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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE. Die ethisch-politischen Grundlagen ihrer Einheit | APuZ 15/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 15/1957 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE. Die ethisch-politischen Grundlagen ihrer Einheit Politik und Zeitgeschichte

AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE. Die ethisch-politischen Grundlagen ihrer Einheit

Beilage jur Dochenzeitung „Das Parlament”

Die Veröffentlichungen in der Beilage „Aus Politik und Zeitgeschichte" stellen keine Meinungsäußerung der herausgebenden Stelle dar. Sie dienen lediglich der Unterrichtung und Urteilsbildung.

Edgar Alexander

Eduard Spranger zum 75. Geburtstag Die europäische Kultur wurzelt in deut auf einer Tradition von ]ahr-hunderten beruhenden Denken und Wirken freier Völker. Sie ist ein Ganzes und doch vielgestaltig in sielt selbst, ihre Vielgestaltigkeit rührt von ihren Ursprüngen her. Die strukturelle Versdtiedenheit der Lebensverhältnisse einer Zahl von Nationen, ebenso wie die mannigfachen Formen freier gemeinscltaftlicher Anstrengungen, aus denen sie entstanden ist, spiegeln sich in ihr wider. Generationen von Männern und Frauen aller Stände haben ihr ihren Stempel aufgedrückt. Sie ist eine Einheit in ihrer Achtung des Menschen, der Vorherrschaft des Geistes, der Freiheit der Meinung und der unbehinderten Äußerung des Gedankens in ihrer kompromißlosen Gegnerschaft gegen jede Form der Tyrannei.

Sie dient dem Menschen und nicht einer einzelnen Nation oder einem einzelnen Stand. Keine nationalen oder ideologischen Rücksichten haben für sie Geltung. Es gibt keine Macht, welche die Suche des Individuums nadt der Wahrheit verbieten oder behindern dürfte. Die Kultur kann nicht als ein Mittel zu Produktionsleistungen betrachtet werden. Sie kann nicht an dem technischen Fortsdiritt, den sie gestattet, nodt an dem sich daraus ergebenden Madttzuwachs gemessen werden Sie ist im wesentlichen verkörpert in dem selbstlosen Streben nach Erkenntnis und in der Entfaltung persönlidter Qualitäten, die, je nach der Art des betreffenden Individuums, die erhabenste oder die besdieidenste Form annehmen kann. Die Kultur darf nicht das Vorredtt einer Minderheit sein. Jeder Mensdt hat ein Redit darauf, so wie er ein Recht auf Freiheit hat, und es ist die Pflicht jeder Demokratie, allen ihren Bürgern, ohne Rücksicht auf wirtschaftlidie und soziale Unterschiede, den Zugang dazu zu sichern.

(Präambel zu der ersten Kultur-Empfehlung der Beratenden Versammlung des Europa-Rats vom 7. September 1949.)

Um die geistige Leere des Europa unserer Zeit zu füllen, ist es erfor-derlidt, die ständige Zwiesprache zwischen dem Glauben und der Vernunft wiederherzustellen, denn unter den gegenwärtigen Umständen kann es keinem dieser beiden Elemente für sich allein gelingen, eine zutiefst entzweite Gesellschaft, die das Gedeihen des Individuums hemmt, umzuformen.

Eine solclte Zwiesprache erfordert wahrhafte Toleranz — die viel weiter geht als einfadre Indifferenz oder ein unsicherer Burgfriede —, und die in dem ehrlichen Suchen nach einer gemeinsamen Einstufung der Werte besteht.

Da Europa nun einmal seine materielle Vorherrschaft verloren hat, besteht seine Aufgabe darin, in der modernen Welt den Typ einer erneuerten Gesellschaft zu fördern, in der Glaube und Toleranz sich vereinigen. Diese Gesellschaft, das sei betont, soll sich nicht in sich selbst abschließen, Europa gehört einer größeren Familie von freien Nationen an und muß sich seiner Mission als einigender Faktor in der Welt bewußt werden.

Als Grundlage der Moral der freien Völker gilt, daß der Mensch das wesentlichste Instrument des sozialen Fortschritts ist. Kollektiv-Einrichtungen können im Leben der Gesellsdtaft nur eine ergänzende Rolle spielen. Von nun an muß sich Europa jeder Form von verweltlichter Religion widersetzen, die den Staat über das Individuum stellt.

INHALT Europäische Einheit und Vereinigung Europas Europa und das Abendland Naturrecht und Westlicher Personalismus Die Antithese: Östlicher Kollektivismus Die Legitimation des Westens: Die PERSON Der europäische ORDO: Herrschaft des Rechtes Die europäische Idee: UNION Der deutsche Europa-Gedanke Karl Marx und das europäische Gewissen Europa zwischen Versailles und Weimar Das Neue Deutschland und Europa • Die erneuerte Gesellschaft muß nad^ europäisdter Konzeption also auf eng verflodttenen Beziehungen zwischen freien Personen beruhen; sie soll nidit ein Konglomerat von Individuen sein, die als soldie durdt die Allgewalt des Staates ausgelöscht sind.

Lim einen Kodex sittlidter Werte, der den Bedürfnissen dieser Zeit angepaßt ist, zu entwickeln, müssen die Europäer, die alle der gleidten Gefahr gegenüberstehen, ihr Glaubensstreben und die Grundsätze der, Demokratie miteinander vereinigen. Wenn dieses moralische Gut frucht-bringend sein soll, mufl es sich frei entfalten können und allen zugäng-lich sein. Dann wird jedes Individuum in voller Kenntnis dessen, worum es sich handelt, seine eigenen Entscheidungen treffen können, wie sein Leben als Privatperson, sein Beruf und sein Leben als Staatsbürger sie erfordern; er wird das Gefühl seiner eigenen Verantwortlichkeit wiedererlangen, das die Grundlage jeder freien und fortschrittlichen Gesellschaft ist.

Die Verbreitung einer solchen bürgerlichen Moral, die für Gläubige wie Rationalisten, für Christen und Nicht-Christen annehmbar ist, wird durch die Einsetzung eigentlich europäischer Institutionen erleichtert werden. Ihrerseits wird sie die Bindung der Europäer an diese neuen Institutionen, die auf wirtschaftlicher und auf politischer Ebene benötigt werden, verstärken.

Europa hat einen großen Teil seiner überseeischen Besitzungen oder Vermögenswerte verloren; es wird das Wesen seiner Beziehungen zu den Völkern, die unter seiner Vormundschaft stehen, im Sinne der Assoziation und Gleidtheit der Rechte ändern müssen.

Andererseits kann Europa in seinem gegenwärtigen Zustand der Teilung nicht die großen Produktionszentren wirksam in Betrieb halten, die ihm bei Senkung der Herstellungskosten erlauben würden, den größtmöglichen Nutzen aus der modernen Technik zu ziehen.

Nur mit Hilfe einer internen Wirtschaftsunion würde Europa der Verarmung entgegenwirken können, die sich aus der Entwicklung seiner Beziehungen zu der übrigen Welt ergibt. Ohne eine solche innere Reform muß der Lebensstandard seiner Völker weiter sinken.

Nun erhebt sich aber unter den gegenwärtigen Umständen im Zusammenhang mit einer Wirtschaftsunion das Problem der politischen Souveränität in neuer Begriffsstellung.

Der herkömmliche Begriff der absoluten Souveränität der Staat-

Nationen entstand und entwickelte sich seit dem Höhepunkt der euro-

päisclten Expansion in der Welt. Heute liegen die politischen und mili tärischen Entscheidungen, die Europa binden und in hohem Maß seine Zukunft bestimmen, nicht mehr völlig bei den europäischen Staaten selbst, die, wenn sie auch den Anschein der Souveränität wahren, doch viel von deren Substanz verloren haben. Um allmählich ihre echte Souveränität wiederzugewinnen, sind einige europäische Staaten im Begriff, sich in supranationalen Gemeinschaften zusammenzuschließen, die besonderen Zwecken dienen sollen.

Diese Gemeinschaften sind nicht absolut. Die genaue Begrenzung ihrer Ziele läßt die Persönlichkeit und die Traditionen jeder Partei fortbestehen; die Einheit, die auf bestimmten Gebieten verwirklicht wird, nimmt Rücksicht auf die Mehrheit im Innern.

Sie bleiben nicht exklusiv: die Anfangsformen der Union, die sielt in Europa entwickeln, stehen anderen Staaten offen; sie fügen sich in den größeren Rahmen der Atlantischen Gemeinschaft ein; sie erklären sich solidarisch mit allen Völkern, die freie Regierungsformen haben.

Die Mission Europas kann nicht zugleich mit seiner politischen Vorherrschaft in der Welt ihr Ende erreicht haben. Sie ist heute geistiger Natur. Es kommt Europa zu, dem Leben unserer Zeit einen Sinn zu geben und so zu einer bedeutenden sittlichen Stellung zu gelangen. Ohne eine gewisse materielle Unabhängigkeit ist das nicht möglich.

Um diese hohe Mission zu erfüllen, müssen die Europäer ihr gewohntes Denken umformen und sielt vor der Verhärtung bewahren, die den Erfolg begleitet und naclt der Niederlage lange anhält.

Sie müssen den engstirnigen Nationalismus, der ihre Politik lähmt, das Schutzzollsystem auf kurze Sicht, das ihre Wirtsdtaft verarmen, und den unfruchtbaren Isolationismus, der ihre Kultur verkümmern läßt, bekämpfen.

Die Stunde Europas wird nur vorübergehen, wenn die Europäer selbst sie vorübergehen lassen.

(Kundgebung der „Roundtable" Konferenz des Europa-Rats in'Rom, Oktober 19 5?)

Europäische Einheit und Vereinigung Europas Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges ist das Interesse an dem Problem der Europäischen Einheit unablässig gewachsen. Gleichzeitig haben aber auch jene besonderen Schwierigkeiten zugenommen, welche sich etwa seit der Inaugurierung des Marshall-Planes einer langsam fortschreitenden Verwirklichung des Vereinigten Europas ganz naturgemäß entgegenstellen mußten. Aus dieser Sachlage ergab sich und besteht wohl bis zur Stunde die Gefahr, daß durch eine ausschließliche konkrete Interessennahme an den wirtschaftlichen, politischen und militärischen Problemen eines Vereinigten Europa, gerade die Erkenntnis und Bedeutung der fundamentalen Tatsache der geistig-kulturellen und ethisch-politischen Einheit Europas, als dem Kernstück des mundus occidens, der abendländischen Kultur und westlichen Zivilisation überhaupt, meist zu gering eingeschätzt oder gar völlig ignoriert werden.

Wo immer dies geschieht, wird also bewußt oder unbewußt das gesicherte Faktum einer historischen Entwicklung — eben die geistige Einheit Europas — zugunsten jener problemgeladenen Versuche ignoriert, die von den westeuropäischen Staatsmännern und organisatorischen Bewegungen im letzten Jahrzehnt zur Überwindung der politischen und wirtschaftlichen Zersplitterung der europäischen Länder in einem zukünftigen „Vereinigten Europa“ unternommen wurden. Ein derartiges, rein pragmatisch-politisch und nur-wirtschaftlich-organisatorisch ausgerichtetes Streben und Handeln für den europäischen Zusammenschluß wird aber niemals die organisatorische Verwirklichung einer dauerhaften gesellschaftlichen und politischen Einheit Europas und Vereinigung der europäischen Völker erreichen können. Dies vor allem deshalb, weil dem rein positivistischen Europa-Gedanken und allen mechanischen, nur-organisatorischen Plänen und Bemühungen die auf seine Verwirklichung zielen, gerade das wichtigste Lebenselement und die vornehm-liebste Kraft der echten Europa-Gesinnung fehlen: Die geistige Kraft abendländischer Kultur und wahrhaft europäischer Gesittung, das Vermögen intellektueller Wertmaßstäbe, speziell zum Verständnis der gesellschaftlichen Mentalität und des sozialen Verhaltens — wie auch der politischen Handlungsweise des europäischen Menschen, als dem eingeborenen Träger abendländischen Denkens und Fühlens.

„Europäische Einheit“ aber ist zuerst ein Kulturbegriff mit zutiefst geistigen Qualitäten und Inhalten; er ist spezifisch europäischer Ausdruck der Werte und Traditionen der abendländischen Kultur und westlichen Zivilisationen, und zwar in der organischen Pluralität der entwicklungsgeschichtlichen Eigenformen der Nationalkulturen der europäischen Völkerfamilie. Darum auch kann gerade diese Europäische Einheit den Völkern Europas von Niemandem außerhalb ihres eigenen geschichtlichen Lebensbereiches etwa „gegeben" oder gar dazu „verhelfen“ werden, weil ja Europa sie bereits „besitzt“ und sie darum höchstens nur selbstverschuldend verlieren könnte.

Schon von dieser Einsicht her erweist sich die Fragwürdigkeit jenes Anspruches, der in der jüngstvergangenen Epoche von nichteuropäischen Großmächten auch auf ein geistiges Mitbestimmungsrecht für den Wiederaufbau Europas erhoben wurde. Lind vielleicht liegt die tiefste Tragik der politischen Beschlüsse von Yalta, Teheran und Potsdam gerade darin, daß sich damals die westlichen Großmächte Amerika und England nicht bewußt waren, daß ihre bedingungslose Zustimmung zu den russischen Plänen zugleich die geistige Substanz und das kulturelle Leben Europas einer lebensgefährlichen Einflußnahme durch die europafeindliche Macht des kommunistischen Rußland auslieferte. Was in dieser Hinsicht von dem damaligen Morgenthau-Geist Amerikas und dem Vansittard-Geiste Englands an dem legitimen Europa-Geiste selbst gesündigt wurde, ist derart ungeheuerlich, daß es wohl erst in den historischen Perspektiven der nächsten Generation voll „gewürdigt werden kann. Die hierdurch entstandene Verantwortung wird auch da-durch nicht wesentlich verringert, daß besonders die Amerikaner schon sehr früh diese Verantwortung erkannten und so seit dem MarshallPlan ehrlich bestrebt waren, nicht nur den antieuropäischen Einfluß Rußlands erfolgreich einzuschränken und abzuwehren, sondern gleichzeitig auch in wahrlich großzügiger Weise die Erneuerung der Substanz Europas und die Festigung seiner sozialen und politischen Freiheiten zu fördern. Mit der gleichen Großzügigkeit haben darum auch die Amerikaner die Bestrebungen zur Förderung der politischen und wirtschaftlichen Einheit Europas unterstützt, ohne sich dabei in irgendeiner Weise mehr als nur-beratend und helfend, in die geistige Autonomie und organisatorische Selbständigkeit der zahlreichen Vereinigungen und Einrichtungen der autochthonen Europa-Bewegung einzumischen. Nicht zuletzt aus dieser Einstellung heraus haben deshalb auch die Gründer des amerikanischen Sektors der „Europäischen Bewegung“ (European Movement) den Namen eines „Committee on United Europa“ gewählt, um von vornherein allen Ideologien und Prätentionen einer außereuropäischen Einflußnahme auf den geistes-geschichtlichen Sachverhalt der „Europäischen Einheit“ zu entsagen.

Vom geistesgeschichtlichen Blickpunkt her erweist sich der Begriff eines „Vereinigten Europa“ als der Ausdruck eines durchaus zeitgeschichtlich und weithin gegenwartsbedingten Wollens oder gar Müssens im Bereich des staatlich-politischen Lebens und wirtschaftlich-gesellschaftlichen Geschehens der europäischen Völker, wie sie bisher etwa in der Westeuropäischen Union, der Montan-LInion, dem Gemeinsamen Markt und EURATOM ihren sichtbarsten Ausdruck fanden. „Vereinigtes Europa“ kann deshalb auch nur als politischer und wirtschaftlicher Begriff erfaßt werden. Im Unterschied zum Begriff der „Europäischen Einheit“, der zutiefst geistiges Erbe und Besitzen ausdrückt, kann darum auch die Idee einer Europäischen Union immer nur zuerst als Programm eines noch zu Erarbeitenden und zu Verwirklichenden, d h. als Aufgabe politischen und wirtschaftlichen Handelns erfaßt werden.

Mit anderen Worten: die geistige „Einheit“ Europas ist ein geschichtlicher Tatbestand, ja der tiefste Inhalt der Geschichte der europäischen Völker selbst; sie soll und kann nicht erst geschaffen werden, weil sie ja bereits kraft der historischen Entwicklung Europas existiert. Dagegen ist die „Vereinigung" Europas zunächst nur eine, der jetzigen europäischen Generation überkommene Notwendigkeit geschichtlicher Entwicklung; sie ist demnach wesentlich Programm und Aufgabe, ja vielleicht sogar die gegenwärtig höchste Pflicht des praktisch-politischen und wirtschaftlichen Lebens aller Europäer.

Diese Aufgabe muß darum auch in erster Linie als „europäische“

Aufgabe und Leistung erfüllt werden, weshalb den außereuropäischen Völkern und Freunden Europas lediglich die Aufgabe politischer und wirtschaftlicher, ja selbst auch geistiger und moralischer Hilfsstellungen im Rahmen des europäischen Erneuerungswerkes zukommen kann.

Diese Feststellung soll nicht etwa einem europäischen Partikularismus das Wort reden, noch soll sie als Ausdruck geistiger oder politischer Überheblichkeit eines europäischen Autarkismus oder tagesferner Abendland-Romantik genommen werden; dagegen ist sie und will sie Feststellung eines oftmals selbst von den politischen Europa-Enthusiasten übersehenen geschichtlichen Sachverhaltes sein, der für einen dauerhaften, d. h.organischen politischen Zusammenschluß der europäischen Völker von größter praktischer Bedeutung ist. Nämlich die Einsicht, daß auch die politische Vereinigung Europas wesentlich nach den Wertmaßstäben des in der geistigen Einheit der national-kulturellen Vielgestaltigkeit lebenden europäischen Menschen verwirklicht werden muß, und nicht etwa nach außereuropäischen Maßstäben und Vorstellungen.

Europa muß im Geiste Europas und kann darum auch nur eigentlich von den echten Europäern selbst gebaut werden, wobei dann allerdings nicht übersehen werden darf, daß diese „Europäer“ zumindest noch in der heutigen Generation zunächst geistig und soziologisch ein ganz bestimmtes national-kulturelles Gepräge tragen, das selbst in seiner sozialen und politischen Mentalität vorwiegend den partikularen Realitäten des heutigen europäischen Lebens entspricht: nämlich denjenigen des deutschen, französischen, italienischen, englischen usw. Menschen. Hierbei kommt es nun darauf an, daß für unsere Aufgabe gerade und vornehmlich an das Europäisch-Gemeinsame dieser national-kulturellen Partikularitäten angeknüpft werden muß, was eben doch nur auf der Ebene jener geistigen und ethisch-politischen Werte und Mentalitäten möglich ist, die allen Europäern als gemeinsames Erbe und ebenso als gemeinsame Aufgabe der Erhaltung und Weiterbildung eigen ist.

Aus dieser Sicht der Gemeinsamkeit eines europäischen Er-bes und einer europäischen Verpflichtung für alle national-kulturellen Partikularitäten Europas ergibt sich dann endlich auch eine wesentliche Erweiterung dieser Gemeinsamkeiten für jene außereuropäischen Sektoren und Teile der gesamten „Westlichen Welt“, die den eigentlichen Inhalt der geschichtlichen Entwicklung des mundus occidens, d. h.der Gesamtentwicklung der abendländischen Kultur und westlichen Zivilisation umfaßt. Selbst unter dieser erweiterten okzidentalen, d. h. „westlichen“ Sicht der wesentlichen Gegenwartsperspektiven der großen Aufgabe des europäischen Zusammenschlusses, erhärtet sich die typisch „europäische“ Voraussetzung ihrer Verwirklichung:

Der politische und gesellschaftliche Zusammenschluß der europäischen Völker kann nur auf der geistigen Grundlage dessen erfolgreich und dauerhaft vollzogen werden, was Europa als kulturelle und ethisch-politische Einheit bereits besitzt und was es gleichzeitig auch noch darüber hinaus mit den nichteuropäischen Völkern der westlichen Zivilisation in einer weitergreifenden Schicksalsgemeinschaft verbindet. Die Besinnung auf die tragenden Grundkräfte dieser geistigen Einheit Europas und in ihr und durch sie, die Belebung und der Einsatz der sie konstituierenden kulturellen Werte und ethisch-politischen Traditionen des abendländischen Erbes und der westlichen Zivilisation, ist also erste Verpflichtung und vernehmlichste Aufgabe aller Bemühungen um die Vereinigung Europas.

Europa und das Abendland Die ursprüngliche, schon bei Herodot vorzufindende dialektische Begriffssetzung von „Okzident und Orient“ entsprang einer geistigen Blickrichtung auf die völkergeschichtliche Entwicklung innerhalb der raumgeschichtlichen Polarität von „Westen und Osten“. Herodot hat, auf dem geschichtlichen Sachverhalt der politisch-militärischen Auseinandersetzungen zwischen den „Griechen und Persern“ fußend, die erste begriffliche Unterscheidung der ideengeschichtlichen Spannung zwischen dem „Geist und Mythos“ und des zivilisatorischen Gegensatzes zwischen den „Hellenen und Barbaren“ vorgenommen. Hier ist der Ansatzpunkt jener Traditionen des ideengeschichtlichen Begriffes der okzidentalen Geistesentwicklung und des westlichen Intellektualismus, wie auch der gesamten abendländischen Kulturauffassung im Verhältnis zum Osten, in allen ihren antithetischen Sinn-gehalten und Intentionen, Terminologien und Prätentionen. Und hier ist gleichzeitig auch schon jene intellektuelle Überheblichkeit okzidentalen Denkens und westlicher Mentalität grundgelegt, welche den hellenischen Hochmut gegenüber den „Barbaren“ in der traditionellen Geringschätzung des Orients und des Ostens einschließlich des orientalischen Christentums und der ostchristlichen Kultur und Lebensformen, verewigt hat.

Mit der Erweiterung der griechischen Polis — als dem ursprünglichen Träger des okzidentalen Geistes — in die hellenistische Ökumene, als der positiven Begegnung von Okzident und Orient, hat dann der Begriff des Westens eine wesentliche Verschiebung erfahren. Hier ist vor allem das Christentum sowohl zum Anlaß, als auch zum entscheidenden Träger der Sinnverwandlung und ideengeschichtlichen Konkretisierung der ursprünglichen Antithese von Orient und Okzident, von Osten und Westen geworden. Dieser Vorgang bildet den eigentlichen Inhalt der Entwicklungsgeschichte des frühen Christentums, d. h. die Ausweitung des orientalischen Ursprungscharakters des Christentums durch seine Begegnung mit dem Griechentum und Römertum Am Ende dieser Entwicklung steht dann im 4. Jahrhundert die endgültige Sicht-barwerdung der drei großen kirchlichen und kulturellen Lebensformen des westlichen (römischen), des östlichen (griechischen) und des spezifisch orientalischen Christentums.

Als der erste christliche Kaiser Konstantin der Große im Jahre 342 das lateinische Rom für Byzantium eintauschte und diesem seinen Namen (Konstantinopel) gab, hat er für die griechische Form des Christentums nicht nur den räumlichen Anspruch auf den Westen aufgegeben, sondern zugleich auch dem griechisch-byzantinischen Christentum alle geschichtlichen Möglichkeiten einer Entwicklung im Sinne der eigentlichen okzidentalen, d. h. westlichen Entwicklung abgeschnitten. Diese Tat Konstantins hat nicht nur den ursprünglichen Okzident-Begriff, den mundus occidens des Herodot, räumlich auf das Herrschaftsgebiet des lateinischen Rom eingeengt. Darüber hinaus hat diese Tat Konstantins in ihren Konsequenzen dann auch zugleich zu einer Aufspaltung des ursprünglichen Orient-Begriff und damit des m u ndus oriens geführt, indem nun von Konstantinopel aus für den Herrschaftsbereich des griechisch-byzantinischen Christentums der neue Begriff des Christlichen „Osten“ unter der Herrschaft Ost-Roms inauguriert wurde.

