gesellschaftsordnungen ändert sich auch die Rekrutierung der lutelligentsia. Das Prüfungsverfahren in China scheint auch dem Bauernsohn den Aufstieg ermöglicht zu haben, obwohl man über die Häufigkeit dieser Fälle sich noch nicht einig ist. Der erste Rang, den man in Indien den Denkern zugestand, war mit dem Regime der Kasten und auch damit nicht, unvereinbar, daß jeder in dem Stand blieb, in dem er geboren war. In den modernen Gesellschaften erleichtert die Universität den sozialen Aufstieg. In gewissen Ländern Südamerikas oder des Nahen Ostens ermöglichen Offiziersschulen und die Armee einen ähnlichen Aufstieg.
Obwohl die Herkunft der Akademiker in den westlichen Ländern verschieden ist — die Studenten von Oxford und Cambridge haben sich bis zum Krieg von 1939 aus einer schmalen Schicht rekrutiert, und die Schüler der bedeutenden französischen Schulen kamen selten aus den Familien der Arbeiter und Bauern, aber häufig aus kleinbürgerlichem Milieu, d. h. mit zwei Generationen Abstand aus Kreisen des Volkes —, ist die Intelligentsia immer großzügiger und aufgeschlossener als die herrschende Klasse. Diese Demokratisierung hat die Tendenz, sich noch zu verstärken, weil die Industriegesellschaften ein wachsendes Bedürfnis nach Kadern und nach Technikern haben. Die Ausbreitung der Intelligentsia hat in der Sowjetunion Menschen zu Machtstellungen verholten, die auf den Sozialismus alles das zurückführten, was sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung ergab. Das gleiche Phänomen droht die demokratischen Regimes zu erschüttern, wenn die Söhne der Kleinbürger, die durch die Universitäten gegangen sind, die Sehnsucht nach einem Umsturz in sich nähren, statt den Werten und dem Regierungssystem treu zu bleiben, das die frühere herrschende Klasse geschaffen hat. Das Risiko ist um so größer, als die Tendenz zur Kritik sozusagen die be-rufliche Übereinstimmung der Intellektuellen ausmacht. Diese sitzen gern über ihr Land und seine Einrichtungen zu Gericht, indem sie die augenblicklichen Realitäten eher mit irgendwelchen Ideen als mit anderen Realitäten vergleichen: das Frankreich von heute eher mit der Idee, die sie sich von Frankreich machen, als mit dem Frankreich von gestern. Kein Menschenwerk hält eine solche Belastungsprobe ohne Schaden aus.
Ob Schriftsteller oder Künstler, der Intellektuelle ist ein Mensch der Ideen, der Gelehrte oder der Ingenieur ein Mann der Wissenschaft. Er teilt den Glauben an die Menschen und an die Vernunft. Das Kultur-bild, das die Universitäten vermitteln, ist optimistisch und rationalistisch: die Formen des gemeinsamen Lebens, die sich dem Blick bieten, erscheinen als das zufällige Werk von Jahrhunderten, nicht als Ausdruck eines klarblickenden Willens oder eines überlegten Planes. Der Intellektuelle, dessen berufliche Tätigkeit ihn nicht zur Beschäftigung mit der Geschichte veranlaßt, spricht gern über die „bestehende Einordnung“ ein unwiderrufliches Verdammungsurteil.
Die Schwierigkeit beginnt, sobald man sich nicht mehr darauf beschränkt, die bestehenden Verhältnisse zu verurteilen. Logischerweise kann man drei Verhaltensweisen unterscheiden. Durch die Kritik an den Methoden stellt man sich an den Platz derjenigen, die regieren oder verwalten, man empfiehlt Maßnahmen, die die Übel, die man anprangert, mildern würden, man akzeptiert aber die Abhängigkeit des Tuns, die unvorstellbare mannigfaltige Struktur der Gemeinwesen, gelegentlich sogar die Gesetze des bestehenden Regimes. Man beruft sich jedoch nicht auf eine ideale Organisation, auf eine strahlende Zukunft, sondern auf Resultate, die mit mehr Verstand und mehr gutem Willen erreichbar wären. Die moralisdie Kritik stellt dem, was ist, die unbestimmte, aber gebieterische Vorstellung dessen, was sein müßte, gegenüber. Man lehnt die Grausamkeiten des Kolonialismus ab, die kapitalistische Selbstentfremdung, den Gegensatz zwischen Herren und Sklaven, das skandalöse Nebeneinander von Elend und Luxus. Selbst wenn man die Konsequenzen dieser Empörung oder die Mittel, sie in Taten umzuwandeln, nicht kennt, fühlt man sich doch getrieben, sie auszusprechen in Form einer Verurteilung oder eines Appells, einer Umwelt gegenüber, die ihrer selbst unwürdig ist. Die ideologische oder historische Kritik schließlich setzt sich mit der bestehenden Gesellschaft im Namen einer kommenden Ordnung auseinander, sic legt die Ungerechtigkeiten, deren Augenscheinlichkeit das Gewissen verletzt, der bestehenden Ordnung zur Last — Kapitalismus und Privatbesitz bringen schicksalhaft die Ausbeutung, den Imperialismus, den Krieg mit sich — und skizziert den Plan einer grundlegend anderen Ordnung, innerhalb derer der Mensch seine Berufung erfüllen würde.
Jede dieser Kritiken hat ihre Aufgabe und ihre Würde, aber jede kann in ihrer Bedeutung auch abgewertet werden. Die Methodiker stehen im Banne des Konservativismus: die Menschen ändern sich nicht, ebensowenig wie die unangenehmen Notwendigkeiten des Ge-meinschaftslebens. Die Moralisten schwanken zwischen der Resignation gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen und der Unduldsamkeit des Wortes: zu allem nein sagen heißt schließlich sich mit allem abfinden. Wo ist dann die Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die mit der bestehenden Gesellschaft zusammenhängt, und der Ungerechtigkeit jeder nur denkbaren Ordnung? Wo ist die Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die mit der Gesellschaft schlechthin zusammenfällt, und den Ausschreitungen, die einzelnen Menschen zur Last gelegt werden können und moralische Verurteilung verdienen? Die ideologische Kritik wiederum spielt gern auf beiden Instrumenten. Sie verhält sich mora-
listisch gegen die eine Hälfte der Welt, ist aber bereit, einer revolutionären Bewegung gegenüber in einem sehr realistischen Sinne nachsichtig zu sein. Niemals ist der Schuldbeweis hinreichend, wenn der Gerichtshof in den Vereinigten Staaten seinen Sitz hat. Niemals ist die Bestrafung unangemessen, wenn sie die Gegenrevolutionäre trifft:
ein Verhalten, das der Logik der Leidenschaften entspricht Wie viele Intellektuelle haben die Partei der Revolution aus moralischer Entrüstung ergriffen, um sich schließlich dem Terrorismus und der Staatsräson zu beugen!
Jedes Land neigt mehr oder minder zu der einen oder anderen Kritik.
Engländer und Amerikaner vermengen die Moralkritik mit der an den Methoden, die Franzosen schwanken zwischen moralischer und ideologischer Kritik (die Auseinandersetzung zwischen den Rebellen und den Revolutionären ist der typische Ausdruck dieses Schwankens). Vielleicht ist die Moralkritik am häufigsten der tiefe Ursprung jeder Kritik, mindestens bei den Intellektuellen. Diese Kritik bringt ihnen gleichzeitig den Ruhm eines „Wiedergutmachers von Unrecht", eines Geistes, der stets verneint und das weniger schmeichelhafte Ansehen des nur dem Wort Verpflichteten, der den rauhen Zwang der Tatsachen nicht zur Kenntnis nimmt.
Seit langem ist Kritik nicht mehr ein Beweis für Mut, wenigstens in unseren freien Gesellschaften des Westens nicht. Der Leser findet in den Zeitungen lieber Argumente, die seine Unlustgefühle und Vorbehalte rechtfertigen, als Gründe, die bestätigen, daß unter den gegebenen Umständen die Haltung der Regierung nicht sehr von der abweichen konnte, die sie tatsächlich eingenommen hat. Wenn man kritisiert, entgeht man der Verantwortung für die unerfreulichen Konsequenzen, die jede Maßnahme mit sich bringt, selbst wenn sie im großen und ganzen glücklich genannt werden kann: man hat mit der Unreinheit geschichtlicher Ursachen nichts zu tun. Der Oppositionelle, wie heftig auch immer seine Polemiken seien, leidet kaum unter seinen sogenannten Ketzereien. Anträge für die Rosenbergs oder gegen die Aufrüstung Westdeutschlands unterschreiben, das Bürgertum als eine Bande von Gangstern behandeln oder sich regelmäßig für das Lager einsetzen, gegen das Frankreich seine Verteidigung vorbereitet: das alles schadet der Karriere nicht, nicht einmal bei Staatsbeamten. Wie oft haben die Privilegierten den Schriftstellern Beifall gespendet, die sie geißelten! Die amerikanischen Babbits haben in großer Anzahl zum Erfolg von Sinclair Lewis beigetragen. Die Bürger und ihre Söhne, die von den gescheiten Köpfen gestern als Philister, heute als Kapitalisten behandelt wurden, haben den Erfolg der Rebellen oder der Revolutionäre gesichert. Der Erfolg fällt denen zu, die entweder die Vergangenheit oder die Zukunft glorifizieren: man zweifelt oft daran, ob es in unserer Zeit noch ohne Schaden möglich sei, die gemäßigte Meinung zu verteidigen, daß die Gegenwart in vieler Hinsicht weder schlechter noch besser ist als andere Epochen.
