Der Begriff der „Stalin-Legende"
Als es bekannt wurde, daß der Erste Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, in seinem Rechenschaftsbericht an den XX. Parteikongreß (14. 2. 1956) den Namen des in der Berichtsperiode verstorbenen „genialnyj woshdj“
„Kurz uadi dem 19. Parteitag riß der Tod Josef Wissarionowitsch Stalin aus unseren Reihen. Die Feinde des Sozialismus hatten darauf gerechnet, es würden möglicherweise Bestürzung in den Reihen unserer Partei, Zwistigkeiten in ihrer Führung, Sdtwankungen in ihrer Innen-und Außenpolitik eintreten. Aber diese Rechnung ging nicht auf. .
2); als weiterhin festzustellen war, daß auch Anastas Iwanowitsch Mikojan, Erster Stellvertretender Ministerpräsident der UdSSR und Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU, in seiner Diskussionsrede vom 16. 2.
1956 nur ein einziges Mal Stalin erwähnt hatte, noch dazu in außerordentlich kritischer Weise:
„Bei der Analyse des Standes der Ökonomik des modernen Kapitalismus kann uns der bekannte Ausspruch Stalins in den „Ökonomischen Problemen des Sozialismus in der UdSSR“ über die USA, England und Frankreidt, wonach nadt der Spakung des Weltmarktes „der Umfang der Produktion in diesen Ländern zurückgehen wird“, wohl kaum helfen und dürfte kaum richtig sein. Diese Behauptung nidit und erklärt die komplizierten widerspruchsvollen Ersdteinungen des modernen Kapitalismus^tsüd die Tatsache, daß die kapitalistisdie Produktion nadt dem Kriege in vielen Ländern gewachsen ist 123) 45, da ging ein Raunen durch die Weltpresse. Das „sensationelle“
Ereignis, daß Stalin von den neuen Führern totgeschwiegen oder gar kritisiert worden war, wurde mit größtem Erstaunen konstatiert. „Die Kommunistische Partei der Sowjetunion hat auf ihrem XX. Parteikongreß in Moskau den vor knapp drei Jahren gestorbenen Diktator Josef Stalin offiziell von seinem Thron gestürzt“, meldete AP am 19. Februar 1956 aus Moskau, und Schlagzeiten verkündeten „Moskau wendet sich von Stalin ab“ /„Mikojan hält die entscheidende Verdammungsrede“ 4), „Absage an Stalins Methoden“ /„Sensationelle Rede Minister Mikojan auf de
berichtet, von „erstaunlichen Purzelbäumen“, die die „Artisten des Kreml-Zirkus vollführt“ hätten
Dabei stand zu diesem Zeitpunkt die wirkliche „Sensation“, die sogenannte Geheim rede Chruschtschows, noch aus. Am 24. und 25. Februar 1956 hielt der Erste Parteisekretär Nikita Sergejewitsch Chruschtschow ein umfang-und inhaltreiches Referat über Stalin auf einer Geheimsitzung, zu der lediglich die 1355 sowjetischen Delegierten des Parteitages zugelassen waren. Der vollständige Text dieser epochemachenden Rede (bzw. einer für die ausländischen kommunistischen Parteien bearbeiteten Fassung davon) ist dem State Department in die Hände gespielt worden und wurde zunächst in Washington (am 4. 6. 1956), dann auch anderswo veröffentlicht
Aber schon viel früher, schon am 19. 3., sind entscheidende Bruchstücke der Stalinkritik Chruschtschows im Ausland bekannt geworden, da die sowjetische Zensur über diese Geheimrede am 17. 3. 1956 aufgehoben worden war. Die meisten Zeitungen kommentierten die
Enthüllungen über die schweren Irrtümer und die bestialischen Verbrechen von Stalin, und über den grotesken Personenkult, der mit ihm getrieben wurde, mit Schlagworten, die überraschend schnell populär geworden sind: Entthronung des Diktators, Entgötterung Stalins, Zerstörung der Stalin-Legende, Schluß mit dem Stalin-Mythos, Entstalinisierung in der Sowjetunion und so weiter. So wurde der Ausdruck „Stalin-Legende“, der vorher nur von wenigen gebraucht worden war, sehr rasch zu einem geläufigen Begriff für den durchschnittlichen Zeitungleser. Gute Kenner der sowjetischen innenpolitischen Entwicklung haben weder in dem Referat Mikojans, noch selbst in Chruschtschows scharfer Abrechnung mit Stalin eine „plötzliche Kehrtwendung“ gesehen, denn der Prozeß der Entstalinisierung und der Liquidierung des Führer-kults hatte sofort mit dem Tode des Diktators eingesetzt. „Vieles von dem, was über Lenin urd Stalin an Positivem und Negativem im Laufe des Parteitages in Moskau gesagt wurde, ist keine Überraschung und erst recht keine Sensation. Die Revision der sowjetischen Politik war schon während der letzten drei Jahre zu erkennen"
Lind sogar lange vor dem XX. Parteitage ist von Autoren, denen der Begriff
Lind sogar lange vor dem XX. Parteitage ist von Autoren, denen der Begriff „Stalin-Legende“ schon längst kein Novum mehr war, vorausgesagt worden, daß dem Stalin-Mythos in nicht zu ferner Zeit ein Ende gesetzt werden wird. So schrieb die Verfasserin der vorliegenden Arbeit bereits im November 1955 in. einem Artikel über die unschuldigen Opfer der georgischen Sicherheitsbeamten, die — nach einer Meldung von Radio Tiflis — hingerichtet worden waren: „Es ist möglich, daß der Fall Orachelaschwili den Auftakt zu einer allmählichen Liquidierung der Stalin-Legende bildet“ 8 ). Schneller und gründlicher als man damals ahnen konnte, ist mit den glorifizierenden Geschichtsfälschungen und dem Personenkult um Stalin aufgeräumt worden.
I. Die Stalin-Legende -ein historisches Faktum
1.) Die alten Geschichtsquellen Stalin-Biographien (Boris Souvarine, Paris 193 5; Victor Serge, Paris 1940; Leo Trotzkij, Paris 1948; Isaac Deutscher, Oxford University Press 1949; Nikolaus Basseches, Bern 1950; Achmed Amba, Hamburg 19 51; A. W. Just, München 19 5 3) geben ein mehr oder weniger getreues Bild der Persönlichkeit Josef Stalins und seiner politischen Tätigkeit, wobei uns zunächst interessieren soll, welche Rolle Stalin in der Zeit bis zum Tode Lenins gespielt hat.
An Hand jedes der genannten Bücher könnte man zahlreiche Beweise für das Faktum bringen, daß an die Stelle des wahrheitsgetreuen Tatsachenberichtes die Legende getreten ist, und zwar gilt dies gleicherweise für die zaristische Zeit wie für die Oktobertage 1917 und für die folgenden Jahre. Statt einer Fülle von Beispielen wollen wir uns auf eins beschränken — auf die Oktober-Revolution —, dieses aber gründlich erörtern.
In John Reed’s „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“
Einige Zitate aus dem Buche mögen die Rolle Trotzkijs in diesen historischen Tagen, die der amerikanische Korrespondent John Reed miterlebt hat, erläutern.
„ 28. Oktober: ... Auf Befehl Trotzkijs Auslieferung einiger tausend Gewehre an die Delegierten der Petrograder Arbeiter (S. 41);
Trotzkij: „Die Regierung bereitet die Konterrevolution vor;
wir werden darauf mit einer Offensive antworten, die erbarmungslos und entscheidend sein wird“ (S. 42); Am 29. schlug Trotzkij in einer öffentlichen Sitzung des Petrograder Sowjets die formelle Anerkennung des Revolutionären Kriegskomitees durch den Sowjet vor (S. 60); Trotzkij : „Die Revolte ist das Recht aller Revolutionäre. Wenn sich die niedergedrückten Massen erheben, so ist das ihr Recht“ (S. 80); Mittwoch, 7. November: ... Es war eine bedeutsame Sitzung gewesen. Im Namen des Revolutionären Kriegskomitees hatte T rotzkij das Ende der Provisorischen Regierung verkündet. . . .
„Wir, die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-und Bauerndeputierten, sind im Begriff, ein Experiment zu machen, das in der Geschichte Über die revolutionäre Tätigkeit der russischen Sozialdemokraten 14) bis zum Jahre 1917, über die Oktoberrevolution, über den Bürgerkrieg und die erste Phase des Aufbaus der jungen Sowjetmacht gibt es — außerhalb der Grenzen der Sowjetunion — auch heute noch eine ganze Anzahl zuverlässiger Quellenwerke. Am unmittelbarsten sprechen den Leser die Erlebnisbücher an, die einige Autoren spontan nach ihrer Teilnahme an der weltbewegenden Umwälzung geschrieben haben. Ich meine vor allem:
Jaques S a d o u 1 : „Notes sur la Revolution Bolchevique“, Paris 1919. John Reed: „Ten Days that Shook the World“, Boni & Liveright, New York 1919.
M. Philips Price: „My Reminiscences of the Russian Revolution“, George Allan & Unwin, London 1921.
M. Philips Price: „Pjatj Ijet wlasti sowjetow" (Fünf Jahre Sowjet-
macht), Moskwa 1922.
Nikolaj N. Suchanow: „Sapiski o Revoluzii" (Aufzeichnungen über die Revolution), Moskwa 1922.
Alexander G. Schlapnikow : „Sjemnadzatyj God“ (Das Jahr 1917), Moskwa 1923.
L. Krizman: „Geroitscheskij period Welikoj Russkoj Revoluzii“
(Die-heroische Periode der russischen Revolution), Moskwa 1924.
Ossip Pjatnitzkij : „Sapiski Bolschewika" (Aufzeichnungen eines Bolschewisten), Leningrad 1925.
Aber auch aus einigen Büchern, die mehrere Jahre nach dem Tode Lenins erschienen sind, gewinnt man einen Einblick in die Frühzeit der Sowjetunion. Memoirenwerke (V. Bontsch-Brujewitsch: „Na bojewych -postach fevralskoj i oktjabrskoj revuluzij" /Auf den Kampf-posten der Februar-und Oktoberrevolution, Moskwa 1930; Leo Trotzkij: „Mein Leben“, Berlin 1930; Henri Guilbeaux: „La fin des soviets“, Paris 1937; Angelika Balabanowa: „My Life as a Rebel“, New York/London 1938; Victor Serge: „Memoires d’un revolutionnaire“, Paris 1951; Isaac Steinberg: „In the Workshop of the Revolution“, Rinehart, New York 195 3); oder historische Darstellungen (M. N. Pokrowskij: „Oktjabrskaja Revoluzija“ /Die Oktober-Revolution, Moskwa 1929; Leo Trotzkij: „Geschichte der russischen Revolution“, S. Fischer Verlag, Berlin 1931; Arthur Rosenberg: „Geschichte des Bolschewismus“, Rowohlt Verlag, Berlin 1932), und schließlich nicht seinesgleichen hat. Wir gehen daran, eine Regierung zu bilden, die kein anderes Ziel kennen wird, als das Wohl der Arbeiter-, Soldaten-
und Bauernmassen" . .. Dann hatte T r o t z k i j mitgeteilt, daß man die Front von dem Siege der Revolution in Kenntnis gesetzt habe (S. 95); die Männer des alten Zentralkomitees verließen die Tribüne. An ihre Stelle traten Trotzkij, Kamenjew, Lunatscharskij, Frau Kollontaj, Nogin. Der ganze Saal hatte sich erhoben, sie mit stürmischem Beifall begrüßend (S. 98); Trotzkij winkte mit der Hand um Ruhe: .. In diesem Moment, wo . . . die ganze Aufgabe der Verteidigung und der Rettung der Revolution auf unseren Schultern ruht, heißt es vor allem: arbeiten, arbeiten, arbeiten!
Wir sind entschlossen, lieber zu sterben als nachzugeben“ (S. 119);
Den ganzen Nachmittag hatten Lenin und Trotzkij gegen die Kompromißler zu kämpfen gehabt . . . Aber Lenin und ihm zur Seite Trotzkij standen wie ein Fels (S. 136); Und dann, als Kamenjew die Liste der Kommissare verlas, stürmischer Jubel nach jedem Namen, vor allem nach Lenins und T r o t z k i j s (S. 152);
Darauf Trotzkij, selbstsicher, faszinierend, ... die Masse zu sich emporreißend: „. . . Die Tatsache unseres Sieges ist der sicherste Beweis dafür, daß wir nicht isoliert waren . . . LInsere Revolution wird die klassische Revolution der Geschichte bleiben . . .“ (S. 156, 157); Und die Massen jubelten ihm (Trotzkij) zu, zu kühnem Wagen entflammt bei dem Gedanken, daß sie berufen sein sollten, die Vorkämpfer der Menschheit zu sein (S. 15 8); Trotzkij:
„Wir haben die Macht erobert. Jetzt müssen wir sie halten! .. . Wir haben unsere Debatten jetzt auf die Straße verlegt . . . Wir alle, und ich im besonderen, übernehmen die Verantwortung für alles, was jetzt geschieht.“ . . . Dann noch einmal Trotzkij, feurig, unermüdlich, Befehle gebend, Fragen beantwortend . . . (S. 223, 225); Im Petrograder Sowjet entschlossener Siegeswille. Bewaffnete Männer.
Trotzkij berichtend: „Die Kosaken beginnen sich von Krassnoje Sjelo zurückzuziehen“'(Jubelnder Beifall) . . . (S. 237); T rotzkij :
„Der Sieg über unsere Gegner ist noch nicht vollständig, und die Zeitungen sind die Waffen, deren sie sich bedienen . . . Wenn wir die Banken nationalisieren, sollen wir da die Finanzzeitungen dulden?
Die alte Ordnung muß sterben!“ (S. 296, 297); Am 27. (November)
erschien im Smolny eine Delegation von Kosaken, die Lenin und Trotzkij zu sehen wünschten (S. 316); Am 20. November überreichte Trotzkij den Gesandtschaften der Alliierten eine Note: ... Ich habe die Ehre, Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß am 8. November der Allrussische Sowjetkongreß eine neue Regierung konstituiert hat: den Rat der Volkskommissare. . . .
Die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten ist mir anvertraut worden als dem Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten . . .
(S. 317); Am nächsten Morgen richtete Trotzkij einen neuen Appell an die Truppen (S. 319); Lind dann begann die Siegesfeier.
... Trotzkij voll hinreißenden Feuers: „. . . Es gibt nur noch einen Herrn des russischen Landes. Das ist der Bund der Arbeiter, Soldaten und Bauern! . . . Eine neue Menschheit wird . . . geboren werden!" (S. 342, 343).
Es ist hier selbstverständlich nicht die Frage, wie man zur russischen Oktober-Revolution steht, sondern lediglich: Flat Trotzkij — neben Lenin — eine aktive Rolle in den entscheidenden Tagen gespielt, oder war Stalin der überlegene Führer? Wie groß war der Anteil eines jeden an diesem historischen Umsturz, absolut und relativ? .
John Reed erklärt Trotzkijs Aktivität für überragend. Trotzkijs Name kommt in der Reportage dieses Augenzeugen am allerhäufigsten vor (siebzigmal). Und im Unterschied zu mehreren der ältesten Anhänger Lenins, die gerade im entscheidenden Jahr 1917 in ihrem Eintreten für die Machtergreifung der Bolschewiki oder in ihrer Einstellung zu den ersten Regierungsmaßnahmen eine schwankende Haltung gezeigt haben (vor allem Lunatscharskij, Sinowjew, Kamenjew, Rykow, Miljutin und Nogin, ferner auch Larin, Rjasanow, Losowskij, Arbusow, Jurenjew, und sogar vorübergehend Schlapnikow und Theodorowitsch), steht Leo Trotzkij — kämpfend, befehlend, argumentierend, die Massen anfeuernd und begeisternd — als einziger unerschütterlich an Lenins Seite „wie ein Fels“.
Diese beiden, Lenin und Trotzkij, haben die ganze Revolution gemacht, das sieht jeder, der das Buch liest. Neben ihnen werden in einzelnen Phasen des Geschehens Antonow-Owsejenko, Podwojskij, Dybenko, Krylenko, Schlapnikow, Kamenjew und Wolodarskij als besonders aktiv hervorgehoben, und außer diesen acht erwähnt John Reed noch ungefähr dreißig andere Bolschewiki, annähernd zwanzig von ihnen mehrmals, die übrigen wenigstens einmal.
Von Josef Stalin jedoch hat John Reed, dieser hervorragende Beobachter und Reporter, nichts zu berichten. Der spätere große „Held der Oktobertage“ und „Ratgeber Lenins“ taucht nicht ein einziges Mal handelnd oder redend auf. Lediglich auf zwei Dokumenten ist Stalins Name zu finden (S. 153, 286). Lenin hatte den Georgier als Volkskommissar für das Nationalitätenwesen vorgeschlagen; seine Kandidatur war bestätigt worden. Das war alles.
Das Buch von John Reed „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“, das von Nadjeshda Konstantinowna Krupskaja (Lenins Frau) ins Russische übersetzt wurde, galt jahrelang als eine der besten Quellen für das Studium der Oktobertage. Lenin selbst hatte ja das Vorwort
„Mit dem größten Interesse und mit niemals erlahmender Aufmerksamkeit habe idi John Reed’s Buch „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ gelesen. Ich empfehle es ohne jede Einschränkung den Arbeitern der Welt. Dies ist ein Budr, das idi in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Spradien übersetzt wissen mödite. Es gibt eine wahrheitsgetreue und außerordentlich lebendige Darstellung der Ereignisse ..."
Ende 1919 W. I. Lenin Philips Price, zu jener Zeit Korrespondent des „Manchester Guardian“ in Rußland, schildert den Oktoberumsturz ganz ähnlich wie John Reed. Sein Erlebnisbericht beginnt mit der Märzrevolution 1917 und reicht bis Ende des Jahres 1919
„Die Bolsdiewiki wurden von Trotzkij geführt, der nun Vorsitzender des ausschließlidt bolschewistischen Petrograder Sowjets war (S. 128) . . . Auf einer Sitzung des Petrograder Sowjets hielt Trotzkij eine zündende Rede (S. 142) ... Am folgenden Morgen, dem 7. November, ging ich wieder in den Smolny, wo der Petrograder Sowjet eine Sitzung abhielt .... Trotzkij hatte den Vorsitz (S. 143) ... An diesem Abend telegrafierte idt dem Mandiester Guardian: Man konnte beobaditen, daß der rechte Flügel der Bolsdiewiki nicht einverstanden ist mit der Demagogie Lenins und Trotzkijs, die den neuen Rat der Volkskommissare beherrschen ... Lenin und Trotzkij scheinen sich in billige Ausgaben von Robespierre verwandeln zu wollen.“
(S. 148.)