Diese Handlung Konstantins war keineswegs eine willkürliche, sondern die ihr folgende Aufspaltung des Imperium Romanum in eine oströmische und weströmische Reichshälfte entsprang zugleich tieferen geschichtlichen Notwendigkeiten. Sie ergaben sich vor allem aus den verschiedenartigen Reaktionen des Griechentums und Römertums auf den orientalischen Hellenismus und sind aus der Geschichte zur Genüge bekannt. Diese Reaktionen waren derart unterschiedlich, daß sie sich im historischen Bereich des Christentums als dauerndes Prinzip der politischen und kulturellen Dialektik zwischen dem westlichen Pol (Rom und das Abendland) und dem östlichen Pol (Byzantium und Moskau) ausgewirkt haben. Gerade diese Dialektik ist es ja, die in ihren verschiedenartigen ideengeschichtlichen und kulturellen, ihren sozialen und politischen Auswirkungen ein besonderes antithetisches Bewußtsein der spezifischen Traditionen und Kulturmentalität des Westens auf dem gesicherten Grunde des Bewußtseins einer besonderen »Abendländischen Erbschaft“ entwickelt hat. Dieses dialektische Bewußtsein beherrscht darum ja auch heute noch zutiefst den weltpolitischen West-Ost-Gegensatz zwischen Washington, als dem Garanten der Freiheit des Westens, und Moskau als dem Repräsentanten des östlichen Gegenprinzips.

Die Rolle einer Führerschaft und höchsten Verantwortung Amerikas für die weltpolitischen Belange des Westens hat ihre letzte Sanktion in jener fortschreitenden Erweiterung des ursprünglichen Herrschaftsraumes des kontinentalen Westens oder okzidentalen Europas, der mit der Entdeckung des amerikanischen Kontinents in der westlichen Hemisphäre einsetzte. Seit mehr als 400 Jahren entwickelte sich so die Vergrößerung des westlichen Herrschaftsraumes unter gleichzeitiger schrittweiser Durchsetzung der westlichen Kulturformen des okzidentalen Europa in der „Neuen Welt“. Mit dieser Erweiterung der westlichen Welt vom kontinentalen Abendland zum interkontinentalen Raum Amerika-Europa, war auch der ursprüngliche Begriff des Okzidents, als dem räumlichen Inbegriff der westlichen Zivilisation, zu eng geworden.

Hinzu kam, daß auch die fortschreitende Auflösung der im westlichen Kaisertum Karls des Großen begründeten respublica christiana, zuletzt noch in den Auswirkungen der Renaissance und Reformation, das Ende des alleinigen geistlichen Herrschafts-und kulturellen Führungsanspruches der lateinischen, d. h. römischen Kirche heibeiführte.

Hier nun setzte für das Abendland die Notwendigkeit räumlicher Unterscheidungen nach geographischen und rein weltlich-politischen Gesichtspunkten ein.

In dieser Situation und historischen Bewußtseinslage hat der in der Renaissance erwachte Humanismus endgültig die mythisch-geographische Bezeichnung der einstigen Geburtsstätte des antiken Okzidents, des EUROPA von Kreta und Attika, als räumliche und politische Bezeichnung für die verengte okzidentale Welt, eben des „europäischen" Kontinents übernommen. So ist denn zunächst im Bewußtsein der humanistischen Geographen der Begriff „Europa“ heimisch geworden, wofür vor allem der „Europa" -Band der großangelegten Kosmographie des Enea Silvio Piccolomini, des späteren Papstes Pius II.den Grund legte. Den Geographen folgten dann die Juristen mit dem Begriff des Jus Publicum Europeum und ihnen wiederum die politischen Publizisten bis hin zu den späteren Theoretikern eines europäischen Gleichgewichtes der politischen Mächte. Trotz aller Erweiterungen, den bis zu unseren Tagen der Begriff Europa selbst bis hinein in das Gebiet der Literatur, Kunst und Philosophie erfahren hat, ist er dennoch wesentlich eine Bezeichnung von Raum-ordnungen und politischen Größenordnungen geblieben, wie ja denn gerade auch die politische Geschichtsschreibung sich wesentlich des Europa-Begriffes bedient, im Unterschied zur Geistes-und Ideen-geschichte, für die zu allen Zeiten bis in die Gegenwart hinein, der Begriff des Okzidents und Abendlandes unentbehrlich blieb. Ja man könnte sicherlich die Geschichte der Säkularisierung des abendländischen Geistes, wie auch die pragmatistisch-positivistische Verengung und materialistische Versandung der abendländischen Kultur und Gesittung, sehr eindrucksvoll illustrieren an einer systematischen Aufzeichnung jenes semantischen Mißbrauches, der vor allem in der Neuzeit mit'dem Begriff Europa von Seiten der Geschichtsschreiber und Publizisten getrieben wurde. Lind doch ist, trotz aller tatsächlichen Säkularisierung der abendländischen Kultur und Wertvorstellungen, dieses Europa nach wie vor das Kernland und der eingeborene Träger des okzidentalen Geistes, dem es heute mehr denn je aufgetragen ist, die historischen und soziologischen Kategorien und Formen Europas und seine gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen mit dem ihnen, ihrer geschichtlichen Herkunft gemäßen Geiste, d. h.demjenigen der echten, freiheitlichen Traditionen des abendländischen Christentums und Personalismus zu beleben und zu erfüllen.

Von derartigen Einsichten aus kann möglichst eindeutig die ideen-geschichtliche Rangordnung und politische Größenordnung der Verhältnisse von Europa und dem Abendland oder der westlichen Welt einerseits, und dem spezifisch europäischen Problem der geistigen „Einheit Europas“ und einem politisch und wirtschaftlich „Vereinigten Europa“ andererseits, festgestellt werden. Europa ist zunächst, räumlich betrachtet, das Kernland der westlichen Zivilisation. In kultureller Hinsicht ist es der zusammenfassende Begriff der national ausgeformten europäischen Völkerkulturen auf dem einheitlichen Grunde der abendländischen Zivilisation. In politischer Hinsicht ist Europa dann weiterhin der Sammelbegriff der staatlichen und sozialen Lebensordnungen und Institutionen der europäischen Völker, während man das gleiche „Europa“ in wirtschaftlicher Hinsicht als Gesamtbegriff des verschiedenartigen materiellen Reichtums und der praktischen Lebensbetätigung der europäischen Länder verwendet.

Europa ist also wesentlich der physische Leib des Abendlandes, in welchem die geistigen Traditionen und kulturellen Kräfte der christlichen Zivilisation des Westens als lebensspendendes Seelenprinzip wirksam sind; selbst da, wo sie infolge der Säkularisierung nur noch als unbewußte mentale Haltung des „europäischen ‘ Menschen schlechthin, als Wille zur „Freiheit der Persönlichkeit“ agieren. Lind ebenso, wie ein Leib nur durch das ihm eingeborene Seelenprinzip am Leben erhalten bleibt, kann auch Europa nicht ohne die lebendige Wirksamkeit von Geist und Erbe der abendländischen Zivilisation im Sinne seiner ihm eingeborenen „Europäischen Einheit“ erhalten bleiben. Hier liegt zugleich aber auch die Verpflichtung der lebensmäßigen Zueinanderordnung der verschiedenartig geformten und funktionierenden leiblichen Glieder dieses Europa, im Sinne einer politischen und wirtschaftlichen Gesamtordnung, wie sie heute wohl nur noch in einem Vereinigten Europa, als Verwirklichung einer zunächst vom Politischen und Wirtschaftlichen wie besonders auch vom Technischen her bestimmten Linien der europäischen Völker möglich ist.

Naturrecht und westlicher Personalismus

Das wichtigste Prinzip der religions-soziologischen und ethisch-politischen Grundlagen der abendländischen Kultur und europäischen Gesellschaft ist zweifellos die personalistische Auffassung vom Menschen als einer selbstdenkenden Individualität, die sich auf Grund der natürlichen Vernunft und freien Willensentscheidung zur Persönlichkeit schlechthin entwickeln kann. Vielleicht hat Boethius in seiner Schrift: de persona et duabus naturis, unter dem Einfluß der Lehren des großen Augustinus das Erbe des stoisch-ciceroanisehen Personalismus und der personalistischen Anthropologie und Theologie der lateinischen Patristik am besten zusammengefaßt in der Definition vom Menschen: Persona est naturae rationalis individua substantia! Von hier aus hat dann der personalistische Menschenbegriff im abendländischen Denken eine immer tiefer greifende ethische und soziologische Begründung und Ausweitung erfahren, die über die fundamentalen Begründungen des Thomas von Aquino hinaus bis hin zu der Kantischen Definition der Neuzeit reicht:

„Vernünftige Wesen werden Personen genannt, weil ihre Natur sie sdton als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, mithin sofern aller Willkür einschränkt und ein Gegenstand der Adttung ist“ (Grundlegung der Metaphysik der Sitten). Lind ebenso: „Der Mensch ist zwar unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, audt bloß als Mittel gebraudit werden; nur der Mensch, und mit ihm jedes vernünftige Gesdiöpf, ist Zwedt an sich selbst!“ (Kritik der praktischen Vernunft.)

Aufgrund dieser Auffassung einer personalistischen Anthropologie und Gesellschaftslehre haben sich in der abendländischen Kultur jene Auffassungen und Formen von Staat und Gesellschaft entwickelt, die es bis in unsere Tage hinein als ihr höchstes Prinzip und ihre eigentliche Aufgabe betrachten, dem Menschen zu dienen und seine Entwicklung zur freien Persönlichkeit zu sichern und zu fördern.

Diese Auffassung, die die westliche Gesellschaft und auch noch der durchschnittliche „Europäer“ unserer Tage eigentlich als etwas ganz selbstverständliches empfindet, hat eine lange geschichtliche Entwicklung hinter sich und kann getrost von sich behaupten, daß sich in ihr die sublimsten Gedanken aller jener Traditionen verdichtet haben, welche sowohl die religiösen und geistigen, wie auch die moralischen und rechtlichen Grundlagen der abendländischen Geschichte und westlichen Gesellschaftsentwicklung schlechthin darstellen. Sie hat ihre tiefsten Wurzeln in dem personalistischen Menschenbild des Alten Testamentes und der Philosophie der Stoa, wie auch der Religion und Rechts-lehre der Römer, die allesamt an der eigentlichen Grundlegung des typisch abendländischen Menschenbildes der personalistischen Theologie der lateinischen Patristik Pate standen, um dann in einer immer freiheitlicheren Entwicklung durch die Jahrhunderte der europäischen Geschichte hindurch, in dem westlichen Begriff der politischen Demokratie in Staat und Gesellschaft und dem ebenso nur-westlichen Begriff von einer „freien Kirche im freien Staat“ ihre Krönung zu finden Auf Grund dieses geschichtlichen Sachverhaltes wird darum auch allen denjenigen ein tieferes Verständnis der eigentlichen lebensmäßigen Grundlagen der europäischen Einheit und westlichen Demokratie unzugänglich bleiben, denen diese historischen und ideengeschichtlichen Grundlagen des freiheitlichen abendländischen Menschenbegriffes, d. h. die eigentlichen Traditionen des westlichen Personalismus unbekannt sind, was wiederum zur Folge hat, daß eine derartige LInkenntnis zugleich auch von der eigentlichen Legitimation für die positive Verteidigung der geistigen Substanz Europas und der Freiheiten der westlichen Welt ausschließt. Man kann die religionssoziologischen und ethisch-politischen Grundlagen und Traditionen dieses westlichen Personalismus etwa in der folgenden dreifachen Sicht für das politische Allgemeinverständnis unserer Tage kurz zusammenfassen:

Der religiöse Personalismus des Alten Testamentes und der vorwiegend auf das Rechtsdenken gerichtete Personalismus der römischen Jurisprudenz und Staatslehre, wie sie sich vor allem unter dem Einfluß der stoischen Naturrechtslehre und der betont personalistischen Philosophie Ciceros herausbildeten. Was beispielsweise Cicero in seinen drei fundamentalen Schriften: de republica, de officiis und de legibus für die Grundlegung der personalistischen Pflichten-und Staatslehre des Abendlandes geleistet hat, kann leicht durch einen Vergleich mit den früher entstandenen, die gleichen Themen behandelnden Schriften Platos, nämlich der Politeia, den Nomoi und dem Politikos ersehen werden: bei Cicero die wahrhaft freiheitliche Gesinnung und Würdigung der menschlichen und staatbürgerlichen Persönlichkeit, deren Förderung und Wohlergehen die vornehmste Verpflichtung des Staates sein soll und muß und demnach der Staat zunächst für den Dienst am Menschen, nicht aber der Mensch zuerst für den Dienst am Staate geschaffen ist. Bei Platon und bei Aristoteles (wenn auch bei diesem in einem etwas eingeschränkteren Maße) zunächst einmal ein wenn auch individualistisches, so doch im-personalistisches Menschenbild, das den eigentlichen Vollmenschen erst mit dem auserwählten Vollbürger des griechischen Staates beginnen läßt und selbst auch ihn bedingungslos der Omnipotenz der Politeia, also dem allmächtigen Staat unterordnet, was wiederum nichts anderes meint und fordert, als daß der Mensch zunächst für den Staat geschaffen, nicht aber dieser Staat primär für den Dienst am Menschen da zu sein habe. Die platonische Ideenlehre und die Philosophie des Aristoteles in Ehren;

auf ihnen ruht weithin das intellektuelle Fundament der europäischen Geistigkeit. Dagegen wird man uns heute, vor allem nach den bitteren Erfahrungen, die wir in der letzten Generation mit der durchaus legitimen geistigen Sanktion des modernen Totalitarismus durch den, wenn auch subtileren, so doch nicht weniger freiheitsfeindlichen und antidemokratischen Im-Personalismus und Kollektivismus der platonischen Staatslehre und Soziologie machen mußten, es wohl nicht verwehren können, wenn wir uns im Hinblick auf unsere Verpflichtungen für die Verteidigung des abendländischen Patrimoniums der Freiheit und der ethisch-politischen Substanz Europas gerade in dieser Hinsicht für Cicero, den eigentlichen Vater der freiheitlichen europäischen seientia politicarum und gegen Platon, den eigentlichen geistigen Ahnherrn der europäischen Häresie allen politischen Totalitarismus entscheiden und demnach aus vollem Herzen jenem weisen Urteil zustimmen, das der gleiche Cicero über die staats-und rechtsphilophischen Irrlehren Platos fällte, wenn er meinte, daß dieser wohl „durdi sein Philosophieren der Wahrheit näher kam, in vielen anderen Dingen aber so gestrauchelt und vor allem in seinen Büchern über den Staat, schlimmer als alle anderen in die Irre gegangen ist“ (De Rep. IV, 5). Schon diese Überlegungen sollten genügen um einzusehen, daß'man weder im Vergangenen den sogenannten Platonisten und Philhellenen in Europa die wirkliche Verteidigung der geistig-politischen Substanz der europäischen Gesellschaft anvertrauen, noch es heute verantworten kann, sich dem philhellenischen politisierenden Philologentum für die geistige und politische Erneuerungsarbeit an Europa zu verschreiben, wie es unlängst noch auf einem internationalen Historikerkongreß zur „Klärung“ der europäischen Problematik geschah.

Die zweite Linie der Traditionen des westlichen Personalismus gründet in dem theologischen Personalismus des lateinischen Christentums, wie er von dem Apostel Paulus über Tertullian, Cyprian und Ambrosius entwickelt und vor allem durch die personalistische Anthropologie und Psychologie, wie auch auf ihnen fußend, in der personalistischen Kulturphilosophie und Soziologie Augustins seine endgültige abendländische Grundlegung erfuhr, die dann wiederum von dem großen Thomas von Aquino zu einem System von allgemein-europäischer Gültigkeit ausgestaltet wurde. Auf diesen Grundlagen hat dann seit dem Ausgang des Mittelalters alles europäische Bemühen um die Erweiterung des geistigen und politischen Raumes der Freiheit aufgebaut.

Das gestaltende Prinzip dieser Entwicklung war vor allem die römisch-christliche Naturrechtslehre, nach welcher sich die göttliche Schöpfungsordnung der lex aeterna in den natürlichen Ordnungen der lex naturalis konkretisiert und demnach als eine der menschlichen Vernunft begreifbare und ihr Handeln bestimmende, natürliche Lebensordnung, eben derjenigen des jus naturale, sichtbar wird. Auf diesem Prinzip der natürlichen Vernünftigkeit des menschlichen Lebens und Zusammenlebens gründet das besondere Charakteristikum der freiheitlichen Menschen-und Gesellschaftsauffassung der abendländischen Kultur, das zugleich das ethisch-politische Grundprinzip des demokratischen Freiheitsbegriffes und aller echten politischen und sozialen Demokratie des Westens ist: Die naturrecht liehe Autonomie der menschlichen Persönlichkeit und die ihre freiheitliche Entfaltung tragende und schützende nat urrechtliche Eigen gesetzlichkeit aller Kultursachgebiete.

Die soziologische Auswirkung dieser Prinzipien hat dann endlich auch die dritte Linie der Traditionen des abendländischen Personalismus ausgebildet, die sich seit den Tagen Augustins als die naturrechtliche Staats-und Gesellschaftsauffassung des Abendlandes und als die personalistische Kulturphilosophie des Westens ausgewirkt hat und gerade hierdurch jene Gesellschafts-und Kulturprinzipien ausbildete und zur Herrschaft brachte, durch welche sich der abendländische Mensch und die Kultur und die Lebensordnung des Westens von allen anderen außereuropäischen und außerwestlichen Völker-und Kulturentwicklungen, einschließlich derjenigen des östlichen und orientalischen Christentums, prinzipiell unterscheiden:

a) Die Erweiterung des individuellen Menschenbegriffes als eines vorwiegend ontischen Gattungsbegriffes zum vollen Persönlichkeitsbegriff. b) Die hierdurch bedingte und geradezu notwendig gewordene Ausweitung der Funktion des menschlichen Willens als einer selbstschöpferischen und damit auch selbstverantwortlichen Kraft der geistigen und sozialen Lebensgestaltung und damit einer willensbetonten, d. h. aktivistischen Kulturentfaltung schlechthin.

c) Die Bindung aller Ordnungen des sozialen und staatlichen Lebens an diesen eigengesetzlichen Persönlichkeitsbegriff und das aktivistische Willens-und Kulturprinzip im Sinne einer personalistischen Staats-und Gesellschaftslehre. Diese personalistische Soziologie kennt weder den atomistischen Menschenbegriff des Individuums als solchen, noch kennt sie den im-personalistischen Gesellschaftsbegriff des Kollektivs als solches. Diese personalistische Lebensordnung des Westens kennt dagegen nur den gemeinschaftsverbundenen Menschen-begriff der Persönlichkeit und ebenso den Persönlichkeit s g e b u n d e n e n und -verpflichtenden Gesell-

schaftsbegriff der Gemeinschaft.

In dieser Begriffssetzung von „Persönlichkeit und Gemeinschaft" ist, soziologisch gesprochen, das ontische Grundverhältnis von Individuum und Gesellschaft sowohl metaphysisch wie metapolitisch in eine höhere Ordnung des Daseins gehoben und damit von Natur aus, d. h. natur-rechtlich gesichert. Damit ist durch diese naturrechtlich bedingte Verhältnissetzung von „Person und Gemeinschaft“ zugleich eine Sicherung dagegen verbürgt, daß die individuelle Existenz der Person nicht mehr von den vorgesellschaftlichen Mächten des „Kollektivs aufgesaugt und so ihrer „natürlichen Rechte“ eigenständiger Willensbetätigung und Verantwortung beraubt wird. In diesem Sachverhalt gründet die viel zu wenig beachtete Tatsache, daß die personalistische, gemeinschaftsgebundene Lebensordnung des Westens den soziologischen Begriff des „Kollektivs“ niemals für sich selbst in Anspruch genommen, sondern ihn immer nur als Charakteristikum der im-personalistischen Lebens-ordnungen der außerwestlichen Welt oder aber als Kennzeichnung der in der geschichtlichen Entwicklung des Abendlandes nicht zu vermeidenden Degenerationserscheinungen, im Sinne eines Rückfalls des westlichen Personalismus in den vor-abendländischen Kollektivismus.

Die gesamte marxistisch-leninistische Terminologie kann darum wohl auch in ihrer antiwestlichen Mentalität und geistigen Herkunft kaum besser gekennzeichnet werden, als durch die Tatsache, daß sie den Begriff des „Personalismus“ nicht kennt, den Begriff des „Kollektivismus“ aber zur eigentlichen Grundlage der marxistisch-leninistischen Soziologie machte.

Hier verdient der Hinweis Beachtung, daß es gerade den ethisch-politischen Traditionen und metapolitischen Kräften des abendländischen Personalismus in erster Linie zu verdanken ist, wenn sich bisher in der abendländischen Lebensordnung der marxistisch-leninistische Kollektivismus nicht durchsetzen konnte. Wie ja denn überhaupt eine viel zu wenig beachtete Tatsache der abendländischen Geschichte ar dieser Stelle Erwähnung finden muß: Nämlich das geschichtliche Fak tum, daß sich im Westen immer nur jene revolutionären Bewegunge durchsetzen konnten, die zutiefst auf die Erweiterung der sozialen un politischen Freiheit des abendländischen Menschen, also — in unsere Terminologie gesprochen — die Durchsetzung und Sicherung seine „natürlichen Rechte“ als Persönlichkeit gerichtet waren, wie es j offensichtlich in den drei großen wahrhaftigen „Naturrechts-Revolutio nen“ des Westens, der englischen von 1688, der amerikanischen vo‘ 1776 und der großen französischen von 1789 geschah.

Dagegen haben alle konterrevolutionären Bemühungen, die sich sei den Tagen Cäsars im Westen dazu verstiegen, den Raum und die Ordnungen der naturrechtlichen Freiheiten des abendländischen Menscher und der westlichen Gesellschaft wiederum einzuschränken oder unter die diktatoriale Gewalt eines staatlichen Despotismus und Kollektivismus zu bringen, doch letzten Endes immer wieder kläglich Schiffbruch erlitten. Der Grund hierfür lag vor allem dann, daß das personalistische Freiheitsprinzip des Westens, d. h. die „personalistische Mentalität des abendländischen Menschen auf die Dauer nicht zu unterdrücken war und somit allen Versuchen in dieser Hinsicht kein dauernder Erfolg beschieden sein konnte. In diesem Sachverhalt liegt dann auch wohl die beste Erklärung dafür, daß sich alle Versuche, die seit den Tagen der römischen Cäsaren auf die Errichtung einer totalitären Staatsordnung oder diktatorialen Vergewaltigung und politischen Kollektivisierung oder Vermassung der westlichen Völker richteten, niemals als Systeme von geschichtlicher Dauer konsolidieren konnten, dagegen immer wieder nach kurzer Zeit oder höchstens der Lebensspanne einer Generation verschwinden mußten. An diesem viel zu wenig beachteten Faktum mußten darum auch jene Phantastereien einer tausendjährigen diktatorialen Gewaltherrschaft kläglich scheitern, wie sie in dem von Hitler und Mussolini organisierten totalen Abfall vom Abendland und ebenso totalen Aufstand gegen die europäische Ordnung angestrebt wurde.

Die östliche Antithese: Kollektivismus Man kann die fundamentale Bedeutung der im Vorhergehenden charakterisierten Werte und Traditionen des abendländischen Erbes für die Stärkung und Verteidigung der ethisch-politischen Substanz der europäischen Einheit kaum eindrucksvoller illustrieren, als durch einen kurzen systematischen Hinweis auf die der abendländischen Entwicklung parallel laufende Entwicklung im geschichtlichen Bereich des östlichen Christentums. Hier sind es vor allem der religiöse Im-Personalismus und der soziale und politische Kollektivismus, welche die geistige und gesellschaftliche Entwicklung dieses „Ostens“ formten.

Im Westen kann nach all dem bereits Dargelegten, die religionssoziologische Entwicklung wie folgt zusammengefaßt werden:

Die strikte römische Unterscheidung zwischen den res sacrae und res profanae und die auf ihr ruhende ebenso strikte Unterscheidung zwischen dem jus sacra und dem jus p r o f a n a. Aus ihr resultiert die Ablehnung aller Divinisierung des Königs-und Kaiser-kultes, sowie die auf ihr beruhende Anerkennung der naturrechtlichen Eigengesetzlichkeit der Bereiche von Religion und Kirche und von Politik und Staat.

Die Separation der politischen Gewalt der staatlichen Macht von der religiösen Autorität der priesterlichen Hierarchie und die in ihr gegründete spirituelle Souveränität des rex s a c r o r u m, die deutlich sichtbar und wirksam wurde, sowohl im höchsten Priesteramte des pontifex maxi m u s der echten Religion des republikanischen Rom, wie auch im päpstlichen Bischofsamte des christlichen Rom.

Die strenge Unterscheidung der Bereiche von res publicae und res privatae, und die hierin begründete Ablehnung alles staatlichen Totalitarismus und Servilismus, als letzte Konsequenz der personalistischen Menschen-und Staatsauffassung.