Die Intelligentsia und die Politik
Wenn man die Haltung der Intellektuellen gegenüber der Politik beobachtet, ist der erste Eindruck, daß sie derjenigen der Nichtintellektuellen ähnelt. Dieselbe Mischung von Halbwissen, von traditionellen Vorurteilen, von bestimmten Vorlieben, die mehr ästhetischer als vernünftiger Art sind, offenbart sich sowohl in den Meinungen von Professoren und Schriftstellern als in denen von Kaufleuten oder Industriellen. Ein berühmter Schriftsteller verfolgt mit seinem Haß das wohlmeinende Bürgertum, aus dem er selbst hervorgegangen ist, ein anderer, obwohl seine Denkweise mit dem dialektischen Materialismus unvereinbar ist, wird mit fünfzehn Jahren Verspätung vom Sowjetsystem angezogen, wie es übrigens zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Entwicklung fast allen Männern der Linken erging.
Wenn es um ihre Berufsinteressen geht, stellen die Gewerkschaften der Ärzte, der Professoren oder der Schriftsteller ganz ähnliche Forderungen wie die Arbeitergewerkschaften. Auch ihre Kader verteidigen die Hierarchie, die höheren Kader der Industrie widersetzen sich sehr häufig den Kapitalisten oder den Finanzleuten. Intellektuelle, soweit sie Beamte sind, halten die Einkünfte anderer sozialer Kategorien für übertrieben hoch. Als Bezieher fester Einkommen und als Staatsangestellte neigen sic dazu, das Gewinnstreben zu verurteilen. Die Haltung der Intellektuellen erklärt sich auch aus der sozialen Herkunft eines jeden. In Frankreich braucht man, um sich davon überzeugen zu können, nur das Klima der Fakultäten zu vergleichen — sowohl hinsichtlich der Professoren als der Studenten. Die Ecole Normale steht links oder auf der äußersten Linken, das Institut der politischen Wissenschaften verhält sich, von einer Minderheit abgesehen, konservativ oder gemäßigt (die Gemäßigten von 19 54 sind etwa Sozialisten, Volksrepublikaner oder „Mendes-France-Revolutionäre“).
Die Herkunft der Studenten aus diesen verschiedenen Schulen hat gewiß etwas zu bedeuten. In den Provinzuniversitäten hat jede Fakultät ihren bestimmten politischen Ruf, und meistens gelten die Fakultäten der Medizin und des Rechts für „weiter rechtsstehend“ als die der schönen Künste oder der exakten Wissenschaften: das Milieu, aus dem die Professoren hervorgehen, und der Lebensstandard, dessen sie sich erfreuen, haben hüben wie drüben einigen Einfluß auf die politischen Ansichten.
Vielleicht kommt das berufliche Gleichgewicht gleichzeitig mit dem sozialen. Die Seminaristen aus der Rue d’Ulm (berühmte Schule, aus der Jaures, J. P. Sartre und der Autor selbst hervorgegangen sind. Anm, des Übersetzers) machen sich ihre Gedanken über die politischen Probleme im Jahre 1954 innerhalb der Begriffswelt der marxistischen oder existentialistischen Philosophie. Sie sind dem Kapitalismus als solchem feindlich gesinnt und trachten danach, die Proletarier zu „befreien“, haben aber vom Kapitalismus und den Lebensbedingungen des Arbeiters selbst wenig Ahnung. Der Student der politischen Wissenschaften ist dagegen weniger mit der „Entfremdung“, aber bessei mit dem Funktionieren des Regimes vertraut. (Mutatis mutandis gelten diese Bemerkungen ebenso für die Lehrer wie für die Schüler )
Der berufstätige Intellektuelle unterschiebt der politischen Ordnung unvermeidlich die Denkgewohnheiten, die er sich in seinem Beruf allmählich angeeignet hat. Die früheren Schüler des Polytechnikums haben sowohl dem Liberalismus als der Planwirtschaft vollendeten Ausdruck gegeben, als forderten sie, im Banne ihrer Leitbilder, von der Wirklichkeit eine schlechterdings unmögliche Übereinstimmung mit dem Plan der Vernunft. Als Mediziner tendiert man nicht zu einer optimistischen Betrachtung der Menschennatur. Wenn die Ärzte auch oft von humanitären Beweggründen durchdrungen sind, haben sie doch das Bestreben, ihren Status als freier Beruf zu bewahren, und beurteilen die Ambitionen der Reformatoren mit einiger Skepsis
Derartige Analysen, die man noch durch den Vergleich mit den entsprechenden Berufen von Land zu Land oder mit den verschiedenen Spezialisten innerhalb desselben Landes ausdehnen müßte, würden nach und nach zu einer Soziologie der Intellektuellen führen. Wenn auch die Resultate solcher Studien noch nicht vorliegen, so ist es doch nicht unmöglich, die Umstände herauszustellen, die sehr entscheidend auf die Haltung der Intellektuellen überhaupt einwirken, und dann die nationalen Besonderheiten'zu berücksichtigen. Die Situation der Intelligentsia wird durch eine Doppelbeziehung festgelegt, die Beziehung zur Kirche und zu den herrschenden Klassen. Die weit zurückliegende Ursache des Gegensatzes zwischen dem ideologischen Klima der angel-sächsischen und der romanischen Länder ist offensichtlich der Erfolg der Reformation und die Vielzahl der christlichen Konfessionen auf der einen, das Scheitern der Reformation und die Macht des Katholizismus auf der anderen Seite.
Im mittelalterlichen Europa gab es eher Geistliche als Intellektuelle. Die Gelehrten schlossen sich in großer Zahl kirchlichen Institutionen an, unter denen auch die Universitäten ihren Platz hatten. Selber Laien, traten die LIniversitätsprofessoren nicht in einen Wettstreit mit den Dienern der geistlichen Macht, die nun einmal bestand und anerkannt war. Die verschiedenen Arten der modernen Intelligentsia bildeten sich nach und nach heraus: Rechtsgelehrte und Beamte hingen von der Monarchie ab, die Wissenschaftler hatten gegen ein zum Dogma erhobenes Wissen die Rechte der freien Forschung zu verteidigen, die Dichter und Schriftsteller, die aus dem Bürgertum hervorgegangen waren, fanden die Protektion der Großen und konnten von ihrer Feder wie von der Gunst der Öffentlichkeit leben Im Verlauf einiger Jahrhunderte erlebten die verschiedenen Typen von Intellektuellen — Schreiber, Fachleute, Künstler und Professoren — einen Prozeß der Säkularisation, der heute total geworden ist. Wenn ein einziger Mensch heute noch Physiker oder Philosoph und Priester zugleich ist, so gilt das als Merkwürdigkeit. Der Streit zwischen den Geistlichen und den Intellektuellen oder zwischen den Mächten des Glaubens und der Vernunft führte zu einer Art Versöhnung in Jenen Ländern, in denen die Reformation glückte. Humanitäre Anschauungen, soziale Reformen und politische Freiheiten schienen nicht in Widerspruch mit der christlichen Botschaft zu stehen. Der Jahreskongreß der englischen Arbeiterpartei beginnt mit einem Gebet. In Frankreich, Italien und Spanien dagegen — ungeachtet der christlich-demokratischen Bewegung — haben die Parteien, die sich zum Jahrhundert der Aufklärung oder sozialistischen Ideen bekennen, im allgemeinen das Gefühl, sie müßten die Kirche bekämpfen.