Das ganze Buch hindurch steht Trotzkij als handelnde Person im Vordergrund; auf 51 Seiten ist ausführlich von ihm die Rede. Hingegen wird Stalin nur zweimal ganz beiläufig erwähnt, im letzten Siebentel des Buches. Aus der Phase der Oktobertage weiß der Reporter nichts über ihn zu berichten.
Hören wir noch einige andere Zeugen über die „Bedeutung Stalins zur Zeit der Oktoberrevolution!
Wir hatten bereits als wertvolle Geschichtsquelle das Erlebnisbuch von Ossip Pjatnitzkij „Aufzeichnungen eines Bolschewisten“ (Sapiski bolschewika) genannt, ein Buch, das die Erinnerungen des Autors aus den Jahren 1896 bis 1907 umfaßt und im Jahre 192 5 erschienen ist. Sehr viele Bolschewiki, mehr oder weniger oder kaum bekannte, spielen in den Aufzeichnungen von Pjatnitzkij eine Rolle. Stalin jedoch wird überhaupt nicht erwähnt; sein Name kommt nicht einmal im Index vor. Dabei war Ossip Pjatnitzkijs Leben — wie Leo Trotzkij betont — „eng mit der ganzen Geschichte der Partei verbunden , und Pjatnitzkij wurde später zum eifrigen Gefolgsmann Stalins
„Einer der Historiker dieser Periode, der linke Menschewik Suchanow . . sagt in seinen unersetzlichen „Aufzeichnungen über die Revolution": „Au^er Kantenjew hatten die Bolschewiki damals Stalin im Exekutivkomitee . . . Während der Zeit seiner bescheidenen Tätigkeit . . . machte er — und nicht nur auf mich allein — den Eindruck eines grauen Fledts, der gelegentlich auftaucht und wieder verschwindet, farblos, und ohne eine Spur zu hinterlassen. Mehr ist wirklich nicht über ihn zu sagen".
„Suchanow hat seine Weigerung, mehr über ihn zu sagen, später mit dem Leben bezahlt,“ fügt Trotzkij hinzu 19).
Jakob Moneta, der Verfasser eines interessanten Kommentars zu der offiziellen stalinistischen „Geschichte der Kommunistischen Partei der UdSSR"
„Lenin war der geniale Staatsmann, Trotzkij der geniale Heeresorganisator und Radek der geniale Diplomat. Keine Revolution kann sich rühmen, drei solche Talente hervorgebrad'it zu haben . .
In dem zweibändigen wissenschaftlichen Werk Sombarts „Der proletarische Sozialismus“ (Gustav Fischer Verlag, Jena 1924), dem dieses Zitat entnommen ist (Band II, S. 540), könne man Stalin nicht einmal im Namenregister finden“, schreibt Moneta, während „nicht nur Lenin, Trotzkij, Sinowjew, Bucharin, Radek, sondern auch Kalinin, Lunatscharskij, Lawrow, Tschitscherin, Tomskij u. a. aufgeführt“ seien
Ähnliche Zeugnisse — aus Geschichtswerken Anfang der zwanziger Jahre — gibt es eine beträchtliche Menge. Sie alle stimmen mit den Augenzeugenberichten über die Oktobertage darin überein, daß Stalin im entscheidenden historischen Moment eine Null war und in der gleich darauf folgenden Epoche eine kaum drittrangige Figur, nicht des Erwähnens wert; Trotzkij hingegen — und nur er neben Lenin — ist der ausschlaggebende Mann des Oktoberumsturzes gewesen.
In der ersten Ausgabe der „Gesammelten Werke“ von Lenin steht über Trotzkij zu lesen:
„Nadtdem der Petersburger Sowjet in die Hände der Bolsd'iewiki übergegangen war, wurde er (Trotzkij) zu dessen'Vorsitzendem gewählt, und in dieser Eigensdiaft organisierte und leitete er den Aufstand vom 25. Oktober
Diese Anerkennung der historischen Rolle Trotzkijs entspricht durchaus den Tatsachen. Lenin selbst war erst am 24. Oktober (6. November) 1917 abends aus seinem Untergrundversteck heraus in den Smolny gekommen und hatte sofort gesehen, daß Trotzkij und die übrigen Führer „den Rubikon ohne ihn überschritten hatten“. Als danach die Zusammensetzung der neuen Regierung diskutiert wurde, schlug Lenin vor, Trotzkij solle an ihrer Spitze stehen, denn er (Trotzkij) habe „den erfolgreichen Aufstand geleitet, der es ermöglicht hat, diese Regierung zu bilden“
Völlig in Übereinstimmung mit Lenin befindet sich der bekannte Historiker Leonard Schapiro. In seinem Werk „The Origin of the Communist Autocracy“ schreibt er über die Oktobertage (IV. Kapitel): „T r o t z k i j hatte Lenins Führerstellung im Juli (1917) anerkannt. Nadtdem er am 17. September gegen Bürgschaft aus dem Gefängnis entlassen worden war, wuchs sein Einfluß auf den Petrograder Sowjet.
Wahrscheinlich hätte Trotzkij die Oktober-Revolution ohne Lenin machen können, jedenfalls in Petrograd.
... Während der kritischen Wochen, in denen der Aufstand geplant und verwirklicht wurde, hielt Lenin sich versteckt ...
Trotzkij stand in Petrograd im Mittelpunkt der Ereignisse ... Die (untersdiiedlidien S. L.) Taktiken der beiden Führer waren notwendig für den Erfolg der Revolution und ergänzten einander. Ohne Lenins Organisation außerhalb der Hauptstadt hätte die Machtergreifung nicht gesichert werden können. Ohne Trotzkijs Regiekunst wäre der Staatsstreich möglicherweise von den Massen nicht unterstützt worden ... Daß die Oktober-Revolution siegte — und sie war deshalb siegreich, weil die Machtergreifung in der Verbrämung einer demokratischen Aktion vor sich ging —, das war Trotzkij zu verdanken
Von den deutschen Historikern der russischen Revolution wollen wir zuletzt noch Arthur Rosenberg zitieren, den Autor eines Werkes über die Entwicklungsgeschichte der bolschewistischen Idee
*> Rosenberg gibt zunächst eine bestechende Analyse für das Zusammengehen der ehemaligen Opponenten Lenin und Trotzkij im Jahre 1917, m. a. W. die Erklärung für Trotzkijs Entschluß, Bolschewik zu werden, da er „in Lenins Taktik seit dem März 1917 eine Annäherung an die alten Trotzkijschen Lehren“ sah, und fährt dann dort:
„Trotzkij brachte zwar den Bolschewisten keine nennenswerte Zahl von Anhängern mit, aber dafür seine eigene revolutionäre Persönlichkeit, die sich in den kommenden kritischen Zeiten so glänzend entfalten konnte. Je mehr Widerstand Lenin bei den altbolschewistischen Führern wie Kantenjew und Sinowjew fand, um so enger schloß er sich an Trotzkij an, in dessen unerschütterlicher Tatkraft er seine beste Stütze erbliclite (S. 96) ... Wenn im Herbst 1917 auch Lenin gesd'ieitert wäre, dann wäre in Rußland nicht eine ruhige demokratische Entwicklung, sondern grauenhaftes anarchisches Chaos gekommen ... Davor haben die Bolschewiki das russisdte Volk bewahrt ... Aber die Bolsdtewiki haben die Revolution nidtt gemacht, sondern Lenin und T rotzkij erkannten, daß um zwölf Uhr die große anarchische Revolte kommen würde ... Eine scharfe Verfolgung der Partei setzte ein ... Trotzkij saß in Haft, und Lenin mußte in der Illegalität untertauchen ... Trotzkij wurde befreit, Lenin freilich mußte sich weiter in Finnland verbergen (S. 101).
In der Parteileitung war die Gruppe Sinowjew-Kamenjew gegen den Aufstand ... Aber mit Hilfe Trotzkijs setzte Lenin seine Meinung durch (S. 109). ... Der Petersburger Sowjet, der ganz unter bolsdtewistisdtem Einfluß stand, bildete ein militär-revolutionäres Komitee, und alle Truppen der Hauptstadt erklärten, daß sie nur diesem Komitee und nicht dem Generalstab gehorchen würden. Die treibende Kraft des militär-revolutionären Komitees war Trotzkij. Mit jenem Beschluß der Petersburger Truppen hatte eigentlid'i die Revolution in der Hauptstadt schon gesiegt, bevor auch nur ein Schuß gefallen war (S. 109, 110). ...
Die Lage war damals am 4. (17.) November noch undurchsichtig. ... Sämtliche Parteien und politischen Gruppen Rußlands hatten sich gegen den bolschewistischen Aufstand erklärt, und nun schloß sich nodt eine widetige Gruppe in der eigenen Parteiführung den Gegnern an. Die Lage sdtien in der Tat hoffnungslos. Aber Lenin und Trotzkij widmen nicht einen Schritt zurück ... ('S. 111). ... T r o t zki j wurde Volkskommissar für den Krieg und legte seine ganze Energie in den Aufbau der Roten Armee“ (S. 118).
Stalin kommt bei der Schilderung des Oktoberumsturzes nicht vor, und auch Rosenberg bezeugt somit die Inferiorität dieses Mannes im Vergleich zu der überragenden revolutionären Persönlichkeit Leo Trotzkijs.
Der glaubwürdigste Zeuge für die historisch bedeutsame Rolle Trotzkijs und also gegen den Stalin nach 1924 dürfte aber wohl Stalin selbst sein, der S t a I i n v o n 19 18. Zum ersten Jahrestag der Oktoberrevolution schrieb Josef Stalin in seinem Gedenkartikel:
„Die ganze praktisclte Arbeit, die mit der Organisierung des Auf-standes verbunden war, wurde unter der unmittelbaren Leitung des Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, des Genossen Trotzkij, geleistet. Man darf mit Gewißheit behaupten, daß die Partei den schnellen Über-gang der Garnison auf die Seite der Sowjets und die wirkungsvollen Arbeitsmethoden des Militärischen Revolutionskomitees in erster Linie und hauptsächlich dem Genossen Trotzkij verdankt“ 27). 2 .) Die stalinistische Geschichtsschreibung Zwanzig Jahre nach jenem PRAWDA-Artikel Stalins über die Oktoberrevolution ihren letzten Tropfen Blut hinzugeben für die Sache der Arbeiterklasse. sah die „historische Wahrheit“ völlig anders aus. In der... (Seite 167).
„Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki)“ r S t u r z des Zarismus i m F e b r u a r 1917. ... Lenin, der
„Auf Anweisung des Zentralkomitees der Partei wurde beim Petrograder Sowjet ein „Revolutionäres Militärkomitee“ gebildet, das zum legalen Stab des Aufstandes wurde. ...
Am 16. Oktober (1917) fand eine Sitzung des erweiterten Zentral-komitees der Partei statt. Auf dieser Sitzung wurde das Partei-zentrum zur Leitung des Aufstandes mit dem Genossen Stalin an der Spitze gewählt. Dieses Parteizentrum war der führende „Kern“ des Revolutionären Militärkomitees des Petrograder Sowjets und leitete praktisch den ganzen A u f s t an d“ 29).
Wo es in den alten Darstellungen der Oktoberrevolution „Lenin und Trotzkij“ geheißen hatte, stand nun „Lenin und Stalin“ in den Büchern. So finden wir in der zweibändigen Enzyklopädie der LIdSSR folgende Darstellung:
„Auf der erweiterten Sitzung des ZK vom 16. Oktober wurde eine Zentrale Parteistelle mit Stalin an der Spitze zur Leitung des Aufstandes gewählt. Sie wurde dem Revolutionären Militärkomitee eingegliedert und leitete dessen Tätigkeit. ... Am frühen Morgen dieses Tages (24. Oktober = 6. November 1917) wurde das Zentralorgan der Bolschewiki „Rabotschij Putj“ verboten, Redaktion und Druckerei der Zeitung von den Fahnenjunkern besetzt. Diese wurden jedoch auf Weisung Stalins von Rotgardisten und revolutionären Soldaten vertrieben. ... Am Abend des 24. Oktobers traf Lenin im Smolny ein ... und übernahm die unmittelbare Leitung des Aufstandes. ... Ein Komplottversuch der Fahnenjunker wurde am
Beim aufmerksamen Vergleich dieser späteren „historischen“ Darstellung mit jener der Augenzeugen der Oktoberrevolution wird die enorme Diskrepanz zwischen den beiden Versionen jedem unvoreingenommenen Leser evident. Sie bedarf keines weiteren Kommentars.
Besonders groteske Züge nahm die stalinistische Geschichtsschreibung in den für die Jugend bestimmten Geschichtsbüchern an. Im Lehrbuch für die 3. und 4. Klasse (Verfasser: A. Schestakow)
„Lenin geht ins Ausland. „U n t e r g r u n d“ -A r b e i t Stalin s i n R u ß l a n d. ... Genosse Stalin, Lenins Gehilfe und Waffen-bruder, blieb in Rußland. Seine glühende Energie feuerte die Bolschewiki an bei ihrer beharrlid'ien sdtweren Arbeit. Im Jahre 1908 wurde Genosse Stalin abermals verhaftet und nach Sibirien verbannt; aber weder Gefängnis noch Verbannung konnten Stalins eisernen Willen brechen. ... Dieser unbeugsame Revolutionär gab nicht nach. ... Lenin im Ausland und Stalin „unterirdisch“, im geheimen, in Rußland arbeitend, führten den großen Kampf für den Sozialismus fort, stets aus dem Ausland Briefe sandte, und die Bolschewiki in Rußland, deren Führer der aus der Verbannung zurüd^gekehrte Stalin war, erklärten dem Volke das wahre Wesen der Provisorisdten Regierung ...
(Seife 179).
Die Sozialistische Revolution. ... Die Arbeit der (Petrograder)
Konferenz wurde von Lenin und Stalin geleitet. ...
Lenin und Stalin riefen die Bolsdtewiki auf, die Massen zum Kampf für die Sozialistische Revolution zu organisieren. ... Die Konferenz nahm die Vorschläge Lenins und Stalins an. ... Ende Juli (1917) fand der 6. Kongreß der Bolschewistisdien Partei in Petrograd statt. Lenin war nicht anwesend auf dem Parteitag. Er lebte int Versteck. Die Arbeit des Parteikongresses wurde von dem Genossen Stalin geleitet. ... Das Zentralkomitee der Bolschewistischen Partei setzte ein Kampfzentrum ein zur Leitung des Aufstandes, ein spezielles Komitee, an dessen Spitze Stalin stand. ... Gleich in den ersten Tagen nadt dem Siege der Großen Proletarischen Revolution begannen Lenin und Stalin, den Sowjetstaat in der Form einer brüderlichen sozialistischen Union aller Nationalitäten zu organisieren ... (Seite 181 bis 193).
Es genügte der stalinistischen Geschichtsschreibung jedoch nicht, Trotzkij nur mit Schweigen zu übergehen. Seine revolutionären Verdienste wurden in konterrevolutionäres Wreditelstwo (Schädigung, Schädlingstätigkeit) umgelogen. Das sieht z. B. in der „Geschichte der Kommunistischen Partei“ so aus:
„Was Trotzkij und einige seiner näheren Freunde betrifft, so waren sie — wie sich später herausstellte — der Partei nicht beigetreten, um in ihr zu arbeiten und ihr zu nützen, sondern um sie zu zersetzen und sie von innen heraus zu sprengen
Entsprechend sind natürlich in dem oben genannten Lehrbuch für die Grundschule die geschichtlichen Ereignisse tendenziös derart verzerrt, daß Trotzkij als „Verräter“ erscheint:
„Friede mit Deutschland. ... Aber Trotzkij, der ganz offensidttlidt den Deutschen in die Hände spielte und sie zu einer neuen Offensive gegen das unbewaffnete Sowjetland provozieren wollte, bradt die Friedensverhandlungen (in Brest-Litowsk) ab. ... Diese Gebietsverluste waren die Folge von dem Verrat Trotzkijs und Bucharins, die alles taten, was sie nur irgend konnten, um das Zustandekommen des Friedensvertrages zu verhindern. Lenin und Stalin waren dafür, den Friedensvertrag unter diesen ungünstigen Bedingungen abzusdiließen, weil sie überzeugt waren, daß in Deutschland die Revolution siegreich sein werde, und daß in Rußland die Sowjetregierung 'an Macht zunehmen werde; so werde es ihr gelingen, eine Rote Armee aufzustellen und das ganze verlorene Territorium wiederzugewinnen. ... Die Rote Armee wurde im Jahre 1918 geschaffen ..." (Seite 198/199).
Daß jedoch niemand anders als Trotzki j, der Volkskommissar für das Heerwesen, diese Rote Armee schuf und befehligte, wird selbstverständlich verschwiegen.