Wenn sich dennoch in der römischen Kaiserzeit vorübergehend oftmals flagrante Verletzungen dieser Prinzipien einstellten, wie sie vor allem in der cäsarischen Usurpation des Amtes des pontifex maximus, dem Gott-Kaiser-Wahn und religiösen Staatskult der Imperatoren, und den durch sie hauptsächlich verursachten Juden-und Christenverfolgungen in Erscheinung traten, so beweist dies lediglich, wie tief sich bereits im kaiserlichen Rom der orientalische Hellenismus eingenistet hatte und wie sehr die echten römischen Traditionen bedroht waren. Von hieraus gesehen hat die bereits erwähnte Tat Konstantin des Großen eine weitere Bedeutung: Als er im Jahre 324 Rom mit Byzantium vertauschte, hat dieser erste „christliche“ Imperator zugleich nicht nur symbolisch dem Westen die gesamte, dem inneren Wesen Roms stets fremde Tradition der hellenistischen Theokratie entführt, sondern er hat — wohl auch als Werkzeug einer höheren Fügung — zugleich praktisch die akuten Gefahren einer weiteren Orientalisierung des antiken und christlichen Rom unterbunden und damit eigentlich erst definitiv die Freiheit des Westens und Zukunft Europas gerettet. Im christlichen Osten formten dagegen die hellenistischen Traditionen folgende Hauptcharakteristiken:

Divinisierung des weltlichen Rechtes in der byzantinischen Theokratie und Säkularisierung des heiligen Rechtes in der Cäsaro-Papistischen Staatskirche.

Dies vollzog sich konform mit der gegenseitigen Durchdringung von politischer Gewalt des Staates und religiöser Autorität der Kirche, zum Zwecke der Unterordnung der priesterlichen Hierarchie unter die politische Bürokratie des Staates. Die byzantinischen Staatstheologen erfanden für die Rechtfertigung dieses Sachverhaltes die ebenso berühmte wie sophistische Formel von der politisch-religiösen und der religionspolitischen Symphony zwischen Kirche und Staat. Sie fand ihre höchste Rechtfertigung und Auswirkung in der unteilbaren Einheit des autokratischen, weltlich-kirchlichen Herrscherrechtes und des absoluten kirchlich-weltlichen Herrscheramtes des byzantinischen Kaisers als Basileios und Cosmocrator, als irdische Inkarnation der Schöpfergewalt des göttlichen Pantokrator und des Herrscheramtes des himmlischen Dominus et Deus.

In einer solchen Ordnung des ostchristlichen Cäsaro-Papismus und byzantinischer Theokratie war naturgemäß die Durchsetzung echt römischer und westlicher Traditionen unmöglich; weder eine Separation der res publicae von den res privatae, noch eine Trennung der Bereiche des öffentlichen von denen des privaten und kirchlichen Lebens war möglich. Ebenso selbstverständlich war darum auch die Nichtexistenz aller jener Ordnungen und Lebenswerte, die sich in dem personalen Eigensein des Menschen und auf die natürlichen Rechte seiner persönlichen Freiheit begründen. Kurzum: hier liegen die religionssoziologischen Ursachen dafür, daß sich weder in der byzantinischen noch in der sie ablösenden russischen Welt jemals ein personalistisches Menschenbild, noch eine naturrechtlich begrenzte Staats-und Gesellschafts-Ordnung entwickeln konnte. Für diesen Osten waren und bleiben bis zum heutigen Tage das personalistische Denken und die naturrechtlichen Lebensordnungen des Westens höchst gefährliche Theorien und Haltungen, die die Autorität der kollektivistischen Staats-und Gesellschaftsordnungen und -einrichtungen bedrohen. Um so mehr aber konnten sich sowohl damals in Byzanz die Traditionen des hellenistischen Kollektivismus, des mazedonischen Imperialismus und des hellenistisch-römischen Imperialismus durchsetzen, wie sich dann in der traditionellen russischen Nachfolge derselben die gleichen Prinzipien des anti-personalen Kollektivismus bis hinein in den bolschewistischen Marxismus-Leninismus und neo-russischen Imperialismus finden.

In Byzanz vollzog sich jene Synthese von N e u -R o m, die sowohl die besondere Erbschaft ihres griechischen Ausgangs, wie auch das religiöse novum ihres Ausmündens im Christlichen, in der neuen Einheit von Griechentum-Hellenismus-Christentum zusammenfaßte. In dieser Synthese vollzog sich bereits die endgültige Abwendung des Ostens vom römisch geprägten Westen und damit auch die geistige Trennung von jener Entwicklung, die das Abendland und Europa formten.

Byzanz verkörperte weithin den totalitären Staatscharakter der griechischen Polis, die auch keine Trennung der Bereiche von Religion und Staat kannte:

„Die Polis hat den Charakter der Heiligkeit, und das Verhältnis des Bürgers zur Polis ist eigentlick seine Religion, die sich in den Staats-kulten äußert. Die griechischen Götter sind nidrt wie die meisten semitischen Gottheiten, die Götter des Landes und des Bodens, sondern primär Götter des staatlich verfaßten Volkes. Hier nimmt die Religion nicht eine selbständige Entwicklung neben dem Staat und den von ihm verfaßten Lebensgebieten. Es kann sich hier nidrt eine Kird-ie in Konkurrenz mit dem Staat ausbilden mit einem selbständigen Priesterstand wie in den orientalischen Reichen. Die Götterkulte sind Staatskulte, die Priester staatlidre Beamte.“ (Bultmann)

Dieser Sachverhalt der griechischen Polis hat seine volle Parallele in der byzantinischen Theokratie. Mit Recht bezeichnet sie sich daher als „griechisch“. Diese Herrschaft des Politischen über das Religiöse, in welcher die Religion mit der Politik identifiziert wird, und demnach der Staat ebensosehr die Kirche repräsentiert, wie die Kirche zugleich den Staat darstellt, ist besonders kennzeichnend für die byzantinische Theokratie. In ihr ist die Einheit von heiligem und profanem Recht-wie sie im totalen Gesetz des Nomos der antiken Polis herrschte, lediglich dadurch ins „Christliche“ transformiert, daß die weltliche Allmacht des griechischen Nomos in die theokratische Allmächtigkeit des byzantinischen K o s m o s erweitert, und in der ebenso allmächtigen Reprä-sentations-und Herrschergewalt des byzantinischen Kaisers als Kos-mokrator wirksam ist.

Bereits auf dem Zweiten Konzil von Konstantinopel (3 81) erzwang Theodosius I. die „ökumenische“ Sanktion dieses Sachverhaltes. Seitdem hat er als höchstes Gesetz der byzantinischen Theokratie das staatliche und kirchliche Leben des Östlichen Christentums unverändert bis zum Ende des russischen Zarismus beherrscht, und so konnte Adolf Harnack auch mit vollem Recht behaupten:

„Das fahr 381 ist das Geburtsjahr der christlichen Staatskirche. In Wahrheit ist nun erst der absolute Neu-Römische Herrsdter fertig geworden, der nicht nur über die Leiber und Güter seiner Untertanen, sondern auch über ihre Seelen und Gewissen herrscht!“

Eine ebenfalls betont griechische Tradition weist die Theologie der Byzantiner auf, indem sie weithin auf den Intellektualismus der griechischen Philosophie, vor allem den platonischen Logos-Begriff und die neuplatonische Mystik aufgebaut ist. Vor allem ist es hier das Vor-wiegen der alexandrinischen Tradition von Origenes bis Athanasius, und ihres betonten Logos-Christos-Begriffes, der die Entwicklung eines konkreten personalistischen Jesus-Christus-Bildes und damit die Grundlegung eines psychologischen Trinitätslehre und einer konkreten theologisch-philosophischen Anthropologie im Sinne des westlichen Personalismus augustinischer Prägung verhindert hat. Damit fand auch die Naturrechtsphilosophie der Stoa und die Naturrechtslehre der lateinischen Patristik keinen Eingang in die ostchristliche Theologie und Philosophie, was wiederum zur Folge hatte, daß sich dort keine eigenständige Staats-und Gesellschaftslehre im Sinne der naturrechtlichen Soziologie des westlichen Personalismus entwickeln konnte.

Ebensowenig war auf Grund dieses Sachverhaltes die Entwicklung einer positiven Kulturphilosophie im byzantinischen und ostchristlichen Raume möglich. Gerade in dieser Hinsicht zeigt die byzantinische Über-betonung der Askese, in konsequenter Fortbildung des weltverneinenden und kulturfeindlichen orientalischen Mönchtums, die völlige Abhängigkeit des byzantinischen Monachismus von den hellenistisch-orientalischen Traditionen. Das gleiche gilt für die ostchristliche Tugendlehre gegenüber der ihr entsprechenden westlichen Auffassung einer personalen Sittlichkeit, die eine Heiligung des Menschen durch die im menschlichen Wesen sichtbar werdende Macht der göttlichen Gnade und Sa-kramente erstrebt, im Gegensatz zu der die Vergottung des Menschen anstrebenden Tugend-und Kenosislehre des byzantinischen Mystizismus und sakramentalen Im-Personalismus.

Die römischen, oder besser gesagt, „romäischen“ Traditionen Byzantiums beziehen sich wesentlich auf jene des spätrömischen Imperialismus und Cäsarismus. Sie äußern sich in kirchenpolitischer Hinsicht vor allem in dem unablässigen Bestreben der byzantinischen Staatskirche und ihres, keine direkten apostolischen Traditionen besitzenden Patriarchats von Konstantinopel, sowohl das römische Christentum und Papsttum, wie auch die eigenständigen orientalischen Kirchen des Mittleren Ostens mit ihren ehrwürdigen Traditionen, unter die politische Herrschaft des allein „rechtgläubigen“ Kaisers und die geistliche Herrschaft des „orthodoxen“ Patriarchats zu beugen. Dagegen erkennen die römischen Traditionen und der Westen dankbar die große Leistung an, die Byzantium in der weltgeschichtlichen Großtat der Sammlung und Kodifizierung des gesamten c o r p u s des Römischen Rechtes vollbracht hat. Aber auch hier sind die Leistungen der Kaiser Theodosius und Justinian (Kaiserkonstitutionen, Sammlung seit 312; Codex Justinianus 529; Digesten, Pandekten, Institutionen 533) vorwiegend organisatorischer Art, weil der sachliche Inhalt des corpus durchaus eine Leistung des alten und kaiserlichen Rom ist. Ebenso bestritten die Juristen und Traditionen von Rom und dem syrischen Berytos (Beirut) auch die Hauptarbeit der Kodefizierung. In Byzantium und seinen östlichen Nachfolgern, einschließlich Rußlands, hat das corpus juris civilis des Justinian keine sichtbare Beachtung und Wirkung gefunden. Man begnügte sich dort wesentlich mit einer typisch „byzantinischen“ Kommentierung und einem sehr verkürzten und verwässerten Auszug des Codex, der sogenannten Basilika Leos des Weisen (8 86-911), in der besonders stark die Abschwächung aller Gesetzesbestimmungen zutage tritt, denen eine mehr oder minder deutliche Begründung im Sinne des naturrechtlichen Personalismus der römischen Rechtslehre zugrunde liegt.

Aus dieser Charakterisierung des östlichen Kollektivismus ergibt sich nun um so objektiver eine ideengeschichtliche Wertung der freiheitlichen Traditionen des Abendlandes und der geistigen Substanz Europas, je ernsthafter man sich stets bei dem Bemühen um die Verteidigung und

Förderung des Gedankens der europäischen Einheit folgende Charakteristiken der östlichen Antithese vor Augen hält:

Das östliche (byzantinisch-russische) Christentum hat niemals den religiösen Personalismus des Alten Testaments adaptiert, geschweige denn fortentwickelt, weshalb es in der ostchristlichen Theologie und Philosophie keine Entwicklung der Naturrechts-Auffassungen des Dekaloges, noch eine solche der personalistischen Anthropologie des Apostels Paulus gibt. Die ostchristliche Theologie und Anthropologie ist betont anti-Judaistisch und anti-Paulinisch. Ebenso hat das gesamte östliche Christentum bewußt darauf verzichtet, der Naturrechtsphilo-Sophie der Stoa irgendeine Beachtung zu schenken, wie ja denn überhaupt der betont naturrechtliche Personalismus der lateinischen Patristik den östlichen Theologen als weithin „unchristlich“, d. h. heidnisch erscheint, weshalb wohl auch die Ostkirche selbst dem bedeutendsten Lehrer des abendländischen Christentums, dem großen Augustinus, bis heute immer noch die Ehrung eines „Heiligen“ der Kirche vorenthalten hat und ihn lediglich einen „Seligen“ nennt. Reinhold Seeberg hat seinerzeit den Nagel auf den Kopf getroffen, wenn er den religiösen Impersonalismus und geistlichen Kollektivismus des Östlichen Christentums darauf zurückführte, daß „die Ostkirche keinen Augustinus gehabt hat und somit in ihrer Entwidmung nidit über die Problematik des Origenes hinausgelangte“.

Dies aber besagt, daß die Verhinderung des Fruchtbarwerdens der personalistischen Anthropologie und Soziologie Augustins in ihren letzten theologischen und gesellschaftsphilosophischen Konsequenzen dazu führen mußte, daß der christliche Osten auch in seinem sozialen und politischen Denken im-personalistisch und kollektivistisch blieb. Hier liegen die tieferen Gründe der Abstinenz des Ostens von aller Natur-rechts-Lehre und allen philosophischen und politischen Konzeptionen, denen die Idee und Wirklichkeit des westlichen Persönlichkeitsbegriffes zugrunde liegt. Selbst der soziale Kollektivismus und staatliche Absolutismus der neo-russischen Autokratie und Technokratie des bolschewistischen Moskau, hätte sich ohne diese, der russischen Mentalität geradezu eingeborene Abstinenz zur Idee und Wirklichkeit des abendländischen Personalismus nicht in jenem Maße erhalten und durchsetzen können, wie es tatsächlich geschah.

Die Legitimation des Westens: Die Person Wenn die Sprache die innerlichste Ausdrucksform des menschlichen Geistes, wenn sie sozusagen die „Seele der Kultur“ ist, dann hat gerade in dem Wort Person und dem Begriff der Persönlichkeit das innerste Wesen der christlichen Kultur des Abendlandes seinen legitimsten Ausdruck gefunden. Kein anderes Wort ist in seiner begrifflichen Bedeutung so eindeutig und in seinem Gebrauch so völlig unverändert in den Sprachgebrauch aller Völker des westlichen Kulturkreises eingegangen, als der Ausdruck der Person.

Das Wort Person ist wohl der wichtigste, wenn nicht gar der einzige sprachliche Terminus, der in seiner originalen lateinischen Form und Semantik völlig unverändert von allen Sprachen des romanisch-germanischen Kulturkreises übernommen wurde und bis heute gebraucht wird. Kein anderes Wort und die aus ihm abgeleiteten Begriffe von „persönlich“ und „Persönlichkeit“ kann darum auch besser zum interpretierenden Ausdruck des sensus communis innerhalb der geistigen und politischen Welt des Westens dienen. Mit dem Wort „Person“ ist zugleich schon jenes geistige und psychologische Zentrum umschrieben, um das sich die ethisch-politischen Grundkonzeptionen des Westens entwickelten. Mit dem Wort „Person“ ist aber auch ebenso eindeutig der geistige Mittelpunkt jener gesamten Entwicklung bezeichnet, welche sich als die besondere „Geschichte der Freiheit im Westen“ sehr wesentlich von ähnlichen Entwicklungen in anderen Kulturkreisen unterscheidet. Von dem besonderen Sinngehalt des Wortes Person hat ja gerade auch der Begriff der Freiheit jene typisch „westliche“ Prägung erfahren, deren soziologisches Verständnis den nicht-westlichen Völkern so außerordentlich große Schwierigkeiten bereitet. Denn genau so, wie sich etwa der allgemeine Begriff des menschlichen Individuums oder des individuellen Menschen, in der besonderen soziologischen Konkretisierung der westlichen Person und Persönlichkeit sehr wesentlich von den Begriffen aller nicht-westlichen Anthropologien und Soziologien unterscheidet, hat auch der soziologische Begriff der Freiheit im Westen eine geistige Grundlegung und einen geschichtlichen Inhalt, die von jenen der nicht-westlichen Welt wesentlich verschieden sind.

Von dieser Einsicht her kann das allgemeine soziologische Verständnis jener Eigenart der geschichtlichen Entwicklung Europas und der politischen Mentalität des Westens wesentlich gefördert werden, die wir ganz allgemein im Begriff des „Personalismus“ ausdrücken. Denn die Geschichte vom Ursprung und Sinngehalt des Wortes „Person“ ist zugleich wohl auch der originellste Ausdruck der Seelengeschichte des Westens selbst.

Das griechische Wort prosopon bezeichnete in Hellas jene „Maske“, welche der Hauptdarsteller und Chorführer in der griechischen Tragödie vor dem Gesicht trug. Er verbarg dahinter sein personales, d. h. privates „Selbst“, zugunsten der dargestellten „Rolle“ und der Im-Personalität des kollektiven „Wir“ oder „Es“ der von ihm geführten Gruppe. Er ließ also durch die Maske hindurch seine Worte als die Stimme des prosopon erklingen; mit anderen Worten: der Sprecher selbst wurde zum prosopon und seine ent-persönlichte Stimme zum Ausdruck der Rolle des Typisierten und Kollektiven, im Unterschied zum Individuellen und Einzelnen. Durch das Tragen der Maske, der Verhüllung der individuellen Züge des konkreten Antlitzes durch das Stereotype des prosopon, war also die Ausschaltung alles Individuellen und Konkret-Persönlichen des Schauspielers zugunsten der ausschließlichen Wirkung der ihm zugedachten Rolle erreicht. An die Stelle der wissentlichen Ausdrucksänderungen des lebendigen Antlitzes trat hier die Stereotypie der bewegungslosen Maske; der lebendig bewegte menschliche Ausdruck verschwand hinter dem toten Schema des p r o s o p o n.

In der hellenistisch-orientalischen Philosophie der Stoa erfuhr nun dieser Begriff des prosopon einen fundamentalen Bedeutungswandel. Es war nämlich der hellenistisch-semitische Immigrant Zeno von Kition, der diesen Wandel dadurch vollzog, daß er den attisch-griechischen Begriff des prosopon in einer lediglich analogischen Anwendung auf die Begründung seiner naturrechtlichen Auffassung von der natürlichen Freiheit und Autonomie des Menschen heranzog. Nach der Lehre Zeno's ist jedem Menschen die natürliche Freiheit über sein eigenes Leben angeboren. Hiernach hat jeder Mensch die ihm von Natur aus zugedachte Rolle seines individuellen Schicksals und Eigenlebens stets auch auf der eigentlichen „Bühne" des Lebens selbst zu spielen, also sein eigenes prosopon zu sein. Zeno lehrte also mit anderen Worten ausgedrückt: Jeder Mensch hat sowohl ein natürliches Recht wie auch eine natürliche Pflicht dazu, im großen Welttheater sein eigenes prosopon zu sein, d. h.seine eigene natürliche Rolle zu spielen, also sein eigenes Leben zu leben.

Der fundamentale Bedeutungswandel, den in dieser Lehre die Anwendung des Begriffes „prosopon“ erfahren hat, leuchtet sofort ein: Das prosopon ist nun nicht mehr Symbol eines anderen, nicht mehr Maske zur Verdeckung eines Individuellen und Originalen zugunsten des Kollektiven und Rollenhaften; nein, hier wird nun das prosopon zur direkten Funktion des Originalen, zum direkten Ausdruck des Eigenen; kurzum, es wird zum Ausdruck des Menschlich-Individuellen und zum Begriff des Individuell-Menschlichen, wie es sich aus der natürlichen Willensfunktion des konkreten Menschen bildet und im Lebensprozeß durchsetzt!

In dieser Bedeutung der natürlichen Freiheit-und Willensautonomie des individuellen Menschen ist dann der Zeno’sche Begriff des prosopon, als ein Zentralbegriff der stoischen Philosophie, mit dem rechtlichen und philosophischen Denken der Römer in Berührung gekommen und dann unter dem Ausdruck persona in die lateinische Sprache eingegangen.

Es geschah dies vor allem durch die Pflichten-und Staatslehre des Cicero, der wohl am entscheidendsten zur philosophischen Vertiefung der römischen Rechtslehre und Staatsauffassung durch die Lehren der Stoa beigetragen hat. Damit war der Grund gelegt für die Entwicklung jener ebenso fundamentalen wie einzigartigen Welt von Begriffen und Wertvorstellungen des abendländischen Personalismus, der alle theologischen und philosophischen Beziehungen des Menschen zu Gott und der Welt, alle rechtlichen und politischen Ordnungen der sozialen Menschennatur, kurzum, die gesamte Stellung des Menschen zur Religion und Kultur, zum Staat und zur Gesellschaft, auf die konkrete Gestalt der unsterblichen Seele, die geistige Existenz und den natürlichen Eigenwert des menschlichen Individuums, als einer Person schlechthin bezieht.

In diesem Sinne der naturrechtlichen Eigengesetzlichkeit und des gesellschaftlichen Eigenwertes jedes individuellen menschlichen Lebens, und des absoluten Wertes der menschlichen Seele und der geistigen Freiheit ihrer menschlichen Existenz, hat sich im Westen die Identität der Begriffe von Mensch und Person schlechthin vollzogen.

Jegliches rechte Verständnis der Psychologie des westlichen Menschen, seiner Kulturmentalität und sozialen Moral, wie überhaupt alle grundlegenden Wertvorstellungen des gesellschaftlichen Lebens und der politischen Einrichtungen des Westens, ist darum auch vorbehaltlos an die Erkenntnis und Anerkennung dieser fundamentalen Gleichung zwischen den Begriffen von Mensch und Person gebunden. Deshalb kann auch der besondere Freiheitsbegriff des Westens nur unter Berücksichtigung dieser Gleichung recht verstanden werden; d. h.der Begriff der Freiheit kann nur in der menschlichen Freiheit selbst vollauf realisiert werden, die aber nur dann wahrhaft „menschlich" ist, wenn sie in ihren Rechten und Pflichten immer zugleich auch grundsätzlich auf die „persönliche“

Existenz des Individuums ausgerichtet ist. Jegliche andere Art der Menschenauffassung kann darum auch ebensowenig zum vollen Verständnis des westlichen Freiheitsbegriffes gelangen, wie etwa die außer-westlichen Freiheitsauffassungen schon von sich aus zu einem vollen Verständnis des abendländischen Menschenbildes, eben der Person und ihrer Entfaltung zur Persönlichkeit gelangen können. Aus diesen Überlegungen wird besonders deutlich, wie sehr der verstehende Zugang zur personalistischen Anthropologie und Soziologie des Westens von der Kenntnis der abendländischen Begriffsgeschichte der Person abhängig ist.

Die Genesis des Begriffes der Person ist somit zugleich auch die semantische Grundlage des Verstehens der Entwicklungsgeschichte des abendländischen Geistes und der gesellschaftlichen Institutionen des Westens. Unter dem Einfluß der römischen Stoa hat sich dann jene inhaltliche Erweiterung des ursprünglich vorwiegend juristisch gefaßten Personenbegriffs vollzogen, die in der theologischen Trinitätslehre der römischen Patristik, speziell von Tertullian über Cyprian und Ambrosius, bis hin zu der psychologischen Trinitätslehre und philosophischen Anthropologie des größten lateinischen Kirchenvaters Augustinus (3 54— 430) ihre abschließende Synthese fand.

Diese augustinische Synthese umfaßt bereits die ganze Fülle jener personalistischen Konzeptionen, wie sie im Laufe einer langen Geschichte der Entwicklung der wesentlichen Grundlagen der römisch-christlichen Kultur des Westens und in oft dramatischen Auseinandersetzungen mit der ostchristlichen Theologie, vor allem in den heftigen christologischen Kämpfen, entstanden sind. In der abschließenden Synthese des Augustinischen Welt-und Menschenbildes ist die personalistische Schöpfungslehre und theologische Anthropologie des Alten Testaments mit dem theologischen Personalismus des Apostels Paulus, dem stoischen Personalismus des Cicero und der römischen Jurisprudenz zu einer geschlossenen Einheit zusammengearbeitet. Hierbei haben selbst für die Ausbildung der lateinischen Theologie und römischen Kirchenlehre der naturrechtliche Personalismus der römischen Stoa und Rechtslehre eine fundamentale Bedeutung gehabt. Vor allem gilt dies für die Pflichten-lehre und Staatsauffassung des Cicero, denen die großen Kirchenväter Ambrosius und Augustinus eine ebenso entscheidende Einflußnahme verdanken, wie es etwa für den Einfluß des römischen Rechtsdenkens auf die Entwicklung des lateinischen Kirchenbegriffs und die Christologie bei Tertullian und Cyprian gilt, die ja bekanntlich bis zu ihrem Eintritt in die Kirche führende Vertreter der römischen Jurisprudenz waren. Gerade die personalistische Christologie und Trinitätslehre der lateinischen Patristik, vor allem die betonte Lehre von den drei „Personen" in einem Gott, welche ja die ostchristliche Lehre von den drei „Hy posthasen" überhaupt nicht kennt und die von der griechischen Patristik aufs heftigste bekämpft wurde und bis zum heutigen Tage abgelehnt wird, dies alles zeigt bereits den entscheidenden Einfluß des römischen Personalismus auf die Grundlegung des westchristlichen Weltbildes. Diese wenigen Hinweise genügen aber sicherlich, um anzudeuten, warum dem Personalismus der Augustinischen Synthese jene fundamentale Bedeutung zugemessen werden muß, die ihm für den gesamten Verlauf der abendländischen Kulturentwicklung als der grundlegenden Kategorie des personalistischen Freiheitsbegriffes und Menschenbildes im Westen zukommt.