Die Verbindung der Intellektuellen und der herrschenden Klassen hat mit der sozialen Funktion der einen wie der anderen Seite zu tun. Je mehr die Intellektuellen von den Sorgen derer entfernt sind, die regieren, verwalten und Reichtümer schaffen, desto weniger verbergen die Professionellen des Geldes oder des materiellen Erfolges das Mißvergnügen oder die Antipathie, die ihnen die Professionellen des Wortes einflößen. Je mehr sich aber die Privilegierten den Ansprüchen moderner Ideen versagen oder unfähig sind, die Macht des Staates oder den wirtschaftlichen Fortschritt zu sichern, um so mehr neigen die Intellektuellen zum Abfall. Das Ansehen, das die Gesellschaft den Männern des Gedankens zugesteht, hat auch seinen Einfluß auf die Anschauungen, mit denen diese den Männern der Praxis gegenüberstehen. Dank dem doppelten Erfolg der Reformation und der Revolution im 16. und 17. Jahrhundert, hat sich die britische Intelligentsia niemals in einem ständigen Streit mit der Kirche oder mit der herrschenden Klasse befunden. Sie hat regelmäßig das Kontingent der Nichtkonformisten gestellt, ohne die die Orthodoxie jede Anzweiflung überlieferter Werte und Institutionen verhindern würde. Aber in ihren Auseinandersetzungen ist sie der Erfahrung nähergeblieben und neigte weniger zur Metaphysik als die intellektuellen Klassen des Kontinents, vor allem in Frankreich. Die Geschäftsleute oder die Staatsmänner hatten soviel Vertrauen zu sich selbst, um gegenüber Schriftstellern oder Professoren keine Minderwertigkeitskomplexe oder gar offene Feindschaft zu empfinden. Die Intellektuellen ihrerseits waren von den Reichen und Mächtigen nicht isoliert, sie erhielten einen Platz — wenn auch nicht den ersten — in der Elite, und sie dachten selten an einen völligen Umsturz. Sie gehörten häufig der Klasse an, die regierte. Die Reformen folgten den Ansprüchen immer früh genug, um zu verhindern, daß das politische oder wirtschaftliche System selbst zu einem Zankapfel wurde.
In Frankreich dagegen wurde während des ganzen 19. Jahrhunderts die Staatsform niemals einmütig gebilligt, und die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Revolution setzte sich endlos fort. Die Intellektuellen gefielen sich in einer Art ewiger Opposition, ob nun die parlamentarischen Einrichtungen durch die Monarchie gefährdet, ob die demokratischen Prinzipien von einem Bonaparte ausgenutzt wurden, ob sich die Republik den Sozialisten gegenüber zu aufgeschlossen oder zu ablehnend verhielt.
Daher genügte irgendeine beliebige Krise, sei es die von 1934 oder 1940, um die kaum erloschenen Konflikte wieder anzufachen. Sogar Großbritannien erlebte im Laufe der dreißiger Jahre manche Erschütterung. Die englischen oder amerikanischen Intellektuellen, die für die Ereignisse empfänglich waren und sich ebensowenig wie andere Menschen dem Hexenzauber der Gegenwart entziehen konnten, lernten angesichts der Wirtschaftskrise die Versuchung des Abfalls und das Wunder des sowjetischen Paradieses kennen. Aber dennoch blieben radikaler Linksextremismus und Faschismus hier ein Randphänomen. In Frankreich dagegen standen sie im Mittelpunkt der Diskussion. Wieder einmal vergaß man das Land und seine bescheidenen Probleme, um sich dem ideologischen Delirium zu überlassen.
Die politische Begriffswelt entstammt der jeder Nation eigentümlichen Tradition. Man findet in allen Ländern des Westens dieselben Doktrinen oder dieselben ideologischen Konglomerate: Konservativismus, Liberalismus, Sozialkatholizismus und Sozialismus. Aber die Aufteilung der Ideen auf die Parteien ist unterschiedlich, politischer Einsatz und weltanschauliche Begründungen entsprechen einander nicht
Noch durch ein weiteres Band sind die Intellektuellen mit der nationalen Gemeinschaft verbunden: sie erleben mit besonderer Leidenschaft das Schicksal ihres Vaterlandes. Die deutsche Intelligentsia des Kaiser-reiches war in ihrer ungeheuren Mehrheit dem Regime ergeben. Die LIniversitätsprofessoren, die in der Hierarchie einen gehobenen Platz einnahmen, und zwar mehr noch durch ihr Ansehen als durch ihr Geld, waren nichts weniger als Revolutionäre. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, zeigten sie sich gegenüber der Frage der Regierungsform, die ihre französischen Kollegen allzu leidenschaftlich beschäftigte — Monarchie oder Republik —, gleichgültig. Der Sozialprobleme bewußt, die die Schnelligkeit der Industrialisierung in Deutschland schärfer hervortreten ließ als in Frankreich, suchten sie reformistische Lösungen im imperialistischen und kapitalistischen Rahmen. Marxisten gab es an den Universitäten wenig, sie rekrutierten sich mehr aus den Intellektuellen an der Peripherie. Vielleicht waren die Schriftsteller und Künstler, die im Gegensatz zu denen in Frankreich weniger Ansehen genossen als die Professoren, dem Regime auch weniger ergeben als diese. Besonders typisch für den Kontrast zwischen beiden Ländern war der nationalistische Hang bei der Mehrheit der deutschen Schullehrer und der Hang zur Linken bei der Mehrheit der französischen.
Die Feindschaft eines großen Teils der deutschen Intelligentsia gegen die Weimarer Republik wurde durch eine sozusagen ästhetische Ablehnung eines Regimes ohne Glanz bedingt, das Männer aus dem Volke oder dem Kleinbürgertum an seiner Spitze hatte, vor allem aber durch das Gefühl der Erniedrigung, das die Niederlage des Landes bewirkte. Arbeiter und Bauern spüren vor allem die Auswirkungen einer Niederlage auf Unabhängigkeit und Prosperität eines Landes, der Intellektuelle dagegen die Schwankungen des nationalen Ansehens. Wenn er sich auch einbildet, er sei Reichtum und Macht gegenüber gleichgültig (allerdings, wieviel Stalinanhänger würden in Frankreich noch verbleiben, wenn die Sowjetunion zehnmal weniger Divisionen besäße?), so ist er doch niemals dem nationalen Ruhm gegenüber gleichgültig, denn an ihm hängt zum Teil der Glanz des eigenen Werks. Solange sein Vaterland über die stärkeren Bataillone verfügt, gibt er vor, von dieser inneren Beziehung nichts zu wissen, aber es fällt ihm schwer, sich damit abzufinden, daß eines Tages der Geist der Geschichte mit der verfallenden Macht seines Landes in andere Gefilde auswandert. Die Intellektuellen leiden unter der Führungsrolle der Vereinigten Staaten mehr als die gewöhnlichen Sterblichen.
Der Einfluß des nationalen Schicksals auf die Haltung der Intellektuellen läßt sich manchmal an der wirtschaftlichen Lage ablesen. Auf Arbeitslosigkeit, auf Langsamkeit von Beförderungen, auf den Widerstand alter Generationen oder fremder Herren reagiert die gesamte Iritelligentsia mit mehr Leidenschaft als andere soziale Kategorien, weil sie größere Ambitionen nährt und über größere Aktionsmöglichkeiten verfügt. Sie entrüstet sich aufrichtig über die Ungerechtigkeit, die Armut, die Unterdrückung, deren Opfer die anderen Menschen sind:
wie sollte sie da nicht die Stimme erheben, wenn sie selber betroffen ist?
Es genügt, die Umstände aufzuzählen, durch die sich gerade Akademiker geprellt fühlen, um revolutionäre Gegebenheiten des 20. Jahrhunderts wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die große Krise zehn Jahre nach der Niederlage setzte in Deutschland Zehntausende auf die Straße, die halbintellektuelle Funktionen erstrebt hatten: die Revolution schien der einzige Ausweg. Die Postenjägerei von Franzosen in Tunis oder Marokko verbittert die einheimischen Akademiker, die von den französischen Universitäten gekommen sind, und führt sie unwiderstehlich zur Auflehnung.
Dort, wo die ehemaligen herrschenden Klassen — Grundbesitzer, reiche Kaufleute, Stammeshäuptlinge — sich sozusagen das Monopol von Macht und Reichtum vorbehalten, stachelt das Mißverhältnis zwischen dem, was die rationalistische Kultur des Westens verspricht, und dem, was die Wirklichkeit hält, zwischen den Hoffnungen der Akademiker und ihren tatsächlichen Aussichten nach und nach die Leidenschaften an, die die Umstände gegen die koloniale Beherrschung oder gegen die Reaktion und auf eine nationale oder marxistische Revolution lenken.
Selbst die Industriegesellschaften des Westens sind durch ein Bündnis enttäuschter Fachleute und verstimmter Literaten bedroht. Die einen suchen nach Wirkungsmöglichkeiten, die anderen verfolgen bestimmte Ideen. Beide vereinigen sich gegen ein Regime, das sie weder mit dem Stolz auf eine kollektive Macht noch mit der persönlichen Genugtuung, an einem großen Werk teilzunehmen, erfüllen kann. Vielleicht allerdings werden die kommenden Ereignisse weder den Erwartungen der Techniker noch denen der Ideologen entsprechen. Diese werden eine relative Sicherheit einhandeln und Loblieder auf die Macht singen, jene werden sich damit trösten, Staudämme zu bauen.