In dem Geschichtslehrbuch für die 9. Klasse findet man über die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk folgende Sätze: „Die Verräter Trotzki j und Bucharin, die in Wirklicltkeit den deutschen Imperialisten halfen, unternahmen wütende Angriffe gegen Lenin. Sie wünsditen die Sowjetmacht mit Hilfe der deutschen Bajonette abzuwürgen. . . . Die Deutschen warteten nur auf einen günstigen Vorwand, den Krieg von neuem zu beginnen. Diesen Vorwand gab ihnen Trotzki j. Er übertrat die Anweisungen Lenins und Stalins, den Friedensvertrag zu untersdtreiben. ... Das war ein ungeheuerlicher Verrat. ... Außer den Verrätern Trotzkij und Bucharin sowie den Sozialrevolutionären traten ukrainische bürgerliche Nationalisten und andere Gegenrevolutionäre als Helfershelfer der Deutschen auf“
Zu welchen grotesken Verleumdungen Stalin diese völlig grundlos erhobenen Beschuldigungen gegen Trotzkij und andere Oppositionelle später noch steigerte, ist zur Genüge bekannt geworden: mit der perfiden Unterstellung, Trotzkij habe in Brest „Verrat“ begangen, hatte es begonnen; es folgte die Diffamierung Trotzkijs, Bucharins und anderer durch die Behauptung, die politischen Gegner Stalins wollten den Kapitalismus wiederherstellen, und schließlich gipfelten die Anschuldigungen in der widersinnigen Verleumdung, die Oppositionellen seien Agenten feindlicher Mächte, Lenin-Attentäter, Saboteure, Landesverräter und Volksfeinde, sie hätten Mordanschläge auf Stalin und andere Führer geplant und hätten im Dezember 1934 Sergej Kirow ermordet, eine Anklage, auf Grund deren die meisten Kampfgefährten Lenins liquidiert wurden, manche, nachdem sie in Schauprozessen „Geständnisse“ abgelegt hatten, viele auch ohne Gerichtsverfahren, im geheimen. 3 .) Kritiker und Kommentatoren -Quellenfälschung und Quellenvernichtung Es gibt heute schon eine beinahe unübersehbare Fülle von Veröffentlichungen über die Geschichte der Sowjetunion, und fast in jedem Werk finden sich Hinweise darauf, wie die Literatur über die historische Entwicklung durch Vernichtung oder Verfemung der ursprünglichen Quellen und durch Stalins Dekrete verfälscht worden ist.
In seiner historischen Studie „Three Who Made a Revolution“ stellt Bertram D. Wolfe Betrachtungen darüber an, wie wenig Authentisches doch über Stalins Jugend bekannt s'ei. Er führt dieses Manko auf die Verschüttung der Quellen aus der Frühzeit Stalins und auf die späteren Fälschungen zurück:
„Es ist eine merkwürdige Tatsad^e: in keiner seiner Biographien gewinnt Stalin wirkliches Leben. .. . Sein Bild bleibt sdiattenhaft, blut-leer, gekünstelt. ... Jeder ausländisdte Beobachter hat sich über die Geheimniskrämerei, die Stalin umgibt, Gedanken gemacht. An seinem 50. Geburtstag (1929) nahm selbst die PRAWDA in einem Artikel „Das Rätsel Stalin“ von dieser Tatsache Notiz. Die offiziellen Biographen, Männer, die sowohl Arbeits-wie Mußestunden gemeinsam mit Stalin verbracht hatten (Jenukidse, Berija, Jaroslawskij), schreiben so sonderbar, als rekonstruierten sie das Leben eines Mannes, der sdwn längst von der Szene abgegangen ist. In ihren Werken scheint das, was weggelassen wurde, bemerkenswerter als das, was drin steht. Und das, was mitgeteilt wird, ähnelt einer Studie aus der Gelehrtenstube. Es wirkt so, als ob es extra nach einem vorgesdtriebenen Muster fabriziert worden sei. Auf Schritt und Tritt ist man von Unklarheiten und Widersprüchen umgeben. ... Sogar die Versionen, die Stalin selbst diktiert hat, widersprechen einander bisweilen, nod-i dazu im Hinblick auf die elementarsten Tatsadten. Protokolle wurden vernidttet, verändert, unterdrückt ... Berge von Dokumenten, historischen Chroniken, Partei-berichten, Memoiren sind verboten oder verbrannt worden . ..“
Der berühmte Biograph Stalins, Isaac Deutscher, schreibt, im Jahre 1936, kurz nach Vorlegung der neuen Konstitution, habe sich Stalin auf die „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion“ gestürzt, die er zum „ersten genauen und — in Bezug auf die bolschewistische Doktrin — zuverlässigen Werk“ habe machen wollen. In diesem Kurzen Lehrgang „wurde die ganze Geschichte der Partei neu geschrieben, und zwar im Lidite der Prozesse. Alle früheren Bücher, selbst die von Stalins engsten Anhängern, wie Jaroslawskij, wurden für apokryph erklärt und aus dem Buchhandel zurüd^gezogen, denn in ihnen allen war die Geschichte so dargestellt, daß sie mit den neuesten „Entdedtungen“ nicht in Einklang zu bringen war. ... Als Inspirator der Prozesse wurde Stalin dem Publikum nicht sichtbar; vielmehr ersdtien er vor ihm in der Rolle des Philosophen, des Historikers und des Sdtöpfers der Verfassung“ 37).
Ähnlich wie Isaac Deutscher kommentierte auch Immanuel Birnbaum die „offizielle Biographie Stalins“ und die „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion":
„... Diese im Stil der Kirchenhistoriker des Altertums und der mittelalterlidien Heiligenlegenden gesdtriebenen Lehrbücher wollen den Leser glauben machen, daß der große Mann immer das Riditige getroffen habe und daß jedes seiner Worte, wenn man es nur konkret auf die jeweilige Situation anwendet, tiefe Wahrheiten enthalte. ... Ein praktischer Politiker, dessen gesdiidttlidie Leistung darin besteht, wie er mit rüdtsiditsloser Energie und taktischer Schläue maditpolitisdie Sdtwierigkeiten gemeistert hat, wird auf diese Weise in eine Rolle hineingesteigert, in der er sich gar nicht von seiner besten Seite zeigen kann“
Auf dem XX. Parteitag der KPdSU forderten zwei der bedeutendsten Diskussionsredner — die Historikerin Anna M. Pankratowa und der Erste Stellvertretende Ministerpräsident der UdSSR, Anastas I.
Mikojan —, die Stalinsche Geschichtsschreibung müsse gründlich revidiert und insbesondere müsse ein neues Lehrbuch der Oktoberrevolution und der Geschichte der KPdSU geschrieben werden.
„Ist es etwa normal“, fragte Mikojan, „daß wir fast vierzig Jahre nach der Oktoberrevolution weder ein kurzes nodr ein vollständiges marxistisch-leninistisches Lehrbudt über die Geschidite der Oktoberrevolution und des Sowjetstaates haben, in dem nicht nur die Fassade, sondern das ganze vielseitige Leben der sowjetisdien Heimat ohne Beschönigung gezeigt werden? ... Die wissensdiaftlidie Arbeit auf dem Gebiete der Geschichte unserer Partei und der Sowjetgesellsdiaft ist der wohl am weitesten zurückgebliebene Abschnitt unserer ideologischen Arbeit.“
Und in der Rede der Historikerin Pankratowa (PRAWDA, 22. 2.
1956) heißt es;
„Die Erinnerungen der alten Bolschwiki könnten ... unsere partei-geschichtliche Literatur mit dem Fluidum jener Epoche und dem Geist lebendigen Lebens erfüllen. .., Wir brauchen eine zusammenfassende Geschichte der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und der Sowjetgesellschaft. Dieses Budt muß wissenschaftlichen Charakter haben, fesselnd gesdtrieben sein und unserer jungen Generation, die die Früdtte des großen Oktobersieges genießt, zeigen, daß sich unser Sieg nidu von selber eingestellt bat ..
Audi Chruschtschow selbst hatte schon am 14. Februar 1956 in seinem „Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU an den XX. Parteitag“ die Notwendigkeit betont, „ein populäres, auf den historischen Tatsachen fußendes marxistisches Lehrbuch für die G e-schichte der Partei ..." und andere wichtige Lehrbehelfe zu schaffen. Für die Abfassung dieser Lehrbücher müßten aus den Archiven des MWD alle sekretierten Dokumente zur Verfügung gestellt werden, forderte Anna Pankratowa in der Diskussion.
Das Dokumentenmaterial, zu dem die sowjetischen „Historiker“ keinen Zugang hatten, ist ebenso vielseitig wie umfangreich. Es gehören dazu: die Protokolle der Märzkonferenz 1917, die nicht zu veröffentlichen Stalin allen Grund hatte; die Artikel Stalins in der PRAWDA aus derselben Zeit — in Stalins „Werken“ sucht man sie vergebens —; die Protokolle der Sitzungen des Zentralkomitees über die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk (Januar-Februar 1918), die später von Stalin in schamloser Weise gefälscht worden sind; die letzten politischen Aufzeichnungen Lenins, und zwar: der Brief an den Parteitag, der bekanntlich auch als Lenins „Testament bezeichnet wird; die Notizen „Über die Ausstattung der GOSPLAN mit gesetzgeberischen Funktionen", die Anweisung „Über die Erhöhung der Zahl der ZK-Mitglieder" und die Richtlinien „Zur Frage der Nationalitäten oder der , Autonomisierung‘". Diese von Lenin etwa ein Jahr vor seinem Tode (23. Dezember 1922 bis 4. Januar 1923) diktierten politischen Dokumente sind in der Sowjetunion zum ersten Male nach dem XX. Parteitag veröffentlicht worden
An die Stelle des „Geschichtsgeschreibsels“ mancher sowjetischer Historiker, sagte Mikojan, die z. B. „einige komplizierte und widerspruchsvolle Ereignisse des Bürgerkrieges ... durch angebliche Schädlingstätigkeit" Einzelner erklären wollen, muß wieder das Studium der authentischen zeitgenössischen Quellen treten. Mikojan dachte dabei vermutlich in erster Linie an die Zeitungen, Zeitschriften, Regierungserklärungen, Sitzungsprotokolle, Parteibeschlüsse usw., vielleicht auch an Augenzeugenberichte, Briefe und Memoirenwerke aus der vorrevolutionären (zaristischen) Zeit, den Oktobertagen, der Bürgerkriegs-epoche und der Periode des Aufbaus, aber offensichtlich meinte er nur Veröffentlichungen von Autoren, die „auf dem Standpunkt des Marxismus-Leninismus“ stehen. Eine wirklich freie Geschichtsforschung dürfte sich jedoch nicht auf bolschewistische Quellen beschränken, sondern müßte alles erreichbare historische Material einbeziehen, z. B. das siebenbändige Memoirenwerk des linken Menschewiken N. N. Suchanow
Von höchstem Interesse für eine künftige Geschichtsforschung dürften wohl die echten historischen Dokumente über den Kronstadter Aufstand sein: die Flugblätter, Proklamationen und Erklärungen, die Aufrufe und Funksprüche der „Rebellen" von Kronstadt, denn schon damals, 1921, ist ja die Geschichte gefälscht worden, wenn auch — zu jener Zeit — noch nicht mit dem Ziele der Glorifizierung Stalins. Audi die Veröffentlichungen der verschiedenen oppositionellen Gruppen sind überaus wertvoll für den Historiker: die „Plattformen“ der Arbeiter-Opposition (Alexander G. Schlapnikow, Alexandra M. Kollontaj, S. Medwedjew) und der Arbeiter-Wahrheit (Alexander A. Bogdanow); die Reden und Artikel der diesen beiden Gruppen nahe-stehenden linken Oppositionellen G. I. Mjasnikow und J. Lutovinow;
die Plattform der Gruppe Demokratischer Zentralismus (Ossinskij, T. W. Sapronow. V. N. Maximowskij, W. M. Smirnow); die Erklärung der
Maxim G o r k i j s, die an seinem Todestag (18. 6. 1936) von der NKWD beschlagnahmt worden sind und nie veröffentlicht wurden
Alle diese und ähnliche Dokumente sind seit Jahr und Tag — und einige seit 3 5 Jahren! — sekretiert, und kein sowjetischer Historiker kennt ihren wirklichen Inhalt. Wenn sich einmal die Archive für alle Interessenten offen, wird endlich auch das Material zum Vorschein kommen, das die Vorgeschichte der großen Säuberung (1936— 1938) » der „Jeshowschtschina“
Zur unmittelbaren Vorgeschichte der , Tschistka‘
„Der am Tatort ergriffene Mörder erwies sich als Mitglied einet unterirdischen konterrevolutionären Gruppe, die sidi aus Teilnehmern der antisowjetisdten Sinowjewgruppe in Leningrad organisiert hatte ... (S. 310).
Die Untersudtung ergab, daß sich 1933/34 in Leningrad aus früheren Anhängern der Sinowjew-Opposition eine unterirdische konterrevolutionäre Terroristengruppe gebildet hatte, an deren Spitze das sogenannte „Leningrader Zentrum“ stand. Diese Gruppe setzte sidi das Ziel, die Führer der Kommunistischen Partei zu ermorden. Als erstes Opfer hatten sie sich S. M. Kirow ausersehen. Aus den Aussagen der Teilnehmer dieser konterrevolutionären Gruppe ging hervor, daß sie mit Vertretern ausländischer kapitalistischer Staaten in Verbindung standen und von ihnen Gelder erhielten ... Bald danadt wurde auch das Vorhandensein eines unterirdisdten konterrevolutionären „Moskauer Zentrums“ nadxgewiesen. Die Untersudiung und die Geridttsverhandlung ded^ten auf, welche sdiändlidte Rolle Sinowjew, Kamenjew, Jewdokimow und andere Führer dieser Organisation ... bei den Vorbereitungen zur Ermordung von Mitgliedern des Zentralkomitees und der Sowjetregierung gespielt hatten ... Die Sinowjewleute ...
verheimlidtten vor Gericht ... ihre Verbindung mit Trotzkij. Sie verheimlichten, daß sie sich gemeinsam mit den Trotzkisten an den faschistischen Spionagedienst verkauft hatten ... Die Sinowjewisten verheimlichten vor dem Gericht ihre Verbindung mit den Budiarin-Leuten und leugneten das Vorhandensein einer vereinigten trotzkistisch-budtarin- sdien Bande von Söldlingen des Faschismus. Der Mord an dem Genossen Kirow war, wie sich später herausstellte, von dieser vereinigten trotzkistisch-bucharinschen Bande verübt worden ... (S. 311).
Der Hauptinspirator und Hauptorganisator dieser ganzen Bande von Mördern und Spionen war der Judas Trotzkij ... (S. 312).
In den Trotzkisten und Sinowjew-Leuten hatte der Faschismus treue Lakaien gewonnen, die ... auf eine Niederlage der Sowjetunion ausgehen, um den Kapitalismus wiederherzustellen. ... (S. 315)
Diese „Feststellungen“ des Gerichts, die Stalin den Vorwand lieferten, nicht nur die gesetzliche Strafe für „politische Attentäter“ (selbst innerhalb der bolschewistischen Partei)'zu verschärfen, sondern darüber hinaus ein Regime des uneingeschränkten totalen Terrors zu errichten, mit Hilfe dessen er sich aller Rivalen und aller Mitwisser seiner politischen Vergangenheit entledigte, sind seit langem als Geschichtsfälschungen eines geradezu ungeheuerlichen Ausmaßes erkannt und angeprangert worden. Es gibt außerhalb der Sowjetunion eine umfassende Literatur über den Fall Kirow und die auf ihn folgenden schauerlichen Prozesse.
Alle Geschichtsschreiber stimmen darin überein, daß S. M. Kirow im Jahre 1933/34 als einziger im Politbüro dafür eingetreten ist, die Machtbefugnisse des staatlichen Sicherheitsdienstes zu beschränken, da er der Meinung war, daß nach dem Erfolg des sozialistischen Aufbaus eine rigorose terroristische Diktatur keine Existenzberechtigung mehr habe.
„Hoffnungen auf ein milderes Regime waren mit der Person S. A 4.
Kirows, des Parteisekretärs von Leningrad, verknüpft
plädierte bei Stalin für Milde gegenüber der Opposition
.. Man fürchtete die eiserne Faust der GPLI nicht mehr so stark. Kirow ging am weitesten tn der Beschränkung ihrer Madit ... Es war allgemein bekannt, daß es Kirow war, der im Jahre 1933 das Politbüro dazu überredete, nidu das Blut eines Parteimitgliedes seiner Überzeugung wegen zu vergießen . ..
Beim Parteikongreß im Februar wurde Kirow mit einer Ovation begrüßt ... Seine feurige Rede war eine wahre Hymne auf die neue Ära, die anbrach; sie wurde von den Massen mit lautem Beifall ausgenommen"
Die Frage, welches Motiv denn eigentlich die „trotzkistisch-sinowjewistisch-budiarinsche Bande“ hätte haben sollen, Sergej Kirow zu ermorden, beantwortet sich von selbst. Nur dem ist Kirows Tod gelegen gekommen, der die Geschichte dieses Mordes gefälscht hat, niemandem sonst. Diese Erkenntnis liegt auch den Ausführungen Kriwitzkijs zugrunde:
der Tod Kirows, des Mannes, der sidn Stalin in den Weg gestellt hatte, als er die Todesstrafe auch für Bolsdiewisten einfültren wollte, öffnete das Tor für Stalins große Säuberung. Die Ermordung Kirows wurde zu einem Wendepunkt in Stalins Laufbahn. Mit ihr begann die Ära der öffentlichen und geheimen Prozesse gegen die bolschewistische Alte Garde, die Ära der „Geständnisse" ... (S. 204).
Nikolajews Tagebuch war offenbar der Kernpunkt des Falles Kirow ... Dodt kein Wort von dem, was darin stand, ist jemals zu Ohren des Publikums gelangt..." (S. 206)
Auf dem XX. Parteitag äußerte Nikita Chruschtschow, der Verdacht scheine begründet,. „daß der Mörder Kirows, Nikolajew, von jemandem unterstützt wurde, dessen Pflicht es gewesen wäre, Kirows Person zu schützen", mit anderen Worten also: Stalin hat die Tschekisten der „Geheimen Staatssicherheitskommission“ angewiesen, den Leningrader Parteisekretär S. M. Kirow, der damals Stalins Popularität überschattete zu ermorden.
Wenn auch die Ermordung Kirows das letzte Signal zur Entfesselung des Tschistka-Terrors war, so reicht doch die Vorgeschichte der Jeshow-schtschina viel weiter zurück.
In seiner Geheimrede sprach Nikita S. Chruschtschow von einem Telegramm, das Stalin und A. A. Shdanow am 25. September 1936 von Sotschi (am Schwarzen Meer) an L. M. K a g a n o w i t s c h und W. M. Molotow schickten; es enthielt die dringliche Anweisung, N. I. Je-show an Stelle von G. G. Jagoda zum Volkskommissar für Innere Angelegenheiten zu ernennen:
«... Jagoda hat sich endgültig als unfähig erwiesen, den Block der Trotzkisten und Sinowjewisten zu entlarven. Die GPU
Lind schon am 26. September „beschloß“ das Präsidium des Allunions-Zentralexekutivkomitees (WZIK) die Ablösung Jagodas durch Jeshow. Es begann die Jeshowschtschina, die nach Meinung Stalins schon vier Jahre früher hätte einsetzen sollen.