Die Bedeutung der ciceronisch-augustinischen Grundlegung der Anthropologie und Soziologie des Abendslandes zeigt sich vor allem auch darin, daß sich das naturrechtliche und personalistische Grundprinzip dieser Synthese im gesamten Kulturbereich des westlichen Christentums durchgesetzt hat und auch noch in der späteren Entwicklung der rationalistischen Auflösung dieser Synthese, die man als die „Säkularisierung“

der abendländischen Kultur bezeichnete, vollauf erhalten hat. Selbst bis in die schwere geistige Krise und politischen Katastrophen der neuesten Zeit hat sich gerade der Personalismus als geschichtsbildendes Prinzip und soziologisches Leitmotiv der Regenerations-und Aufbauarbeit Europas erhalten.

Kein anderer Begriff kann deshalb mehr in unseren Tagen zum Maßstab der Legitimität der Zugehörigkeit eines Volkes und seiner Sprache zum westlichen Kulturkreis dienen, wie derjenige von Person und Persönlichkeit. Für die Erfassung der tiefer liegenden kulturellen Ursachen und ideologischen Gründe, welche dem heutigen weltpolitischen Gegensatz zwischen Washington und Moskau zugrunde liegen, ist deshalb gerade auch die Begriffsgeschichte des Personalismus von besonders erhellender Bedeutung. Dies vor allem deshalb, weil der ideenpolitische Gegensatz zwischen dem westlichen Personalismus und dem östlichen Kollektivismus besonders sinnfällig illustriert wird durch jene eigenartige Stellung, welche dem Wort und Begriff der Person innerhalb der Sprachen und Semantik der im-personalistischen Kulturen des östlichen Christentums zukommt. Da wir bereits in den vorhergehenden Darlegungen die religionssoziologischen Grundlagen des westlichen Personalismus und östlichen Kollektivismus und deren schicksals-schweren Auswirkungen im geschichtlichen Raum interpretierten, können wir uns nun hier auf das Beispiel der russischen Sprache beschränken. Die Stellung des Begriffs der Person in der russischen Sprache und Gefühlswelt offenbart in besonderer Weise die außerordentliche Tiefe des geschichtlichen Gegensatzes zwischen der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung des westlichen und östlichen Christentums.

Sie charakterisiert vor allem die völlige Unberührtheit der russischen Gefühls-und Begriffswelt von den personalistischen Traditionen des Westens:

In der russischen Sprache werden die westlichen Begriffe Person — persönlich — Persönlichkeit mit den Worten Litzo — litschno — Litschnost ausgedrückt und meinen ganz eindeutig jene Begriffe, die wir im Westen unter den Worten: Gesicht — sehbar, von Angesicht zu Angesicht — Gesichtlichkeit oder Antlitzhaft verstehen. In dieser russischen Bedeutung kehrt damit ganz eindeutig der ursprüngliche griechische Begriff des prosopon als Maske, Hülle und Äußerlichkeit wieder!

Daß der im-personale oder gar a-personale Sinn und Charakter dieses Prosopon-Begriffes keine Beziehung zum inneren Wesen und eigentlichen seelischen Antlitz des Menschen und dessen personaler Autonomie einer individuellen Freiheit selbstschöpferischer Willensbezeugung und bewußt idi-betonter Willensbetätigung hat, haben wir bereits bei unserer Analyse des ursprünglichen griechischen Sinngehaltes des prosopon dargelegt. Man hat also hier in dem russischen Litzo eines der wenigen einfachen semantischen Beispiele vor Augen, das die völlige Unberührtheit des russischen Menschenbegriffes von der durch die Stoa eingeleiteten Entwicklung des freiheitlichen Personen-Begriffes des Westens überzeugend demonstriert. Man kann von dieser Einsicht aus darum auch besonders gut jene sprachlichen und begrifflichen Schwierigkeiten verstehen, welche das Bemühen der russischen Dichter und Denker, vor allem der Theologen, Philosophen und Historiker, um ein tieferes Verständnis des westlichen personalen Menschen-und Freiheitsbegriffes belastet haben. Ich selbst habe in meinem langjährigen freundschaftlichen Verkehr mit russischen Theologen und Philosophen, darunter Nikolajew Berdiajew, Serge Bulgakoff und Georgiew P. Fedotoff, in dieser Hinsicht geradezu erschütternde Erfahrungen gemacht und dabei deutlich die mentale und semantische Grenze erfühlen können, über welche selbst diese „europa-geöffneten“ russischen Denker, trotz langjährigem Aufenthalt im Westen, in ihrem partiellen Verständnis der personalistischen Substanz Europas nicht hinausgelangen konnten.

Vielleicht werden von diesem Sachverhalt her auch so manche politischen und diplomatischen Schwierigkeiten verständlich, die sich immer wieder bei den Verhandlungen des Westens mit russischen Politikern schon allein aus dieser semantischen Diskrepanz zwischen dem westlichen und dem russischen Personen-und Freiheitsbegriff ergeben müssen. Vielleicht liegt diesem Unterschied sogar auch manches jener Mißverständnisse der Intentionen und Deklarationen westlicher Staatsmänner zugrunde, durch welche sich vor allem die Haltung der russischen Diplomaten in den Debatten der Vereinten Nationen immer wieder auszeichnet?

Der a-personalistische Sinngehalt des russischen Begriffs der Person hat auch entscheidende semantologische Konsequenzen für die russischen Begriffe der Freiheit und des Willens gehabt. Es würde den Rahmen dieses Essays sprengen, wenn hier des näheren auf eine semantische Aufklärung dieses Sachverhaltes eingegangen würde. Darum muß der Hinweis genügen, daß auch der russische Begriff des Willens aufs engste mit dem a-personalen, selbstnegierenden Charakter des russischen Litzo zusammenhängt. Schon Oswald Spengler hat darauf hingewiesen, daß das russische wol ja, d. h. unser Wille, nicht etwa mit dem personalen, aktivistischen „Willen zu etwas in freier Entscheidung“ bedeutet, sondern vor allem den passiven Begriff eines Nicht-Müssens, eines Freiseins von etwas, vor allem von der Verpflichtung zur selbstverantwortlichen, persönlichen Tat, ausdrückt. Dieses wol ja ist vornehmlich ein Ausdruck des Zustandes einer negativen Willensfreiheit, in welcher der Wille eines anderen Es dem passiven Ich des Litzo befiehlt. Dieser passive Willensbegriff, der vorwiegend auf das Erleiden oder das Geschehenlassen einer Tätigkeit begründet ist, hat darum auch weithin den russischen Freiheitsbegriff in der Weise bestimmt, daß der Russe diese Freiheit in erster Linie erleidet, d. h. an sich geschehen läßt oder sich selbstwillend befehlen und verordnen läßt.

In diesen Einsichten liegt nicht nur der Schlüssel zu einem wesentlichen Verständnis jener sonst unserem Begreifen völlig unzugänglichen „russischen Mentalität", wie sie uns besonders in vielen Gestalten der Welten Dostojewskys und Tolstois entgegentritt. In dieser Einsicht liegt wohl auch ein wesentlicher Schlüssel zum Verstehen jener neurussischen Schlagwörter von „Freiheit des Sozialismus und der Volksdemokratie“, wie sie jetzt in Moskau und seinen Satellitenstaaten propagiert werden. Eines kann jedenfalls mit absoluter Sicherheit aus dieser Einsicht gefolgert werden:

Der russische Begriff des Willens und der Freiheit kann ebenso wenig in eine formale sprachliche Gleichung mit den entsprechenden Begriffen des Westens einbezogen werden, wie es etwa der russische Menschenbegriff mit dem westlichen Personenbegriff zuläßt. Um so verwerflicher ist darum die offensichtliche semantische Falschmünzerei, die heute von Walter Ulbricht, Otto Grotewohl, Alexander Abusch u. a. gerade in dieser Hinsicht in der deutschsprachigen Sowjetpropaganda getrieben wird, obwohl diese politischen Falschmünzer längstens eingesehen haben, daß zumindest die personalistische Mentalität der Deutschen in der Sowjetzone niemals durch die Mentalität des Litzo und wol ja ersetzt werden kann!

Angesichts des in den vorangegangenen Ausführungen dargelegten ideengeschichtlichen und semantischen Sachverhaltes kann die eminente politische Bedeutung einer Kenntnis der Begriffsgeschichte der Person für die Erkenntnis der tieferen Ursachen der West-Ost-Antithese kaum überbetont werden. Hieraus ergeben sich vor allem zwei grundsätzliche Einsichten in die weltpolitische Bedeutung der „Geschichte der Freiheit im Westen“ für unsere Gegenwart:

1. Die Notwendigkeit der Anerkennung des westlichen Personalismus als jenes aktivistische Kulturprinzip, das die Verwirklichung der personalen Freiheit und politischen Demokratie in der geschichtlichen Entwicklung des Westens nicht nur grundgelegt und gefördert hat, sondern auch in Zukunft garantieren kann.

2. Die Erkenntnis, welche fundamentale Gefahr dem Erbe der abendländischen Kultur und der westlichen Zivilisation sowie deren staatlich-politischen Sicherung in einem Vereinigten Europa und regenerierten Westen gerade heute von Seiten der politischen Aspiration des russischen Systems der Traditionen des Litzo und wol ja drohen! Der europäische Ordo: Herrschaft des Rechtes „Es sind vier Mächte, von deren Verhalten es in Zukunft abhängen wird, ob Europa in die Barbarei gestürzt oder vor ihr bewahrt wird: die Pariser Sorbonne, das Englische Parlament, die Römische Kurie und der Preußische GencraIstab I"

In diesen Worten hat kurz vor Ausbruch des ersten Weltkrieges der große Franzose Maurice Barres wohl am besten den historischen Sachverhalt der entscheidenden politischen Institutionen Europas und ihrer schicksalsmäßigen Abhängigkeit voneinander charakterisiert. Seit Edmund Burke’s: Leiters on a Rigicide Peace, vom Jahre 1796 — dem wohl letzten großen Dokument eines wahrhaft okzidentalen „Christian Commonwealth of Europe" — ist wohl nicht mehr die konkrete politische Bedeutung der ethisch-politischen Traditionen des Abendlandes für das Schicksal Europas besser gekennzeichnet worden, als es in diesem geistreichen Apercu des „Europäers“ Barres geschah.

Eine tiefergehende ideenpolitische Deutung und eine gerade für die heutige Bewegung des Europa-Gedankens verbindliche realpolitische Rechtfertigung der These von Barres würde eigentlich eine Rekapitulation der gesamten Geschichte der politischen Ideen und Institutionen Europas, wie auch der besonderen Geschichte des Europa-Gedankens selbst erfordern. Der enge Rahmen unseres Essays läßt dagegen nur eine grundrißhafte Charakteristik der ethisch-politischen 1 raditionen und konstitutionellen Strukturen des vierfachen ideenpolitischen und historisch-politischen Sachverhaltes der Barrs’schen These zu.

Im Begriff der Sorbonne, als dem ehrwürdigsten und ältesten geistigen Bildungszentrum Europas, hat Barres alle jene Traditionen der politischen Wissenschaft Europas zusammenfassen wollen, die sich durch die Jahrhunderte hindurch um eine vernunftmäßige Begründung und willensbetonte Lösung des Problems der politischen und sozialen Freiheiten und Rechte des Individuums unter der eindeutigen „Herrschaft des Rechtes“ bemühten. Dieses Prinzip der Herrschaft des Rechtes und der gesetzesmäßigen Bindung aller Gewalten an letzte natur-rechtliche Normen hat seine fundamentale Begründung erfahren in jener Lehre des Cicero, dem okzidentalen Vermittler römischer Staatsweisheit und dem eigentlichen Vater der europäischen seien tia politicarum, an der jeder Anspruch eines Volkes auf staatliche Selbständigkeit, wie auch jeder Anspruch eines Staates, die legitime Vertretung eines Volkes zu repräsentieren, gemessen werden muß: populus non e s t, nisi q u i consensu j u r i s continetur (De Rep. III) 3 3): daß also nur dasjenige ein Volk sein kann, das durch die Anerkennung des Rechtes zusammengehalten werden kann.

Auf dieser Lehre gründet dann Augustinus sein Diktum:

„Was sind Reiche ohne Gerechtigkeit anderes als große organisierte Räuberbanden/";

desgleichen gründet auf ihr der Grundsatz des Isidor von Sevilla: Rex eris si recte faci. as, si non facias non erisl; daß also auch der König nur dann existiert, wenn er dem Recht genügt, andernfalls der König nicht ist!

Im 13. Jahrhundert hat dann der große Lehrer an der Sorbonne, Thomas von Aquino vor allem in seiner Schrift: De regimine principum, dieser Lehre jene wissenschaftliche Grundlegung und moralpolitische Sanktion gegeben, nach welcher von da an, die alleinige Rechtmäßigkeit der Herrschaft des „Prinzen" unter dem Gesetz und die Verdammung aller gesetzeswidrigen Gewalt-Herrschaft des „Tyrannen", als Fundamentalsatz aller echten politischen Weisheit des Abendlandes verbürgt ist. Aus der gleichen Gesinnung heraus hat sich um dieselbe Zeit bereits Johann II von England, als erster König des Okzident, durch seine magna Charta im Jahre 1217 freiwillig dem Grundsatz unterworfen: „that the King is and shall be below the Lawl"

Von hier aus hat sich die gelehrte politische Wissenschaft-

Europas in einer fortschreitenden, immer freiheitlicheren Interpretation der naturrechtlich begründeten, unbedingten Herrschaft des Rechtes über die stets nur bedingte Herrschaft des Politischen entwickelt. Als reifste Frucht dieser Entwicklung kann wohl genannt werden: die naturrechtliche Begründung der Volkssouveränität des Franz Suarez in; De legibus ac Deo legislatore (1612) und des Hugo Grotius in: De jure belli ac pacis (1625), Spinozas: Theologisch-Poli-tischer Traktat, Locke's: Treatises of Government (1690), Montes-quieu’s De L’Esprit des Lois (1748) und die Schriften Thomas Jefferson's, vor allem die von ihm verfaßte: Declaration of Independence (1776), sowie die französische „Deklaration der Menschenrechte“ von 1789 und die amerikanische „Bill of Rights“ vom Jahre 1791.

Thomas Jefferson hat am Vorabend der amerikanischen Revolution dieses jahrhundertealte europäische Bemühen um die Sicherung der individuellen und volkssouveränen Freiheitsrechte gegenüber den Gewalten des Politischen und Staatlichen dann noch einmal treffend in folgenden lapidaren Sätzen zusammengefaßt:

„Die Rechte, welche Gott und die Gesetze uns allen gleichwertig und unabhängig gegeben haben: Der Gott, welcher uns das Leben schenkte, gab uns auch zugleich damit die Freiheit; die Hand der Gewalttätigkeit vermag wohl beide zu vernichten, nicht aber sie voneinander zu trennen. Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geboren werden; daß sie durch ihren Schöpfer mit eingeborenen und unveränderlichen Rechten ausgestattet sind; daß in diesen das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit garantiert ist; daß zur Sicherung dieser Rechte die Regierungen unter den Menschen eingerichtet sind und daß dieselben ihre rechtmäßige Gewalt aus dem Willen der Regierten erhalten!" (1774/76).

Lind fast zur gleichen Zeit feierte ebenso der große Edmund Burke im englischen Parlament die deklarierten Menschenrechte als sakrosanktes Ergebnis der freiheitlichen Rechtsentwicklung des Abendlandes:

„Die Menschenrechte, d. h. die natürlichen Rechte der Menschheit, sind in der Tat geheiligt. Wenn irgendeine öffentliche Macht sie nachweisbar ausschalten will, muß unbedingt die nötige Gegenwirkung erfolgen, selbst wenn es keine ausdrückliche gesetzliche Bestimmung hierfür gibt. Wenn diese natürlichen Rechte ferner verfassungsgemäß sichergestellt und bestätigt sind, wenn sie gegen alle Intrigen und gegen staatliche Machtausübung und Autorität geschützt sind, dann sind sie in einer noch vorteilhafteren Lage. Sie genießen dann nicht nur den Schutz der Heiligkeit, sondern auch den Schutz des feierlich bekannten öffentlichen Glaubens, welcher der Sicherstellung eines so bedeutungsvollen Gutes geweiht ist. In der Tat, diese formelle Anerkennung von selten der souveränen Autorität eines ursprünglichen Rechtes kann niemals umgestoßen werden, wenn man nicht die grundlegenden Prinzipien von Regierung und menschlicher Gesellschaft überhaupt ausrotten will “ (Speech: Discussion of the Fox East-lndia-Bill).

Die Entwicklung der absolutistischen politischen Gewalttheorien, wie sie vor allem von der europäischen politischen Wissenschaft seit den Tagen der Französischen Revolution bis hin zu dem Totalitarismus unserer Tage gefördert wurde, hat dann aber andererseits Maurice Barres ebensosehr berechtigte Veranlassung gegeben, gerade in dem symbolischen Begriff der Sorbonne den europäischen politischen Wissenschaften zugleich auch eine wesentliche theoretische Verantwortung für die Gefährdung Europas durch den modernen Totalitarismus und Kollektivismus zuzumessen.

Im Begriff des „Englischen Parlaments" wollte Barres alle jene I raditionen zusammengefaßt sehen, die vor allem seit den drei großen naturrechtlichen Revolutionen in England (168 8), in Amerika (1776)

und in Frankreich (1789) die verfassungsmäßige Sicherung der natürlichen politischen Rechte und Freiheiten des Staatsbürgers in einem praktischen politischen System des volkssouveränen demokratischen Konstitutionalismus verwirklichten und verbürgten. Die Geschichte der Entwicklung der europäischen Verfassungen, vor allem der politischen Demokratie und des konstitutionellen Parlamentarismus in Europa, bis hin zu der Krise des Parlamentarismus Italiens vor Mussolini, und demjenigen Spaniens vor Franco, und speziell der Krise des demokratischen Parlamentarismus in der Weimarer Republik des vor-nationalsozialistischen Deutschland, hat Barres wohl auch darin gerechtfertigt, daß er dem europäischen Parlamentarismus eine wesentliche praktisch-politische Verantwortung für die Bedrohung der demokratischen Existenz Europas durch die politische Barbarei des modernen Totalitarismus zumaß.

4 Im Begriff der „Römischen Kurie“ hat Barres wohl symbolisch den geschichtlichen Impakt der kirchenpolitischen Auseinandersetzung innerhalb der jahrhundertealten europäischen Problematik von Staat und Kirche zusammengefaßt. Ihre Traditionen beginnen mit dem Kampf der frühen Kirche Roms gegen den römischen Cäsarismus, auch denjenigen pseudochristlicher oder „allerchristlicher“ Prägung, wie auch gegen den Ost-Römischen Cäsaro-Papismus. Sie entwickelte sich dann weiter in der mittelalterlichen Problematik von Sacerdotium und Imperium und in dem sie vor allem durch die Reformation ablösenden Kampf der christlichen Kirchen des Westens um die gegenseitigen Belange der Problematik von „einer freien Kirche im freien Staat“. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es durch die gerade von Seiten Roms in der genialen Politik des Papstes Leo XIII. vertretene und praktizierte politische Weisheit, sowohl zu einer endgültigen Aussöhnung mit, als auch zur dauernden kirchlichen Stärkung der demokratischen Volks-und Staatsordnungen Europas.

Es war von jeher — trotz aller zeitbedingten Übertreibungen des kurialen Machtprinzips gewisser Päpste und eines ebenso wesentlich zeit-und umweltbedingten politischen Klerikalismus gewisser Bischöfe und kirchenpolitischer Maximalisten — das besondere Prinzip der römischen Kirche, in Ausübung ihrer kulturellen Mission und religionspolitischen Pflichten, stets darüber zu wachen und wenn erforderlich auch darum zu kämpfen, daß die religiösen und ethisch-politischen Grundprinzipien des westlichen Personalismus, wie sie vor allem in der religiösen und geistigen Freiheit des Gewissens und der politischen Freiheit des personalen Menschenbegriffes der europäischen Traditionen entwickelt wurden, nicht auf die Dauer der tyrannischen Herrschaft einer absolutistischen Staatsgewalt unterworfen wurden. Bei allen partiellen Fehlleistungen im einzelnen, haben dennoch — besonders in neuerer Zeit — die christlichen Kirchen Europas dieser Aufgabe im besten Sinne gedient. Dies gilt in besonderem Maße für den entschiedenen Kampf, den die römische Kirche in den letzten Jahrzehnten gegen die modernen totalitären Bewegungen und Systeme geführt hat und wofür insbesondere die drei großen Enzykliken des kämpferischen Papstes Pius XL zeugen: Non abbiamo bisogno (1931), gegen den Faschismus; Divini redemptoris (1937), gegen den Kommunismus, und:

Mit brennender Sorge (1937), gegen den Nationalsozialismus. Wenn man weiterhin die heutige Rolle in Betracht zieht, die Rom und die im Amsterdamer Kongreß vereinigten Evangelischen Kirchen innerhalb des Ringens um die Einheit und Freiheit Europas spielen — vor allem auch die fundamentale Enzyklika: Aufruf an Würde und Gewissen der Menschheit, die Papst Pius XII. am 23. Dezember 1956 erließ — so erfährt die Barres'sche These auch in kirchenpolitischer Hinsicht eine Rechtfertigung.

Und endlich noch die Rolle des „Preußischem Generalstab"? Auch in dieser Hinsicht hat ja leider die jüngste Geschichte die thesenhafte Voraussicht von Barres in negativem Sinne bestätigt. Denn tatsächlich hat sich ja die deutsche Armee unter Führung des preußischen Militarismus als Werkzeug Hitlers dazu verleiten und mißbrauchen lassen, durch einen zweiten Weltkrieg Europa direkt an den Rand der Barbarei und in die größte Katastrophe seiner Geschichte zu drängen. Es gehört zu dieser Feststellung des erheblichen Schuldanteils des preußisch-deutschen Militarismus, an der durch den Nationalsozialismus wesentlich verursachten europäischen Katastrophe weder die etwa „frankophile“

Gesinnung eines deutschfeindlichen Pazifisten, noch eine solche jener moralpolitischen Maximalisten in der Bundesrepublik selbst, die überhaupt alles, was mit dem Soldatentum zusammenhängt, und erst recht alles, was nur nach „preußischer“ Herkunft riecht, mit jenem höchst fragwürdigen Urteil moralisierender Selbstgerechtigkeit belegen, dem das Preußentum schlechthin als der Luzifer Europas gilt. Dieser „Gesinnung“ steht aber andererseits jenes vernichtende Urteil über den preußisch-deutschen Militarismus gegenüber, das in neuester Zeit von solch legitimen deutschen Historikern wie Gerhart Ritter und Friedrich Meinecke für das Maß der Verantwortung und Schuld der deutschen Militärs an der Machtergreifung Hitlers und deren katastrophalen Konsequenzen für Europa gefällt wurde. Zitiert sei aus Meineckes erschütternder Schrift: Die deutsche Katastrophe (1946), die die nun inzwischen geschichtlich erhärtete Rechtfertigung der Barrs’schen These bezeugt:

„Das Schic/^sal der Hitlerbewegung, hing damals in hohem Maße von der Haltung und Gesinnung der Reichswehr ab. Von der Reichswehr hing aber, ihrer Haltung, Gesinnung und Neigung nach, dasSchick-

s a l Deutschlands und damit auch Europas damals wohl in erster Linie ab. Sje hatte das Gewicht der Macht im Staate in der Hand. Sie sollte und wollte es zwar nicht nach eigenen Entschlüssen unmittelbar einsetzen, sondern letztlich nur dem Befehl des Reichspräsidenten gehorchen. Aber zwischen diesem Reichspräsidenten, der zü-

gleidt Generalfeldmarschall war, und der Reidtswehr bestand ein Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeiten. Sie gehorchte ihm, und er hörte sie und ließ durdr seine Seele gehen, was sie empfand, als Fleisch und Blut von ihrem Fleisdi und Blute, als editer Sprößling des preußisdt-

deutsdien Militarismus, der so viele fachmännisch tüchtige und so wenige politisch weitblickende Köpfe hervorgebradtt hatte. Nicht, daß er in seinen eigenen Entschlüssen nun den Wünschen der Reidtswehr hätte unmittelbar folgen wollen. So einfach waren die Zusammenhänge nicht.