Das Paradies der Intellektuellen
Frankreich gilt als das Paradies der Intellektuellen, und doch gelten die französischen Intellektuellen als Revolutionäre: das sind zwei Tatsachen, deren Zusammentreffen paradox anmutet. Ein fortschrittlicher englischer Schriftsteller, dessen Name den Mitgliedern des Parlaments unbekannt ist, wird von Enthusiasmus mitgerissen, wenn er sich nach seiner Ankunft in Paris in St. Germain des Pres niederläßt Mit einem Schlage begeistert ihn die Politik, deren weise Führung in seinem eigenen Vaterland seine Aufmerksamkeit nicht sehr zu fesseln vermag. Die Meinungsverschiedenheiten werden in Paris mit einer solchen Feinheit herausgestellt, daß sie keinen Professionellen der Intelligenz kalt lassen können. Der letzte Artikel von Jean Paul Sartre ist ein politisches Ereignis oder wird mindestens von einem engen Kreis, der aber von seiner Bedeutung überzeugt ist, als ein solches ausgenommen. Die politischen Ambitionen der erfolgreichen Romanschriftsteller stoßen mit den literarischen der Staatsmänner zusammen. Diese träumen davon, einen Roman zu schreiben, und jene, Minister zu werden.
Man wird einwenden, dieser Eindruck sei oberflächlich und dieses Paradies nur für fremde Besucher reserviert. Die Literaten, die von ihrer Feder leben, sind tatsächlich wenig zahlreich. Erzieher, Gymnasial-oder Universitätsprofessoren existieren von kläglichen Gehältern (wenn auch ein Citroen für Akademikerhaushalte mit Doppelverdienern nicht unerschwinglich ist), die Forscher arbeiten in schlecht ausgestatteten Laboratorien. Man denkt an den Sonderfall eines Intellektuellen, der ebenso reich an Ruhm wie an Autorenrechten ist und nichtsdestoweniger seine Feder in den Dienst einer schlecht begriffenen Revolution stellt. Aber man denkt nicht an jene, die der Kontrast zwischen den (der Steuer nicht angegebenen) Gewinnen der Kaufleute, der Chirurgen und der Rechtsanwälte und der Bescheidenheit ihrer eigenen Verhältnisse verbittert. Die Intellektuellen sind gegen Sorgen wirtschaftlicher Art nicht weniger empfindlich als die anderen Franzosen. Einige stellen sich vor, daß von einem Staatsverlag herausgegebene Bücher eine höhere Auflage erzielen würden und daß ein sowjetisches System ihnen großzügig die Arbeitsinstrumente zur Verfügung stellen würde, mit denen die Französische Republik knausert. Auch jenseits des Atlantischen Ozeans erreichen gewisse Spezialisten des geschriebenen Wortes, die man kaum zu den Intellektuellen zählen mag, erhebliche Einkünfte
Zügigkeit mächtiger Unternehmen, die ein Talent der Feder ohne geistige Qualitäten als geschätzte Waren behandeln, oder die Großzügigkeit des Staates, als des einzigen Schirmherrn von Wissenschaft und Künsten, wecken bei den Intellektuellen eines Landes, das zu klein ist, als daß einzelne Kapitalisten oder der Staatshaushalt das Geld in einer so verschwenderischen Weise ausstreuen könnten, offenbar einen gewissen Neid.
Ich zweifle dennoch, ob diese Erklärung das Wesentliche trifft. Der Abstand zwischen dem Lohn eines Facharbeiters und der Besoldung eines LIniversitätsprofessors ist in Frankreich mindestens ebenso groß, vielleicht sogar größer als in den Vereinigten Staaten. Insofern, als gehobene geistige Tätigkeit (das Schreiben philosophischer oder wissenschaftlicher Bücher) weniger einbringt als eine weniger qualifizierte Tätigkeit (Journalismus), ist das Phänomen nicht spezifisch französisch. Jene, die sich gehobenen Beschäftigungen widmen — Gelehrte, Philosophen, Romanschriftsteller mit kleiner Auflage —, genießen aber Ansehen und eine fast uneingeschränkte Freiheit. Warum verabscheuen so viele Intellektuelle — oder tun so, als ob sie es täten — eine Gesellschaft, die ihnen, an den allgemeinen Einkünften gemessen, einen ehrenvollen Lebensstandard gibt, die ihre Betätigung nicht einschränkt und sich dazu bekennt, daß die Werke des Geistes die höchsten Werte darstellen?
Die ideologische Tradition, die Tradition der rationalistischen und revolutionären Linken, verdeutlicht die Motive, die zur Entfremdung der Intellektuellen führen. Diese Entfremdung hängt vor allem mit der Situation zusammen. Die meisten Intellektuellen, die sich für Politik interessieren, sind verbittert, weil sie sich um das, was ihnen mit Recht zukäme, geprellt fühlen. Ob sie zum Aufruhr neigen oder Zurückhaltung üben, sie haben das Gefühl, in der Wüste zu predigen Die vierte Republik, die den willkürlichen Direktiven parlamentarischer Gruppen ohne gemeinsame Doktrin und den widerspruchsvollen Anforderungen von Interessengruppen unterworfen ist, entmutigt sowohl den „Ratgeber des Fürsten“ als die Propheten des Umsturzes. Sie ist reich an negativen Tugenden, aber zu konservativ angesichts einer sich ständig verändernden Welt.
Das Regime ist allerdings nicht allein verantwortlich für die augenfällige Scheidung von Intelligenz und Aktion. Die Intellektuellen scheinen sogar in der sozialen Ordnung einen höheren Rang einzunehmen als anderswo, weil man immer an das Pariser Milieu denkt, wo der Romanschreiber einen gleichen oder höheren Platz einnimmt als der Staatsmann. Der Schriftsteller, auch wenn er ohne Sachkenntnis ist, kann mit einem breiten Publikum rechnen, selbst wenn er etwas behandelt, von dem er sich rühmt, nichts zu verstehen: ein in den Vereinigten Staaten, in Deutschland oder Großbritannien unvorstellbares Phänomen. Die Überlieferung der Salons, in denen Frauen oder Causeure regierten, lebt noch in diesem Jahrhundert der Technik fort. Das allgemeine Kulturniveau erlaubt es noch, auf angenehme Weise über politische Fragen zu dozieren, es schließt grobe Dummheiten nicht aus und verlangt keine präzisen Reformen. In geistiger Beziehung nimmt die lntelligentsia in Frankreich aber weniger an den Aktionen teil als anderswo.
In den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und selbst in Deutschland besteht die ständige Zirkulation von Ideen und Personen, zwischen Wirtschaftlern und führenden Bank-oder Industrie-Kreisen, zwischen diesen und den hohen Beamten, zwischen der seriösen Presse und der Universität oder der Verwaltung. Das französische Unternehmertum weiß jedoch kaum etwas von Nationalökonomen, und bis in die jüngste Zeit hinein neigte es dazu, sie zu verachten — aus voller Überzeugung.
Die Beamten sind nicht empfänglich für die Ratschläge von Professoren, und Journalisten haben wenig Beziehungen zu den einen und den anderen. Nichts aber ist für die Wohlfahrt einer Nation so wichtig wie der Austausch von Wissen und Erfahrungen zwischen Universitäten, Redaktionsstuben, Verwaltungen und Parlament. Politiker, Gewerkschaftsführer, Fabrikdirektoren, Professoren oder Journalisten dürfen weder in eine Partei hineingepreßt werden, die sich das Machtmonopol vorbehält, noch voneinander durch Vorurteile und Unkenntnis getrennt werden. In dieser Hinsicht ist keine herrschende Klasse so schlecht organisiert wie die Frankreichs.
Der Schriftsteller wirft unserer Staatsführung nicht vor, von den Lehren der politischen oder Wirtschaftswissenschaft nichts zu wissen.
Viel eher würde er der amerikanischen Zivilisation vorwerfen, den Mann der Wissenschaft oder den Denker zu verachten und Intellektuelle zu Spezialisten herabzuwürdigen. Demgegenüber beklagen sich die Wirtschaftsexperten oder Statistiker darüber, daß Parlamentarier und Minister für die Ansprüche von Interessengruppen empfänglicher seien als für unparteiische Ratschläge. Die einen wie die anderen verbindet das Gefühl, verfügbar zu sein, aber keine Verantwortung zu haben. So werden sie hyperkritisch und begeistern sich alle für eine Revolution, die sich für die einen in einem gewaltigen Aufschwung der Produktivität symbolisiert und den anderen darüber hinaus als eine Umwälzung der Geschichte erscheint. Nur in der Equipe um Mendes-France treffen sich Fachleute mit Literaten, hohe Staatsfunktionäre mit Francois Mauriac. Vielleicht würde die Teilnahme an der Macht die Sehnsucht der einen wie der anderen stillen.