Was es mit diesen „vier Jahren Verzug“ auf sich hat, analysiert der international bekannte, im Jahre 1923 aus Moskau emigrierte und jetzt in New York lebende russische Sozialist Boris I. Nikolajewskij in seinem Artikel „Chruschtschow o prestuplenijach Stalina" (Chruschtschow über die Verbrechen Stalins)
Im Herbst 1932, vom 28. September bis zum 2. Oktober, tagte das Plenum des Zentralkomitees, auf dem ein heftiger Kampf um die Verhängung der Todesstrafe gegen die Rädelsführer der Oppositionsgruppe um Rjutin entbrannte. Der aus Sibirien (Gouv. Irkutsk) stammende Rjutin, der sich im Bürgerkrieg gegen Koltschak ausgezeichnet hatte, sich später als Parteisekretär eines Moskauer Rayons „verdient“ machte — Victor Serge
„Der Sekretär der Parteizelle im Militärisdten Nadirichtendienst, zu der ich gehörte, bat mich, einer geheimen Sitzung beizuwohnen, in der unser Chef, der General Bersin, über den Fall Rjutin beriditen werde. Der Sekretär wies midi darauf hin, daß nicht alle Angehörigen der Zelle zu dieser Sitzung eingeladen würden, da die Sache außerordentlich vertraulich sei.
Bersin las uns Auszüge aus Rjutins geheimem Programm vor, in denen Stalin als der „große Agent-Provocateur, der Zerstörer der Partei" bezeichnet war, als „der Totengräber der Revolution und Rußlands" G 61). Die westliche Welt erhielt Kenntnis von der politischen „Plattform“ Rjutins durch den „Brief eines Altbolschewiken"
„Auf einer Schreibmasdiine geschrieben nahm dieser Entwurf (der „Plattform“ Rjutins) im ganzen etwas über 200 Seiten ein. Davon waren mehr als 50 Seiten der Charakteristik der Person Stalins gewidmet ... und der These, daß ohne Entfernung Stalins weder die Gesundung der Partei nodt die des Landes möglich ist. Diese Seiten waren sehr kraftvoll gesdtrieben und machten tatsäddich großen Eindruck auf den Leser ..."
Stalin forderte, daß Rjutin, Gorelow und noch zwei andere Führer dieser Oppositionsgruppe als „Terroristen“ erschossen würden. Im Politbüro jedoch erklärten sich Ordshonikidse, Kirow und Kuibyschew dagegen, die Todesstrafe an Anhängern einer innerparteilichen Opposition zu vollziehen, und Stalins Antrag auf Erschießung Rjutins wurde abgelehnt. So begann die große Tschistka nicht 1932, sondern erst vier Jahre später — nach dem Tode Sergej Kirows und Valerian Kuibyschews. Aüf das Telegramm aus Sotschi vom 26. September 19 36 folgte ein chiffriertes Telegramm Stalins an Jeshow. Es enthielt den Befehl, „die Opposition physisch zu vernichten“.
Ein nicht minder interessantes und in der Sowjetunion bisher unbekanntes historisches Dokument ist noch ein anderer „Brief eines Altbolschewiken“. Es handelt sich um einen Offenen Brief an Stalin, den ein alter Bolschewist, der ehemalige sowjetische Gesandte in Bulgarien, Fjodor Fjodorowitsch Raskolnikow, am 17. August 19 39 aus Paris an Stalin schrieb:
„Stalin! Sie haben midi für außerhalb des Gesetzes stehend erklärt. ..
Idi gebe Ihnen die Eintrittskarte für das von Ihnen aufgebaute Reich des „Sozialismus“ zurück und breche mit Ihrem Regime ...
A 4if Hilfe schmutziger Fälschungen haben Sie Gerichts-prozesse inszeniert, die mit ihren dummen Anschuldigungen die mittelalterlichen Hexenprozesse, von denen Sie aus Ihren Lehrbüchern vom Priesterseminar her wissen, weit übertreffen ... Wo sind die Helden der Oktober-Revolution? .. . Sie haben sie verhaftet, Stalin! Wo ist die alte Garde? Sie lebt nidit mehr. Sie haben sie erschießen lassen, Stalin!
... In der lügenhaften Parteigeschichte, die unter Ihrer Leitung verfaßt wurde, haben Sie die toten, ersdilagenen und von Ihnen beschimpften Menschen beraubt und sidi deren Taten und Verdienste zugeschrieben ... Sie locken alle Sowjetbotschafter nadi Moskau und vernichten dort einen nach dem anderen ...
Früher oder später wird das Sowjetvolk Sie auf die Anklagebank als Verräter des Sozialismus und der Revolution, als Hauptsdiädling, als wahren Volksfeind und Organisator des Hungers und der Fälschungen setzen“
F. F. Raskolnikow soll wenige Wochen nach Veröffentlichung seines „Offenen Briefes an Stalin“ schwer erkrankt und in geistiger Umnachtung in Nizza gestorben sein. Einer anderen Version zufolge ist Raskolnikow von GPU-Agenten vergiftet worden (Alexander Barmin, Leo Trotzkij u. a.).
Selbst wenn man von Grigorij Bessedowskij absieht, der im Jahre 1929 aus der sowjetischen Botschaft in Paris geflüchtet ist und dessen Enthüllungen Anfang der dreißiger Jahre mit ebensoviel Interesse wie Schrecken in Deutschland gelesen wurden, war der sowjetische Gesandte in Bulgarien, F. F. Raskolnikow, nicht der erste und nicht der einzige abtrünnige Diplomat; er war nicht einmal der erste, der sich weigerte, nach Moskau zu kommen, als 1938 — während die „Säuberung“ des Diplomatischen Corps in vollem Gange war — ein Gesandter nach dem anderen zurückberufen wurde.
Vor ihm hatte bereits Alexander Barmin, Geschäftsträger in Athen, die Rückkehr verweigert, und mit diesem Schritt Raskolnikow gewarnt, in die Falle zu laufen. Im-Juni 1937, als in Moskau die besten Militärs der Roten Armee erschossen wurden, als im Außenamt und im Handelskommissariat die „Säuberung" wütete, als zahlreiche im Ausland tätige Altbolschewisten nach Rußland abberufen wurden und dort einen schmachvollen Tod fanden, erklärte Alexander Barmin seinen Rücktritt vom diplomatischen Dienst. Er flüchtete im Juli 1937 nach Paris und ging später von dort in die USA.
„Die Schüsse, die in den Gefängnissen Stalins geknallt hatten, haben dem Leben Tausender von Unschuldigen ein Ende gesetzt, die ehrlich für Sowjetrußland und den Sozialismus gekämpft haben. Dieser sinnlose Terror hat in mir den letzten Rest von Glauben zerstört, der mich in meinem Dienst für die Sowjets aufrecht erhalten hatte ... Stalin, den der Schatten seiner revolutionären Vergangenheit verfolgte, in der er nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, war entschlossen, jede Spur dieser Vergangenheit auszumerzen. Dazu blieb ihm nur ein Weg offen: die physische Verniditung der „Altbolschewisten“, die sich an die damaligen Ereignisse erinnerten
In jeder Hinsicht besonders interessant sind die Fälle der abtrünnigen Geheimagenten.
Über Ignaz Reiß, den Chef des sowjetischen Spionagedienstes in Westeuropa, berichten fast alle Chronisten. Seine Ermordung (September 1937) erregte größtes Aufsehen. Louis Fischer
Ludwig hatte sed'izehn Jahre für die GPU gearbeitet. Am 17. Juli 1937 schrieb er der sowjetischen Regierung einen Brief, voll von Schmähungen über Stalin ...
Er sdiickte den Orden zurück, den er für vorbildliche Arbeit für die Sadie der Revolution erhalten hatte. Denselben Mut, den er im Dienste der GPU gezeigt hatte, bewies er nun, als er den Bruch vollzog. Er schrieb den Brief und gab ihn bei der Pariser sowjetischen Botschaft ab ... (S. 338).“
Auch Victor Serge war mit Ignaz Reiß befreundet gewesen. In seinen Memoiren
„Reiß verbarg sidi jetzt in der Schweiz. Wir verabredeten uns mit ihm für den 5. September 1937 in Reims. Zuerst warteten wir am Bahnhofsbüfett auf ihn, dann im Postamt. Er erschien nicht . .. Im Zug nadi Paris lasen wir in einer Zeitung, auf der Straße von Chamblandes, bei Lausanne, sei der von Kugeln durchlödierte Körper eines Fremden gefunden worden, in dessen Taschen eine Fahrkarte nadi Reims gewesen sei .. . Drei Tage später erzählte Elsa Reiß, die Witwe, den Fall ... Die Sdtweizer Presse sdirieb, ein Gestapo-Agent sei von seinen Kollegen ermordet worden. Keine Pariser Zeitung wollte unsere Enthüllungen publizieren ..."
Der bekannte Chef der Gegenspionage Alexander Orlow
„Im Sommer 1937 wurden etwa vierzig Beamte unter versdtiedenen Vorwänden aus dem Ausland zurückberufen .. . Der erste, der sidi weigerte, der Rückberufung Folge zu leisten, war Ignaz Reiß. Mitte Juli 1937 sandte er an die Sowjetbotschaft in Frankreidt einen Brief, worin er das Zentralkomitee der Partei davon unterrichtete, er habe mit der Gegenrevolution Stalins gebrochen ...
Als Stalin den Bericht über den „Verrat“ von Reiß erhalten hatte, befahl er Jeshow, Leute ins Ausland zu entsenden. Ihre Instruktion lautete, Reiß, seine Frau und sein Kind zu beseitigen ...
Sofort verließ eine „Fliegende Gruppe“ aus der „Verwaltung für Sonderausgaben“ Moskau und begab sich nadt der Sdtweiz, wo Reiß verborgen lebte ... In den frühen Morgenstunden des 4. September (1937) wurde Ignaz Reiß'Leichnam auf der Landstraße in der Nähe von Lausanne, von Kugeln durchlödiert, aufgefunden ...
Die Ermordung von Reiß wurde mit soldter Eile ausgeführt, daß er keine Zeit mehr fand, die Enthüllung'en ü b e r S t a I i n nieder-zuschreiben, die er sehnlichst zu veröffentlidten wünsdite.“
Den umfassendsten Tatsachenbericht über die tragische Affäre Ignaz Reiß und über die Einzelheiten seiner Ermordung durch die GPU hat sein Freund und Kollege Walter Kriwitzkij
„Ich kam im Haag am 27. Mai (1937) an. Zwei Tage später besuchte mich mein alter Freund und Kamerad Ignaz Reiß. Er gehörte seit Jahren unserem Geheimdienst an und führte das Pseudonym , Ludwig'. Reiß war durdt die Säuberung der Alten Bolschewiki und die „Hodtverratsprozesse“
tief ersdtüttert und bereits fest entschlossen, mit Moskau zu brechen ... Stalins Politik schien ihm immer deutlicher eine Fortentwicklung zum Fasdtismus.“
Walter Kriwitzkij suchte seinen verzweifelten Freund zu beruhigen und entgegnete ihm, ein guter Soldat laufe nicht während der Schlacht davon, sondern bleibe auf seinem Posten. Am 17. Juli hatten die beiden Freunde noch einmal eine kurze Zusammenkunft in einem Pariser Cafe.
Am selben Abend erfuhr Kriwitzkij durch den Stellvertretenden Leiter der Außenpolitischen Abteilung der GPU, daß Reiß seine Rücktrittserklärung an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei geschickt hatte. In diesem Briefe, an den Generalsekretär der Partei, Stalin, heißt es:
„Bis heute bin ich Ihnen gefolgt. Von heute an gehe idi nidit einen Sdiritt weiter mit. Unsere Wege trennen sich! Wer in dieser Stunde schweigt und den Dingen ihren Lauf läßt, wird zu einem Komplizen Stalins, zum Verräter an der Sadte der Arbeiterklasse und des Sozialismus.
...
Die Wahrheit wird siegen. Der Tag der Abrechnung ist näher, viel Mäher, als die Herren im Kreml glauben ... Nichts wird vergessen und nidtts vergeben werden. Der „geniale Führer“, der „Vater des Volkes“, die „Sonne des Sozialismus“ wird zur Redtensdtaft gezogen werden.
Alle werden gegen den Tyrannen Zeugnis ablegen, sie, die fälschlich angeklagt wurden, die erschossen wurden, obwohl sie unschuldig waren. Ich kann nidtt länger mitmachen. Ich kehre in die Freiheit zurück — zurück zu Lenin, zu seinen Lehren und seiner Sadie.
PS. Im Jahre 1928 ist mir der Orden vom Roten Banner für meine Verdienste um die proletarisdie Revolution verliehen worden. Ich gebe ihn hierdurdi zurück. Den gleid^en Orden mit Männern zu tragen, die die Henker der Besten unter den russischen Arbeitern sind, ist unter meiner Würde“
Drei Monate, nachdem es den Stalin-Jeshowschen Mördern gelungen war, den abtrünnigen Ignaz Reiß umzubringen, vollzog Kriwitzkij, der in Wirklichkeit Ginsburg hieß, den Bruch mit Moskau.
Samuel Ginsburg, geboren 28. Juni in der Ukraine, wurde mit 1899 22 Jahren politischer Kommissar in der Roten Armee; in den dreißiger Jahren war er Chef des Geheimen Nachrichtendienstes in Westeuropa und hatte den Rang eines Generals. Ende März 1937 reiste Kriwitzkij zu wichtigen Besprechungen nach Moskau, wo die große Säuberung in vollem Gange war. „... die große Säuberung, die alles wegfegte, die just jene vernidttete, welche am härtesten für den Aufbau eines Staates gearbeitet hatten, in dem niemand länger seinen Mitmensdien ausbeuten sollte“ 70).
Nadi zweimonatigem Aufenthalt in der Sowjetunion kam Walter Kriwitzkij wieder nach Holland.
„Obwohl midi die Erlebnisse in Moskau ersdtüttert haften, kehrte idi auf meinen Posten im Haag mit dem festen Entsdiluß zurück, audi fürderhin der Sowjetunion zu dienen“ 71).
Nun verlangte jedoch Moskau, er müsse sich an der „Lösung des Falles Reiß“ beteiligen, d. h. mithelfen bei der Ermordung seine; Freundes. Das lehnte Kriwitzkij ab.
„In diesem Augenblid^ wurde mir bewußt, daß mein lebenslanger Dienst für die Sowjetregierung zu Ende gekommen war . ..“
Wie Alexander Orlow berichtet, verweigerte Kriwitzkij seine Rückkehr nach Moskau:
„Er verließ seinen Posten in Den Haag und kam mit seiner Frau und ihrem kleinen Sohn in Paris an.
Jeshow entsandte sofort Sonderagenten aus der „Fliegenden Gruppe“ nach Paris, die den Auftrag hatten, Kriwitzkij und seine Familie zu ermorden. Seine Tage waren gezählt, er hätte nicht mehr bis zum Ende des Monats gelebt, wenn nidtt die französische Regierung ihn mit einer Leibwadte aus Polizisten versehen und an den Kreml eine sdtarfe Note geriditet hätte“ 73).
Walter Kriwitzkij wurde trotzdem in Frankreich von den Agenten der GPU verfolgt und gejagt; er entkam nach den USA. Selbst in New York sah er sich von den Tschekisten Stalins belauert und gehetzt; er schwebte ständig in Lebensgefahr. Sein Buch schließt — nach Schilderung einer solchen Verfolgung — mit den Worten: „Idi war nodt einmal mit heiler Haut davongekommen“ (S. 295).
Am 10. Februar 1941 aber wurde Kriwitzkij im Hotel Bellevue in Washington erschossen aufgefunden. „Selbstmord“, sagte die Polizei.
Ohne Zweifel war Kriwitzkij ermordet worden. Die GPU hat jedoch nicht verhindern können, daß seine aufsehenerregende Abrechnung mit Stalin, das Buch „In Stalin’s Secret Service“ /„I was Stalin’s Agent“, im Jahre 1939 in Amerika und England veröffentlicht wurde. War auch Ignaz Reiß nidit mehr dazu gekommen, seine Enthüllungen über den Geheimdienst und seine Gedanken über die Politik Stalins aufzuschreiben, so hatte doch Walter Kriwitzkij ein aufschlußreiches und hochinteressantes Buch verfaßt, das die Deutschland-und die Spanien-politik Stalins analysiert, die Zeit der Jeshowschtschina überzeugend darstellt und durch Aufdeckung ihrer Hintergründe einen hervorragenden Beitrag zur Zerstörung der Stalin-Legende liefert.
Alle diese Zeugnisse, beginnend mit den längst vergessenen Regierungsdekreten und Sitzungsprotokollen aus der Leninschen Zeit, mit den Programmen und Erklärungen der Oppositionsgruppen, die damals noch ihre „Plattformen“ zur Diskussion stellen durften, bis zu den Enthüllungen über den Kirowmord, den NKWD-Protokollen aus der Zeit der großen „Tschistka", den zahlreichen, bisher unterdrückten und geheimgehaltenen Dokumenten und den Bekenntnissen derer, die aus Stalins Reich geflüchtet sind, — alle diese Zeugnisse, die ein historisches Quellenmaterial von höchstem Wert darstellen, müssen, wie auf dem XX. Parteitag gefordert wurde, der allgemeinen Geschichtsforschung zugänglich gemacht werden. Nur so wird es möglich sein, die ursprüngliche Geschichte von Stalins Leben und politischer Wirksamkeit zu entziffern, die sich wie das Bild eines alten Meisters unter mehrfacher Übermalung oder wie der antike Text eines Chronisten auf einem oftmals abgeschabten und neu beschriebenen Pergament in der Tiefe verbirgt. Es gilt, die Schichten übereinandergelagerter Legenden, Fiktionen und tendenziöser Schilderungen abzutragen, die je nach den wechselnden Bedürfnissen der Ideologie und der praktischen Politik in anderen Farben schillern; es gilt, die Apologien und Panegyriken ehrgeiziger Schmeichler und nicht zuletzt den Mythos, den Stalin selbst um seine Person gesponnen und zur offiziellen Geschichtsschreibung erhoben hat, zu entfernen. Stalins Biograph I. Deutscher hat einmal gesagt, er komme sich wie ein mittelalterlicher Mönch vor, der über einem uralten Palimpsest grübele, in dem Bemühen, wichtige historische Tatsachen aus jahrelanger Vergessenheit ans Licht zu ziehen.