Lange hat er auf die Stimme der staatsmännischen Vernunft gehört, ehe er, gegen sie taub geworden, Hitler berief. Fragt man nadt der seelisdt tiefsten und ursprünglidtsten Sdüdtt in seinem Denken, die ihn dazu bringen konnte, so kann es nur der preußisdt-deutsche Militarismus sein. Lind diesen darf man dann als diejenige gesdtiditlidie Mad-it bezeichnen, die den Aufbau des Dritten Reidtes am meisten gefördert hat."

Wenn der Gedanke der Europäischen Union auch nur dem einen Zwecke dienen würde, die erneute Organisierung dieses „preußischdeutschen Militarismus“ und seine erneute unheilvolle Einflußnahme auf die Geschicke deutscher Politik zu verhindern, so wäre damit schon allein seine heutige weltpolitische Bedeutung gerechtfertigt. Gerade in dieser Hinsicht stellt sich für jeden um die Freiheit und friedliche Sicherung deutscher Politik besorgten Europäer — und erst recht für alle Deutschen selbst — die heute besonders aktuell gewordene Aufgabe einer sachlichen Unterscheidung zwischen den Möglichkeiten der echten Wehrhaftigkeit eines Volkes und den Gefahren einer Verabsolutierung soldatischer Tugenden und Aufgaben im eigentlichen „Militarismus“.

Auf die deutschen Verhältnisse angewandt, ergibt sich in dieser Hinsicht die unabdingbare Pflicht zur sachlichen Unterscheidung zwischen den vorbildlichen Leistungen der echten preußischen Traditionen, vor allem des positiven staatsbürgerlichen und soldatischen Pflichtenbegriffs einerseits, und deren machtpolitische Pervertierung in jene verhängnisvollen Formen, die schon Emmanuel von Ketteier — und ihm folgend auch von Friedrich Meinecke — als „borussianischer" Militarismus und Bürokratismus charakterisiert wurden. Es könnte daher die Klärung der Problematik des „preußisch-deutschen Militarismus“ wesentlich fördern, wenn zumindest alle um eine sachliche UIrteilsfindung bemühten Historiker und Soziologen diese wesentliche LInterscheidung zwischen „Preußentum“ und „Borussianismus" durchführen würden.

Daß weiterhin die Einordnung des neuen Deutschland in die Europäische Union den heutigen Deutschen durch eine lebensmäßige enge Verbindung mit Europa, zugleich auch eine tiefere Bindung ihrer geschichtlichen Traditionen und politischen Kräfte an die Realitäten der geistigen und kulturellen Einheit Europas ermöglicht, ist wohl eine besondere ethisch-politische Rechtfertigung des Europa-Gedankens. Daß ferner durch die Einordnung der in ihrem Geiste und ihren Strukturen völlig neugestalteten Wehrmacht der Bundesrepublik in ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem, auch zugleich eine sehr wesentliche Rückversicherung gegen einen zukünftigen Rückfall der Bundeswehr in den preußisch-deutschen Militarismus unseligen Angedenkens ermöglicht wird, dies alles macht um so mehr die Verwirklichung der Europäischen Union zur Gewissenspflicht aller guten Deutschen und Europäer und ebenso aller um das Gesamtschicksal des Westens besorgten Weltbürger.

Die europäische Idee: Union

Aus Raumgründen muß hier auf ein näheres Eingehen der Geschichte des Europa-Gedankens zugunsten einer Erwähnung jener illustren Namen und ihrer Vorschläge verzichtet werden, die mit den Traditionen einer Europäischen Union seit mehr als fünf Jahrhunderten engstens verknüpft sind. Eine historische Besinnung auf diesen Sachverhalt führt zurück bis zu den politischen Konzeptionen der: Monarchia (1309) von Dante und dem: Defensor Pacis (1324) des Marsilius von Padua, sowie dem ersten konkreten Bewußtwerden der Idee eines Europäischen Staatenbundes in der Schrift: De recuperatione terrae sanctae (1306) des Pierre Dubois.

An sie reihen sich im Laufe des fortschreitenden Prozesses der Her-auslösung der profanen Kultur Europas aus der religiösen Gebundenheit der verkirchlichten Gesellschaft und vergesellschafteten Kirche des ausgehenden okzidentalen Mittelalters und mit ihr, durch die sich immer mehr verselbständigenden Ordnungen des geistlichen und weltlichen Rechtes und Regierens bedingten Auseinandersetzungen zwischen I m-perium und Sacerdotium, zwischen regn um und dominium, die Ideen und Pläne folgender großen abendländischen Gestalten: Nikolaus von Kusa’s abendländische Unionspläne (145 3): des böhmischen Königs Georg von Podjebrad’s: Plan eines ewigen Friedens-bündnisses (1516); des Thomas Morus’: Utopia (1516); des Erasmus von Rotterdam's: Friedensklage (1517), Francesco Vittoria's: Relectio de indis (1 5 32), Sebastian Franck's: Kriegbüchlin des Friedens (15 39) und die bedeutsamen: Memoires (1600— 1630) des Maximilen de Bethune, Herzog de Sully und seines Königs Heinrich IV.

Die Steigerung des politischen Bewußtseins und immer stäiker zutage tretende Ausformung der europäischen Nationalkulturen, und hierdurch bedingt, die fortschreitende Konkretisierung der rechtlichen Ordnungen und politischen Institutionen Europas, wird nun immer deutlicher sichtbar in den bereits konkret politischen Naturrechtstheorien des Franz Suarez, vor allem in seinem Hauptwerk: De legibus ac Deo legislatore (1612), und des Hugo Grotius Werke: De jure belli as pacis (1625) und: De mare libero; sowie Samuel Pufendorf’s Werk: De jure naturae ac gentium (1672) und Samuel Rachel's: De jure naturae et gentium (1676) und die besonders betont-politische Akzentuierung einer organisierten europäischen Friedenssicherung in Emeric Cruce's: Le noveau Cynee (1623) und William Penn's: Entwurf zu einem gegenwärtigen und künftigen Frieden Europas (1693).

Das achtzehnte Jahrhundert bringt dann eine immer stärkere Betonung der organisatorischen und institutioneilen Elemente des europäischen Friedensgedankens, die besonders ausführlich und eindrucks-voll behandelt sind in den bereits damals weite Verbreitung findenden Werken von Abbe Charles I, Castel de Saint Pierre: Entwurf zu einem ewigen Frieden in Europa (1713) und den ein halbes Jahrhundert später erscheinenden Auszügen aus diesem Werk aus der Feder von Rousseau: Extrait du projet sur la paix perpetuelle (1761) und: Jugement sur la paix perpetuelle (1790). Aus der Fülle des übrigen diesbezüglichen Schrifttums verdienen auch heute noch Beachtung Montesquieu's: Reflexions sur la monarchie universelle (1724), John Bellers: Some reasons for an European State proposed to the Powers of Europe (1710) und Jeremy Bentham's: Plan for an universal and perpetual peace (1786).

Die bedeutendsten rechtsphilosophischen und moralpolitischen Beiträge zum Europa-Gedanken des 18. Jahrhunderts kamen jedoch aus Deutschland; es waren Christian Wolff’s: Jus gentium (1749) und Immanuel Kant's Schrift: Vom Ewigen Frieden (1795). Besonderes Interesse verdient ferner das umfangreiche Schrifttum des großen eng-lischen-liberal-konservativen Staatsmannes Edmund Burke (1729 bis 1797), der vor allem in seinen: Letters on a Rigicide Peace; in den: Thoughts on French Affairs, und in seinen: Reflections on the French Revolution.

Die Französische Revolution und Napoleon leiteten dann die endgültige realpolitische Verdichtung des Europa-Gedankens ein. In Deutschland allerdings zeigte sich gleichzeitig eine bewußte Tendenz ideologischer Umformung des echten föderalistischen Gedankens europäischer Einheit in eine sogenannte „europäische“ Reichsideologie, die sich in den verschiedenartigsten ideologischen Verbiegungen, sowohl des echten Europa-Gedankens wie auch der legitimen alten deutschen Reichsauffassung im Sinne der Traditionen des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, versuchte. Den Hauptanteil an dieser Verfälschung bestreiteten einerseits die „Reichs“ -Ideologie der pseudokatholischen politischen Romantik deutsch-österreichischer Prägung, die an-dererseits von dem Restaurations-Gedanken der „Heiligen Allianz“ unter Metternichs Führung teils unterstützt, teils abgelöst wurde. Beide Tendenzen mündeten dann zuletzt in die pseudoromantische Ideologie einer „großdeutschen“ Führung Europas oder in die national-liberale Ideologie einer pangermanistischen Beherrschung Europas ein. Daß trotzdem der legitime Europa-Gedanke auch im 19. Jahrhundert in den Herzen und Gewissen wahrhaftiger Deutscher weiterlebte, wird noch zu zeigen sein.

Die realpolitische Verdichtung des Europa-Gedankens setzt zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit Friedrich Gentz: Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichtes in Europa (1806) und Saint Simon's: De la reorganisation de la societe europeenne (1814) und der Heiligen Allianz unter Führung Metternichs (1815) ein. Sie entwickelt sich weiter über Goerres (1821) K. Fr. Krause (1830) und William Ladd (18 3 8), bis hin zu jener Reihe von Dichtern, Denkern und Staatsmännern, deren Bemühen um die Verwirklichung des Gedankens einer Europäischen Union bis zu den repräsentativen Namen der heutigen Europa-Bewegung reicht: Garribaldi und Mazzini, Lamartine, Beranger und Victor Hugo, Auguste Comte und Erneste Renan, Wilson und Briand, Stresemann und Coudenhove-Calergie, Walther Schücking und Ludwig Quidde. Leon Blum, Edouard Herriot und Winston Churchill, General George Marshall, Henry Spaak, Robert Schuman und Georges Bidault, Alcide de Gasperi, Carlo Schmidt, Konrad Adenauer u. a.

In allen diesen Namen und den durch sie vertretenen Ideen und Hoffnungen, sind wahrlich die besten ethisch-politischen Traditionen des westlichen politischen Denkens unter der eindeutigen Herrschaft des Rechts lebendig gewesen oder immer noch lebendig, zum Zwecke der Erhaltung und Festigung der politischen Freiheit und sozialen Gerechtigkeit innerhalb der demokratischen Staats-und Gesellschaftsordnung Europas und der gesamten Westlichen Welt. Diesen Bemühungen der in der europäischen Bewegung und den bereits formierten europäischen Institutionen zusammenwirkenden Staatsmänner und Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Publizisten, die auf den Einsatz aller Kräfte der geistigen und politischen Erbschaft des Abendlandes zur Rettung und Erneuerung der europäischen Staaten-und Völkergemeinschaft abzielen, ist besonders auch von Amerika wertvolle geistige und politische, wie auch moralische und materielle Unterstützung zuteil geworden. Nichts könnte die europäisch-amerikanische Schicksalsgemeinschaft der Gegenwart auch in ethisch-politischer Hinsicht besser dokumentieren und auch im Sinne der westlichen Traditionen echter legitimieren, als jenes Bekenntnis, das der amerikanische Präsident Eisenhower in seiner ersten Inauguraladresse zu den ethisch-politischen Grundprinzipien des Staats-und Kulturlebens der Westlichen Welt ablegte: „lt ist oitr faith in the deathless dignity of Man, governed by Eternal Morais and Natural Law. Titis faith defines our full view of life. lt establishes, beyond debate, tltose gifts of the Creator that are Mans inalienable Rights and that tnake all Man equal in His sight!“

Der deutsche Europa-Gedanke

Die wenigen deutschen Anthologien der europäischen Unionsbestrebungen und Friedenssicherung vermitteln keineswegs einen tieferen Einblick, geschweige denn eine dem historischen Sachverhalt entsprechende quellenmäßige Übersicht oder Sammlung auch nur der wesentlichsten Dokumente jenes speziell deutschen Bemühens um den europäischen Friedens-und Einigungsgedanken, das bis auf das Wirken des letzten großen, wahrhaft europäischen deutschen Denkers und Politikers Gottfried Wilhelm Leibnitz und dessen: Tractatus de jure suprematus ac legationis principum Germaniae (1677) und sein: Projet pour faciliter la reunion des protestants avec les catholiques romains (1698)

zurückreicht. Neben dem alten, trotz seines höchst einseitigen pazifistischen. Charakters immer noch unentbehrlichen: Handbuch der Friedensbewegung von Alfred H. Fried aus dem Jahre 1911, stehen dem deutschen Leser eigentlich überhaupt nur Anthologien neuesten Datums zur Verfügung; diejenige von Hans Jürgen Schlochauer: Die Idee des Ewigen Friedens (19 5 3) und die andere von Kurt von Raumer: Ewiger Friede (19 5 3), die übrigens nur den Erasmus und Sebastian Frank, Kant und Gentz als deutsche Autoren enthält, während sich Schlochauer sogar mit Erasmus und Kant allein „begnügt“. Dagegen ist es das außerordentliche Verdienst von Heinz Gollwitzer, in seinem: Europabild und Europa-Gedanke (1951) zumindest eine eingehend monographische Übersicht des Europa-Gedankens in der deutschen Geistesgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts gegeben zu haben, die aber auch nur bis zu Gervinus und Jakob Burckhardt reicht und bewußt darauf verzichtet, eingehende Quellentexte zu bringen. So bleibt denn also noch bis zur . Stunde das dringende Anliegen einer deutschen Europa-Anthologie, die bis zur Gegenwart reicht, zunächst unerfüllt und die traurige Tatsache gilt auch weiterhin, daß sich die Deutschen immer noch weithin mehr in den entsprechenden Literaturen Frankreichs, Englands und Amerika? an Kenntnis der Projekte und Quellen des Europa-Gedankens erlesen und erarbeiten können, als es ihnen in ihrer eigenen Sprache und Literatur möglich ist.

Was darum von uns im Nachstehenden an Texten und Interpretation seit Wieland geboten wird, kann lediglich als abrißhafte Einführung zu diesem bisher geradezu sträflich vernachlässigten Thema gelten.

Sicherlich ist die bereits charakterisierte anti-europäische Haltung der deutschen politischen Romantik und deren ideenpolitischen Konsequenzen für die Formierung borussianischen Militarismus und Pangermanismus, wie auch der „großdeutschen“ Reichsideologie, für das graduelle Erlöschen des echten Europa-Gedankens im Bewußtsein deutscher Geschichte und Politik seit dem Wiener Kongreß in erster Linie verantwortlich. Trotzdem trifft auch die Politische Romantik nur eine sekundäre Schuld, weil sich ihre eigene Haltung bereits zwangsläufig als erste ideenpolitische Konsequenz des Zusammenbruchs jenes europäischen Ordo ergab, der bis zum Ausbruch der Französischen Revolution noch immer durch die politische Existenz des „Alten Reiches"

verbürgt war und darum auch der deutschen Geistesentwicklung des 18. Jahrhunderts noch eine wesentlich übernationale, europäisch-welt-bürgerliche Ausrichtung ermöglichte, wofür etwa das Beispiel Kants und Herders deutlich zeugen kann. Es war die später noch zu erwähnende Einsicht von Ernst Troeltsch, daß die Abwendung des deutschen Denkens vom europäischen Rechts-und Gesellschaftsbegriff, die seit Hegel und Fichte das Drama der geistigen und rechtsphilosophischen Ablösung vom naturrechtlichen und personalistischen o r d o des Abendlandes einleitete, um es im Nationalsozialismus katastrophal zu vollenden, — daß die geistige Abwendung nur möglich war, als direkte Konsequenz der Freiheit von allen konkreten Bindungen an den politischen ordo Europas, der mit dem Zusammenbruch des Alten Reiches endgültig unterging. Kein Geringerer, als Edmund Burke hat bereits im Jahre 1791 gerade jene Folgen deutlich vorausgesehen, die sich aus dem Zusammenbruch des europäischen Rechts-o r d o des Alten Reiches für die Zukunft der rechtlichen und politischen Ordnungen Europas schlechthin ergeben mußten:

„Eine große Umwälzung bereitet sich in Deutschland vor, die meiner Meinung nadt für das Sdiicksal der Völker im tieferen Sinne entsdtei- dend sein wird, wie die Revolution in Frankreich. Es wird sich zeigen, daß die Grundsätze, weldte die Unruhe und Krise unserer Zeit kenn-

zeidtnen, hier aus einer anderen Quelle fließen als in Frankreich.

Sieht denn Europa nicht ein, daß die Unabhängigkeit und das Gleichgewicht des deutschen Reiches Kern und Wesen jenes Systems bilden, nach dem die europäischen Mächte sich die Waage halten? Erkennt es nicht, daß es von größter Bedeutung ist, ob das System des öffentlichen Rechtes oder die Summe der Gesetze, auf denen diese Unabhängigkeit und dieses Gleichgewiclrt aufgebaut sind, erhalten bleiben? Wenn sie zerstört werden, dann ist die ganze europäische Politik von mehr als zwei Jahrhunderten erbärmlich in die Irre gegangen!" (Thoughts on French Affairs)

Man kann getrost von dieser Einsicht in die fundamentale Bedeutung der damaligen deutschen Existenz für die weitere Entwicklung der europäischen Ordnungskrise ausgehen, wenn man einen verstehenden Zugang zu jener betont deutschen Sorge um die europäische Rechts-und Friedensordnung finden will, die damals, fast zur gleichen Zeit, Immanuel Kant bekundete in seinen Schriften: Vom Ewigen Frieden (1795)

und der: Metaphysik der Sitten (1797), wie auch schon früher in seiner:

Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784).

Von der gleichen Einsicht war der nicht minder „weltbürgerlich“ und echt europäisch gesinnte (und gerade deshalb von den politischen Romantikern und Anti-Europäern um so mehr gehaßte und verleumdete) Martin Christoph Wieland in seiner Forderung nach einem „Europäischen Völkerbund“ geleitet. Diese Forderung Wielands möge hier zugleich in Stellvertretung einer Reihe von anderen, meist ebenso unbekannten deutschen Europa-Gesinnungen und -Plänen aus dem 18. Jahrhundert zur Kenntnis genommen werden, von denen als wesentlichste zu nennen sind, Sobald Toze’s: Allgemeine christliche Republik in Europa (1752); Franz von Palthen’s: Projekt, einen immerwährenden Frieden in Europa zu erhalten (1758) und August Schlettwein’s: Wichtigste Angelegenheit für Europa oder System eines festen Friedens (1791). Wieland schrieb im Jahre 1798:

„Jetzt ist das dringendste Bedürfnis aller europäischen Völker Friede, Endigung des heillosen unmenschlicl'ien Krieges, der in so wenig Jahren alle anderen Übel, die der Krieg immer nach sich zieht, nodr durch eine so fürchterliche sittlidie Zerrüttung vermehrt hat, daß, sofern er auch nur eben so lange fortdauern sollte, ein gänzlidter Rüd^fall in die Barbarei des 14. Jahrhunderts, die unausbleiblidie Folge davon sein müsse.

Friede, Friede, nicht Erhaltung alter, längst nicht mehr passender Einridttungen, durch Mittel, die ihren Sturz nur besdrleunigen und das Elend der schuldlos leidenden Völker vollständig machen würden Ob die Französische Republik gut oder sddecht konstituiert ist, ob sie, nach den scharfen Begriffen einer strengen Theorie beurteilt, ihren Namen mit Recht führt, ist ihre eigene Sache; genug, daß sie Kräfte und Mittel in sich selbst hat, das, was sie jetzt noch nicht sein kann in kürzerer Zeit zu werden.

Auf weldie Stufen der Vervollkommnung und des Wohlstandes könnten die Völker Europas sich mit und neben uns erheben, wenn sie den schimpflichen Überresten der alten Barbarei, dem kanibalischen Nationalhaß, dem elenden Vorurteil, daß fremdes Glück dem unsrigen sdrade, und den verächtlichen kleinen Krämerkniffen und Beutelschneiderkünsten, die man ehemals Politik nannte, und durch die sich niemand mehr täuschen läßt, auf ewig entsagten, um durch einen allgemeinen Völkerbund, ohne Rücksicht auf die im Grunde wenig bedeutende Verschiedenheit der Staatsfermen, sich zu einem dauerhaften europäischen Gemeinwesen zu organisieren!“ (Gespräche unter vier Augen).

Ebensowenig wie die wahrhaft europäische Gesinnung Wielands, ist die ihm durchaus wesensverwandte von Friedrich Gentz allgemein bekannt, obwohl sie doch beide in ihrer echten Europa-Gesinnung und weltbürgerlichen Ausrichtung ihres deutschen Denkens vollauf die moralpolitische Schülerschaft zu dem großen Königsberger Weisen bezeugen, weshalb sich ja auch wohl ihr eigener Europa-Gedanke so ganz kompromißlos jener ethisch-politischen Maxime des Kant’schen „Ewigen Friedens" verpflichtet hat, die seither aller wahrhaften abendländischen Gesittung und echten, weil unter der kompromißlosen Herrschaft des Rechtes stehenden, europäischen Politik zum Leitstern diente:

„Alle wahre Politik kann keinen Sd'iritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben, obzwar die Politik für sich eine sdrwere Kunst ist, so ist dodt die Vereinigung derselben iuit der Moral gar keine Kunst; denn diese haut den Knoten entzwei, den jene nid; t aufzulösen vermag, sobald beide einander widerstreiten. Alle Politik muß ihr Knie vor dem Redit beugen; kann aber dafür hoffen, obwohl zwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird!“

Die Tatsache, daß Friedrich Gentz in seinen späteren Jahren dem reaktionären System Metternichs gedient und auch seine diesbezügliche Tätigkeit bis heute noch nicht ausführlich genug klargestellt und dazu viel zu einseitig in das historiographische Bild der politischen Romantik und Restaurationspolitik eingefügt wurde, diese Tatsache kann und soll uns nicht den Blick trüben, für die Erkenntnis der fundamentalen Bedeutung, die vor allem jene Gesinnung und Ideen für die Legitimation des deutschen Europa-Gedankens haben, die gerade Gentz — als bewußter Schüler Kants und Christian Garve’s — um die Wende des 18. Jahrhunderts vertreten hat und wie sie vor allem in seinen beiden viel zu wenig bekannten, hochbedeutsamen Arbeiten: Über den Ewigen Frieden (1800) und: Fragmente aus der neuesten Geschichte des politischen Gleichgewichts in Europa (1806) zum Ausdruck gelangten. Ein kurzer Auszug aus dem „Ewigen Frieden“ kann hier wohl genügen um diese Behauptung unter Beweis zu stellen:

„Die Französisdie Revolution hat die alte politische Verfassung von Europa, und das, was man bis hierher als Gleidigewid-it unter den Staaten benannte, gänzlidi zertrümmert und daher die Errichtung eines neuen Föderativsystems zum ersten Bedürfnis und zur dringendsten Staatskunst gemacht. Dieses große Werk auf friedlidien Wegen zustande zu bringen, wird niemand sich schmeicheln, der die jetzige Lage Europas kennt. Die alten Verhältnisse sind so gewaltsam zerrissen, das Fundament des ganzen gesellsdtaftlichen Gebäudes ist so tief ersdrüttert, die Schwierigkeiten, die jeden Schritt zu einer neuen Ordnung der Dinge bedrohen, sind so groß und mannigfaltig, daß selbst der geübteste Kopf vor jedem Blick in die Zukunft zurüd^bebt. Unter soldien Umständen ist die Aufrediterhaltung des Friedens ein Problem, das keine Staatskunst mehr zu umfassen und zu ergründen mag.

Die Idee eines Zustandes, worin reditliche Streitfragen nur durdt rechtlid; e Mittel entsdüeden würden und in weldrem der Krieg auf immer aus der Gesellschaft verbannt wäre, verdient trotzdem nidit als gutmütige Sdiwärmerei beladtt zu werden. Audt wenn die Unerreidt-

barkeit eines soldien Zustandes nidit bloß für den gegenwärtigen Augenblick, sondern für alle zukünftige Zeiten aufs strengste erwiesen werden könnte, auch dann nodi bliebe es Pflicht, und Pflidtt der Weisesten und Besten unserer Gattung, sidi mit den Bedingungen, unter denen dieses höchste politische Gut auf Erden zu realisieren wäre, von Zeit zu Zeit ernsthaft zu besdiäftigen.