Der Verlust an Macht, Reichtum und Ansehen trifft alle Naticnen des alten Kontinents gemeinsam. Frankreich und Großbritannien gingen besiegt aus zwei Weltkriegen hervor, genau wie Deutschland, das zweimal zerschmettert wurde. Der größere Reichtum pro Kopf der Bevölkerung, die größeren Produktionsreserven hatten in den Vereinigten Staaten in jeder Hinsicht die natürliche Überlegenheit noch verstärkt, die auf die große nationale Einigkeit zurückzuführen ist. Aber ohne die zwei Kriege des 20. Jahrhunderts hätten Frankreich und Großbritannien weiterhin eine große Rolle in der Welt gespielt und ihre Importe mühelos durch die Einkünfte von Investitionen im Ausland finanzieren können. Augenblicklich, da sie an ihren Grenzen durch ein kontinentales Weltreich bedroht sind, können sie kaum ohne ausländische Hilfe existieren, fühlen sie sich unfähig, sich selbst zu verteidigen, und der Abstand zwischen der amerikanischen und der europäischen Produktivität scheint noch immer eher zu-als abzunehmen. Wie sollten die Europäer jenen die Folgen ihres eigenen Wahnsinns verzeihen, die daraus Profit geschlagen haben, wenn man die Hegemonie in der Welt überhaupt als ein Glück betrachten will? Selbst wenn man den Amerikanern keine Vorwürfe machen könnte, würden die Europäer ihnen doch einen Aufstieg verübeln, der das Gegenstück ihres eigenen Verfalls darstellt.
Gott sei Dank sind die Amerikaner aber auch sonst nicht über jeden Vorwurf erhaben.
Es ist normal, daß über die führende Macht gescholten wird. Großbritannien war in der Zeit, da es die Welt beherrschte, niemals sehr beliebt. Die englische Diplomatie hat seit Ende des zweiten Weltkrieges einiges Prestige zurückgewonnen, seit der Zeit also, da sie nicht mehr die großen Entscheidungen trifft und sich die Rolle eines Kritikers vorbehält. Sie kommentiert das Weltgeschehen, übt eine Art Vetorecht aus und zieht bei allen Verhandlungen mit dem sowjetischen Lager einige Vorteile aus dem Respekt, den die Macht Amerikas Moskau oder Peking einflößt. Der Unterschied zwischen den Maßnahmen der Vereinigten Staaten, so wie sie tatsächlich getroffen wurden, und zwischen dem Bild, das die Europäer sich davon machen, erfordert eine zusätzliche Erklärung. Im großen und ganzen entsprach die amerikanische Diplomatie den Wünschen oder Abneigungen der Europäer. Sie hat durch eine große finanzielle Hilfe zur wirtschaftlichen Erholung des alten Kontinents beigetragen, sie hat keine Initiative ergriffen, um die Völker Osteuropas mit Gewalt zu befreien, sie hat auf die Aggression der Nordkoreaner reagiert, hat aber weder die Risiken noch die Opfer auf sich genommen, die ein endgültiger militärischer Sieg erfordert hätte, sie hat schließlich nicht versucht, Indochina zu retten Die beiden einzigen eindeutigen Vorwürfe beziehen sich auf die Überschreitung des 3 8. Breitengrades (eine Entscheidung, die man heute noch rechtfertigen kann) und auf die Nichtanerkennung der Regierung in Peking ein Irrtum, der nicht sehr ins Gewicht fällt.
Grundsätzlich war also die Strategie der Vereinigten Staaten in ihren tatsächlichen Handlungen nicht sehr verschieden von dem, was sich die Mehrheit der Europäer, die Intellektuellen eingeschlossen, selber wünschte. Worin bestehen also die Beschwerden oder die tieferen Beweggründe dafür? Ich bemerke deren drei, deren psychologisches Gewicht noch immer zunimmt: in ihrem Bestreben, dem Kommunismus Widerstand zu leisten, können die Vereinigten Staaten gelegentlich nicht umhin, „feudale oder reaktionäre Regierungen“ zu unterstützen. (Übrigens behandelt eine gut orchestrierte Propaganda jeden entschlossenen Antikommunisten als „Marionette“ oder als „Reaktionär“.) Weil sie einen erheblichen Vorrat an Atombomben besitzen, werden die Vereinigten Staaten symbolisch verantwortlich für einen möglichen Krieg, der der Menschheit größtes Entsetzen einflößt. Vor längerer Zeit rühmte sich Chruschtschow in Prag, daß die Sowjetunion als erste Macht die Wasserstoffbombe vollständig entwickelt hätte: dieser Satz wurde von den Presseagenturen nicht wiedergegeben. Die Sowjetunion arbeitet nicht weniger als die Vereinigten Staaten (vielleicht noch mehr) an der Entwicklung der nuklearen Waffen, aber sie spricht weniger davon. Schließlich — und dieser Grund scheint uns entscheidend — wirft man den führenden Staatsmännern in Washington vor, sie ließen die Teilung der Welt in zwei Blöcke zu und verhärteten diese Teilung noch, indem sie sie anerkennen. Nun, eine solche Auffassung verweist die europäischen Völker unausweichlich in die Zweitrangigkeit.
Vor kurzem noch sah man in Paris oder in London von oben auf den Nationalismus der Intellektuellen Mittel-und Osteuropas herab, man schob ihm nicht ohne einige Grund die Balkanisierung des alten Kontinents in die Schuhe: Ist der Nationalismus, der neuerdings in den Kreisen der französischen Linken Bürgerrecht erworben hat, davon so sehr verschieden? Die sogenannten großen Nationen reagieren nicht vernünftiger auf ihren Abstieg, als die sogenannten kleinen Nationen gestern auf ihre plötzliche Auferstehung reagiert haben. Kein gängiges Wort hat, wenn es von den Kommunisten vorgebracht wird, mehr Erfolg als das der „nationalen Unabhängigkeit“. Dennoch braucht man weder eine überdurchschnittliche Klarsicht, um sich das Los Polens oder der Tschechoslowakei zu vergegenwärtigen, noch eine höhere Intelligenz, um die militärischen Hilfsmittel Frankreichs der Notwendigkeit der europäischen Verteidigung gegenüberzustellen. Der französische Intellektuelle, der sich gegen jede kollektive Organisation der Diplomatie oder der militärischen Kräfte des Westens sträubt, wirkt nicht weniger anachronistisch als der polnische Intellektuelle, der zwischen 1919 und 1939 für sein Vaterland eifersüchtig die Freiheit der diplomatischen Manövrierfähigkeit in Anspruch nahm. Dabei hatte dieser wenigstens noch bis 193 3 die Entschuldigung für sich, daß seine beiden großen Nachbarn, Rußland, und Deutschland, schwach waren. Wir beabsichtigen keine „Verteidigung und Lobpreisung“ der europäischen Verteidigungsgeineinschaft, deren Absichten besser waren als ihre Einrichtungen. Ein Bundesstaat der Sechs fordert zahlreiche und starke Einwände heraus. Man könnte sogar mit Vernunftgründen für ein Europa eintreten, das die amerikanische Armee vor einer sowjetischen Invasion schützt, ohne daß ein Bündnisvertrag in aller Form unterzeichnet und ohne daß die amerikanischen Kontingente am Rhein oder an der Elbe stationiert würden. Aber die Intellektuellen gehen sich nicht mit so verwickelten Argumenten ab — wenn die Vereinigten Staaten unerläßlich sind, um das Gleichgewicht zu erhalten, dann stellt der Atlantikpakt zweifellos die einfachste Form dar —, sie sind vielmehr für die Vorstellung eines Europas empfänglich, das scheinbar seine Handlungsfreiheit zurückgewonnen hätte.
Ein solches Gefühl ist ihren Landsleuten nicht unbekannt. Auch der Mann auf der Straße kennt den Unmut gegen den zu mächtigen Alliierten, kennt die Bitterkeit der nationalen Schwäche, kennt die Sehnsucht nach dem Ruhm von gestern und das Streben nach radikal veränderten Verhältnissen. Aber die Intellektuellen sollten solche Gefühle lieber beschwichtigen und die Gründe einer stabilen Solidarität des Westens aufzeigen. Anstatt diese Führungsaufgabe zu erfüllen, ziehen sie es, vor allem in Frankreich, vor, ihren Auftrag zu verraten und die dumpfen Gefühle der Masse dadurch anzustacheln, daß sie ihnen eine Pseudorechtfertigung geben
In der Mehrzahl der Länder gebärden sie sich antiamerikanischer als die gewöhnlichen Sterblichen. Manche Äußerungen Jean Paul Sartres im Zusammenhang mit dem Koreakrieg und der Sache der Rosenbergs erinnern an diejenigen der Antisemiten gegen die Juden
Die fast einmütige Haltung der französischen Intellektuellen gegenüber den Rosenbergs erscheint uns charakteristisch und heute noch befremdend. Wenn man die Tribunale des Besatzungsstaates und den Gang der Justiz unter der Befreiung verfolgt, könnte man den Franzosen einen nicht gerade sehr entwickelten Sinn für das Recht zuerkennen.