Diese Aufgabe steht auch vor uns, und. in dem Bestreben, sie zu lösen, müssen wir uns die Frage vorlegen: wann ist damit begonnen worden, die historische Wahrheit über Stalin durch die Legende zu ersetzen, und wer hat die Stalin-Legende fabriziert?
II. Der systematische Aufbau der Stalin-Legende
1 .) L. P. Berija -der Urheber der Stalin-Legende Die meisten Biographen und Historiker der Stalinschen Ära räumen ein, daß es tatsächlich einen Stalin-Mythos gibt. In keinem biographischen Werk aber ist diese Legende durch eine so ernste Quellen-forschung bloßgelegt worden wie in dem Buch „Three Who Made a Revolution /Lenin -Trotzkij -Stalin“ von Bertram D. Wolfe der — nach sorgfältigem Studium der Geschichte der bolschewistischen Organisation in Transkaukasien — zu dem Schluß kommt:
wir haben es zu tun mit dem in der ganzen bisherigen Ge-schiditsschreibung erstaunlichsten Beispiel für einen Menschen, dem es gelungen ist, sich selbst zu erfinden“
Der Mensch — oder vielmehr der „Gott“, der sich selbst, sein Wirken und seine Welt „geschaffen“ hat, ist Stalin. Er, der Schöpfer, bediente sich jedoch eines Werkmeisters, eines Weltgestalters. Dieser Demiurg, der die Legende um Stalin planmäßig aufgebaut hat, ist L. P. Berija. In der Regel wird Berija als „Landsmann“ Stalins bezeichnet, als Georgier. Genauer gesagt, ist er Mingrelier.
In Georgien, das von den Russen „Grusia“ und von den Georgiern (Grusinern) „Sakartvelo" genannt wird, wohnen — wie überhaupt im ganzen Kaukasusgebiet — viele verschiedene Volksstämme auf eng-begrenztem Territorium dicht beieinander, Völkerschaften, die alle großen Wert auf ihre nationale Kultur und auf die Pflege der eigenen Sprache, Tradition und Sitte legen, und das Land, das schon vor zweieinhalbtausend Jahren ein unabhängiges Königreich war, ein Königreich, das mehrere Fürstentümer vereinigte, blickte, als es von dem russischen Zaren Alexander I. annektiert wurde, schon auf eine wechselvolle geschichtliche Vergangenheit zurück. Am tapfersten hatte sich der Prinz von Mingrelien gegen die zaristische Unterjochung gewehrt; er wurde als letzter aller Herrscher in Georgien — von Alexander II. (1867) — zur Abdankung gezwungen.
Heute ist Mingrelien nur noch ein geographischer Begriff. Überragt vom Bergmassiv des Kaukasus, dem Gebirge mit den wilden unzugänglichen Tälern Swanetiens, liegt Mingrelien landeinwärts von der üppigen subtropischen Küstenebene, der „sowjetischen Riviera“, die sich am Ostrand des Schwarzen Meeres von Suchum nach Batum hinzieht, zwischen den Flüssen Ingur und Rion. Das ehemalige mingrelische Fürstentum ist auseinandergerissen worden. Administrativ gehört heute der südliche Teil direkt zu Georgien (Grusinskaja SSR) und der nördliche Teil zu Abchasien (Abchasskaja ASSR), einer der beiden Autonomen Sozialistischen Sowjetrepubliken, die innerhalb der Georgischen SSR eine gewisse nationale Selbständigkeit bewahrt haben
Lawrentij Pawlowitsch Berija wurde am 29. März 1899 in Mer-
cheuli im Suchumer Bezirk der Abchasischen ASSR geboren Sein Vater war aber nicht Abchase, sondern Mingrelier. Über die Volkszugehörigkeit der Mutter sind sich die Autoren nicht einig. Es wird hier und da hartnäckig behauptet, sie sei jüdischer Abstammung gewesen, Mitglied einer uralten kleinen jüdischen Sekte in Mingrelien. (Nach den Angaben des amerikanischen Korrespondenten Harrison E. Salisbury
haben sich im 5. Jahrhundert v. Chr. Juden in Georgien angesiedelt auf Einladung der grusinischen Könige.) Demnach wäre L. P. Berija also Halbjude gewesen. Sein Vater, der einen mittleren Bauernhof bewirtschaftete, starb früh, und die Mutter mußte allein für ihre vier Kinder sorgen: für den Sohn (Dadiko — David) aus ihrer ersten Ehe, für Lawrentij, noch einen jüngeren Sohn und die Tochter (Tamara) aus der Ehe mit Pawel Berija. Sie nahm eine Stellung im Hause eines Textilwarenhändlers namens Jerkomoschwili in Suchum, der Hauptstadt von Abchasien, an. Lawrentij besuchte eine sechsklassige städtische Schule in Suchum, die später nach ihm „Berija-Schule" genannt wurde. Jerkomoschwili, der Arbeitgeber der Mutter L. P. Berijas, ermöglichte dem Jungen, die Schule zu beenden (1915), und sorgte für seine weitere Ausbildung auf der mittleren technischen Lehranstalt in Baku (Hauptstadt von Aserbaidschan), denn Lawrentij wollte Ingenieur werden.
Nach sowjetischen Quellen nahm der junge Berija in Baku an einem illegalen marxistischen Zirkel teil, trat im Revolutionsjahr (1917) in die Bolschewistische Partei ein und war zwanzig Jahre alt, als er das Polytechnikum von Baku — mit dem Diplom eines Bauingenieurs in der Tasche — verließ. Aus russisch-georgischen Emigrantenkreisen (S. Danilow)
77) wird berichtet, daß der achtzehnjährige L. P. Berija bei Ausbruch der Februar-Revolution bereits als einer der eifrigsten in den vorderen Reihen der bolschewistischen Agitatoren gestanden habe. Er arbeitete damals — vor Abschluß seines theoretischen Studiums — schon als Praktikant am Schwarzmeer-Eisenbahnbau, an der Bahnstrecke, die Ssotschi mit Sugdidi, der ehemaligen Hauptstadt von Mingrelien, verbinden sollte, und widmete sich mit großer Energie propagandistischer Tätigkeit unter den Eisenbahnarbeitern.
Bedeutenden politischen Einfluß übte zu jener Zeit Jefrem Eschba auf den jungen Berija aus; späterhin war Eschba — wenn auch nur für kurze Zeit — Vorsitzender des Rats der Volkskommissare in der Abchasischen Autonomen Republik. Ein anderer politisch hochangesehener Bolschewik, dem Berija viel zu verdanken hatte, war Nestor Apollonowitsch L a k o b a , ein Freund Stalins, der — ebenso wie Dshugaschwili-
Stalin — Schüler eines Priesterseminars gewesen und aus der sechsten Klasse ausgeschlossen worden war. Der geistig lebendige, witzige Abchasier Lakoba hat es verstanden, sich lange Jahre in der besonderen Gunst Stalins zu sonnen. Er war Anfang bis Mitte der dreißiger Jahre Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der Abchasischen ASSR in Suchum, und das autonome Abchasien soll — zu seinen Lebzeiten eine Art demokratische Oase inmitten der unter Terror-Regime stehenden übrigen kaukasischen Länder gewesen sein.
Lawrentij Berijas eigene politische Tätigkeit begann im April 1921.
Georgien war damals noch nicht bolschewistisch. Es hatte sich als „unabhängige demokratische Republik" gehalten. Präsident des menschewisti-
sehen Georgiens war Noah Shordanija, der „Begründer der Georgischen Sozialdemokratie“ , der „Vater des Transkaukasischen Sozialismus“
Der junge Berija kam nach Tiflis (Tbilissi), der georgischen Hauptstadt, wo er „verantwortlicher Mitarbeiter“ der Tscheka (Staatssicherheitsdienst) wurde. Infolge der Protektion seines einflußreichen Gönners Lakoba avancierte er sehr bald zum Leiter der Tscheka Georgiens. Das war ein bemerkenswert rascher Aufstieg zu einem verantwortungsvollen Posten, dessen Berija sich jedoch in den folgenden Jahren würdig erweisen sollte.
Lawrentij P. Berija verwandte unermüdliche Energie und eisernen Willen darauf, für die wachsende Industrie Arbeitskräfte aus der Bauernjugend zu rekrutieren; er unterwarf mit äußerster Härte die rebellischen „Gorzy“ (Bergstämme), trug viel dazu bei, den Einfluß des Islams auf die Bergvölker zu brechen, erzwang mit brutalen Antreibermethoden die Produktionssteigerung der Petroleumfelder von Grosnyj und Baku und setzte mit schonungsloser Anwendung aller Mittel die Kollektivisierung durch gegen den erbitterten Widerstand der Bauern, die — konservativ-mißtrauisch gegen alles Neue — von ihren primitiven Methoden der Bodenbestellung nicht lassen wollten. Schließlich befand sich das ganze Land in Gärung, deren wirtschaftliche Ursache die gewaltsam aufoktroyierten Agrarreformen und deren politische Quelle die rigorose Unterdrückung des georgischen Nationalstolzes und LInabhängigkeitsdranges war.
„Die gesamte georgische bolschewistische Partei — mit Badu Mdivam an der Spitze — stand in Opposition gegen das Zentralkomitee, und das ganze Land in Opposition gegen die Partei,“ berichtet Victor Serge
So kam es — dreieinhalb Jahre, nachdem die menschewistische Regierung verjagt worden war und Sowjet-Georgien sich konstituiert hatte — zu dem georgischen Aufstand vom August 1924, zu dessen Niederschlagung Lawrentij Berija speziell von Moskau beauftragt wurde. Den Oberbefehl hatte Sergo Ordshonikidse. Berija unterdrückte die Volkserhebung in kürzester Frist mit unerbittlich strengen Polizei-methoden. „Dieser Aufstand, der innerhalb weniger Tage unterdrückt wurde, war das Ergebnis einer Provokation ausländischer Imperialisten und war von den Menschewisten mit ausländischem Geld, das von diesen Imperialisten kam, organisiert . .
Erwiesen ist nur, daß zwei im Jahre 1921 geflüchtete menschewistische Führer aus dem Ausland nach Tiflis zurückgekommen waren: Waliko Dshugeli (Kommandeur der georgischen Volksgarde) und Tschchikwischili (Mitglied des Zentralkomitees der georgischen menschewistischen Partei). Sie wurden sofort von der Tscheka verhaftet, und Berija ließ später beide als Organisatoren des georgischen Auf-standes erschießen.
Das große „Verdienst“ Berijas, eine Leistung, die Stalin hoch anerkannte und nicht vergaß, bestand in folgendem:
Berija und seine Tschekisten ließen den menschewistischen Aufstand, über den sie geheime Informationen hatten und der schon aus diesem Grunde von vornherein zum Scheitern verurteilt war, mit voller Absicht zustandekommen, ja sie förderten ihn sogar durch Provokationen aller Art, obwohl es eine Möglichkeit gegeben hätte, ihn zu verhindern. Lind warum? Moskau war — und das hatte Berija gut begriffen — an einer Insurrektion der grusinischen Menschewiki stark interessiert, da diese der Tifliser Regierung ermöglichte, die revolutionären antibolschewistischen Kräfte in Georgien aufzudecken und zu vernichten. Selbst ein Brief, den Waliko Dshugeli aus dem Gefängnis „An den Vorsitzenden der transkaukasischen Tscheka, L. Berija" schrieb und in dem der menschewistische Führer bat, ihm die Möglichkeit zu geben, die Vorbereitungen zu dem bewaffneten Aufstand rückgängig zu machen und somit die der Tscheka verratene Insurrektion zu verhindern, konnte Berija nicht dazu bewegen, auf das schreckliche Massaker und die folgenden umfassenden Repressalien zu verzichten
„Idt glaube nicht, dafl man in der Gesamtgeschidrte der Menschheit irgend etwas finden kann, das — auch nur im entferntesten — der gigantischen Lügenfabrikation gleichkommt, die unter Stalins Leitung vom Kreml betrieben wird. Und eine der widitigsten Aufgaben dieses Unternehmens ist, eine neue Biographie von Stalin zu fabrizieren.“
Bertram D. Wolfe weist in seiner Besprechung dieses Buches darauf hin, daß, ehe Trotzkij die Biographie Stalins schrieb, dieser „auf seine Art bereits ein Leben seines Biographen geschrieben" habe „in Gestalt der Moskauer Säuberungsprozesse und indem er eine ganze Reihe offizieller Parteigesdiiditen verbrannte und stattdessen seine eigene Version verfaßte“ 84).
Während Stalin in seiner „Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" seinen Gegenspieler Trotzkij „als einen Judas Ischariot“ darstellt, „der Lenin verrät, sich der Revolution von 1917 .. widersetzt, . . .der eifrig auf eine Niederlage im Bürgerkrieg hinarbeitet und sidt dann damit befaßt, . Staatsgeheimnisse an ausländische Spionage dienste zu verraten, ..., Kirow meuchlings zu ermorden, Sabotageakte zu begehen .. 85), kurz, die Vergangenheit Trotzkijs so redigiert, wie es nur dem Ober-haupt eines terroristischen Polizeistaates möglich ist, habe Trotzkij in seiner Stalinbiographie „an Hand von unwiderlegbaren Dokumenten“
bewiesen, „daß Stalin vor 1917 nicht als führende Persönlidikeit galt, ... daß er in dem schid^salsdtweren Jahr 1917, während alle anderen führenden Bolschewisten von den vielen Ansprachen auf Massenversammlungen heisere Kehlen hatten, sich als unfähig erwies, die Massen durch feurige Beredtsamkeit aufzurütteln, daß er , aus dem Bürgerkrieg genau so unbekannt und den Massen fremd hervorging wie aus der Oktoberrevolution“ 86).
Die S t a 1 i n -L e g e n d e, die zu zerstören Trotzkij sich in seinem biographischen Werk schon mit einem gewissen Erfolg bemüht, hat jedoch erst nach Trotzkijs Ermordung ihre höchsten Gipfelpunkte erreicht, und dem oben erwähnten Rezensenten der Stalinbiographie Trotzkijs, Bertram D. Wolfe, ist es gelungen, ihr systematisch nachzuspüren und außerordentlich präzise Forschungsergebnisse herauszuarbeiten, die für uns im Folgenden richtungweisend sein sollen
Am 21. Dezember 1929, sechs Jahre nach dem Tode Lenins, feierte Stalin seinen 50. Geburtstag. Zu Ehren des Parteichefs erschienen überall glorifizierende Artikel, deren Verfasser sich bemühten, „jeden Augenblick seiner Vergangenheit mit seinem derzeitigen unbegrenzten Ruhm in Einklang zu bringen“
Auch ein kleines Symposion (Sammelwerk), „Das Leben Stalins“, erschien im Jahre 1930 zu Ehren des Fünfzigjährigen. Außer Aufsätzen von K. J. Woroschilow, L. M. Kaganowitsch und K. G. Ordshonikidse enthielt das Gedenkbuch auch einen Beitrag von Abel S. Jenukidse, einem der intimsten Freunde Stalins aus der Tifliser und Bakuer Zeit.
Abel Jenukidse hatte schon im Jahre 1923 — anläßlich der 25-Jahr-Feier der Gründung der Russischen Sozial-demokratischen ArbeiterPartei — Erinnerungen veröffentlicht, in denen er von Dingen erzählt hatte, an die sich zu erinnern sieben Jahre später durchaus nicht mehr zulässig war.
Als ihm nun — im Jahre 1929 — der Auftrag erteilt wurde, persönliche Erinnerungen aus der georgischen LIntergrundbewegung und der Arbeit der illegalen Druckerei in Baku beizusteuern, war er bestrebt, seine „Fehler“ nach Möglichkeit wieder gutzumachen. Zwar hatte weder „Soso“ (Stalin) noch das Tifliser Komitee mit der Geheimdruckerei je das geringste zu tun gehabt, und niemand wußte das besser als Abel Jenukidse, der engste Mitarbeiter Kezchowelis in der illegalen Druckerei; zwar hatte Abel Jenukidse selbst später (1904) die Leitung dieser Druckerei übernommen, als Kezchoweli tot und sein Nachfolger Tifon Timurasowitsch (gen. „Semjon“) nach Moskau übersiedelt war, und war bei dieser Arbeit niemals mit Stalin in Berührung gekommen; zwar hat Leonid Krassin, der das illegale Unternehmen finanzierte, in keiner seiner Schriften, die über diese Epoche berichten, den Namen Stalins auch nur erwähnt; zwar hat Stalin — was allen bekannt war — an der Gründungskonferenz der bolschewistischen Fraktion der georgischen Partei (November 1904), bei der L. B. Kamenjew zum Vorsitzenden gewählt wurde, gar nicht teilgenommen, vermutlich, weil er noch schwankte, ob er sich den Menschewiki oder den Bolschewiki anschließen wolle —, trotzdem versuchte der durch Berijas kategorische Forderungen bedrängte Abel Jenukidse, die bolschewistische Untergrundarbeit und speziell die Flugblatt-und Broschürenherstellung in der Geheim-druckerei wenigstens „auf die Initiative des Genossen Stalin und des von Genossen Stalin geleiteten Tifliser Komitees“ zurückzuführen.
So schrieb Jenukidse — in dem Bestreben, seinem verehrten Jugendfreund Soso, den er einst in die Theorie des Marxismus eingeführt und mit dem zusammen er im Gefängnis und in der Verbannung gelebt hatte, zu einer durch Zeugenaussagen beglaubigten reicheren revolutionären Vergangenheit zu verhelfen — eine aus Wahrheit und Dichtung seltsam gemischten Legende. Mit dieser Mythenbildung glaubte Jenukidse, seinen Freund „Soso“ mit Lorbeer umkränzen zu können, ohne doch die ganze Geschichte der georgischen Untergrundarbeit in ein Lügengewebe zu verwandeln. Daß Jenukidse nicht weiter ging mit seiner Geschichtsfälschung, sollte ihm später zum Verhängnis werden; denn der S t a 1 i n m y t h o s, den Berija zu schaffen im begriff war, verlangte viel mehr. Lind die Frage, wie Jenukidse, der bereitwillige Legendendichter von gestern, aber doch vielleicht der unbequeme Zeuge von morgen, zum Scweigen zu bringen sei, beschäftigte Berija sehr. Abel Jenukidse war ja der einzige Überlebende von den Organisatoren der Geheimdruckerei; Lado Kezchoweli und Leonid Krassin waren tot.