Notwendig ist eine Organisation des von diesen Nationen, die einen gewissen Strich der Erde — wie z. B. Europa — bewohnen, ein gesellschaftliches Ganze bildend, vermöge welcher ihre Streitigkeiten auf einem friedlidien Wege entsdiieden werden müßten und auf keinem anderen entsdiieden werden könnten. Sie besteht entweder in einer freiwilligen Übereinkunft der Staaten, nadi weldier sie sich gegeneinander verbindlich machen, alle unter ihnen aufkommenden Reditsfra-

gen vor einem dazu ernannten oder in jedem einzelnen Falle zu ernennenden Schiedsrichter aburteilen zu lassen und dem Ansprudi der Gewalt auf immer zu entsagen; oder in einer förmlichen völkerreditlidien Verfassung, durch weldie ein höchster Geriditshof, dem alle Staaten sich unterwerfen, gestiftet und zugleich mit der zur Ausführung seiner Sentenzen erforderlichen Macht bekleidet wird.“

Sechs Jahre später hat Gentz dann in seinen „Fragmenten“ aus dem damaligen Zusammenbruch der europäischen Ordnung und der durch sie verursachten katastrophalen Lage Deutschlands ein Fazit gezogen, das wohl mehr als jedes andere historische Beispiel, auf die europäisch-deutsche Katastrophe des Jahres 1945 angewandt werden kann und damit in erschütternder Weise die gegenseitige schicksalsmäßige Verbundenheit Europas mit Deutschland und Deutschlands mit Europa, und damit zugleich auch das unabdingbare gegenseitige Verantwortungsverhältnis dokumentiert. Gentz schrieb damals u. a.:

„Die Kräfte unserer großen Nation sind gespalten und zerstreut, auf allen Seiten in mattfließende Bädte oder in faule Sümpfe, oder in treulose Abzugskanäle geleitet, für jeden wahren Nationalstolz verloren. Alle Sdiutzwehren unseres Landes sind gefallen; unsere Grenzen, wenn es Grenzen noch gibt, da der Feind schon mitten unter uns ist, von jedem Verteidigungsmittel entblößt; unsere blühendsten Städte und Provinzen werden täglich, wie herrenlose Ware zerstüd^elt, zerschnitten, verkauft, vertausdit und wieder vertauscht, an Einheimisdie und Ausländer verschenkt; die wohlerworbenen Reiditümer versdtwinden-, die Gewerbe verkümmern und erlahmen; die Häfen und Märkte werden geschlossen. Aber nidit bloß der Körper des Reiches ist verstümmelt, mißhandelt und geschändet; audi die Seele ist tödllidi verwundet ...

Dies alles und mehr nodi als dies — denn wer bestimmt die Grenze dieses Übels? So viel vermoditen wir, Brüder, und so viel haben wir sträflidt versdierzt. Aber wenn aus diesem Abgrunde der Ohnmacht, worin wir heute unsere Vergehungen büßen, nodi irgend etwas uns zu reißen vermag, so ist es immer nur derselbe Entschluß, wodurch wir früher ihm entgangen sein würden. Getrennt wurden wir niedergeworfen, nur vereinigt können wir uns wieder erheben!

Es ist unmöglidi, daß aus diesem ehrwürdigen Stamme so mannigfaltiger Vortrefflichkeit und Hoheit, aus diesem Mutterlande europäi-sdier Herrsdtaft, aus so vielen durdi ehemaligen Ruhm, durdt große, bedeutungsvolle Namen zur Fortpflanzung unseres heiligen Erbteils verpflidtteten und geweihten Familien, nidit endlich ein Retter hervorgehe, der die Tränen von allen Angesichtern abwisdie, der uns einsetze in unser ewiges Recht, und Deutschland und Europa wieder aufbaue! Das eigentlidte Werk der Befreiung muß auf deutsdtem Boden gedeihen! Von hier muß die Wiederherstellung ausgehen, so wie hier die Zerrüttung entschieden, das Verderben zur Vollendung gebradit wardl Europa ist durdt Deutsdtland gefallen-, durdt Deutschland muß es wieder emporsteigen!“

Leider hat dann die in den Befreiungskriegen errungene Freiheit der politischen Selbstentscheidung in jedem Sinne, die Deutschen immer mehr von Europa entfernt, anstatt sie ihm in dem von Gentz geforderten Sinne dienstbar zu machen. Von nun an blieb der Europa-Gedanke weithin ein Fremdling für das politische Denken der Deutschen. Wie immer in seiner tragischen Geschichte machte auch das damalige Deutschland nur mit wenigen stillen Geistern im Lande eine Ausnahme, so daß es ihnen möglich wurde zumindest in ihrem Gewissen und Herzen das europäische Verantwortungsgefühl des wahren Deutschtums auch weiter lebendig zu erhalten und zu pflegen. Unter diesen Ausnahmen ragt die markante Gestalt des tragischen Denkers Karl Christian Friedrich Krause in der Geschichte des Europa-Gedankens besonders hervor, obwohl sein Entwurf eines europäischen Staaten-bundes (1814) weder damals, noch in der kommenden Entwicklung bis in unsere Tage hinein, gerade in Deutschland ernstliche Beachtung fand. Wohl kein anderer europäischer Denker hat die rechtliche Organisation des europäischen Friedensgedankens, und ebenso sehr die ethisch-politische Sanktion des europäischen Ordnungsgedankens in einer derartigen Konkretheit formuliert und in institutionelle Formen gebracht, die mehr zeitgemäß und „modern“ sein konnten, als dieser, gerade wegen seiner unverbrüchlichen Treue zu den europäischen Naturrechtstraditionen von der deutschen Schulphilosophie so sehr mißachtete und vernachlässigte, wahrhaft deutsch-europäisdie und ebenso europäisch-deutsche Denker Christian Friedrich Krause, dem wirklich legitimen geistigen Ahnherrn der Vereinigten Nationen. Hier sind einige seiner Gedanken aus dem an LImfang ebenso bescheidenen, wie an ethisch-politischer Substanz so ungemein gewichtigen Essay aus dem Jahre 1814, den er dann in seinem späteren durch berufliche Einsamkeit und Verkennung tragisch verbitterten Lebensjahren, in ein ebenso schwer-gewichtiges wie schwerverständliches Werk erweiterte, das erst im Jahre 1893 aus seinem Nachlaß herausgegeben wurde, unter dem Titel: „Der Erdrechtsbund an sich selbst und in seinen Verhältnissen zu allen Einzelheiten des Menschenlebens":

„Alle Völker haben als völlig gleiche Personen, das völlig gleiche Recht, in einem selbständigen Staate, in einer selbstgewählten Regierungsform zu bestehen; jedodt darf diese eigentümlidie Verfassung dem gleidten Rechte jedes anderen Volkes nidit widerstreiten, und muß so geeignet sein, daß jedes Volk, jedem Volke die wediselseitigen Redite leisten kann. Hingegen eine jede, mit dem Völkerrechte streitende, eigene Verfassung irgend eines Volkes, in soweit sie dies ist, aufzuheben, haben alle übrigen Völker das Redit; sie haben das Recht, ein wider das Redit der übrigen Völker verbrecherisches Volk, jedoch nur soweit das Recht reidrt, zu strafen, nidit aber es aufzulösen oder zu morden.

Der Grundsatz sitdich-freier Entwicklung bereditigt zwar zu vernunftgemäßer Erziehung durdi Belehrung, Gesetz und rechtgemäßen Zwang, aber nie zu Unterdrüd^ung und roher Gewalt. Der Staatenbund verabsdieut darum die sdimadtvollen Grundsätze: daß die Regierungen und Souveräne eine eigene und andere Moral haben, als die Einzelnen;

daß im Gebiete der Politik zu lügen und zu trügen erlaubt sei; daß das Redit soweit reidte, als die Gewalt.

Die Lauterkeit und sittlich-sdiöne Gerechtigkeit des Bundes soll sich 'daher in dem Grundsatz der Publizität, in der großmöglichsten Offenheit seiner Verhandlungen, mit Aussdtluß aller Arglist bewähren. Der Bund erkennt keinen Völkerraub und Völkermord unter dem Vorwande der Vormundsdtaft an; er madtt durdi seine Maditvollkommenheit das Recht der Völker immer mehr von Glüdz und Unglück, von der Größe ihrer Menschenzahl und von jeglidter Willkür unabhängig.

Der europäische Staatenbund soll ein freies, der Souveränität, der äußeren Unabhängigkeit und der Eigentümlidikeit der Verfassung jedes einzelnen Staates ebenso wenig entziehendes Verhältnis sein, als es die Allianz souveräner Fürsten und Völker ist, weldie bloß für den Krieg oder die Freiheit des Handelns geschlossen wird. Denn der euro-päisdie Staatenbund ist nidits anderes, als eine für immer erklärte Allianz freier selbständiger Staaten für das gesamte Völkerrecht.

Der Staatenbund umfaßt das ganze Redit, aber audi nur das Recht; erhält sidt rein auf dem Gebiete des Rechts, und übt auf die anderen mensdilidien Angelegenheiten keine andere Gewalt und Einfluß, als unmittelbar durdi das Recht, und insoweit es das Verhältnis aller anderen mensdilidien Angelegenheiten zum Redite fordert; und nur so bewirkt er die Harmonie aller anderen mensdilidien Angelegenheiten mit dem Redite und unter einander zu einem vollwesentlidien Menschheitsleben. Der Umfang des Redites wird aber allgemein verständlidt so bestimmt und erkannt: daß das Redit das Ganze aller wediselseiti-gen äußeren Bedingungen des sittlich-sdiönen Lebens der einzelnen Mensdien und der ganzen Alensdiheit ist.

Daher kann der Staatenbund nicht gegründet werden auf irgend eine kirdilidte Verfassung, noch auf irgend ein wissenschaftlidies System, als soldies, noch auf das Dasein irgend einer Familie, irgend eines Stammes oder Volkes.

Und sdion dadurdt werden einzelne Staaten geneigt werden, sich dem Staatenbunde anzusdiließen, wenn ausdrüddidi festgesetzt ist: daß jeder Staat, so wie er sidi freiwillig ansdiließt, audi zu jeder Zeit sich eben so freiwillig von dem Staatenbunde trennen dürfe. Auf diese Weise wird nicht nur das frevelhafte Spiel mit sogenannten „ewigen“

Verträgen vermieden, weldie allemal gebrodien werden, sobald bei sidi darbietenden Vorteilen die Alöglidikeit dazu eintritt; sondern es wird auch dadurch der ganze Bund und jeder einzelne Staat desselben immer auf das Wesentliche des Bundes hingetrieben, um sidi innern Halt durdi das innerste Wesentlidie der Sache selbst zu geben.“ (Entwurf eines Europäischen Staatenbundes.)

Karl Marx und das europäische Gewissen

Bei Karl Marx kann man, sowohl ideologisch wie literarisch, drei ganz bestimmte Entwicklungsperioden unterscheiden, die auch in ihren späteren Auswirkungen entsprechend verschiedene Resultate gezeitigt haben:

1. Die frühe Periode, einschließlich des Pariser und Brüsseler Aufenthaltes bis zum Jahre 18 50. In dieser Periode hat Marx die gesamte philosophische Grundlegung des kommunistischen Materialismus und antipersonalistischen Kollektivismus vollzogen. Der Marx dieser Periode ist bewußt antieuropäisch, antisemitisch und antichristlich, autokratisch und kollektivistisch. Dieser Marx ist mit Recht zum geistigen Vater des Kommunismus und bolschewistischen Kollektivismus geworden. Diese Periode haben darum auch besonders die russischen Leninisten und Stalinisten als wichtigste ideologische Grundlegung und wichtigstes Erbe des „Integralen Marxismus" uneingeschränkt akzeptiert. Im Westen dagegen hat dieser Marx, von Kautsky und Bernstein angefangen, über Jaures und die Engländer, bis hin zu Harold Laski, eine stets entschiedene Ablehnung erfahren.

2. Die zweite Periode von ca. 18 50 bis 1860 in London, in welcher Marx sich in erstaunlicher LInabhängigkeit von seinem in der Früh-periode erarbeiteten ideologischen System des philosophischen Materialismus und antiabendländischen kommunistischen Kollektivismus, fast ausschließlich mit der konkreten politischen Entwicklung in Europa, Rußland und dem Nahen Orient, vor allem mit der „Türkischen Frage“ befaßte.

3. Die dritte Periode der Gesellschafts-und Kapitalismuskritik, beginnend mit der „Einleitung in die Kritik der politischen Ökonomie“

im Jahre 1859 bis zum Tode von Marx im Jahre 1883.

Diese Periode umfaßt die Systematisierung der konkreten Gesellschafts-und Wirtschaftskritik von Marx und ihre ideologische Zusammenfassung in seinem Hauptwerk „Das Kapital“. Dieser Marx ist der eigentliche Marx, auf den sich die westlichen „Sozialisten“ und „Marxisten“ und die von ihnen gelenkten europäischen sozialistischen Bewegungen stützen und berufen.

Die Europa-Bewegung hat heute besonderen Anlaß, sich des Karl Marx der Londoner Periode von 18 50— 1860 als eines wesentlichen Helfers in ihrem Kampf für den Aufbau eines neuen Europa und eines in der vollen Freiheit der westlichen Traditionen gesicherten wiedervereinigten Deutschland zu versichern, weil die Ideen und literarischen Zeugnisse dieses wahrhaft „europäisch" denkenden Marx der Londoner Periode eine sehr wesentliche Aufklärungs-und Erziehungsarbeit nach allen Seiten hin leisten können.

Einerseits können diese Zeugnisse gerade bei den russophilen westlichen Kommunisten, vor allem aber bei den moskowitischen Machthabern des Pakower Regimes der sogenannten „Deutschen Demokratischen Republik“ und unter den von ihm unterjochten Deutschen, eine heilsame Arbeit der Aufklärung und Desillusionierung bestreiten. Dies um so mehr, weil kein anderer politische Publizist des 19. Jahrhunderts die Legende von dem „europafreundlichen“ Rußland und der friedlichen „Koexistenz" zwischen dem russischen Imperialismus und dem Westen, unbarmherziger zerstört und auf Grund einer geradezu genial zusammengetragenen historischen Evidenz überzeugender widerlegt hat, als gerade dieser Karl Marx.

Andererseits bieten diese Zeugnisse dem Westen eine der besten Waffen in seinem jetzigen Kampf gegen den Kommunismus. Aus diesem Grunde muß vor allem dieser Marx aus der ideenpolitischen Anonymität und geschichtlichen Versenkung hervorgehoben und aktiv in den ideologischen und politischen Verteidigungskampf Europas und des Neuen Deutschland gegen den Kommunismus eingesetzt werden. Dies ist um so mehr ein wahrhaft europäisches Gebot der Stunde, weil eine eingehende Kenntnis dieser Zeugnisse von Marx ganz einwandfrei eine wesentliche Erkenntnis sichert: Die über ihre historische und spezifisch „zaristische“ Zeitbedingtheit weit hinausreichende politische Allgemeinbedeutung dieser Zeugnisse, gerade für den heutigen europäischen Verteidigungskampf gegen das, den zaristischen antiwestlichen Traditionen konsequent nachfolgende kommunistische Moskau von heute, ergibt sich ganz objektiv aus ihrem Inhalt und jenen Konsequenzen, die Marx schon damals für die heutige politische Lage Westund Ost-Europas vorausgezoger hat!

Diese Feststellung erfordert auch selbst im gedrängten Rahmen unseres Essays ein etwas näheres Eingehen auf folgenden Sachverhalt: Ilm sich mit den Originalquellen der russischen Geschichte eingehend vertraut zu machen, erlernte Marx in London die russische Sprache. AIs Ergebnis seiner eingehenden russischen Studien — selbst in den. diplomatischen Quellenarchiven des British Museums — und der scharfsinnigen Verfolgung der konkreten internationalen Politik jener Zeit, hat Karl Marx eine große Anzahl von Aufsätzen und Broschüren geschrieben, die ihn als einen der scharfsinnigsten Kritiker und großenteils objektivsten Berichterstatter der weltpolitischen Entwicklung jener Zeit offenbaren.

Die Tatsache, daß sich hierbei Karl Marx als einer der schärfsten und weitsichtigsten Kritiker des gesamten historischen Phänomens des russischen Imperialismus und autokratischen Kollektivismus erwiesen hat, genügte, daß selbst Lenin und Stalin es für höchst angebracht hielten, den Marx der Londoner Periode und seine ihr entstammenden literarischen Zeugnisse völlig zu ignorieren.

Bezeichnend hierfür ist auch die Tatsache, daß die vom Marx-Engels-Institut in Moskau veranstaltete große kritische Marx-Engels-Gesamtausgabe bewußt diese Periode ignorieren mußte. Diese deutsche Ausgabe des Originaltextes wurde mit dem Erscheinen des Band VII — der das Schrifttum bis Ende des Jahres 1848 reichend, enthält — im Jahre 19 3 5 eingestellt. Es war kein Zufall, daß dann die beiden betont „westlich" orientierten Herausgeber V. Adoratskij und D. Rjazanov auf die übliche Weise „liquidiert" wurden. Dabei war vor allem Rjazanov, der vor der Revolution Jahrzehnte in engster Gemeinschaft mit Lenin in Europa lebte, der wohl bedeutendste Kenner der gesamten Marx-Literatur.

Die Zeugnisse von Karl Marx haben einen höchst aktuellen politischen Erziehungswert für die gesamte westliche Welt und ihren osteuropäischen Sektor, besonders aber Ungarns, des Balkans und der Türkei. Auch der unversöhnliche, in echten Traditionen gegründete Gegensatz zwischen Tito und Moskau erfährt durch Marx eine besonders erhellende Beleuchtung. Denn Marx hat bereits vor hundert Jahren die historische Bedingtheit des unversöhnlichen Gegensatzes zwischen dem russischen Imperialismus und den natürlichen Lebensinteressen Jugoslawiens (Serbiens), Griechenlands und vor allem der Türkei in einer Weise aufgezeigt, die gerade heute von höchster politischer Aktualität ist, weil sie auch aus der retrospektiven historischen Perspektive eine besondere Rechtfertigung der Truman-Doktrin für Griechenland und die legitime Rechtfertigung der kompromißlosen Westorientierung der Türkei, Ja sogar der neuesten Eisenhower-Doktrin für den Mittleren Osten bietet.

Wir beschränken uns darauf, nur eine kleine Auswahl der Marx-

sehen Dokumente selbst sprechen zu lassen:

Versagen des Westens gegenüber der russischen Gefahr „Den diplomatischen Traditionen zum Trotz, haben schließlich die beständigen und erfolgreichen Übergriffe Rußlands nun endlich in den Regierungs-Kabinetten der Westmächte einen ganz leisen Verdacht der nahenden Gefahr hervorgerufen. Diese Befürchtungen zeitigten zumindest das große diplomatische Resultat, daß die Aufrechterhaltung des Status quo in der Türkei eine für den Weltfrieden unerläßliche Bedingung ist.

Wohl hat man in den letzten dreißig Jahren viel getan, um die Allgemeinheit über die Zustände in der Türkei aufzuklären. Aber für die neunmalweisen Diplomaten scheint dies alles nicht zu existieren. Diese hatten sich so zäh als möglich an jene alten Anschau-

ungen, die das Studium der orientalischen Märchenliteratur geschaffen hat und welche durch die nicht weniger phantastischen Berichte ergänzt werden, welche eine korrupte Bande der gewissenlosesten Söldlinge Rußlands in die Welt setzt. Und was mußte sich natur-notwendig daraus ergeben?

Daß dank der LInwissenheit und Trägheit, der fortwährenden Unbeständigkeit und Feigheit der westlichen Regierungen, Rußland in allen wesentlichen Punkten konsequent eine seiner Absichten nach der anderen durchsetzte. Von der Schlacht bei Navarino bis zur jetzigen Orientkrise wurden die Aktionen der Westmächte entweder durch Zänkereien untereinander vereitelt, die meist aus ihrer gemeinsamen Unkenntnis der balkanischen und orientalischen Angelegenheiten und aus kleinlichen Eifersüchteleien entstanden, die der östlichen Auffassungsweise ganz unbegreiflich erscheinen mußten, oder aber jede Aktion diente direkt den Russen!“ (New York Tribun, 19. April 1853.)

* Das moderne Rußland „Man braucht nur eine Reihe von Namen und Daten durch andere zu ersetzen und es tritt klar zutage, daß zwischen der Politik Iwans III. und der des heutigen Rußland nicht nur Ähnlichkeit, sondern Gleichheit besteht.

Es ist auch heute noch bemerkenswert, welche große Mühe sich Moskau gab, wenn es galt, fremden Republiken zu Leibe zu rücken, genau so, wie es das moderne Rußland tut. Nowgorod und seine Kolonien führen den Reigen an, die Kosakenrepublik folgt und Polen schließt ihn ab. Will man die Vernichtung Polens durch Rußland verstehen, so studiere man zuerst die Niederwerfung Nowgorods, die von 1478 bis 1528 durch Moskau vollzogen wurde.

Durch betrügerische Ausnützung einer feindlichen Macht Vorteile zu gewinnen, diese Macht gerade durch deren Ausnutzung zu schwächen und sie schließlich gerade daran zugrunde gehen zu lassen, daß sie sich als Werkzeug gebrauchen ließ ..., diese Politik wurde Iwan Kalita durch den eigentümlichen Charakter der herrschenden wie der beherrschten Rasse eingegeben.

Seine Politik blieb auch die Iwans III. Und es ist ebenso auch die Politik Peters des Großen und des heutigen Rußland, wie immer auch der Name, das Land und der Charakter der von ihnen ausgenutzten feindlichen Macht gewechselt haben möge!

In der Tat ist Peter der Große der Erfinder der modernen russischen Politik; aber er wurde es nur, indem er der alten moskowitischen Methode des unvermerkten Eindringens und Aneignens ihren lokalen Charakter nahm und sie ihrer auffälligen Beimischungen entkleidete; indem er sie in eine abstrakte Formel brachte, ihre Ziele verallgemeinerte und ihre Zwecke erhöhte, so daß ihr Bestreben nach Beseitigung bestimmter gegebener Machtgrenzen sich zum Streben nach unbegrenzter Macht erhob. Er brachte die Umgestaltung Moskaus durch die Verallgemeinerung seines Systems zuwege und nicht nur durch die bloße Hinzufügung einiger Provinzen. t Kurz: Moskau ist in der scheußlichen und erbärmlichen Schule mongolischer Sklaverei, ausgewachsen und großgezogen worden Seine Stärke erwarb es nur dadurch, daß es in den Künsten des Sklaventums zum Virtuosen wurde. Sogar nach seiner Selbstbefreiung spielte Moskau seine hergebrachte Rolle des Sklaven als Herrscher weiter.

Peter der Große war es endlich, der die politische Handfertigkeit des mongolischen Sklaven mit dem stolzen Streben des mongolischen Herrschers vereinigte, dem Dschingis Khan in seinem letzten Willen die Eroberung der Erde vermacht hatte.“ (Free Press, 1857.)

Die Wiege Moskaus „Im blutigen Schlamm mongolischer Sklaverei, nicht der ruhmvollen Hoheit der frührussischen Epoche, steht die Wiege Moskaus; und das moderne Rußland ist nichts anderes als eine Umgestaltung dieses Moskaus. Der unwiderstehliche Einfluß Rußlands hat Europa zu verschiedenen Zeiten überrascht. Er hat die Völker des Westens erschreckt, und man hat sich hierin wie in ein Fatum ergeben oder sich ihm nur in vereinzelten Konvulsionen krampfhaft widersetzt. Hand in Hand mit dem von Rußland ausgeübten Zauber geht jedoch andererseits ein Skeptizismus, der immer wieder auflebt und dann Rußland wie seinem Schatten folgt. Er vergrößert sich stets mit dem Wachstum Rußlands, mischt schrille ironische Töne in das Ächzen der zu Tode gequälten Völker und verspottet seine Größe als komödien-hafte Posse, die ihm nur als Blendwerk und Täuschung erscheint.

In ihren Anfängen begegneten auch andere Völker solchen Zweifeln und Mißdeutungen. Rußland aber wurde zum Koloß, ohne solche Zweifel überwunden zu haben. Es bietet in der Geschichte das wohl einzige Beispiel eines immensen Reiches, dessen wirkliche Macht sogar nach weltbekannten Leistungen immer noch vielfach nur als Illusion und nicht als vollendete Tatsache aufgefaßt wurde.