Die großherzigen Intellektuellen der Temps modernes oder des Esprit haben sich über die Ausschreitungen der Säuberung nicht aufgeregt, sie gehörten vielmehr zu denen, die der provisorischen Regierung eine zu große Milde der Strafen vorwarfen. Sie hätten einem Prozeß sowjetischen Typs ein sympathisierendes Verständnis bekundet. Warum heuchelten sie in der Affäre Rosenberg eine Entrüstung, die ihre Großväter zur Zeit der Affäre Dreyfus aufrichtig empfunden hatten? Diese, die die Staatsräson und die „Militärjustiz“ verabscheuten, hätten dennoch gezögert, an solchem Feldzug teilzunehmen
Man konnte es bedauern, daß der Richter im Falle der Rosenbergs ein Todesurteil für Taten ausgesprochen hatte, die zu einer Zeit began-gen wurden, da die Sowjetunion noch ein verbündetes und kein feindliches Land war. Die lange Haftdauer machte die Hinrichtung noch grausamer und erregte Mitleid. Aber der Richterspruch, der unbestreitbar legal war, forderte allenfalls Bedauern oder Mißbilligung heraus (auch wenn man den Schuldspruch der Geschworenen als berechtigt empfand) und nicht die wilde Anklage eines Moralisten. Übrigens war die Schuld der Rosenbergs zumindest außerordentlich wahrscheinlich. Die kommunistische Propaganda bemächtigte sich dieses Falles erst mehrere Monate nach dem Prozeß, als die Parteiführer davon überzeugt waren, daß zum erstenmal der Atomspionage angeklagte militante Anhänger bis zum letzten leugnen würden, Taten begangen zu haben, die jeder gute Stalinist für erlaubt hält. Es glückte der Propaganda, ein Urteil, das in seiner Strenge durch die Atmosphäre, die die öffentliche Meinung beherrschte, als es gefällt wurde, und durch den Zeitpunkt des Prozesses beeinflußt war, in einen Justizirrtum umzubiegen. Der Erfolg der Kampagne in Frankreich erklärt sich weniger aus der Sorge um das Recht oder durch die Wirksamkeit der Psychotechnik als vielmehr durch die Neigung, den Vereinigten Staaten etwas am Zeuge zu flicken.
Diese Paradoxie klagt sich übrigens selber an, wenn man bedenkt, daß sich die Werte, auf die die Vereinigten Staaten sich berufen, in vieler Hinsicht kaum von denen unterscheiden, die ihre Kritiker dauernd proklamieren. Niedriger Lebensstandard des Arbeiters, Ungleichheit der Startbedingungen, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrükkung: das sind die Fehler der Gesellschaftsordnung, die die Intelligentsia der Linken anprangert; sie stellt ihnen die Erhöhung des Lebensstandards, die Abmilderung der Klassenunterschiede, die Erweiterung der persönlichen und gewerkschaftlichen Freiheiten entgegen. Nun, die offizielle Ideologie auf der anderen Seite des Atlantiks entspricht diesem Ideal durchaus, und die Verteidiger des American way of life können sich ohne Eitelkeit rühmen, daß sich ihr Land diesen Zielen mindestens ebensosehr, wenn nicht mehr genähert hat als irgendein anderes.
Grollen die europäischen Intellektuellen den Vereinigten Staaten nun deswegen, weil sie im großen und ganzen Erfolg gehabt oder weil sie zum Teil versagt haben? Sie werfen den Vereinigten Staaten vor allem ausdrücklich die Widersprüche zwischen Idee und Wirklichkeit vor, deren beliebtes und symbolisches Beispiel das Los der schwarzen Minderheit ist. Immerhin, abgesehen von dem tief verwurzelten rassischen Vorurteil, mildern sich die diskriminierenden Unterscheidungen, und die Lebensbedingungen der Schwarzen bessern sich. Der Kampf in der amerikanischen Seele zwischen dem Prinzip der Gleichheit der Menschen und der Barriere der Farbe kann Verständnis beanspruchen. Tatsächlich grollt die europäische Linke den Vereinigten Staaten vor allem deswegen, Reformen waren, weil sie mit ihren sozialen erfolgreich ohne den Methoden der von ihr bevorzugten Ideologie zu folgen. Wohlstand, Macht, die Tendenz zur Gleichheit der Lebensbedingungen, alle diese Resultate wurden viel mehr durch Privatinitiative und durch Konkurrenz erreicht als durch die Einmischung des Staates, anders gesagt, durch den Kapitalismus, von dem jeder wohlgeborene Intellektuelle nichts zu wissen, den zu verachten er aber verpflichtet ist.
So sichtbar ihr Erfolg ist, die amerikanische Gesellschaft verkörpert geschichtliche keine Idee. Die einfachen und bescheidenen Ideen, die sie weiterhin pflegt, sind auf dem alten Kontinent aus der Mode gekommen. Die Vereinigten Staaten bleiben optimistisch nach der Art des Europa im 18. Jahrhundert: sie glauben an die Möglichkeit, das Los der Menschen zu verbessern, sie mißtrauen der Gewalt, die verderblich ist, sie bleiben unbewußt autoritätsfeindlich und lehnen die Anmaßung einiger weniger ab, den Weg des Heils besser zu kennen als der einfache Mann. In den Vereinigten Staaten hat man weder Sympathien für die Revolution noch für das Proletariat, man kennt nur wirtschaftliche Expansion, Gewerkschaften und Verfassung.
Die Sowjetunion versklavt die Intellektuellen und säubert ihre Reihen, nimmt sie aber wenigstens ernst. Intellektuelle waren es, die dem sowjetischen Regime seine grandiose und zweideutige Doktrin gaben, aus der die Bürokraten dann eine Staatsreligion gemacht haben. Heute noch, wenn sie über Klassenkämpfe oder Produktionsverhältnisse debattieren, genießen sie gleichzeitig die Freuden der theologischen Diskussion, die herbe Genugtuung an wissenschaftlichen Auseinandersetzungen und den Rausch des Nachgrübelns über die Weltgeschichte. Die Analyse der amerikanischen Wirklichkeit wird niemals derlei Genüsse bieten. Die Vereinigten Staaten verfolgen ihre Intellektuellen nicht genug, um selber durch trüben Terror verführerisch zu wirken; einigen von ihnen geben sie zeitweise einen Ruhm, der mit dem der Filmstars oder der Baseballspieler konkurriert. Die meisten lassen sie unbeachtet. Die Intelligentsia erträgt aber eher Verfolgung als Gleichgültigkeit.
Zu dieser Gleichgültigkeit gesellt sich noch ein anderer, besser begründeter Vorwurf gegen den Amerikanismus. Der Preis für den wirtschaftlichen Fortschritt erscheint oft zu hoch. Die Abhängigkeitsverhältnisse der industriellen Zivilisation, die Brutalität der menschlichen Beziehungen, die Macht des Geldes, die puritanischen Elemente der amerikanischen Gesellschaft stoßen den Intellektuellen europäischer Tradition ab. Man legt leichthin den Realitäten oder mehr noch den Worten, die man nicht liebt, die vielleicht unvermeidlichen oder zeitweiligen Kosten zur Last, die das Heraufkommen der Massen verursacht. Man vergleicht die Digests oder die Hollywoodproduktionen mit den größten Werken, die für die geistige Elite bestimmt sind, nicht aber mit der Nahrung, die bis vor kurzem dem einfachen Mann vorbehalten blieb. Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln würde an der Durchschnittlichkeit der Filme oder des Radios jedoch nichts ändern. Auch hier sind die Intellektuellen noch antiamerikanischer als das große Publikum, das zum Beispiel in England nur schwer auf amerikanische Filme verzichten würde. Aber warum gestehen sich die Intellektuellen nicht selber ein, daß sie weniger am Lebensstandard des Arbeiters als an der Verfeinerung der Werke und der Existenz interessiert sind? Warum klammern sic sich an die demokratische Ausdrucksweise, während sie sich doch bemühen, der Invasion von Serienmenschen und Serienwaren Werte entgegenzusetzen, die absolut aristokratisch sind?