Im Jahre 1931 schrieb Stalin in einem Artikel, es sei Aufgabe der Parteiorganisationen, das Studium der Geschichte des Bolschewismus „auf wissensdiaftlidte bolsckewistisdie Bahnen zu leiten, sidt mit gesteigerter Aufmerksamkeit gegen die trotzkistischen und alle sonstigen Fälscher der G eschichte unserer Partei zu wenden ..,“ 92).
Lawrentij Berija, der Chef der Transkaukasischen GPU und Sekretär der KP Georgiens, nahm den Auftrag Stalins an. Er war sich klar darüber, daß unter „trotzkistischen Fälschungen“ die wirklichen geschichtliehen Ereignisse zu verstehen seien und unter dem Ergebnis eines „bolschewistischen Geschichtsstudiums“ eine historische Darstellung, die Stalins Bedürfnis nach Selbstglorifizierung gerecht wurde. In diesem Sinne unternahm er es, die ganze Geschichte der Partei in Transkaukasien umzuschreiben, und zwang Abel Jenukidse, seine eigenen früheren „Memoiren“ zu widerrufen. Anfang 193 5 erpreßte er ein „Geständnis“ von Jenukidse, in dem dieser erklärte, er habe aus Geltungsbedürfnis die Geschichte der illegalen Druckerei unrichtig dargestellt und habe mit revolutionären Verdiensten geprahlt, die ihm gar nicht zukämen.
„So wurden die Leser der Prawda am 16. Januar 1935 mit dem öffentlichen Prolog dieses Dramas, dem Schauspiel einer Selbstdenunziation Jenukidses traktiert, deren Zweck nicht war, die Grundzüge der „neuen Wahrheit“ zu skizzieren, sondern sich selbst und die alte Wahrheit zu diskreditieren ... Wer einmal gezwungen worden ist, sielt selbst durch ein öffentlidtes Geständnis bloflzustellen, für den hat das Drama des unvermeidbaren Sturzes begonnen“
Sechs Monate nach dem Prawda-Artikel von Abel Jenukidse berief Berija eine Konferenz der Parteifunktionäre ein, auf .der er ein zweitägiges Referat (21. und 22. Juli 193 5) hielt: „Zur Geschichte der bolschewistischen Organisationen in Transkaukasien“
Gleich in der Einleitung zu seinem großen historischen Referat stellte Berija zwei Dinge fest:
erstens, daß alle die Verdienste, die sich bisher andere bolschewistische Führer „zugeschrieben“ hätten, in Wirklichkeit nicht jenen Usurpatoren gebühren, sondern dem großen Führer Stalin:
„Die ganze Geschichte der transkaukasischen bolschewistischen Organisationen, die ganze revolutionäre Bewegung Georgiens und ganz Transkaukasiens ist von den ersten Tagen ihrer Entstehung an untrennbar verbunden mit der Arbeit und dem Namen des Genossen Stalin
zweitens, daß die bisherigen Historiographen des transkaukasischen Bolschewismus die Geschichte fehlerhaft dargestellt hätten:
„Was nun die Darstellung des Kampfes der transkaukasischen Bolschewiki in den Arbeiten Ph. Macharadses betrifft .. so enthalten sie eine Reihe von Fehlern prinzipieller und historisclter Art, entstellen die geschichtlichen Tatsachen und Ereignisse und geben einzelne Momente aus der Geschichte'der Partei nidtt gewissenhaft wieder.
Genosse Madtaradse hat sidt bisher nicht der Mühe unterzogen, seine Schriften zu überarbeiten und die darin begangenen Fehler und Entstellungen zu korrigieren.
Eine bewußte Entstellung und Fälschung der Geschidite der transkaukasisdten Parteiorganisation hatten die nunmehr entlarvten Volksfeinde A. Jenukidse und M. O r a c h e l a s c h w i 1 i in ihre Büdter eingeschmuggelt.“ 97)
Als Berija dann in seinem Vortrag bei der Schilderung der Arbeit in der Bakuer Geheimdruckerei davon sprach, daß Kezchoweli sich ständig Weisungen und Ratschläge von Stalin geholt habe, wie dies auch aus den „Erinnerungen" des Setzers W. Zuladse hervorgehe, und daß Stalin regelmäßig Artikel für die Zeitung Brdsola geschickt habe, ging er wieder zu den schwersten Beschuldigungen gegen Abel Jenukidse über, von dem er sagte:
„A. Jenukidse, der später als gesdiworener Feind des Volkes entlarvt worden ist, hat die Gesdiidite der bolsdiewistisdren Organisationen Transkaukasiens in ...der Broschüre „Unsere illegalen Druckereien im Kaukasus" zu feindlichen Zwecken bewußt gefälsdit und bekannte historisdie Tatsadten zynisdt und fredt entstellt, indem er sich beispielsweise angeblidte Verdienste bei der Sdtaffung der ersten illegalen Bakuer Druckerei zusdirieb.
Bekanntlidi hat sich A. Jenukidse infolge der drohenden Gefahr, daß seine Fälschung und Entstellung historisdter Tatsadten entlarvt werden konnte, gezwungen gesehen, diese „Fehler" in den Spalten der Prawda vom 16. Januar 1935 zuzugeben."
Und an einer anderen Stelle heißt es in dem Vortrag Berijas:
„Der Volksfeind Orachelasdiwili hat die Gesdiidite der bolschewistischen Partei bewußt gefälscht.
In der Brosdiüre „Die transkaukasisdien Organisationen im Jahre 1917“ unterstellte er den Bolschewiki in verleumderisdter Weise, sie glaubten an die Möglichkeit, die Menschewiki in ergebene Diener des Proletariats zu verwandeln ...
Der entlarvte Volksfeind A. Jenukidse, der große Fertigkeit im Selbst-lob und in der Reklame für seine Person erlangt hat, leugnete bei seiner bewußten Entstellung der Parteigeschichte ebenfalls, daß die Bolschewiki die Spaltung von den Menschewiki schon lange vor 1905 ... vollzogen hatten, ... daß Lenin und Stalin einen sdionungslosen Kampf gegen Glebow und Krassin führten, die den Menschewiki das Zentralkomitee ausgeliefert hatten ..
Die georgische Zeitung „Saria Wostoka“ meldete am 20. Dezember 1937, Abel Jenukidse, Scheboldajew und andere bekannte Führer seien hingerichtet worden
Abel Jenukidse, der von den Chronisten übereinstimmend als ein besonders sympathischer, humaner, warmherziger Mensch geschildert wird
Es blieb nicht bei diesen wenigen Menschenopfern. Die Neuschreibung der Geschichte, in die Stalins „frühe revolutionäre Tätigkeit“ hineinverwoben werden sollte, verlangte, daß noch viele Menschenleben ausgelöscht wurden, und dieses Massaker begann schon unter dem OGPU-Chef Jagoda im Jahre 1930, sehr bald nach Stalins 50. Geburtstag, von dem an man ja — wie oben gezeigt worden ist — zur direkten Fälschung der Geschichte überging.
Unter den Zeugen und Nutznießern der historischen Wahrheit über die Frühzeit Stalins, einer Wahrheit, die nun der Stalin-Legende geopfert wurde, waren viele bekannte Altbolschewiki aus Transkaukasien, Typen aus der heroischen Epoche der Revolution, verdiente Kämpfer, die viele Jahre lang führend in der Partei tätig gewesen waren und deren einzige „Schuld“ darin bestand, daß sie sich Stalins Generallinie und den Stalinschen Apparatmethoden nicht beugen wollten — eben darum, weil sie Stalins Vergangenheit, seine politische Tätigkeit und seinen Charakter gut kannten. Zu diesen alten Bolschewiki gehörten der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare Georgiens G. Mgaloblischwili und sein Stellvertreter Budu Mdiwani, auch Mamija Orachelaschwili, Gegetschkori, Lado Dumbadse, Sergej Kawtaradse, M. Toroschelidse und Okudshawa.
In seinem Referat vom Juli 193 5 bezeichnete Berija die Parteimitglieder Ph. Macharadse, B. Mdiwani, S. Kawtaradse, M. Okudshawa, M. Toroschelidse und K. Zinzadse als „Vertreter der georgischen nationalistischen Abweichung“ und behauptete, sie seien 1921/1922 gegen die Bildung der Transkaukasischen Föderation und gegen die Gewährung der Autonomie an die nationalen Minderheiten Georgiens aufgetreten; auch hätten sie schon „in der Periode der Vorbereitung und Durchführung der Sozialistischen Oktoberrevolution (von April 1917 bis 1918) einen rechtsopportunistischen Standpunkt“ eingenommen
Auch in Aserbaidshan habe es Gegner der transkaukasischen Föderation gegeben, sagte Berija, z. B. Achundow
Aber nicht -nur gegen die nationalistischen Abweichler, gegen die Liquidatoren-Menschewiki und gegen die trotzkistischen Menschewiki habe ein erbitterter Kampf geführt werden müssen, sagte Berija, sondern auch gegen die Versöhnler, Paktierer und Opportunisten: Philip Macha-radse, Mischa Okudshawa, Schalwa Eliawa, T. Shgenti, B. Bibinei-
schwili u. a.; so hätten z. B. 1912 und 1913 in Kutais die georgischen Bolschewiki Eliawa, Shgenti und Okudshawa mit den Menschewiken zusammengearbeitet: die „Versöhnler“ Schalwa Eliawa, T, Shgenti, B.
Bibineischwili u. a. hätten sich an der Transkaukasischen Gebietskonferenz der Liquidatoren-Menschewiki im Herbst 1913 beteiligt; T. Shgenti und B. Bibineischwili hätten sogar die Bolschewiki Georgiens verleumdet und die Geschichte der Partei skrupellos gefälscht und entstellt:
„T. Shgenti, B. Bibineischwili u. a. verschweigen in ihren Artikeln und Erinnerungen den historisdt außerordentlich bedeutungsvollen Kampf ...der Bakuer und der Tifliser Organisation unter der Führung der Genossen Stalin, Ordshonikidse und Spandarian für die Vorbereitung der Prager Konferenz ..."
Die meisten der transkaukasischen Bolschewiki, die Berija in dieser programmatischen Rede nannte, sind der Geschichtsfälschung im Dienste des Personenkultes um Stalin zum Opfer gebracht worden.
Kote Zinzadse, ein Revolutionär-„Terrorist“, Führer von kaukasischen „Guerilla“ -Banden, der in der zaristischen Zeit mehrfach von der Ochrana verhaftet und gefoltert worden war, aber keinen seiner Komplizen je verraten hatte, der dann — 1923 und 1924 — seine Memoiren in einer grusinischen Zeitschrift veröffentlicht hatte
Ehe Lawrentij Berija für seine historische Rede über die Tätigkeit der Bolschewiki in Transkaukasien und für seine „Säuberung“ der georgischen Partei mit Versetzung nach Moskau belohnt wurde, kam Stalins früherer Freund, der Abchasier Nestor Apollonowitsch Lakoba, der den jungen Berija einst protegiert und ihm weitergeholfen hatte, auf merkwürdige Weise ums Leben. Im November 1936 bestellte Berija seinen ehemaligen Gönner Lakoba, der damals Vorsitzender des ZK der Abchasischen Republik war, zu sich. Sofort reiste Laboka von Suchum nach Tiflis, er aß bei Berija zu Mittag, beide besuchten abends das Theater, und danach kehrte Lakoba in sein Hotel zurück, wo er am nächsten Morgen tot aufgefunden wurde. In Suchum erregte das Telegramm, Lakoba sei plötzlich an einem Anfall von Angina pectoris gestorben, größte Bestürzung, denn Lakoba war als kerngesund bekannt und hatte, soviel man wußte, nie über Herzbeschwerden geklagt; er war erst 44 Jahre alt. Eine Autopsie wurde nicht vorgenommen. Das Begräbnis Lakobas in Suchum war außerordentlich prunkvoll und feierlich. Einige Tage nach der Beerdigung war plötzlich der Grabhügel eingeebnet und der Sarg mit der Leiche Lakobas verschwunden. Nicht lange nach dem mysteriösen Tode Lakobas wurden seine nächsten Angehörigen, seine sämtlichen Verwandten, Freunde und Bekannten verhaftet; einige wurden erschossen, andere in ferne Lager verschickt
Wenn auch nicht alle alten Bolschewiki Memoiren geschrieben und veröffentlicht hatten, so bedeuteten doch diese Menschen, ihr Erinnerungsvermögen, ihre Erzählungen — sei es auch nur im Kreise vertrauter Freunde — eine ständige Gefahrenquelle für Stalin, dem sein Biograph Berija ein politisches Alibi ohnegleichen geschaffen hatte. Deshalb mußten alle Zeitgenossen, die Augenzeugen der Vorgänge gewesen waren, vom Erdboden verschwinden. Trotz allem hat aber Berijas große Aktion nicht verhindern können, daß einige Erinnerungsbücher erhalten geblieben sind, aus denen der Historiograph sich heute noch über die wirkliche Frühgeschichte der bolschewistischen Bewegung in Transkaukasien informieren kann.
So wird z. B. von David Shub, der eine zwar im ganzen nicht sehr seriöse, aber wenigstens dort, wo er seine Quellen nennt, zuverlässige Leninbiographie geschrieben hat
Isaac Deutscher schreibt, Kobas (i. e. Stalins) Rolle bei allen diesen Aktionen sei nie klar festgestellt worden; er habe als eine Art Verbindungsoffizier zwischen dem Kaukasischen Parteibüro und den kämpfenden Banden gewirkt. Daher sei er niemals persönlich an den Beutezügen und Überfällen der Rotte beteiligt gewesen
Interessant ist hingegen die Tatsache — Bibineischwili berichtet sie in seinem Buch „Kamo“ — , daß eines Tages, schon in der sowjetischen Epoche, ein mysteriöser Unbekannter erschien, sich unter einem schlauen Vorwand der Briefe und anderer wichtiger Dokumente von Kamo bemächtigte und spurlos mit seinem Raub verschwand
S. Medwedjew (Anhänger der „Arbeiter-Opposition“) und Goloschekin (Mitglied des Zentralkomitees, Januar 1912), die beide zusammen mit Stalin in der Verbannung gelebt hatten; M. Frumkin (Volkskommissar für Finanzen, 1929), der schon 1911 Stalins Freund gewesen war; S. A. Bubnow (hervorragender Kämpfer in der Oktoberrevolution und im Bürgerkrieg, später Volkskommissar für Erziehung), der zusammen mit Stalin als Redakteur der Prawda tätig gewesen war, und viele andere.
Als am 26. Mai 193 5 der „Klub der Alten Bols: hewiki" aufgelöst wurde, konnte man in der Flüsterpropaganda hören, endlich habe Stalin „die letzte konterrevolutionäre Organisation“ verboten. Dieses Verbot war jedoch eine sehr ernstzunehmende Maßnahme, und sie wurde zu einem ganz besonders wertvollen Baustein beim Aufbau der Stalin-Legende. Der Klub der Alten Bolschewiki war ja viel mehr als nur ein gesellschaftlicher Zusammenschluß der ältesten Mitglieder der Partei, der Veteranen des bolschewistischen Kampfes, die unter dem zaristischen Regime revolutionäre Untergrundarbeit geleistet und lange Jahre in der Katorga oder der Ssylka (Verbannung) zugebracht hatten; er war die Verkörperung der alten revolutionären Tradition und galt als „Gewissen der Partei“. Die Altbolschewiki sahen es als ihre Pflicht an, die mündliche und schriftliche Überlieferung der Oktobertage zu pflegen; sie hatten eine riesige Bibliothek und ein eigenes Verlagshaus, in dem Werke über die Geschichte der Partei und der Oktoberrevolution und Memoiren der Klubmitglieder gedruckt wurden.
„Aber in diesen Werken, die znnt Teil noch zu Lenins Lebzeiten veröffentlicht worden waren, blieb der Name Stalins fast ohne jede Erwähnung, dagegen wurden ganze Kapitel der Tätigkeit anderer prominenter Bolschewiken gewidmet. Das allein genügte vollauf, Stalins Haß gegen diese Veteranen der Bewegung zu entfadten. Ihre Memoiren werden für alle Zeiten eine lebendige Widerlegung jener legendengesdimückten Lebensbesdtreibungen bilden, weldie Stalin für notwendig erachtet, seine Person nadt der Maditergreifung ins richtige Lidit zu setzen ... Die Mitglieder der Vereinigung der Alten Bolsdiewiken beobaditeten mit steigender Entrüstung, in weldrer Weise Stalins „Hoftheoretiker" historische Ereignisse unbekümmert entstellten, indem sie Fabeln erfanden und sogar zu regelrechten Fälschungen ihre Zuflucht nahmen, nur um für Stalin eine eindrucksvolle Biographie herzustellen und ihn als den nächsten Mitarbeiter Lenins zu feiern ... Stalins Rolle übertraf fast diejenige Lenins in diesen Veröffentlichungen. Die Mitglieder der Vereinigung der Alten Bolsdiewiken, die doch in Wirklidtkeit die Parteigesdüdite gemadit hatten, konnten dodi nidit aus ihren Memoiren das entfernen, was sie wußten und was sie als Augenzeugen mitangesehen hatten ...