Aber wir vermögen nun Rußland vom spiritualistischen oder materialistischen Standpunkt aus beurteilen, mögen wir seine Macht als greifbare Tatsache oder als bloße Vision der schuldbeladenen Gewissen der europäischen Völker betrachten, die eine große Frage bleibt dennoch unbeantwortet:

Wie konnte dieses Phantom oder die Macht zu solch ungeheuren Dimensionen anwachsen, um auf der einen Seite begeisterte Zustimmung auf der anderen aber empörte-Zurückweisung zu finden, während es die Menschheit mit einer Erneuerung der Weltherrschaft bedroht?“ (Free Press, 18 54.)

Die russische Taktik und Diplomatie „Um Intrigen gegen fremde Nationen zu verbergen, nehmen die russischen Diplomaten ihre Zuflucht zur Geheimhaltung Die englischen Diplomaten wenden gerne dieselben Methoden an, wenn sie einem fremden Hofe ihre Unterwürfigkeit bezeugen wollen. Die geheimen Depeschen der russischen Diplomaten sind mit einem zweideutigen Parfüm durchtränkt. Einerseits i st es der „Geruch der Falschheit" (f u m e e de faussete), wie der Herzog von Saint Simon es nannte, und andererseits jenes eitle Prunken mit der eigenen Überlegenheit und List, das auch den Berichten der französischen Geheimpolizei ihren unvertilgbaren Charakter verleiht.“ (Free Press, 18 57.)

„Die geheimen russischen Depeschen lassen alle den gleichen sehr einfachen Gedanken verfolgen: daß Rußland selbst genau wisse, es habe keine wie immer gearteten gemeinsamen Interessen mit anderen Nationen; dafür müßte jede andere Nation davon überzeugt werden, daß sie besondere gemeinsame Interessen mit Rußland habe, die jede andere Nation ausschlössen.

Die elenden Russen in der Tribun sowohl als im Londoner Ad-

vertiser, reiten jetzt auf dem Steckenpferd herum, daß das russische Volk selbst durch und durch demokratisch ist, dagegen aber das offizielle Rußland (Zar und Bürokratie) eigentlich nur Deutsche sind und der Adel ebenfalls deutsch ist. Also Deutschland in Rußland, nicht aber Rußland in Deutschland zu bekämpfen ist. Du kennst mehr von Rußland als ich, und wenn Du Zeit gewinnst, gegen diesen Blödsinn aufzutreten, — ganz wie die teutonischen Esel den Despotismus auf Frankreich abwälzen, als wenn zurückgebliebene Knechte nicht immer zivilisiertere Knechte brauchten, um zivilisiert zu werden!“ (An Engels, 7. September 18 53.)

England und Rußland „Die Wichtigkeit der Rolle, welche England und Rußland in einer zukünftigen Lösung der südeuropäischen und türkischen Frage spielen, ist offensichtlich: Heute und immerdar müssen England und Rußland im Osten sich als Gegner gegenüberstehen!

Die kommerzielle Bedeutung der Dardanellen und des Bosporus machen sie gleichzeitig zu einem militärischen Stützpunkt ersten Ranges; das heißt zu Positionen von entscheidendem Einfluß auf jeden Krieg. Die Meerenge der Dardanellen und des Bosporus ist derart eng, daß wenige, an passenden Stellen errichtete, gutbewaffnete Befestigungen — wie sie ja wohl Rußland nach einer Besitznahme sofort errichten würde — den Verbündeten der ganzen Welt trotzen könnten, wenn diese versuchen wollten, hier einzudringen.

Dann also wäre das Schwarze Meer nichts anderes als ein russischer See, mehr selbst noch als der Ladogasee, der doch im Herzen Rußlands liegt.

Der Widerstand ganz Kaukasiens könnte dann rasch gebrochen, Trapezunt würde zu einem russischen Hafen, und die Donau ganz zu einem russischen Flusse werden. Auch wäre nach der Wegnahme von Konstantinopel das Türkische Reich auseinandergerissen.

Durch die Annexion Griechenlands und der Türkei würde Ruß-land ausgezeichnete Seehäfen gewinnen. Mit der Eroberung von Konstantinopel stände es an der Schwelle des Mittelmeeres; im Besitze von Durazzo und der albanischen Küste wäre es zugleich im Mittelpunkt der Adria selbst, in Sehweite der britischen Ionischen Inseln und nach 36 Stunden Dampferfahrt in Malta. Lind da dann Österreich-Ungarn im Norden, Osten und Süden von Rußland um-

schlossen wäre, würde es auch die Habsburger zu seinen Vasallen zählen.“ (Tribun, 12. April 1 853.)

„Rußland ist entschieden eine Eroberernation und war es auch ein ganzes Jahrhundert lang, bis ihm die große Bewegung von 1789 einen furchtbaren Gegner voll lebendiger Kraft schuf. Wir meinen die europäische Revolution, die Explosivkraft der demokratischen Ideen und den der Menschheit eingeborenen Freiheitsdurst!

Seit jener Zeit gab es tatsächlich nur zwei große Mächte auf dem europäischen Kontinent: Rußland mit seinem Absolutismus und die Revolution mit der Demokratie! Sollte aber Rußland in den Besitz der Türkei gelangen, so wird seine Kraft fast um die Hälfte verstärkt und es gewinnt das Übergewicht über das ganze übrige Europa zusammen.

Die Aufrechterhaltung der türkischen Unabhängigkeit und die Vereitlung der russischen Annexionspläne sind Dinge von höchster Wichtigkeit! In diesem Falle gehen die Interessen der revolutionären europäischen Demokratie und diejenigen Englands Hand in Hand! Keines von ihnen wird es dem Zaren erlauben, Konstantinopel zu einer seiner Hauptstädte zu machen, und wenn es zum Äußersten kommen sollte, werden wir sehen, daß jenes ihm ebenso energisch Widerstand leisten wird, wie dieses!“ (New York Tribun, 12. April 1853.)

„Rußland hat seine gierigen Augen sowohl auf die Donaumündungen, wie auf die Gebirgsketten des Kaukasus geworfen. Dort hieß es die Herrschaft erobern, hier sie befestigen. In dem jetzigen Augenblick sehen wir mit gleicher Spannung nach den LIfern der Donau, wo Rußland sich der beiden Kornkammern Europas bemächtigt hat, wie nach dem Kaukasus, wo ihm die Vertreibung aus Georgien droht. Sein Vorgehen in diesen beiden Gebieten ist auf dieselbe Ursache zurückzuführen. Es war der Vertrag von Adrianopel, der die Usurpation der Moldau und Walachei vorbereitete und der auch seine Ansprüche auf den Kaukasus anerkennt“ (Tribun, 7. April 1853.)

• Serbien und Rußland „Durch die Türken eine Zeitlang unterdrückt, gab der russische Krieg von 1809 den Serben die Gelegenheit eine gesonderte Existenz zu gewinnen, wenn auch unter türkischer Oberherrschaft. Seitdem ist Serbien immer unter dem indirekten Schutz Rußlands verblieben. Doch ebenso wie in der Moldau und Walachei, hat die politische Selbständigkeit neue Bedürfnisse entwickelt und Serbien einen größeren Verkehr mit dem westlichen Europa aufgezwungen. Die Zivili-sation begann Wurzeln zu fassen, der Handel dehnte sich aus, neue Ideen entstanden, und so finden wir inmitten der Hochburg der russischen Machtsphäre, im slawischen und orthodoxen Serbien, eine antirussische Fortschrittspartei, natürlich vorerst sehr bescheiden in ihren Bestrebungen, deren Haupt jetzt der Ex-Finanzminister Gara-schanin ist.

Sollte die griechisch-slawische Bevölkerung jemals zur Herrschaft im Lande kommen, das sie bewohnt und in dem sie dreiviertel der Gesamtbevölkerung darstellt, dann ist es zweifellos, daß dieselben Bedürfnisse in ihrer Mitte nach und nach eine antirussische Bewegung erzeugen würden!“ (Tribun, 7. April 185 3.)

„Man kann behaupten, je mehr Serben und die serbische Nationalität sich gefestigt hat, desto mehr ist der direkte russische Einfluß auf die türkischen Slawen in den Hintergrund gedrängt worden. Denn Serbien hat, um eine hervorragende Rolle als christlicher Staat behaupten zu können, seine politischen Institutionen, seine Schulen, seine wissenschaftlichen Kenntnisse, seine industriellen Einrichtungen von Westeuropa beziehen müssen.

Daraus erklärt sich die Anomalie, daß Serbien eine konstitutionelle Monarchie ist seit ihrer Emanzipation, trotz der russischen Schutzherrschaft. Mögen auch Blutsverwandtschaft und gemeinsame Religion noch so viele gemeinsame Banden zwischen Russen und Südslawen knüpfen, ihre Interessen werden dennoch von dem Tage an auseinandergehen, wo sich die letzteren befreien! Wie wäre es also möglich, daß diese beiden Nationen übereinstimmten? Türken und Südslawen haben tatsächlich mehr gemeinsame Interessen mit Westeuropa als mit Rußland!

Wer aber glaubt, daß ein derartiges (russisches) System dem süd-slawischen Charakter entspricht, der sehe sich einmal die Geschichte Serbiens seit 1804 an: Karageorg, der Begründer der serbischen Unabhängigkeit wurde vom Volk verlassen, und Milosch Obreno-witsch, der die Unabhängigkeit wiederherstellte, wurde mit Schimpf und Schande aus dem Lande gejagt! Beide hatten den Versuch gemacht, das russisch-autokratische System mit seinen Begleiterscheinungen von Korruption, halbmilitärischer Bürokratie und pascha-mäßiger Ausbeutung einzuführen!“ (Tribun, 21. April 1 853.)

„Die russische Politik mag durch ihre traditionellen Listen, Machinationen und Ausflüchte den europäischen Höfen imponieren, die selbst blos in der Tradition begründet sind: den revolutionären Völkern gegenüber aber wird sie völlig versagen. So haben in Beyrut noch kürzlich die Amerikaner einen Ungarn aus den Klauen des österreichischen Adlers befreit.

Daß die amerikanische Intervention in Europa gerade bei der Orientfrage beginnt, ist eigentlich recht erheiternd. Außer der kommerziellen und militärischen Wichtigkeit, die Konstantinopel seiner geographischen Lage verdankt, sind es noch andere wichtige Erwägungen, die seinen Besitz zu einem so viel begehrten und heiß-umstrittenen Kampfobjekt machen zwischen dem Osten und dem Westen — und gerade Amerika ist der jüngste, kräftigste Repräsentant des Westens!“ (Tribun, 12. August 1853.)

Westliche Zivilisation und russischer Byzantinismus „Konstantinopel ist die ewige Stadt, das Rom des Ostens. Unter den alten griechischen Kaisern amalgamierte sich dort die westliche Zivilisation so sehr mit östlicher Barbarei, und unter den Türken, die östliche Barbarei so sehr mit der westlichen Zivilisation, daß dieses Zentrum eines theokratischen Reiches zu einer wirklichen Schranke gegen den westlichen Fortschritt wurde. Als die griechischen Kaiser von Ikonium durch die Sultane vertrieben wurden, überlebte der Geist des alten byzantinischen Reiches diesen Wechsel der Dynastien; und wenn der Sultan durch den Zaren ersetzt werden sollte, so würde das Bas-Empire in seiner neuen Lebensform, viel demoralisierendere Einflüsse ausüben als unter den alten Kaisern und viel angriffslustiger und kräftiger sein, als unter dem Sultan.

Der Zarismus würde dann für die byzantinische Zivilisation werden, was russische Abenteurer jahrhundertelang für die Kaiser des niedergehenden Bas-Empire waren: das Gardecorps unter ihren Soldaten!

Der Kampf zwischen Westeuropa und Rußland um den Besitz von Konstantinopel führt zu der Frage: ob der Byzantinismus der westlichen Zivilisation weichen wird, oder aber, ob seine feindselige Macht in noch schrecklicheren und überwältigerenden Formen als je zuvor neu aufleben soll? Konstantinopel ist die goldene Brücke, die zwischen dem Osten und dem Westen errichtet ist. Die westliche Zivilisation kann aber — der Sonne gleich — nicht die Welt umkreisen, ohne diese Brücke zu passieren! Lind sie kann diese Brücke nicht passieren, ohne in Kampf mit Rußland zu geraten!“ (Tribun, 12. August 1 853.)

Damit beschließen wir unsere kurze Auswahl der Europa-Betrachtungen von Karl Marx aus der Londoner Periode seiner sachlichen Beschäftigung mit der politischen Entwicklung zwischen Europa und Rußland während der Jahre 18 50 bis 1860. Der faszinierende Eindruck ihrer geradezu prophetischen politischen Vorausschau rechtfertigt sicherlich ihre aktuelle erziehungspolitische Bedeutung für das Verständnis der geschichtlich bedingten Spannungen zwischen Rußland und Europa und die sich hieraus ergebenden politischen Konsequenzen für die Verwirklichung der europäischen Einheit und Sicherheit.

Für Deutschland hat aber die damals von Marx gegebene Interpretation der antieuropäischen Dynamik der russischen Politik noch eine ganz besondere aktuelle Bedeutung, weil sie mit einer geradezu unheimlichen Präzision auch schon jene tragischen politischen und territorialen Konsequenzen vorausgesehen hat, die eintreten mußten, wenn Deutschland sich seiner europäischen Aufgabe versagte und damit die Voraussetzungen eines eventuellen Verrates der deutschen Europa-Verpflichtungen an den russischen Imperialismus — wie ihn dann Hitler beging — schaffte:

„Ist es aber wahrscheinlich, daß dann eine solche, nach Westen bis ins Riesenhafte ausgedehnte russische Großmacht in ihrer Laufbahn innehalten wird, wenn sie erst einmal soweit auf dem Wege zum Weltreich ist? Selbst wenn sie es dann wollte, werden es ihr die Verhältnisse nicht mehr gestatten, sich zu bescheiden! Noch etwas wäre dann möglich, ja sogar wahrsdteinlich:

Die stark gekrümmte Westgrenze des Russischen Reiches, deren natürlichen Grenzlinien nicht klar hervortreten, würden einer Regulierung bedürfen; es würde notwendig werden, daß die natürliche Grenze Rußlands dann von Danzig oder etwa von Stettin bis Triest verlaufen muß! Und so gewiß eine Eroberung der anderen folgt und eine Annexion der Türkei durch Rußland nur das Präludium zu einer Annexion Ungarns, Preußens und Galiziens sein, und zur endlichen Verwirklichung jenes Slawischen Großreiches führen wird, von dem manche fanatischen panslawistisdten Philosophen schon jetzt träumen.

(Tribun, 12. April 1853.)

„Wir Deutschen verlieren bei diesen Operationen — weiter nidtts als Ostpreußen und Westpreußen, Schlesien, Teile von Brandenburg und Sachsen, ganz Böhmen, Mähren und das übrige Österreich — und unsere nationale Existenz. So erhält Rußland deutsdtes Bundesgebiet und sdiiebt seine Westgrenze um volle 65 Meilen nadt Westen vor. Damit würde die Teilung Dcutsdtlands fertig. Der direkte Weg von Wien nach Berlin ginge durdi Rußland, ja selbst der direkte Weg von Mündten nach Berlin!“ (Herr Vogt, 1860.)

Europa zwischen Versailles und Weimar

Die Entwicklung des Europa-Gedankens in der Periode zwischen dem Ende des ersten und dem Beginn des zweiten Weltkrieges ist im wesentliehen von den ideologischen und politischen Auswirkungen jener Antithese bestimmt worden, die in den Begriffen von „Versailles“ und „Potsdam" die Gestaltung der deutsch-französischen Beziehungen in der Periode der Weimarer Republik in negativer Weise beeinflußten. Der Revanchegeist und die moralisierende Hypertrophie des Versailler Vertrages verhinderte es einerseits, daß sich sowohl in Frankreich wie in Deutschland die nach einer ehrlichen Verständigung strebenden Kreise zu einer dauerhaften fruchtbaren Zusammenarbeit für die Neugestaltung des deutsch-französischen Verhältnisses im Sinne der echten Traditionen und jeweils zeitgeschichtlich neuentstehenden Erfordernisse des europäischen Friedens-und Gemeinschaftsgedankens vereinigen konnten. Andererseits hat es der revanchelustige und antieuropäische Geist der Traditionen und politischen Realitäten des preußisch-deutschen Militarismus ebenso verhindert, daß das ehrliche Bemühen aller echten Demokraten und wahrhaft „westlich“ gesinnten Geister und Politiker des Weimarer Deutschland um eine echte deutsch-französische Verständigung, als der fundamentalen Voraussetzung für jegliche positive Europa-Politik, von einem dauerhaften Erfolg gekrönt werden konnte. Es ist darum auch heute bereits zu einer ganz selbstverständlichen, weil objektiven historischen Einsicht in die tragische Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses der Periode von 1918 bis 1933 geworden, daß die im Jahre 1919 in Versailles gelegte Saat eines revancheerfüllten Nationalismus zuletzt dafür verantwortlich ist, wenn es den gutwilligen Deutschen nicht möglich war, ihr endgültiges Aufgehen in der verhängnisvollen Frucht des nationalsozialistischen Geistes des in dem Staatsakt von Potsdam im Januar 193 3 geschlossenen Bündnisses zwischen Hindenburg und Hitler zu verhindern.

Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, jenes Maß von Schuld genau abzumessen, das für diese unheilvolle Entwicklung den „Geist von Versailles“ und jenen von „Potsdam“ im einzelnen für das Versagen des Europa-Gedankens trifft, obwohl die historische Wahrheit zu der Feststellung zwingt, daß der deutschen Entwicklung das weithin höhere Maß in dieser Hinsicht überantwortet werden muß. Um was es hier geht, ist lediglich die geschichtlich einwandfrei zu belegende Feststellung, daß gerade auch in der Periode von 1919 bis 193 3 in Deutschland leidenschaftlich echter Verständigungswille mit Frankreich und gewissensmäßig stärkstens fundierte Europa-Gesinnung existierte und tätig war.

Wie ungemein stark und ehrlich sich dieser Wille und diese Gesinnung bereits zu Beginn des Jahres 1919 in dem zusammengebrochenen Deutschland regte, kann heute ganz objektiv aus jenem Manifest des akademischen Deutschland ersehen werden, das Eduard Spranger am 22. März 1919 unter dem Titel: Völkerbund und Rechts-gedanke, von der Universität Leipzig aus in alle deutschen und euro-

päischen Lande sandte und in welchem es u. a. hieß:

„Unter den 14 Punkten des Präsidenten Wilson, auf Grund deren die Friedensverhandlungen eingeleitet worden sind, lautet der letzte:

, Es muß eine allgemeine Vereinigung der Nationen mit bestimmten Vertragsbedingungen gebildet werden, zum Zwed^e der gegenseitigen Garantieleistung für die politische Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit der großen sowie der kleinen Nationen.'Wir begrüßen dieses Wort als die Botschaft einer neuen Zeit. Es ist in ihr ausgesprochen, daß die Gegenseitigkeit die Grundlage der neuen Garantien sein soll.

Mit anderen Worten: Der Wille zum Recht ist nicht denkbar ohne einen im Kern sittlidten Akt der Selbstbeschränkung. Wir finden diesen Willen zum Redit in den weiteren Worten des Präsidenten: , Was wir erstreben, ist die Herrsdiaft des Redtts, gegründet auf die Zustimmung der regierten Völker und aufredtterhalten durdt die organisierte öffentliche Meinung der Mensdiheit'. Wenn aber der Präsident in einer späteren Rede hinzugefügt hat, der Völkerbund könne jetzt nidrt gebildet werden, denn , wenn er jetzt gebildet würde, wäre er nur ein neues, auf die gegen den gemeinsamen Feind vereinigten Nationen besdiränktes Bündnis', so antworten wir:

Jetzt oder nie, durch diesen Frieden oder nie muß der Völkerbund gesddossen werden. Denn jetzt eben muß der Friede zeigen, daß der ernste Wille zu einem neuen Stil der Politik im Wadtsen ist. Sollten nicht bei gerechter Beurteilung die beiderseitigen Leiden ein gemeinsames Band schlingen können? Sollte nicht der Hunger, der das deutsche Volk verwüstet hat, die Taten unserer Armeen ausgleichen, die das französische Land verwüstet haben? Sollten nicht die Rüstungen aller gegen einen die Härten des Unterseebootkrieges entschuldbar machen?

Aber genug vom Vergangenen/Wir wollen nicht richten, damit wir nicht gerichtet werden. Es gibt keine Schuld da, wo gewaltige Spannungen der Welt sich entladen, die weder der Einzelne nodt ein ganzes Volk zu lenken vermögen.

Die Welt liegt nodt einmal rein und jung vor uns. Der Glaube der Völker hüben und drüben klammert sidt an diese Hoffnung! Und was ist gesdrehen, um diese Hoffnung zu verwirklidien? Wir haben einen Vertragsentwurf für einen Völkerbund gelesen, der seine Spitze einseitig gegen Deutschland richtet. Wir sehen in ihm nur das alte vierköpfige Haupt der Entente, wir fühlen in ihm nidu das Herz der Mensdtheit schlagen. Wir können in diesem Plan die Verwirklidrung des allgemeinen Reditsgedankens nicht erkennen. Das alles ist kein Vertrag aller mit allen, wie ihn das Naturredtt fordert; es ist kein gleidibereditigtes Zusammentreten der Kulturstaaten zu einem Gesell-

sdiaftsvertrag der Nationen, sondern ein Kreis der Erwählten, dem die Verworfenen rechtlos gegenüberstehen, bis man sie ruft. Und wird man sie jemals rufen?

Räumen wir dieses Hindernis weg! Erklären wir, daß wir mit ehrlicher Gesinnung in den Kreis ehrlidter Reditsgenossen treten wollen!

Ergreifen wir die Hand nicht nur, die von Amerika sich hob, sondern stredten wir sie entgegen und rufen wir in die Welt, daß auch wir ein Redttsgewissen haben. Es ist die Stunde in der die Kraft des Geistes wieder wirken darf. Wir haben den Kampf um die Madit beendet; wir führen den Kampf, der selbst das höchste und letzte Redu ist: den Kampf ums Recht!

Man hüte sich, in uns die ungeheure Kraft verletzten Rechtsbewußtseins wachzurufen! Man gebe uns vielmehr den Beweis eines neuen Geistes und man wird bei uns den reinen Willen zur treuen Mitarbeit finden!“

Wir wissen, welches die Antwort der verantwortlichen europäischen Politiker und Friedensmacher des Jahres 1919 auf diesen und viele ähnliche, von echt europäischem Geist erfüllten, an das Gewissen Europas gerichteten Appelle war: Versailles!