Die Hölle der Intellektuellen
Das Gespräch zwischen französischen und amerikanischen Intellektuellen ist deswegen so schwierig, weil ihre Situation in vielfacher Hinsicht geradezu entgegengesetzt ist. Die Anzahl der Akademiker oder Professionellen des Wortes ist in Amerika absolut wie relativ höher als in Frankreich, weil sie mit dem wirtschaftlichen Fortschritt zunimmt. Aber die amerikanische Intelligentsia wird infolgedessen nicht mehr durch einen Künstler oder Gelehrten, sondern durch einen Fachmann, sei er Volkswirt oder Soziologe, repräsentiert. Man schenkt dem Techniker Vertrauen und nicht dem geistig Gebildeten. Die Arbeitsteilung nimmt selbst im geistigen Sektor mehr und mehr zu. Ist die Rangordnung der verschiedenen nichthandwerklichen Berufe jenseits des Atlantiks anders als die in England? Es ist schwierig, in Ermangelung einer genauen Untersuchung, hierauf mit Sicherheit zu antworten. Die Hierarchie, die in jeder Beziehung schwer abzugrenzen ist, schwankt wahrscheinlich je nach den Gruppen innerhalb desselben Landes. Jeder Berufskreis hat seine eigene Rangordnung. Aber der einfache und greifbare Tatbestand bleibt darum nicht weniger wahr: der Romanschriftsteller oder der Philosoph, der in Frankreich die erste Geige spielt, prägt der amerikanischen Intelligentsia weder seinen Stempel noch seine Sprache auf. Wenn das Paris des linken Seineufers das Paradies der Schriftsteller ist, müßten die Vereinigten Staaten als deren Hölle bezeichnet werden. Und dennoch könnte die Formel „Rückkehr nach Amerika“ als Motto über einer Geschichte der amerikanischen Intelligentsia im Laufe dieser letzten fünfzehn Jahre stehen. Frankreich verherrlicht seine Intellektuellen, obwohl sie es begeifern, die Vereinigten Staaten nehmen auf die ihren keine Rücksicht, obwohl sie ihr Vaterland preisen. In beiden Fällen ist der Beweggrund der gleiche: die Franzosen reagieren auf die Erniedrigung, die Amerikaner auf die Größe ihres Volkes, die einen wie die anderen bleiben im Grunde Nationalisten, die Franzosen aus Sehnsucht nach einer Vergeltung, die Amerikaner im Bann des gewonnenen Ruhmes. Merkwürdigerweise spielte sich im gleichen Jahr 19 5 3 in den Vereinigten Staaten der Streit um die „Eggheads“ ab, als auch die Untersuchung „Amerika und die Intellektuellen“ im „Partisan Review“ erschien. Diese enthüllte die Bekehrung der Professionellen des Gedankens zum „großamerikanischen“ Patriotismus, jene die verborgene Feindseligkeit, die ein wichtiger Teil der öffentlichen Meinung gegenüber den Männern des Gedankens empfindet.
Das Wort „Egghead“ ist dunklen Ursprungs — man führt es auf mehrere Erfinder zurück, aber es hatte einen glänzenden Erfolg. In einigen Tagen durcheilte es die Vereinigten Staaten: Zeitungen, Wochenzeitschriften und Illustrierte veröffentlichten Artikel für oder gegen die „Eggheads“. Die Polemik war von der Wahlkampagne untrennbar. Stevenson schien von den typischen Vertretern dieser Kategorie umgeben, und die Republikaner versuchten den demokratischen Kandidaten dadurch herabzusetzen, daß sie ihn mit ihr gleichstellten. Da ja die Polemik von Journalisten und Schriftstellern geführt wurde, die in soziologischer Hinsicht nicht weniger Intellektuelle waren als jene, die sie angriffen, mußte man noch genau erklären, welche Wesenszüge einen Schriftsteller oder einen Professor zu einem verächtlichen „Eierkopf“ machen. Vielleicht ist es nicht-unzweckmäßig, folgende Definition Louis Bromfield zu entlehnen, einem der Intellektuellsten unter den Antiintellektuellen. „Eine Person mit falschen intellektuellen Ansprüchen, oft ein Professor oder der Schützling eines Professors, ganz und gar oberflächlich. Übertrieben erregbar und feminin in seinen Reaktionen, auf welches Problem auch immer. Arrogant und angeekelt, voll Eitelkeit und Verachtung für die Erfahrung vernünftigerer und fähigerer Menselten. Völlig verworren in seiner Art zu denken, in eine Mischung von Sentimentalität und heftiger Evangelientreue verstrickt, doktrinärer Anhänger des Sozialismus oder des Liberalismus Mitteleuropas, im Gegensatz zu den griecltisch-französisclt-amerikattischen Ideen von Demokratie und Liberalismus. Der aus der Mode gekommenen Moralphilosophie von Nietzsdte ergeben, einer Philosophie, die ihn oft ins Gefängnis oder an den Pranger führt. Ein Pedant, erfüllt von sich selbst, dazu neigend, eine Frage unter allen Aspekten zu betrachten, bis zur Entleerung des eigenen Gehirns, ein zwar durchblutetes, aber blutarmes Herz.“
Diese Definition enthält alle Anklagen, die klassischerweise gegen die Intellektuellen erhoben werden: sie behaupten, kompetenter zu sein als gewöhnliche Menschen, und sind es weniger. Es fehlt ihnen an Männlichkeit und Entschlossenheit; genötigt, sich mit allen Aspekten der Probleme zu beschäftigen, erfassen sie nicht mehr das Wesentliche und vermögen keine Entscheidung zu fällen. (Die Anspielung auf Homosexualität ist die krasseste Form dieser Art zu argumentieren.) Schließlich charakterisiert der doktrinäre mitteleuropäische Sozialismus die Ideologie dieses „Eierkopfes“, der sich in einem gemilderten Marxismus gefällt und dadurch den Weg zum Kommunismus ebnet.
Diese Art von Polemik ist nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. „Hohlkopf, Träumer, Wortklauber, Nichtkenner der Wirklichkeit und der Praxis“: das sind immer die Beschimpfungen gewesen, die ein bürgerlicher Familienvater seinem Sohn entgegengeschleudert hat, wenn dieser eine künstlerische oder wissenschaftliche Laufbahn einschlagen wollte, oder an die der Politiker und der Chef eines Unternehmens wenigstens dachten, wenn sie sie nicht sogar aussprachen, sobald der Professor oder der Moralist ihnen die llngeschliffenheit ihres Benehmens vorwarfen. Die amerikanische Polemik hat nichtsdestoweniger gewisse Besonderheiten. Im heutigen Frankreich haben auch die Männer der Praxis vor intellektuellen Werten so viel Respekt, daß sie es nicht wagen würden, öffentlich solch ein Urteil zu fällen. Man denkt zwar nach wie vor von dem geistigen Menschen schlecht, aber man traut sich nicht, es zu sagen. Die Beschuldigungen der Nichtmännlichkeit oder gar der Homosexualität, die auch diesseits des Ozeans nicht unbekannt sind, finden hier wenig Resonanz und gelten als vulgär und böotisch. Charakteristischer noch für das amerikanische Klima ist der innere Zusammenhang der Vorwürfe, die man gegen die Intellektuellen als solche erhebt, und der Vorwürfe, die auf jene zielen, die wir Linksintellektuelle nennen und die Bromfield als „Liberale“ bezeichnet.
Diese vor allem sind die Verräter der wahren und einzigen amerikanischen Tradition, des Liberalismus „Voltaires und der Enzyklopädisten, von Männern wie Jefferson, Franklin und Monroe, Lincoln, Grover, Cleveland und Woodrow Wilson“. Die falschen Liberalen stammen alle von einem Psychopathen namens Karl Marx ab, sie haben kein Ideal, außer dem der Sicherheit, und kaufen Stimmen mit Subventionen und Geldzuwendungen, „in dem gleichen Stil, der den Verfall Roms, Konstantinopels und Großbritanniens beschleunigte". Sie sind Planwirtschaftler, glauben an ihre Einsicht, nicht an die des Mannes von der Straße, sie sind zwar keine Kommunisten, aber sie denken verworren und-lassen sich von den Stalinisten in Jalta und Potsdam übers Ohr hauen.
Der MacCarthyanismus bringt ebenfalls den Linksintellektuellen, den „Nichtamerikaner“, den schamlosen Schüler von Karl Marx, der schuldig ist, den mitteleuropäischen Sozialismus in das Land von Jefferson und Lincoln einzuführen, auf die Anklagebank. Auch er beschuldigt in einem Atemzug das planwirtschaftliche Denken und die Homosexualität und behauptet, daß der Doktrinär des „Wohlfahrtsstaates“ an den Schändlichkeiten des internationalen Kommunismus beteiligt ist, sei es, weil er dessen falsche Theorien billigt, dessen Aktion erleichtert oder bewußt oder unbewußt gemeinsame Sache mit ihm macht.
Dieser antiliberale Konformismus, im amerikanischen Sinn des Wortes, ist eine mit zeitlichem Abstand gegebene Antwort auf den entgegengesetzten Konformismus. In den dreißiger Jahren haben die Liberalen in ihrer Mehrheit geglaubt, daß tatsächlich eine Verbindung oder eine Solidarität zwischen den Gegnern der Trusts, den Anhängern sozialer Gesetze und den Bolschewisten bestünde. Diese Mehrheit hat die Einheit der Linken und des Fortschritts während des zweiten Weltkrieges weit über die Notwendigkeiten des Bündnisses mit der Sowjetunion hinaus verteidigt und gepriesen, sie hat sich so lange wie möglich geweigert, an die Schuld von Alger Hiss zu glauben. Die für die Verführung durch den Kommunismus empfänglichen Menschen rekrutierten sich vor zwanzig Jahren viel mehr aus den Bürgern und den Intellektuellen als aus den Arbeitern und den unterdrückten Minderheiten
Zu diesem Thema ist noch mehr zu sagen: der europäische Intellektuelle, der die Vereinigten Staaten bereist, trifft überall viel eher auf eine Anti-MacCarthy-Strömung, als daß es ihm gelänge, die Allmacht des MacCarthyanismus zu entdecken. Jedertuam-t ist gegen den berüchtigten Senator (die einzige bemerkenswerte Ausnahme ist James Burnham, der sich geweigert hat, den Senator in Bausch und Bogen zu verurteilen, und der deswegen aus dem Herausgeberstab des „Partisan Review“ ausgeschlossen wurde). Unglücklicherweise empfindet sich jedermann nichtsdestotrotz als Minderheit, mit einem unbestimmten schlechten Gewissen wegen der früheren Verbindung zum Kommunismus
und wegen der Angst vor der Volksmeinung, die die Roten, die Rosaroten und die Blaßrosaroten, Kommunisten, Sozialisten und Anhänger des New Deal mit der gleichen Feindschaft bedenkt.
In einer amerikanischen Universität würde derjenige, der keine Position gegen MacCarthy bezieht, von seinen Kollegen streng verurteilt werden (hätte deswegen aber nichts für seine Karriere zu befürchten).
Und dennoch schrecken die gleichen Professoren manchmal davor zurück, sich öffentlich über bestimmte Themen auszusprechen, z. B. über den chinesischen Kommunismus. Die Anti-MacCarthy-Strömung verbindet sich merkwürdigerweise mit der antikommunistischen. Auch wenn man das Vorgehen des Senators verurteilt, wird man stets hinzufügen, daß man den Kommunismus nicht weniger verabscheue als er.
Fast einig gegen den MacCarthyanismus, empfindet die Gemeinschaft der Intellektuellen dumpf eine Drohung, die sich gegen sie selber richtet:
eine Gruppe des amerikanischen Volkes, die Fachleuten, Ausländern und Ideen überhaupt Mißtrauen entgegenbringt und deren Sprachrohr die Hearstoder MacCormick-Presse ist, glaubt sich von ihren früheren Führern verraten und läuft Gefahr, ihren Zorn gegen die Professoren, die Schriftsteller und die Künstler zu richten, die man zugleich für die Auslieferung Osteuropas an die russischen Armeen, für die Niederlage Tschiang Kai Scheks wie für die Sozialisierung der Medizin verantwortlich macht.
Beunruhigt durch die Woge von Antiintellektualismus, fühlen sich diese Intellektuellen nichtsdestoweniger in den Vereinigten Staaten wohl. Der Alte Kontinent hat sein Prestige eingebüßt: die Brutalität und die Gewöhnlichkeit gewisser Aspekte des amerikanischen Lebens bedeuten nichts im Vergleich mit den Konzentrationslagern Hitler-deutschlands oder der Sowjetunion. Die Prosperität der Wirtschaft ermöglicht es, Ziele zu erreichen, die die europäische Linke so dringend predigte. Fachleute aus der ganzen Welt kommen nach Detroit, um das Geheimnis des Reichtums zu entdecken. Im Namen welcher europäischen Werte sollte man sich gegen die amerikanische Wirklichkeit wenden?
Im Namen des Charmes und der Kultur, die von den Maschinen zerstört und vom Rauch geschwärzt werden? Die Sehnsucht nach der-vorindustriellen Ordnung veranlaßt einige Schöngeister tatsächlich, das französische Leben dem American way of life vorzuziehen. Aber was ist für die große Zahl der Menschen der Preis solcher außergewöhnlichen Vorzüge? Sind die Europäer nicht ihrerseits bereit, sie der Produktivität zu opfern, bereit, irgendeine Dosis Amerikanismus in sich aufzunehmen, um den Lebensstandard der Massen zu heben? Aus dem Blickfeld der Vereinigten Staaten scheint der Aufbau des Sozialismus — beschleunigte Industrialisierung unter dem Druck der kommunistischen Partei als einzigem Herrn des Staates — die Ülbelstände der technischen Zivilisation nicht zu mildern, sondern noch zu verschärfen.
Einige Intellektuelle bleiben der Tradition des Antikonformismus treu und empören sich ebenso über die Digests, die Trusts und MacCarthy wie über den Kapitalismus. Es handelt sich aber um einen Antikonformismus, der ohne einen gewissen Konformismus undenkbar ist, weil er die Thesen des militanten Liberalismus von gestern wieder aufgreift.
Die amerikanischen Intellektuellen sind gegenwärtig von Feinden verfolgt. Die einen bekämpfen den Kommunismus und behaupten, ihn überall zu finden, die andern bekämpfen MacCarthy, und der Rest schließlich den Kommunismus und MacCarthy zugleich, ohne diejenigen mitzuzählen, die sich, an der Sache verzweifelnd, damit begnügen, den Anti-Antikcmmunismus zu verurteilen: alle verfolgen gemeinsam den Abtrünnigen, um ihm den Geraus zu machen.
Großbritannien ist wohl das westliche Land, das seine Intellektuellen auf die vernünftigste Weise behandelt hat. Wie es einmal D. W. Brogan im Hinblick auf Alain gesagt hat: „We British don't take our Intellec-
tuals so seriously — wir Engländer nehmen unsere Intellektuellen nicht so ernst.“ So wird der Antiintellektualismus militanter Prägung vermieden, zu dem sich manchmal der amerikanische Pragmatismus verirrt, wie die Bewunderung, die in Frankreich unterschiedslos den Romanen und den politischen Meinungen der Schriftsteller entgegengebracht wird, diesen ein übertriebenes Gefühl ihrer Bedeutung gibt und sie zu überspitzten Urteilen und giftigen Artikeln antreibt. Ich würde wünschen, daß die Intellektuellen die Geistlichen des 20. Jahrhunderts wären: die Angelegenheiten des Staates geraten mehr und mehr in die Abhängigkeit von den Fachleuten, aber deren Irrtümer rechtfertigen nicht die Lobpreisung völliger Unwissenheit. Bis zum zweiten Weltkrieg war der Nachwuchs der Publicschools und der Universitäten tatsächlich so beschaffen, daß die herrschende Klasse die neu Hinzugekommenen sich leicht assimilieren konnte. Die Außenseiter sprachen sich scharf gegen den sozialen Konformismus aus, ohne ihn zu erschüttern. Die Interessengegensätze zwischen den Privilegierten stellten weder die Verfassung noch die politischen Methoden in Frage. Die Intellektuellen stellten Doktrinen auf, die zu Reformen führten, ohne aber in den Massen die Sehnsucht nach faszinierenden Katastrophen zu wecken. Die Reformen der letzten Dezennien haben die Zahl der Studenten und die Kreise, aus denen sie kommen, erheblich vergrößert. Der Linksintellektuelle, der grundsätzlich die Partei der Zukunft gegen die der Vergangenheit nimmt, der eine Art von Solidarität mit allen Weltrevolutionären empfindet, beherrscht einen Teil der Wochenpresse: er hat aber deswegen nicht mit seinem Vaterland gebrochen. Er zeigt sich Westminster und dem Parlament gegenüber nicht weniger anhänglich als die Konservativen. Die Wohltaten der Volksfront, vor denen er selbst durch die Schwäche der kommunistischen Partei Englands bewahrt wird, überläßt er dem Ausland. Er würde sicherlich gern sagen, daß die Stärke des Kommunismus in jedem Lande im umgekehrten Verhältnis zu dem Regime steht.
So kann er dem hervorragend bewährten englischen Regime seinen Tribut zollen, gleichzeitig die Berechtigung des Kommunismus in Frankreich, in Italien oder in China anerkennen und sich dabei ebensogut als Nationalist wie als Internationalist ausweisen. Der Franzose träumt von einem solchen Ausgleich durch die Bekehrung aller Nichtfranzosen zu Frankreich. Der Engländer hingegen ist geneigt zu glauben, daß niemand außerhalb der glücklichen Inseln des Cricketspiels oder der parlamentarischen Debatten vollkommen würdig sei. Eine anmaßende Bescheidenheit, die vielleicht ihre Belohnung finden wird: denn lie Völker, die von den Engländern erzogen und befreit worden sind, die Indiens in Asien, die der Goldküste in Afrika, werden weiterhin Cricket spielen und Parlamentsdebatten austragen.
Anmerkung Raymond Aron, 1905 in Paris geboren, ist seit 1947 Professor am Institut de Sciences Politiques in Paris. Er veröffentlichte seit 1934 mehrere soziologische und historische Arbeiten, u. a. la Sociologie Allemande contemporaine, 1934; Introduction ä la Philosophie de l’Histoire, 1938; le grand Schisme, 1948; les Guerres en Chaines, 1951.
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