Nach der Unterdrückung der Vereinigung der Alten Bolsdiewiken begannen diese Veteranen der Partei, einer nadt dem andern, zu verschwinden ... Die Mehrzahl kam auf dem Wege der Deportation nach Sibirien um, gar viele aber versdtwanden, ohne daß von ihnen eine Spur übrigblieb.“
Schon längst gab es im Marx-Engels-Institut, in wissenschaftlichen Instituten, in Bibliotheken und in der Akademie der Wissenschaften keine unerwünschten Mitwisser mehr, sondern nur noch absolut willfährige, zuverlässige Gefolgsleute. Der jugoslawische Kommunist Anton Ciliga, der im Jahre 1929 — bis zu seiner Verhaftung im Mai 1930 — selbst Professor an der Leningrader Kommunistischen Akademie war, schreibt:
„Die Dozenten an der Kommunistisdien Akademie hatten es nidit leicht. Von Jahr zu Jahr wurde das Unterriditsprogramm geändert, mehr und mehr wurden die historischen Fakten und ihre gesdiichtlidie Würdigung gefälscht. Diese unverschämten Fälschungen erstreckten sidt nidit nur auf die jüngsten Ereignisse, auf die Geschidite der revolutionären Bewegung in Rußland, sondern audi auf weit zurüddiegende Gesdiehnisse wie die Pariser Kommune, die Revolution von 1848 und die große Französisdie Revolution. ... Und was sollte man zur Geschichte der Komintern sagen? Jede neue Ausgabe der „Gesdiidite der Gründung und der Entwicklung der Komintern“ brachte eine andere, ja eine in vielen Hinsichten der vorhergehenden direkt entgegengesetzte Version ... Die Professoren waren selbstverständlich über die Fälschungen gut unterrichtet, denn sie mußten sie ja in ihren Vorlesungen den Studenten übermitteln .,.
Die in ihrer Ungeheuerlichkeit geradezu grotesken „Geständnisse“, die von den Angeklagten in den drei großen Schauprozessen
„Die großen sowjetisdien Sdiauprozesse haben mit Rechtsprechung nidits zu tun. Sie sind Erscheinungsformen der Super-Propaganda. ... Sie werden dazu benützt, die Geschichte neu zu schreiben. Die Bolschewiki haben große Energie auf die Umschreibung der Geschichte verwendet. Damit wird der Zweck verfolgt, das politische Renommee Stalins zu lieben, Stalin weißzuwaschen, seine Feinde anzuschwärzen, seine potentiellen Gegner abzuschrecken. In den Schauprozessen wurde der Versuch unternommen, zu beweisen, daß die sowjetische Verwaltung fehlerlos ist; das einzige Ärgernis ist, daß noch ein paar Trotzkisten frei lierumlaufen. Zu diesem Zwecke brauchte Stalin die Schauprozesse und die Geständnisse ...“, schreibt Louis Fischer in seinem autobiographischen Buch „Men and Politics"
Nicht nur die Hinrichtung der in den Schauprozessen Verurteilten, sondern die Liquidierung der ganzen alten revolutionären Garde ist in den letzten zwanzig Jahren in den nicht-russischen Ländern Thema zahlreicher Untersuchungen, Analysen, Kritiken, Veröffentlichungen gewesen. Neu ist, daß die Männer, die seit Stalins Tod in der Sowjetunion die kollektive Regierung bilden, jetzt selbst entschlossen sind, die Tatsachen an Hand von authentischen Dokumenten festzustellen und die Verbrechen des legendenumwobenen Führers Stalin aufzudecken.
In seiner sogenannten Geheimrede, die selbstverständlich noch immer weit von der Wahrheit entfernt ist, aber doch einen gewissen Teil des Stalinmythos zerstört, berichtet Nikita S. Chruschtschow, das Zentralkomitee habe eine Parteikommission eingesetzt, die — unter der Kontrolle des Präsidiums des Zentralkomitees — Untersuchungen darüber anstellen solle, wieso Massenunterdrückungen gegen die Mehrheit der auf dem XVII. Parteitag der KPdSU (1934) gewählten Mitglieder und Kandidaten des Zentralkomitees möglich gewesen sind. „Die Kommission hat umfangreiches. Material aus den NKWD-Archiven und andere einschlägige Dokumente gesichtet und hat in zahlreichen Fällen festgestellt, daß Anklagen gegen Kommunisten konstruiert und falsche Anschuldigungen erhoben wurden ..., was zum Tode unschuldiger Menschen führte. Es hat sich herausgestellt, daß viele Aktivisten der Partei, der Sowjets und der Wirtschaft, die in den Jahren 1937/1938 zu „Volksfeinden“ gestempelt worden waren, in Wirklidikeit niemals Feinde, Spione, Schädlinge usw. waren ... Sie ... bezichtigten sich oft selbst, weil sie die barbarischen Folterungen nicht länger ertragen konnten, ... aller möglichen schweren und unwahrscheinlichen Verbrechen ... Es wurde festgestellt, daß von den auf dem XVII. Parteitag gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des ZK der Partei 98 Personen, das sind 70 Prozent, in den Jahren 1937/1938 verhaftet und liquidiert wurden ...
Das gleiche Schidtsal ereilte nicht nur die Mitglieder des Zentral-komitees, sondern auch die Mehrzahl der Delegierten des XVII. Parteitages. Von 1966 stimmberechtigten oder beratenden Dele- gierten wurden 1108 Personen, also mehr als die Hälfte aller Delegierten, unter der Beschuldigung, gegenrevolutionäre Verhrechen begangen zu haben, verhaftet ... Dies war das Ergebnis des Machtmißbrauchs Stalins, der nun mit den Mitteln des Massenterrors gegen die Partei-kader vorzugehen begann."
Aber nicht nur die Partei wurde wieder und wieder gesäubert, nicht nur die Helden der Oktoberrevolution und Kampfgefährten Lenins wurden zu Konterrevolutionären erklärt und ermordet oder hingerichtet, sogar gegen die Armee ging Stalin vor. lind auch dies geschah zur weiteren Ausschmückung der Legende um seine eigene Person. Hatte Stalin — nach Liquidierung der auf Grund von falschen Anschuldigungen verurteilten Parteigrößen — erreicht, als einziger Gralshüter der Partei Lenins anerkannt zu werden, so wollte er nun mit Hilfe falscher Zeugen und gefälschten Materials die Heerführer beseitigen und auf diese Weise selbst zum Obersten Kriegsherrn aufrücken.
Walter Kriwitzkij erzählt:
„Ich verließ Moskau am Morgen des 22. Mai (1937). Es war, als ob ich eine Stadt mitten im Erdbeben verließe. Marschall Tuchatschewskij war verhaftet worden ...
Ende des Monats war ich wieder im Haag. Eine offizielle Bekanntmachung aus der Sowjet-Hauptstadt teilte der Welt mit, daG der Vize-Kriegskommissar Gamarnik in der Untersuchungshaft Selbstmord begangen habe ...
Erst am 11. Juni veröffentlichte Moskau die Nachricht, Tuchatschewskij und sieben andere Kommandierende Generale seien als Nazi-Spione und Mitverschwörer des toten Gamarnik verhaftet worden. Am 12. Juni wurde die Hinrichtung der acht Armecdtefs berichtet" ...
Nach den Ermittlungen des Leiters des Geheimen Sowjet-Nachrichtendienstes W. G. Kriwitzkij hatte ein Doppelagent, ein zaristischer General namens Skoblin, Stalin mit dem Material versorgt, das dieser gegen die Führer der Roten Armee benötigte
Welche schweren Folgen die Liquidierung der Armeeführer hatte, zeigte sich im Finnischen Feldzug und zu Beginn des Hitlerkrieges. Alexander Barmin schreibt:
„Die Hinrichtung dieser Generale, der besten Köpfe unserer Führerschaft, die in dem damals zu erwartenden Krieg mit den faschistischen Mächten das Oberkommando und den Generalstab gebildet hätten, hat der Roten Armee einen furchtbaren Schlag versetzt."
Daß dies so war, wird heute auch offiziell zugegeben.
„Sehr ernste Konsequenzen, die sich besonders bei Kriegsausbrudr bemerkbar maditen, hatte die Liquidierung zahlreicher militärischer Führer und politisdter Funktionäre, die in der Zeit von 1937 bis 1941 auf Grund von Stalins Mißtrauen und verleumderischen Besdtuldigungen erfolgte ... In dieser Zeit wurde der Führungskader ... fast vollständig liquidiert", sagte Chruschtschow in seiner Geheimrede. Den Namen Tuchatschewskij nannte er jedoch nicht, und vorläufig weist auch nichts auf eine bevorstehende Rehabilitierung Tuchatschcwskijs hin.
Über den Tuchatschewskij-Prozeß gibt es eine ganze Anzahl stark voneinander abweichender Theorien und Erklärungen. Die Tatsache, daß Tuchatschewskij, Jakir, Kork u. a. von einem Kriegsgericht in nichtöffentlicher Verhandlung abgeurteilt worden sein sollen, begünstigt noch das Entstehen immer neuer Gerüchte.
Mehrere Autoren führen Stalins Vorgehen gegen die Armeechefs auf seine alte Feindschaft gegen Tuchatschewskij zurück. Michail Tuchatschewskij, der als die „glänzendste militärische Gestalt der Sowjetischen Revolution“ bezeichnet wird, hatte die Armeen der Weißen (unter Koltschak) in Sibirien vernichtet und Denikin ans Schwarze Meer zurückgetrieben.
Danach begann die Rote Armee ihren Vormarsch auf Warschau (1920). „Stalin führte seinen Krieg für sich allein ... Er wollte um jeden Preis zur selben Zeit in Lemberg einziehen wie Smilga und Tuchatschewskij in Warschau."
Genau wie seinerzeit in Zarizyn (Stalingrad), berichtet Isaac Deutscher, habe sich Stalin nicht an die Befehle des Oberbefehlshabers (Tuchatschewskij) gekehrt und habe Jegorow und Budjonnyj veranlaßt, den Vormarsch nach Lemberg fortzusetzen
Stalin hat Tuchatschewskij diesen Beitrag zu seiner Biographie nie vergeben."
In der offiziellen Parteigeschichte heißt es denn auch, der Polnische Krieg sei durch die Schuld Trotzkijs und Tuchatschcwskijs verloren worden. Trotzkij und Tuchatschewskij hätten die Einnahme Lembergs vereitelt. „Das war eine direkte Hilfe, nicht für unsere Westfront, sondern für den polnischen Pan (Herrenklasse) und für die Entente.“
Diese unglaubliche Geschichtsfälschung stammt natürlich von Stalin selbst. Er wollte den unheilvollen Befehl, den er als politischer Kommissar gegeben hatte, aus der Geschichte ausmerzen und die Schuld an der Niederlage seinen Gegnern Trotzkij und Tuchatschewskij zuschieben. Daß der rachsüchtige Stalin aus Geltungsbedürfnis und verletzter Eitelkeit Tuchatschewskij umgebracht haben könnte, ist nicht ausgeschlossen; jedenfalls glaubt Kriwitzkij nicht an eine Verschwörung der Generale der Roten Armee mit der Gestapo gegen Stalin, wie zumeist angenommen wird. Und hätte Stalin Generalissimus werden können, wenn Tuchatschewskij noch gelebt hätte?
Die sensationellste Erklärung der Tuchatschewskij-Affäre gibt Alexander Orlow, der Autor der nicht sehr seriösen „Secret History of Stalin’s Crimes“. Orlow behauptet, authentische Beweise dafür in der Hand gehabt zu haben, daß Stalin — damals noch Josef Dshugaschwili — bis zum Jahre 1913 Ochrana-Agent gewesen ist. Die dokumentarischen Beweise dafür seien den Generalen Jakir, Tuchatschewskij und Kork sowie dem Mitglied des Politbüros Kossior und dem Verteidigungskommissar Gamarnik gezeigt worden. Tuchatschewskij und seine Freunde sollen daraufhin beschlossen haben, das Land „durch die Beseitigung des auf den Thron erhobenen Agent provocateur“ zu retten
Orlow, der während des Spanischen Bürgerkrieges seinen Posten bei der republikanischen Regierung in Barcelona verließ und im Juli 193 8 nach Amerika flüchtete, kann keine Angaben darüber machen, wie es dann dazu gekommen ist, daß die Verschwörer erschossen wurden.
Selbst wenn man ein noch so scharfer Kritiker Stalins ist, — gegen den ungeheuerlichen Verdacht, daß er als Polizeispitzel für die zaristische Ochrana gearbeitet haben soll, sträubt man sich. Mag auch der sensationshungrigen Welt Orlows Argumentation, die jetzigen Machthaber im Kreml hätten sich nur deshalb dazu entschlossen, den ganzen Stalinmythos aufzugeben, weil ihnen der dokumentarische Beweis für die Agententätigkeit Stalins vorgelegt worden sei
Dafür, daß Marschall Tuchatschewskij eine Widerstandsgruppe gegen den als zaristischen Geheimagenten entlarvten Stalin geführt habe, gibt es bisher nicht den geringsten historischen Anhaltspunkt, und wenn man unterstellt, die heutige sowjetische Regierung habe im Februar 1956 schon gewußt, daß Stalin ein Agent provocateur war, der seine Parteigenossen der zaristischen Ochrana ausgeliefert hat, dann wäre es doch sonderbar, daß Chruschtschow in seiner Anklagerede von den Verbrechen Stalins und des Sicherheitsdienstes spricht, ohne das schlimmste Verbrechen Stalins zu erwähnen.
„Wir klagen Jeskow mit Reckt wegen der gemeinen Handlungen des Jahres 1937 an. Wir müssen jedoch die folgenden Fragen beantworten:
Konnte Jeshow zum Beispiel ohne Wissen Stalins ... verhaften lassen?
Gab es einen Meinungsaustausch oder Parteibeschluß ...? ... Konnte Jeshow eine Entscheidung ... fällen, in der es um das Schidtsal so prominenter Parteiführer ging? Nein, es wäre naiv, dies als das alleinige Werk Jeshows zu betrachten. Es ist klar, daß solche Dinge a 11 e i n v o n Stalin entschieden wurden und daß ohne seine Befehle und ohne seine Billigung Jeshow niemals hätte so handeln können.“
Diese Enthüllungen Chruschtschows, die nur ein winziger Ausschnitt aus seiner großen Rede über Stalins diktatorische Alleinherrschaft, über seinen Größenwahn und seine Selbstglorifizierung sind, interessieren uns hier nur insoweit, als daraus hervorgeht, daß die kollektive Sowjetregierung beschlossen hat, mit der „nachteiligen Praxis des Persönlichkeitskults" Schluß zu machen und somit die S t a 1 i n -L e g e n d e zu zerstören. Allerdings ist Chruschtschow, obwohl er am Ende seiner Rede sagt:
„Wir werden viel tun müssen, um die mit dem Persönlichkeitskult verbundenen, weitverbreiteten irrigen Ansid-iten auf dem Gebiet der Gesdiidttssdireibung, der Philosophie, der Volkswirtsdtaft und anderer Wissensdiaften ... ridrtigzustellen“, noch weit davon entfernt, mit allen Geschichtsfälschungen aufzuräumen; die Justizverbrechen an den Parteimitgliedern aller „Abweichler“ — also z. B. auch die an den Trotzkisten und Bucharinisten begangenen — anzuprangern; die Säuberungen in den verschiedenen Perioden und in den verschiedenen Unionsrepubliken mit gleichem Maß zu messen (d. h. auch die im Jahre 19 37 von ihm, Chruschtschow, unter dem Schutz des NKWD-Generals Sserow vorgenommenen Säuberungen im Nordkaukasus und in der Likraine, die ihm die Anerkennung „Erster Säuberer des Politbüros“ eintrugen); und die Übergriffe der drei aufeinanderfolgenden Chefs des Staatssicherheitsdienstes — Jagoda, Jeshow und Berija — nicht so verschieden zu bewerten, wie er es in seiner Rede getan hat. Jeshow als bloßen Befehlsempfänger und als willenloses Werkzeug Stalins hinzustellen, gleichzeitig jedoch Berija, den hundertprozentigen Stalinisten, den Schöpfer der Stalin-Legende als einen „tollwütigen Gegner unserer Partei und Agenten eines ausländischen Spionagedienstes, der sich Stalins Vertrauen erschlidten hatte . . ., einen erbärmlidren Provokateur ..., der sich von verbredterischen Motiven leiten ließ ..., der bestialisd^e Methoden anwandte, sich das unglaublidre Mißtrauen Stalins gesdud^t zunutze machte .. . und ungeheuerlid-ie Verbrednen begangen hat ...“, das heißt nicht nur, einige Legenden bestehen lassen, sondern neue schaffen. Solange Jeshow an der Spitze des NKWD stand, „entschied Stalin alles allein“, und es war niemandem möglich, „seinen eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen“; als aber „die Berija-Bande die Staatssicherheitsorgane beherrschte", habe Berija, so behauptet Chruschtschow, Stalin „vorgeschlagen, „ihn und seine Komplizen mit der Besdtaffung von Material in Form von Erklärungen, anonymen Briefen, allerhand Gerüchten und Indiskretionen zu beauftragen“.
Ist es nicht grotesk, von Chruschtschow die gleichen Beschuldigungen gegen B e r i j a zu hören, die er, wenige Minuten vorher, als er von der Wiederaufrollung vieler Fälle von seinerzeit hingerichteten Mitgliedern des ZK der Partei, die auf dem XVII. Parteitag gewählt worden waren, sprach, selbst als „völlig aus der Luft gegriffen“ bezeichnet hatte?! „Als nunmehr die Fälle einiger dieser sogenannten „Spione“ und „Saboteure“ untersudrt wurden, hat sich gezeigt, daß diese Fälle restlos erfunden waren. Die Schuldgeständnisse vieler Personen, die verhaftet und volksfeindlicher Tätigkeit bezichtigt wurden, waren mit Hilfe grausamer und unmenschlicher Folterungen erpreßt worden ... Viele Tausende ehrlid'ier und unschuldiger Kommunisten kamen infolge dieser ungeheuerlichen Rechtsbeugungen ums Leben, weil jedes noch so verleumderische „Geständnis“ akzeptiert wurde und weil man Selbstbeschuldigungen und Beschuldigungen anderer Personen durch Gewaltanwendungen erpreßte. In gleidrcr Weise wurden die „Fälle“ gegen hervorragende Partei-und Staatsfunktionäre wie Kossior, Tschubarj; Postyschow, Kosarjew und andere fabriziert.“
Die große „Tschistka“ wurde unter Jeshow vorgenommen, aber vor ihm und nach ihm herrschten im Grunde die gleichen „Untersuchungsmethoden". Weder Iwan Nikititsch Smirnow, noch Krestinskij, noch Kossior oder Kedrow sind Volksfeinde, Agenten ausländischer feindlicher Mächte oder Kapitalistenknechte gewesen. Auch Berija nicht. Das einzige, was der unvoreingenommene Betrachter der sowjetischen Geschichte sagen kann, ist, daß die „Justiz“, als Berija Leiter des Staatssicherheitsdienstes geworden war, sich kaum änderte, obwohl Stalin ja Jeshow am 8. Dezember 1938 abgesetzt und Berija zum Volkskommissar für Innere Angelegenheiten (NKWD) ernannt hatte, weil er die von Jeshow durchgeführte „große Säuberung“ als definitiv beendet anzusehen entschlossen war. Dennoch lebten bald die „Säuberungen“ wieder auf, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie zur Zeit der Jeshowschtschina. Doch allmählich steigerten sie sich wieder und Chruschtschow selbst sagt in seiner Rede, daß Stalin, je älter er wurde, um so hemmungsloser seine Macht mißbrauchte. Stalin habe Woroschilow und Andrejew von der Mitarbeit im Politbüro ausgeschlossen und habe Molotow und Mikojan verhaften lassen wollen. Offensichtlich habe Stalin beabsichtigt, „sich der alten Politbüromitglieder zu entledigen", die zu viel über ihn wußten, und sie „durch weniger erfahrene Personen“ zu ersetzen, „die seinen Ruhm auf jede Weise verbreiten sollten". „Es ist anzunehmen, daß er (Stalin) damit zugleich auf die spätere Vernichtung der alten Mitglieder des Politbüros hinarbeitete, um sämtliche von ihm begangenen schändlichen Handlungen zu kaschieren ..."