Aber nicht nur nach Außen hin hat damals der deutsche Appell an die europäische Vernunft keinerlei Gehör gefunden, sondern die besondere Tragik der damaligen deutschen Situation bestand darin, daß auch der gleichzeitig in vieler Richtung hin ergangene innerdeutsche Appell an das europäische Rechtsgewissen der Deutschen selbst, kein wesentliches Echo fand. Wir meinen vor allem jene Gesinnung einer wahrlich abendländischen Gewissenserforschung der deutschen Existenz über die Ursachen und Folgen jener tragischen Schuld, welche die deutsche Politik seit den Tagen Hegels und der preußischen Hegemonie, durch ihre progressive Abwendung von Geist und Erbe der ethisch-politischen Traditionen des Westens, vor allem von den naturrechtlichen Bindungen des staatlichen und politischen Denkens und Handelns, auf sich geladen und zu welcher Ernst Troeltsch im Jahre 1922 das deutsche Volk unter dem Titel: „Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik“ aufgerufen hatte und die in der Forderung einer prinzipiellen westlich-europäischen Neuorientierung des deutschen politischen Denkens mündete:

„Eines der brennendsten Probleme der deutschen Gegenwart besteht in der Rückkehr zum universalgesdächtlidien Denken und Lebensgefühl. Die Strenge, Vielseitigkeit und Hingebung der Erforsdtung des Gewesenen muß mit dem handelnden und zukunftsgestaltenden Willen sich vereinigen. Dieser Wille darf nidtt nur auf das eigene nationale Dasein gehen, sondern muß dieses im Zusammenhang des Weltwerdens und der Weltentwicklung sehen. Schließlich aber und vor allem fordert die Aufgabe der Gewinnung einer gegenwärtigen Kultursynthese eine viel stärkere Rücksicht auf die großen politisclt-ethischen Weltmächte des letzten Jahrhunderts, gerade auf die aus Naturrecht und Humanität hervorgegangenen Entwicklungen! Sie alle werden und müssen eine Rolle spielen in dem Ideal einer zukünftigen Kultursynthese, weil sie mit einer bestimmten intellektuellen Reife und einem bestimmten Maße der Bevölkerungssteigerung, audt mit bestimmten religiösen und ideologisdien Elementen unseres europäisdten Kulturkreises verbunden sind. Sie werden auch für unsere eigene Wirklidikeit eine bestimmte Bedeutung haben. Diese Dinge sind von unserer deutschen Historiographie unzweifelhaft vernachlässigt und mit übel angebraditer Antipathie behandelt worden, in der sich roman-tisdte Überheblichkeit und Gewöhnung an preußisdt-militärische Stützung der Ordnung wunderlidr verbunden haben!“

Ganz im gleichen Sinne einer fundamentalen europäisch-deutschen Gewissenserforschung hat damals auch Friedrich Meinecke in seinen tapferen Schriften: Nach der Revolution (1919) und: Die Idee der Staatsraison (1924) aufgerufen und der deutschen Politik die Weisung erteilt:

„Der tiefe Mangel des deutsch-historisdien Denkens wurde die beschönigende Idealisierung der Madttpolitik durdt die Lehre, daß sie einer höheren Sittlichkeit entspräche. Dadurdt wurde, trotz aller sittlichen und idealistisdten Vorbehalte, die man madtte, Raum gegeben für die Entstehung einer grob naturalistischen und bilogischen Gewalt-ethik. Ehrfurcht vor dem Unerforsdtlidien und das Sittengesetz in der Brust, die Rankes Leitstern waren, müssen audt die Leitsterne des modernen Denkens bleiben, aber der verhüllte Dualismus, mit dem er sich behalf und die Naditseite des Lebens verded^te, muß seiner Hülle entledigt werden. Von einer besonderen Staatsmoral zu spredten, bringt in Versuchung, den Spuren Hegels zu folgen und die Staatsmoral als die höhere zu verkünden.

Mit der falsdten Idealisierung der Madttpolitik muß audt die falsdte Vergötterung des Staates, die seit Hegel im deutsdten Denken nachwirkt, aufhören!“

Die Entwicklung der politischen Ideen in der Weimarer Republik und ihr Ausmünden in die Potsdamer Legitimierung der nationalsozialistischen Ideologie im Januar 193 3 zeigt deutlich das progressive Erlahmen des Europa-Gedankens als einer ideenpolitischen Realität im damaligen deutschen Denken. Lim so erstaunlicher erscheint darum vor allem das ideenpolitische Wollen und die staatsmännische Energie, mit welcher sich gerade Gustav Stresemann mit seiner Europa-Politik gegenüber den aus dieser Entwicklung stets zunehmend genährten innerdeutschen Widerständen, wie auch den aus dem „Versailler“ Geist resultierenden Hemmungen des Europa-Gedankens durchzusetzen vermochte. Wie immer man auch zu der betont national-liberalen Bedingtheit des innerdeutschen politischen Weltbildes von Stresemann stehen mag, so wird man gerade seiner „Locarno-Politik“, als ehrliches Bemühen um die deutsch-französische Verständigung, als der wesentlichsten Grundlage jeglicher wahrhaften Europa-Politik, die höchste Anerkennung nicht versagen können und ihm auch vorbehaltlos darin zustimmen müssen, daß er die schicksalhafte Gegenseitigkeitsbedingung seiner Locarno-Politik als eine europäische Sicherung deutscher Politik und deutsche Sicherung europäischer Politik schlechthin betrachtete: „Das Sdtick-sal Deutschlands ist das Schicksal Europas!“. Aus einer derartigen Ein-

sicht waren darum auch zutiefst seine fundamentalen Ausführungen genährt, die er im Herbst 1926 vor dem Forum der Völkerbundsversammlung in Genf, anläßlich der Aufnahme Deutschlands in dieselbe machte:

„Idi sehe in Locarno nidit eine juristische Konstruktion politisdier Gedanken, sondern ich sehe in dem Werk von Locarno die Basis einer großen Zukunftsentwiddung. Die Staatsmänner und Völker bekennen sidt darin zu dem Willen, dem Menschheitssehnen nach Frieden und Verständigung den Weg zu bereiten. Wäre der Pakt nichts als ein Bündel von Paragraphen, so würde er nidit halten. Die Formen, die er zu finden sudit für das Zusammenleben der Völker werden nur Wirklichkeit werden können, wenn hinter ihnen der Wille steht, neue Verhältnisse in Europa zu sdiaffen.

Wir haben ein Redit, hier von einer europäisdten Idee zu spredten; hat dodt dieses Europa im Weltkrieg die größten Opfer gebracht, steht es doch jetzt vor der Gefahr, durdt die Auswirkungen des Weltkrieges die Stellung zu verlieren, auf die es nach seiner Tradition und Entwicklung Ansprudt hat. Was dieser Erdteil im Weltkrieg hingegeben hat, wird vielfadt nur an den Verlusten materieller Art und an den Verwüstungen gemessen, die dem Kriege folgten. Den größten Verlust tragen wir jedodt dadurdt, daß eine Generation dahingesunken ist, von der wir nidit wissen, wieviel unentwickelte Kräfte und Möglidtkeiten, wie-viel Geist und Genie, Tat und Willenskraft in ihr zur Entfaltung gekommen wären, wenn sie ihr Leben hätte aussdiöpfen können. Zusammen mit den Erschütterungen des Weltkrieges ergibt sich daraus die eine Tatsadie:

Daß uns eine Sdiid^salsgemeinsdiaft aneinanderkettet! Wenn wir untergehen, gehen wir gemeinsdiaftlidi unter! Wenn wir in die Höhe kommen wollen, können wir es nidit im Kampfe gegeneinander, sondern nur im Zusammenwirken miteinander! In diesem Zusammenwirken muß die Basis für die Zukunft Europas gesudit werden!“

Das Neue Deutschland und Europa

Die heutige unbedingte Vormachtstellung Sowjetrußlands in Osteuropa und auf dem Balkan hat mit den vom Wiener Kongreß bis 1938 bestehenden Möglichkeiten eines „europäischen Gleichgewichtes“ endgültig aufgeräumt. Die seinerzeit in Wien verhinderten Europapläne des russischen Imperialismus haben erst im Gefolge des zweiten Weltkrieges ihre volle Verwirklichung erfahren. Was auf dem Wiener Kongreß durch die kluge Politik von Männern wie Metternich, Talleyrand und Castelreigh an Sicherung Europas und damit auch Deutschlands gegen Rußland erreicht worden war, wurde durch das Versagen der westlichen Diplomatie in den Konferenzen von Yalta, Potsdam und San Franzisko endgültig aufgegeben. Die in Yalta inaugurierte, in Potsdam exekutierte und in San Franzisko sogar moralisch sanktionierte Zerreißung Deutschlands und Preisgabe der europäischen Interessen an Ost-und Südosteuropa hat ganz handgreifliche neue Fakten für alle konkrete Europa-Politik nach 1945 geschaffen.

Diese Fakten sind es, welche die grundsätzlich veränderte Lage des besiegten Deutschland in dem verwandelten Europa bestimmten. Welchem Staatsmann immer auch nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die schwere Aufgabe zufallen mußte, die Beziehungen dieses besiegten und zerrissenen Deutschland zu dem veränderten Europa wahrzunehmen, keiner hätte eine andere Wahl gehabt als von diesen Tatsachen auszugehen. Hinzukommt die notwendige Einsicht einer wahrhaftigen deutschen Gewissenserforschung, daß schon vor dem Versagen der Westmächte und unabhängig davon, gerade der Verrat des nationalsozialistischen Deutschlands an Europa eine wesentliche Voraussetzung für das spätere Vordringen Rußlands an die Oder-Neiße-Linie geschaffen hatte. Dieser von Hitler vollendete Abfall Deutschlands von Europa hat es in erster Linie verschuldet, daß heute beide lebensgefährlich geschwächt sind und vor allem, daß wesentliche Teile Deutschlands ausgeliefert werden konnten.

Hieraus ergab sich für die deutsche Außenpolitik nach 1945 zwangsläufig die geschichts-logisdie Konsequenz, daß die neu zu begründende Sicherung Deutschlands ebensosehr von seiner Wiederhinwendung zu Europa abhing, wie die Gesundung des neuen Europa auf die wesentliche Mithilfe des neuen Deutschland angewiesen ist.

Nach 194 5 hat vor allem Konrad Adenauer diese deutschen Verpflichtungen Europa gegenüber erkannt und ehrlich zu erfüllen gesucht und mit ihm viele bedeutende Politiker aus Regierung und Opposition. Diese Männer erkannten, daß das neue Deutschland nur dann in einer fruchtbaren Gemeinschaft mit dem heutigen Europa leben kann, wenn es zugleich auch neben aller politischen und wirtschaftlichen Interessengemeinschaft jenen inneren Lebenszusammenhang mit den geistigen und ethisch-politischen Traditionen des Abendlandes von neuem herstellt, der im Verlauf des 19. Jahrhunderts deutscher Geschichte immer mehr und mehr gelockert wurde, um dann in der Herrschaft des Nationalsozialismus völlig aufgelöst zu werden. Insofern ist diese Europa-Politik stets auch wesentlich auf eine echte „abendländische" Politik ausgerichtet, d. h. eine Politik moralischer Prinzipien, geistiger Möglichkeiten und kultureller Werte im Sinne und der Verpflichtung der westlichen Kulturgemeinschaft.

Daß die Russen jeden Plan einer Konsolidierung Europas ablehnen, ist durchaus verständlich, zumal dann, wenn diese Pläne auf eine feste Einordnung Deutschlands in die europäische Lebensgemeinschaft abzielen. Die Moskauer Diplomatie hat die seit 1945 völlig veränderte Lage Deutschlands und Europas im internationalen Kräftespiel weit besser erkannt, als viele westliche „Neutralisten". Rußland hat klar erkannt, daß die ehemals selbständige Position Deutschlands in der alten europäischen Gleichgewichtsstruktur „Westeuropa—Deutschland—Rußland“ im Jahre 194 5 unterging. Ebenso klar sieht Rußland, daß die neue europäische Situation es dem neuen Deutschland — ganz unabhängig davon, ob in der geschwächten Form der Bundesrepublik oder in einem späteren wiedervereinigten Deutschland — niemals wieder gestatten wird, seine geopolitische Sonderstellung völlig selbständig zwischen dem Osten und dem Westen zu wahren. Ferner weiß Rußland ganz genau, daß dieses Deutschland niemals wieder sein wirtschaftsund wehrpolitisches Potential im Sinne einer dialektischen Rückversicherungspolitik ä la Rapallo und Locarno — als mit dem Osten gegen den Westen oder mit dem Westen gegen den Osten — wird ausspielen können. Vor allem aber weiß Moskau auch, daß dem neuen Deutschland in dieser Situation nur eine Alternative geblieben ist:

Deutschland muß sich entscheiden, ob es durch eine selbstgewählte Einordnung in die europäische Gemeinschaft die Freiheit des Westens und damit auch seine eigene gegen die Gefahren des östlichen Kommunismus sichern hilft; oder ebenso eindeutig, ob es durch eine selbstgewählte Hinwendung zum Kommunismus seine eigenen Kräfte und Freiheiten in dem Machtsystem des neo-russischen Imperialismus aufgehen läßt und damit auch das Ende der Freiheit Europas besiegelt, das ohne Deutschland nicht lebensfähig ist.

Die Geschichte des ersten Jahrzehnts dieser europäischen Einheitsbestrebungen ist noch nicht geschrieben. In ihr wird vor allem die Entwicklung der deutsch-französischen Aspekte der Saarpolitik der Jahre 1946 bis 1956 das Kernstück eines historischen Rechenschaftsberichtes über die Möglichkeiten und Fortschritte der europäischen Gemeinschaftsarbeit zwischen Frankreich und Deutschland darstellen. Denn gerade diese Entwicklung hat zumindest eine wesentliche Tatsache bewiesen:

die hohe realpolitische Bedeutung und Wirksamkeit des Europa-Gedankens im konkreten Bereich der deutsch-französischen Politik und Diplomatie. Und zwar im Sinne der immer wieder vertretenen Einsicht, daß nur eine engste deutsch-französische Zusammenarbeit die Einheit Europas schaffen und seinen Frieden und Wohlstand gewährleisten kann.

„Es gibt keine europäische Politik ohne Frankreich oder gegen Frankreich, so wie es keine europäische Politik ohne Deutsdtland oder gegen Deutschland geben kann. Die deutsch-französische Verständigung, int vollen Sinne dieses Wortes, ist für mich zugleich eine Sache des Verstandes und des Flerzens!“ (Adenauer, 2. Juli 1954.)

„Aber was soll man dann nur tun? Soll man müde die Waffen strek-

ken und sidt in die Abseitigkeit zurüdiziehen, in den Garten Epikurs oder in den Zynismus, jene Fluditbewegungen derer, die sidt vor der Zeit fürchten? Nein, man sollte das nidht tun. Man sollte an die Dinge herangehen in Nüdtternheit und mit der klaren Erkenntnis all dessen,'

was unserem guten Willen entgegensteht. Dann wird man erkennen, daF wir den Affekt, der zwischen uns steht, überwinden können, wenn wir uns an eine gemeinsame Aufgabe madten und dabei im Geiste Walt Whitmans zu einer „equipe“ oder — wie die Angelsachsen sagen — zu einem team werden, zu einer Gemeinsdtaft von Mensdten also, die diese Gemeinsdtaft nicht aus der Gefühlhaftigkeit suchten, sondern zu einem Gespann werden muFten, weil der Karren, auf dem ihr Schid^sal fährt, nur gemeinsam aus dem Schlamm gezogen werden kann. Wie viele Affekte haben sidt nidtt schon durch den ZusammensdtluF einzelner zu einer equipe lösen lassen! Wirklichkeit und Geist der equipe würden audt bei unseren Völkern die Affekte überwinden, und seilte es so schwer sein sich zusammenzuspannen, wo doch jeder einzelne spürt, daF wir alle miteinander nur Sdtiffbrüdtige auf dem FloF der Meduse sind? Wenn wir bisher im Dschungel und daher nach dem Gesetz des Dsdtungels lebten, warum madten wir uns dann nidtt daran, diesen Dschungel gemeinsam zu lidtten und an Stelle des Dsdtun-

gelgesetzes das Gesetz des Mensdten zu stellen? Dazu wird es einer Reihe politischer Verträge bedürfen, und man sollte mit allen Kräften und mit allem guten Willen darangehen, solche Verträge auszuhandeln.

Je nüdtterner man dabei verfahren wird, desto besser wird es sein, denn nichts trägt mehr dazu bei, die Atmosphäre zwisdten Völkern zu vergiften, als enttäuschte Hoffnungen und im Feuer der Realitäten verdampfte Illusionen.“

Carlo Schmid in „Deutschland—Frankreich“, Dtsch. Verlagsanstalt, Stuttgart (1954)

* Die eminente, internationale moral-politische Bedeutung der Lösung der Saarfrage auch für das Problem der Wiedervereinigung im deutschen Osten hat vielleicht der Präsident des Deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier, am treffendsten charakterisiert:

„Auch für Frankreich ist die Rüdtkehr des Saarlandes nadt Deutschland ein Triumph der politischen Moral. Die Rückkehr der Saar ist darum nidtt nur ein nationales Ereignis, sondern sie ist audt ein Beitrag zu der Frage, ob denn in den Völkern Europas nadt dem zweiten Weltkrieg neue Gedanken und eine bessere politische Moral wirksam sind.

Kein Volk ringt sidt leicht von jahrzehnte-und jahrhundertealten Vorstellungen los. Und für die Franzosen ist es nidtt leicht gewesen, auf alte Lieblingsvorstellungen zu verzidtten; alte Wünsdte nationaler Madttpolitik, die auf Einverleibung des Saargebietes in den französischen Staatsverband, auf die Befestigung französisdter Vormadttstellung in Europa geridttet waren. Um so höher wissen wir die Entscheidung zu würdigen, die Frankreidts Regierung und Parlament in Sachen der Saar dodt sdtlieFlidt getroffen haben.

Die Rückkehr der Saar war eine Bewährungsprobe für die Kraft eines neuen Denkens, Fühlens und Wollens der in Freiheit lebenden europäischen Völker. Uns sie ist eine Hoffnung dafür, daF der unter ihnen wadt gewordene Wille zum Zusammenwachsen und friedlichen Zusammenleben nidtt mehr erlischt. Wjr verkennen nidtt die grundlegend andere Situation in Mitteldeutschland und an den Ostgrenzen des Rei-

dies. Wir ignorieren nidtt, daF die uns damit gestellten Fragen und Aufgaben der Wiedervereinigung wesentlich gröFere, ja weltpolitische Proportionen angenommen haben. Dennoch wird es erlaubt sein zu sagen, daF die Rückkehr des Saarlandes für uns ein neuer Auftakt, eine Ermutigung und ein Antrieb sein soll für das Ringen aller Deutsdten um die friedliche Wiederherstellung ganz Deutsdtlands und das freundliche Zusammenwirken unseres geeinten Volkes mit allen unseren Nachbarn in West und Ost, in Nord und Süd!“ (10. Januar 1957)

Und doch würde man an der tieferen Problematik der positiven Gestaltung des wirklich „Neuen“ im heutigen Deutschland vorbeisehen, wenn man die außenpolitischen und die engstens mit ihnen verbundenen wirtschaftsund wehrpolitischen Notwendigkeiten der Neuordnung Deutschlands völlig isoliert von den ideenpolitischen und geistigen Aspekten der europäischen Lösung des Deutschland-Problems betrachten und werten wollte. Denn alle außenpolitische und wehrpolitische Sicherung kann niemals als ein Ziel für sich erstrebt werden. Sie muß grundsätzlich der Sicherung aller konkreten Freiheiten dienen, aus denen heraus sich die neue Ordnung der politischen und geistigen wie auch der sozialen und wirtschaftlichen Lebensgemeinschaft des deutschen Volkes entwickelt. Diese neue Ordnung kann aber nur aus dem Geiste der westlichen Demokratie und der abendländischen Kulturtraditionen geschaffen werden, wenn das deutsche Volk wirklich die fundamentalen Lehren aus dem katastrophalen Zusammenbruch von 194 5 zieht und wenn alle Bemühungen um den Aufbau und die Wiedergesundung der deutschen Existenz überhaupt sinnvoll und dauerhaft sein sollen.

Diese Einsicht verlangt die Kraft und intellektuelle Ehrlichkeit, die tragischen Fakten der geschichtlichen Entwicklung in der deutschen Politik und im deutschen Rechtsdenken der letzten 150 Jahre zur Kenntnis zu nehmen. Es zeigt sich dann, daß das Selbständigwerden des europäischen Faktors „deutscher Politik“ genau so alt ist wie die Formeln und Erscheinungen jenes „europäischen Gleichgewichtes“, das im Jahre 194 5 endgültig verlorenging. Die Geschichte erweist, daß die Deutschen leider von dieser, vor allem außenpolitischen Selbständigkeit, d. h. von ihrer Mittel-und Mittlerstellung, oftmals den denkbar schlechtesten Gebrauch gemacht haben. Der Hauptgrund hierfür ist wohl, daß diese Freiheit von den ehemaligen Bindungen an den politischen ordo des alten Europa, der durch die Französische Revolution aufgelöst wurde, ihnen auch die verhängnisvolle Freiheit brachte, sich zugleich in fortschreitendem Maße von den Bindungen an den aufgelockerten geistigen ordo und die ethisch-politischen Traditionen des Westens zu lösen.

Ernst Troeltsch und Friedrich Meinecke haben in den bereits erwähnten Gewissenserforschungen diese Entwicklung und ihre tragischen Folgen mit einer Eindringlichkeit dargestellt und die von ihnen gezogenen Folgerungen für alles ernsthafte Bemühen um eine ethische und moral-politische Erneuerung deutscher Existenz haben einen derart allgemein-verbindlichen Charakter, daß sie uneingeschränkt zum Maßstab der Beurteilung des neuen ethisch-politischen Wollens und der „geistigen Situation“ in Deutschland dienen können. Mit ihrer Hilfe kann wirklich ein verstehender Zugang zu der geistigen Situation des neuen Deutschland und ihrer fundamentalen Bedeutung für die Wiedergesundung der deutschen Existenz gefunden werden.

Reduziert man diesen Sachverhalt auf die einfachste Form eines allgemein-politischen Verständnisses, so erscheint sie als jene Frage des geistig-politischen Aufbaus, um deren Klärung und praktische Lösung man in Deutschland seit 1945 ehrlich und leidenschaftlich, wie durchaus erfolgreich gerungen hat.

„Die Grundlage des GeuieiMsd'iaftslebens iw Staate und unter den 'Völkern wu^ wieder die Hod'iacktung und der Respekt vor den Rechten der Einzelperson und den Völkern werden, vor Rechten, die nidtt willkürlich geschaffen, sondern tief im Naturrecht verankert sind. Wenn wir nicht den Staat wieder seiner Allmacht entkleiden, wenn wir uns nicht von der Vorstellung wieder frei machen, daß der Staat willkürlich Recht sdtaffen und Redit aufheben kann, wenn man nicht für den einzelnen Mensdren wie für die Völker Redtte anerkennt, die im Naturredtt verankert, darum nicht geändert oder entzogen werden können, dann wird keine Ruhe, keine Ordnung, keine Sicherheit mehr auf Erden sein. Unsere drristlidre Überzeugung verpflichtet uns. diesen Gedanken des Rechtes zu stärken und neu zu beleben!" (Adenauer, 1950).

Zum Verständnis der geistigen Situation im neuen Deutschland gehört darum auch in erster Linie die Erkenntnis des fundamentalen Wandels, welcher sich seit 194 5 in den rechtsphilosophischen Grundlegungen und ideenpolitischen Inhalten der Begriffe von Freiheit und Demokratie im Verhältnis zu den Auffassungen im alten Deutschland vollzogen hat. Der neue Begriff von Freiheit und Demokratie offenbart den bewußten Anschluß an die geistigen Traditionen des westlichen Personalismus und seiner naturrechtlichen Demokratie. Er hat bewußt mit der positivistischen Verengung des Freiheitsbegriffes des ehemaligen Deutschland wie auch selbst mit dem liberalistischen Formalismus der Weimarer Demokratie gebrochen.

Im Freiheitsbegriff der neuen deutschen Verfassungen ist bereits ebenso eindeutig der geistige Anschluß an den westlichen Personalismus und die Naturrechtstraditionen ausgesprochen, wie in dem auf sie gegründeten Begriff der Demokratie der politische Anschluß an die europäischen Ordnungen des echten volkssouveränen Demokratismus und Parlamentarismus notwendig vollzogen werden mußte.

Die im verfassungs-und sozialrechtlichen Aufbau vollzogene geistige Entscheidung des neuen Deutschland für das Abendland hat die Notwendigkeit seiner Entscheidung für die politische Gemeinschaft mit dem Westen, d. h. mit Europa und Amerika, unausweichlich gemacht! In diesem Sinne erhält die Parole von Gentz auch heute wiederum einen ebenso rechtfertigenden wie verpflichtenden Charakter: Europa ist durch Deutschland gefallen, durch Deutschland muß es wieder emporsteigen!

Anmerkung:

Dr. Edgar Alexander, geb. 13. Juni 1902 zu Saarbrücken, ein führender deutsch-amerikanischer Soziologe und Historiker,, der in New York lebt; Autor zahlreicher Bücher zur alten und neuen Geschichte, darunter „Der Mythus Hitler", „Deutsches Brevier", „Die Kirche und die soziale Frage", „Catholicisme Vivant", „Christianity and the Middle East", „Church and Society in Germany", „Adenauer and the New Germany". Der hier veröffentlichte Essay ist eine erweiterte deutsche Bearbeitung der englischen Originalausgabe: „Western Heritage and European Unity", New York 1953 und erscheint demnächst in erweiterter Buchform mit ausführlichen Anmerkungen im Palus-Verlag. Wesentliche Quellenangaben — auf die hier aus Raum-gründen verzichtet wurde — sind außerdem zu finden in den diesbezüglichen Arbeiten in der großen ENCYCLOPEDIAAMERICANA, vor allem „Rom and Western Christianity" and „Russian Messianism and the Middle East". Ferner sei verwiesen auf die soeben im Paulus-Verlag erschienene 4. Auflage der „Politischen Ethik" von Friedrich Wilhelm Foerster, in welcher derselbe u. a. auch ausführliche Auszüge und Quellen aus dem in Vorbereitung befindlichen Werke des Verfassers: The Western World and the East. Personalism versus Collectivism, gibt.

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