Es war also Stalin, Stalin allein, der, se\ it er seine Alleinherrschaft gesichert sah, Tausende, Zehntausende, Hunderttausende von Menschen umgebracht hat, und nicht zuletzt deswegen, weil er die Kritiker seiner wenig ruhmreichen politischen Vergangenheit, die Zeugen für seine Fehler und Irrtümer, die Mitwisser seiner Verbrechen, kurz, alle vernichten wollte, die jene glanzvolle — von Lawrentij Pawlowitsch Berija, dem treuesten seiner Helfer und Henker geschaffene — Stalin-Legende hätten widerlegen können. Bei allen den Schandtaten, den Geschichtsfälschungen, den erfundenen Beschuldigungen, den „konstruierten“ Anklagen, den gefälschten Dokumenten und Protokollen waren Jagoda, Jeshow, Berija — wie auch Chruschtschow und viele andere lediglich Stalins Handlanger.
Es ist schon eingangs darauf hingewiesen worden, daß sofort nach dem Tode Stalins mit der Liquidierung des Stalinkultes und mit der Revision der sowjetischen Politik begonnen wurde. Das Verdienst Chruschtschows besteht darin, mit dieser in der Geheimsitzung vor den Delegierten gehaltenen Rede über die neue Orientierung, über die Änderung des Geschichtsbildes und die Zerstörung der Stalin-Legende, den Umschwung von 19 53 ideologisch untermauert zu haben.
Stalin ohne Glorienschein?
„Und so bleibt uns nichts, als dennoch zu dienen und, wenn man uns ermordet, zu dulden. Würde unser Widerstand anderes vollbringen, als das Übel zu steigern? Wenn ein Bud'iarin, ein Pjatakow sich plötzlich von der Anklagebank erhoben, in letzter Stunde die armen Genossen als Lügner entlarvt hätten, den Staatsanwalt als Fälscher, die Richter als Mitschuldige, die schurkisdte Inquisition, die geknebelte Partei, das verdummte, terrorisierte Zentralkomitee, das lahmgelegte Politbüro, den Chef als Beute seines Albdrud^s — weldt eine Demoralisierung des Landes, welcher Jubel in.der kapitalistisdien Welt, welche Sd-tlagzeilen in der faschistischen Presse! Der Moskauer Skandal! Der Bolsdiewismus innerlidi verfault! Der Chef von seinen Opfer angeklagt! Nein, wahrhaftig, lieber das Ende, welches Ende auch immer! Das tst eine Rechnung, die wir untereinander zu begleidren haben ..." 13°).
Diese Worte läßt Victor Serge „den alten einflußreichen Bolschewiken" Kirill Rublow 131), sagen, einen ehemaligen Oktoberkämpfer, der — nach der Erschießung Buch
Die Angst davor, daß die scharfe Kritik am „Woshdj“ und die Zerstörung des Stalinkults zu einer-„Demoralisierung“ geführt habe und daß eine gewisse Auflockerung der Ideologie und die Schwächung des Polizeiapparates zwangsläufig eine Erschütterung der Autorität überhaupt mit sich bringe, hat wohl auch Chruschtschow veranlaßt, den Erwartungen des Auslands im Geiste der Rublows entgegenzutreten. Beim Neujahrempfang 19 57 im Kreml brachte er einen Trinkspruch auf Stalin aus, nannte ihn „einen großen Kämpfer gegen den Imperialismus“ und sagte: „Was die Bekämpfung der Imperialisten anbetrifft, so sind wir alle Stalinisten“.
„Nikita Chruschtschows aufsehenerregende Kehrtwendung hat überall ein Rätselraten ausgelöst /Die Welt fragt: Was geht im Kreml vor?“ 130) — „Chruschtschow verteidigt Stalin“ — „sensationelle Erklärung“ — „radikale Kursänderung“ — „Salto mortale“ — „neue Kapriole des sowjetischen Parteichefs“ und Ähnliches schrien die Schlagzeilen der Weltpresse. Um nichts dergleichen handelte es sich. Schon in seiner Rede über Stalin in der geschlossenen Delegiertenversammlung am 24. /25. Februar 1956 hatte Chruschtschow gesagt: „Wir dürfen diese Angelegenheit nicht aus den Reihen der Partei hinaus, insbesondere nicht in die Presse, dringen lassen .. . Wir müssen die Grenzen kennen; wir dürfen dem Feind keine Munition liefern; wir dürfen unsere schmutzige Wäsche nicht vor seinen Augen waschen ...“ Die Liquidierung der Stalin-Legende, die Abkehr vom Personenkult, die Bloßstellung der Fehler, Irrtümer und Verbrechen des Diktators sollte — so war es der Wunsch Chruschtschows — den Rahmen eines innersowjetischen Vorgangs nicht überschreiten, der Kreml wollte die vom Zentralkomitee beschlossenen Maßnahmen selbst steuern, die Gegner sollten sie nicht als Schwäche des Regimes mißdeuten können „Die als notwendig empfundenen Reformen sollte das Produkt eigener Aktivität sein und nicht Zeichen einer nachgiebigen Passivität werden“, wie es ein hervorragender Rußlandkenner in seinem Artikel über die Außerordentliche Session des Obersten Sowjets vom 11. Juli 1956 ausdrückte
Wenn das Ausland glaube, die Abwendung vom Persönlichkeitskult bedeute eine „Versöhnung mit der bürgerlichen Ideologie“, wenn Kräfte außerhalb der Sowjetunion hofften, die Kritik an Stalin für ihre eigenen Zwecke ausnützen zu können — schrieb die von der Akademie der Wissenschaften herausgegebene Zeitschrift „Woprossy Filosofii" —, so sei dies ein schwerer Irrtum, und in der Tat hat es selbst in der rigorosesten Abrechnung mit Stalin, in der sogenannten Geheimrede Chruschtschows vom 24. /25. Februar 1956, keinen Passus gegeben, der in dieser Weise ausgelegt werden könnte. Chruschtschow stellte damals ausdrücklich fest, Stalin habe in dem erfolgreichen ideologischen Kampfe gegen die Trotzkisten, gegen die „Rechten“ und die bürgerlichen Nationalisten (von denen ja auch die heutigen Machthaber im Kreml noch behaupten, daß sie den „Kapitalismus“ hätten wiederherstellen wollen), „eine positive Rolle gespielt“; aus diesem Kampf, der mit der ideologischen Entwaffnung aller Feinde des Leninismus geendet habe, sei die Partei gestärkt und gestählt hervorgegangen; und zum Schluß seiner großen Anklagerede bescheinigte Nikita Chruschtschow dem verunglimpften Diktator sogar, daß dieser stets von der Überzeugung durchdrungen war, „alles getan zu haben, was im Interesse der Verteidigung der Arbeiterklasse gegen die Anschläge der Feinde und gegen die Angriffe des imperialistischen Lagers notwendig“ gewesen sei. „Wir dürfen nicht sagen, daß dies Handlungen eines vom Schwindel befallenen Despoten gewesen seien. Nadt seinen (Stalins) Ansichten lagen diese Handlungen im Interesse der Partei ... Hierin liegt die ganze Tragödie ..."
Diese Worte Chruschtschows, die allerdings in seiner Rede vom 24. /25. Februar 1956 in den Hintergrund gedrängt werden durch die rückhaltlosen Enthüllungen über Stalins schwere Verbrechen, enthalten im Kern nichts anderes als das, was der Parteichef knapp zehn Monate später vor den ausländischen Diplomaten über die Verdienste Stalins gesagt hat. Von einer Kehrtwendung um 180° kann also keine Rede sein. Lediglich der Akzent hat sich etwas verschoben.
Daß aus der Fanfare eine Chamade werden mußte, war schon deswegen unvermeidlich, weil ja die kräftigen Trompetentöne der Geheimrede Nikita Chruschtschows in der Sowjetunion nicht veröffentlicht wurden. Nur der Inhalt des Rechenschaftsberichts und der Diskussionsreden auf dem XX. Parteitag wurden der allgemeinen Erörterung zugänglich gemacht. Aber nicht einmal diese sind in der „Entschließung des 20. Parteitages zum Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSU“
Nicht viel anders ist der Tenor der Resolution des Zentralkomitees, in deren überschrift schon deutlich die thematischen Grenzen abgesteckt sind: „Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen“
Aber sie fanden kaum einen Niederschlag in dem „Beschluß des Zentralkomitees vom 30. Juni 19 56. Es ist dort von dem verhängnisvollen Personenkult die Rede, der „der Partei und dem Volke großen Schaden zugefügt, aber die Natur der sowjetischen Gesellschaftsordnung nicht geändert habe. Die persönliche Anklage gegen Stalin beschränkt sich im wesentlichen auf zwei Punkte: erstens sei ihm der Personenkult zu Kopf gestiegen und habe gewisse negative Charaktereigenschaften, auf die seinerzeit schon Lenin hingewiesen hat, „in gewaltigem Maße gefördert", vor allem seine brutale Eigenmächtigkeit, seinen Macht-hunger, seine Rücksichtlosigkeit, seinen Hang zu Selbstglorifizierung und schrankenloser Willkürherrschaft; zweitens habe Stalin eine falsche wirtschaftspolitische Formel aufgestellt, und diese habe „dem sozialistischen Aufbau und der Entwicklung der Demokratie innerhalb der Partei und des Staates“ erheblich geschadet. Im übrigen jedoch werden die großen Verdienste Stalins, „der stets für den Schutz der UdSSR vor den Anschlägen der Feinde eingetreten“ ist, vom Zentralkomitee gebührend gewürdigt. Der Stalinmythos ist durch diesen „Beschluß“
zwar angegriffen, aber keineswegs zerstört worden, vor allem deshalb nicht, weil sich die Kritik an dem Diktator in allgemeingehaltenen Phrasen (Ungeheure Schäden durch den Personenkult — Mißachtung der sowjetischen Gesetzlichkeit — Verstöße gegen die Leninschen Prinzipien und Normen des Parteilebens — Verletzung des Grundsatzes der kollektiven Führung) bewegt und keine konkreten Einzelfälle bringt.
Nikita Sergejewitsch Chruschtschow jedoch hatte Fakten in Hülle und Fülle genannt, und nicht nur Fakten, Daten und Beweise. Er hatte auch Angaben darüber hinzugefügt, was bisher schon unternommen wurde und was in Zukunft noch getan werden soll, damit endlich die historische Wahrheit festgestellt, die Stalin-Legende zerstört und die Parteigeschichte revidiert werden kann. Er berichtete, das Zentralkommitee habe eine Parteikommission eingesetzt, die unter der Kontrolle des Präsidiums des ZK Untersuchungen darüber anzustellen hat, „wieso Massenunterdrückungen gegen die Mehrheit der Mitglieder und Kandidaten des ZK, die auf dem XVII. Parteitag der KPdSLI (Januar 1934) gewählt worden waren, möglich gewesen sind“ (wobei bereits festgestellt wurde, daß 70 Prozent der Mitglieder und Kandidaten des ZK in den Jahren 1937/38 ohne rechtliche Grundlage verurteilt und liquidiert worden sind); anschließend an diese Untersuchung, sagte der Redner, sei auch eine gründliche Nachprüfung der mysteriösen Kirow-Affäre eingeleitet worden, die allerdings noch nicht zu endgültigen Resultaten geführt hat; der Militärsenat des Obersten Gerichts, der seit 1954 mit der Nachprüfung der Urteile gegen hervorragende Partei-und Staats-funktionäre beschäftigt sei, habe 7679 Personen rehabilitiert. Ferner berichtete Chruschtschow, es sei beschlossen worden, die Geschichte der Partei und der Sowjetunion, die lange Zeit hindurch in schamloser Verfälschung der historischen Wahrheit gelehrt worden sei, gründlich zu revidieren; die zu Stalins Verherrlichung verfaßte offizielle Parteigeschichte und mit ihr der Stalin-Mythos müsse verschwinden und durch ein „ernstzunehmendes Lehrbuch“ ersetzt werden; das Präsidium des Zentralkomitees habe auch den Beschluß gefaßt, einen neuen Text der Nationalhymne einzuführen, und schließlich, sagte Chruschtschow, werden wir „nach diesem Parteikongreß auch viele militärische Operationen des letzten Krieges neu bewerten und im Lichte der wirklichen Tatsachen darstellen müssen“. Über die Notwendigkeit, ein auf den historischen Gegebenheiten und nicht auf Legenden fußendes Lehrbuch herauszubringen, das den „in den letzten siebzehn Jahren“ benutzten „Kurzen Lehrgang“ ersetzen könne, hatte Chruschtschow übrigens schon in seinem Rechenschaftsbericht vom 14. Februar 1956 gesprochen, ohne jedoch auf die Geschichtsfälschung Stalins hinzuweisen — im Gegenteil: in dieser Rede vor dem XX. Parteikonkreß hatte Chruschtschow nur Lawrentij Berija angegriffen, den „durchtriebenen Agenten der Imperialisten“, den Verräter und gefährlichen Volksfeind. (Als ob Berija je mehr als eine Marionette Stalins gewesen sei!) Der Diskussionsredner Anastas I. Mikojan hingegen war schon etwas deutlicher geworden in seiner Kritik an den bisherigen Lehrbüchern und hatte mit beredten Worten die Verkündung der historischen Wahrheit verlangt, offenbar auch hinsichtlich der Beurteilung des toten Diktators, denn Mikojan verzichtete darauf,
Berija zum Sündenbock für Stalins Untaten zu machen
Keiner dieser Tatsachenberichte und Vorschläge, keine dieser Kritiken und Maßnahmen hat eine Bestätigung oder ein Echo in den offiziellen Verlautbarungen der Partei gefunden. Beide Resolutionen, die am 24. Februar veröffentlichte „Entschließung des XX. Parteitages zum Rechenschaftsbericht des ZK der KPdSLI“ wie auch, der achtzehn Wochen später, am 30. Juni 1956, gefaßte „Beschluß des ZK der KPdSLI über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen“ bleiben inhaltlich weit hinter dem zurück, was die Reden auf dem XX. Parteitag erwarten ließen. Hinzu kommt, daß selbstverständlich auch gewisse historische Ereignisse (Polen, LIngarn) retardierend auf die Entwicklung in der Sowjetunion eingewirkt und viel dazu beigetragen haben, das anfangs erhoffte raschere Tempo der Entstalinisierung zu hemmen.
Trotzdem kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Abbau der stalinistischen Ära seinen Fortgang nimmt und daß die Stalin-Legende allmählich liquidiert wird. Es ist zu erwarten, daß die Rehabilitierung der Opfer Stalins und seiner NKWD, nicht an irgendeinem willkürlich festgesetzten Zeitpunkt haltmachen oder einen bestimmten Personenkreis ausschließen kann. Dieser Prozeß ist nun einmal in Gang gekommen; er ist unaufhaltsam, und Politiker wie Nikita Chruschtschow werden sich klar darüber sein, daß sie — historisch gesehen — Übergangsfiguren sind, denen im geschichtlichen Werdegang eine ziemliche undankbare Rolle zugefallen ist. Noch hat diese Übergangsperiode kaum begonnen. Noch schwankt Stalins Charakterbild in der Geschichte, und niemand weiß, wie es ohne Glorienschein aussehen wird. Wenn einmal alle geheimgehaltenen Geschichtsquellen durchstudiert und ausgewertet sein werden, und wenn dann eine gewisse historische Distanz es ermöglicht, die Dinge mit schärferen Konturen zu sehen, wird auch der legendenumwobene Josef Stalin-Dshugaschwili so, wie es ihm gebührt, in die Zeitgeschichte eingeordnet werden. Das Bild dieses Mannes herauszuarbeiten, dem es beinahe gelungen wäre, „sich selbst zu erfinden", kann erst das Werk künftiger Historiker sein.
Anmerkung Susanne Leonhard (geb. 1895) studierte während des Ersten Weltkrieges in Göttingen Mathematik und Philosophie und war danach — bis 1933 — freiberuflich als Publizistin tätig, zumeist in Berlin. Nach der Machtübernahme durch Hitler wurde sie aus dem „Schutzverband deutscher Schriftsteller“ ausgeschlossen. Wegen ihrer Mitarbeit in einer Gruppe der Widerstandsbewegung gegen das nationalsozialistische Regime wurde Frau Leonhard von der GESTAPO verfolgt, entkam aber durch einen glücklichen Zufall im Jahre 1935 nach Schweden und gelangte von dort in die Sowjetunion, wo sie 1936 von der NKWD verhaftet wurde. Nach zwölfjähriger Gefangenschaft kehrte sie 1948 nach Berlin zurück, arbeitete zunächst sechs Monate als Lektorin im Verlag „Kultur und Fortschritt" und flüchtete dann nach Westdeutschland. Hier versuchte sie, ihre journalistische Tätigkeit wieder aufzunehmen; außerdem schrieb sie ein Buch über ihre dreizehnjährige Emigrationszeit. Dieses Buch, betitelt „GESTOHLENES LEBEN", erschien zuerst in schwedischer Übersetzung in Stockholm, zwei Jahre später— im Mai 1956 — auch in der Originalfassung (Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt).