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Eine politische Konzeption für den Westen | APuZ 12/1957 | bpb.de

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APuZ 12/1957 Wiederaufbau eines Bündnisses Jahr der Entscheidung im Mittleren Osten Eine politische Konzeption für den Westen Politik und Zhi’tghschich’te

Eine politische Konzeption für den Westen

ROBERT STRAUSZ-HUPE

Wenn der Kommunismus triumphieren und die Freie Welt der totalitären Tyrannei erliegen würde, dann wäre diese historische Tragödie einer einzigen Ursache zuzuschreiben: Der Uneinigkeit der westlichen Völker.

Solche Uneinigkeit ist nichts Neues. Der erste größere Riß in der Weltordnung, verursacht durch den Sieg der Alliierten im ersten Weltkrieg, war der japanische Angriff auf China im Jahre 1931. Als Außenminister Henry Stimson erklärte, es handle sich um eine japanische Aggression und zu einer gemeinsamen Politik aufrief, beachtete weder Großbritannien noch die anderen westlichen Großmächte seinen Aufruf, und so waren die Vereinigten Staaten selbst nicht in der Lage, seinen Worten die Tat folgen zu lassen. Die weiteren Ereignisse der dreißiger Jahre, die zum zweiten Weltkrieg führten, bilden eine lange und traurige Geschichte westlicher LIneinigkeit: die westlichen Demokratien standen händeringend abseits, einer schob die Schuld auf den anderen, und es gelang ihnen nicht, ihre Kräfte gegen die gemeinsame Gefahr zu vereinigen, bis es zu spät war, die Katastrophe eines neuen Weltkrieges zu verhindern.

Wenn der Westen dieses selbst herbeigeführte Unheil überlebte, dann verdankte er seine Rettung weitgehend der Tatsache, daß die Angreifer selbst keine Einigkeit erlangten. Noch wichtiger war, daß es ihnen nicht gelang, ihren Angriff im Namen einer Ideologie mit wirklich internationaler Anziehungskraft zu führen. Die Nazis und die japanischen Militaristen konnten sich nie auf eine gemeinsame militärische Strategie einigen, ganz zu schweigen von gemeinsamen politischen Zielen. Die Rassenideologie fand außer bei Sonderlingen und Geistesschwachen wenig Anhang, und die Japaner haben nie versucht, eine Ideologie für internationalen Gebrauch auch nur zu entwerfen. Ihr extremer Nationalismus und ihr Rassenbewußtsein hinderten sowohl die Nazis als auch die japanischen Militaristen, eine weltweite ideologische Unterstützung und das revolutionäre Potential der farbigen Rasse zu mobilisieren. Beide waren im wesentlichen militärische Abenteurer und keine Revolutionäre. Dank dieser selbst auferlegten Beschränkungen und allgemeinen ideologischen Dummheit kam der Westen relativ leicht davon, löschte den Brand, bestrafte die Brandstifter und vollbrachte Wunder materiellen Wiederaufbaus. Am allerwichtigsten aber war, daß der Westen zu Ende des Krieges in der ganzen nicht-westlichen Welt Stellungen besetzt hielt, die mindestens so stark waren wie die, die er 1939 besessen hatte; das britische und das französische Empire waren wieder hergestellt, und amerikanische Streitkräfte kontrollierten den gesamten Pazifischen Ozean, die japanischen Inseln und Schlüsselstellungen auf dem chinesischen Festland.

Trotz dieser eindrucksvollen Leistung blieb dem Westen nach dem Kriege seine Einheit nicht bewußt. Wenn sie nicht vor einer unmittelbaren und tödlichen Gefahr stehen (eine Zufälligkeit, die sie bis jetzt immer zu einer siegreichen, wenn auch improvisierten, Allianz zusammengeführt hat), zeigen die westlichen Völker eine erstaunliche Unfähigkeit, sich selbst als wirklich ein Volk zu verstehen. Aber sie sind es; sie sind von der übrigen Welt getrennt durch eine sie in der Tiefe verbindende Einheit von Geschichte, Kultur und Recht. Die Geschichte der europäischen und amerikanischen Völker ist nur verständlich, wenn man sie als Episoden derselben Geschichte liest, und sinnlos, wenn man sie getrennt erzählt. Keine einzige westliche Nation wäre, was sie heute ist, ohne die dauernden und durchdringenden Wechselbeziehungen mit den anderen. Der Komplex Europa-Amerika ist ein integrales Ganzes, in dem die verschiedenen Teile aus ähnlichen Elementen gemacht sind und sich um eine gemeinsame Achse drehen, wenngleich sich das Gravitationszentrum in unserer Zeit von der Alten nach der Neuen Welt verschoben hat. Um die Natur dieses Komplexes zu verstehen, muß man sich nicht auf Asien oder Afrika oder etwa auf Ruß-land beziehen. Er ist eine eigene historische Einheit, ein Organismus, wie es seine einzelne Teile — Europa, Amerika und die überseeischen Gebiete — nicht sind. Dies alles wird sofort offenkundig, wenn man den sich stets um die eigene Nation drehenden Kirchturmsstandpunkt so mancher historischer Darstellungen verwirft, um die großen gemeinsamen Errungenschaften des Westens zu sehen, und nicht seine bruder-mörderischen Kämpfe und, um es vollends deutlich zu machen, den Westen betrachtet wie es die nichtwestlichen Völker tun. Die Völker Asiens und Afrikas betrachten den Westen als ein exklusives Universum — und das trotz der gegenteiligen Proteste, die aus vielen westlichen Kreisen an Asien und Afrika gerichtet werden. Der Westen kann seine mangelnde Solidarität leidenschaftlich bekennen: in den Augen der nicht-westlichen Völker ist er gezeichnet vom gemeinsamen Erbe seiner Errungenschaften und Fehlschläge, Tugenden und Laster.

In der Rolle des historischen Bösewichts

In der kommunistischen Doktrin, unterstützt von der Macht der Sowjetunion, steht der Westen einer wahrhaft weltweiten und revolutionären Herausforderung gegenüber. Verglichen mit dem sowjetischen Kommunismus war der ideologische Appell von Nazi-Deutschland und der japanischen „Zone gemeinsamer Prosperität“ von armseliger Wirkung. Die kommunistische Doktrin hat viele logische Mängel und ist aufgebaut auf vielen Begriffen von Politik und Wirtschaft, die sich durch das Wachstum der modernen Gesellschaft als falsch oder veraltet erwiesen haben. Dennoch hat der Kommunismus es fertiggebracht, eine umfassende Vision des sozialen Fortschritts in der ganzen Welt anzubieten, die Aussicht auf eine Zukunft, an der alle Menschen teilhaben können. Obgleich diese Vision ein Betrug ist, der zum Nutzen des sowjetrussischen Imperialismus begangen wird, haben sich viele Millionen Menschen in der ganzen Welt nachdrücklich damit identifiziert, und sie glauben, daß der kommunistische Machtanspruch in ihrem eigenen Namen angemeldet wird.

Durch eine Reihe geglückter Anpassungen ist es den Kommunisten gelungen, den sozialen und wirtschaftlichen Appell ihrer Doktrin mit den nationalen Bestrebungen der farbigen Rassen zu verschmelzen. Wieder kann man leicht zeigen, daß die Ehe des Kommunismus mit dem Nationalismus der asiatischen und afrikanischen Bauernmassen logisch unvereinbar ist. Trotzdem ist es eine Tatsache, daß die Kommunisten mit Erfolg einen psychologischen Trick angewandt haben, der die Wahrheit, so wie wir sie kennen, vergewaltigt und außerdem den Westen in die Rolle des historischen Bösewichts drängt.

Die Kommunisten haben anderen Völkern mit Erfolg Ideen verkauft, nicht nur, weil sie wissen, wie man mit Ideen umgeht, sondern auch, weil sie einen begrifflichen Rahmen haben, eine Theorie, die die Beziehung zwischen den Ideen zeigt und eine Erklärung für die gegenseitige Abhängigkeit aller Dinge bietet, der politischen, ökonomischen, technologischen und sozialen. Es ist diese Theorie, die die Kommunisten die Richtung erkennen läßt. Wir wissen, daß die Richtung böse ist. Es ist nichtsdestoweniger eine Tatsache, daß die Kommunisten zielbewußt in dieser Richtung marschiert sind und jetzt, vierzig Jahre nachdem sie sich auf den Marsch gemacht haben, auf eine Reihe außerordentlicher Fortschritte zurückblicken können. Diese Fortschritte sind buchstäblich alle auf Kosten des Westens gemacht worden.

Der Westen hat keine klare Vorstellung von sich selbst

Der erste Grund für den Rückzug des Westens war, daß die westlichen Völker sich nicht auf das gemeinsame Ideengut besonnen haben, um der kommunistischen Ideologie entgegenzutreten. Der Westen hat kein Gefühl für die Richtung und ist so außerstande, die Kräfte neu zu formieren, die die Kommunisten gegen ihn ins Feld geführt haben. Kurz: Der Westen hat keine klare Vorstellung von sich selbst.

Wenn der Westen eine klare Vorstellung von sich selbst hätte, wären unsere Staatsmänner gezwungen, zuzugeben, daß der Westen während der letzten zehn Jahre eine große Niederlage nach der anderen erlitten hat. Was ein solches Eingeständnis jetzt so schwierig macht, ist der Umstand, daß nicht alle westlichen Nationen in gleicher Weise an dieser Niederlage beteiligt sind. Einzeln betrachtet, sitzen nicht wenige westliche Nationen noch unverletzt und ungestört auf ihrem jeweiligen Ast des westlichen Baumes. Sie scheinen ungerührt durch die Tatsache, daß andere heruntergefallen sind und daß der Stamm selbst immer schwächer wird.

Fast jeder stimmt zu, daß wir einige Jahre lang im Zustand eines akuten Konflikts mit der Sowjetunion gelebt haben. Diesen Zustand nannte man allgemein Krieg, abgestuft je nach dem Grad der Gewaltanwendung von kalt bis heiß. Es gibt kaum jemanden, der sich in Haarspaltereien einließe darüber, daß die Berliner Luftbrücke „kälter" war als der Krieg in Korea und der Krieg in Indochina, alle diese Konflikte waren Kraftproben — Schlachten — im weltweiten Feldzug gegen den Kommunismus. An diesem Punkt jedoch scheint die westliche Phantasie nachzulassen; die einzelnen Schlachten schienen ziemlich real, aber der Konflikt als ganzer schien unwirklich. Die Vereinigten Staaten „gewannen" die Berliner Luftbrücke, die Franzosen „verloren“ den Krieg in Indochina; der Krieg in Korea war in etwa ein Unentschieden. Aber die westlichen Völker haben diese einzelnen Schlachten nicht als Kämpfe in ein und demselben Feldzug angesehen, den die Kommunisten gegen sie alle führten. Daß das wirklich der Fall war, wäre sofort klar gewesen, wenn der Feldzug von Anfang an „heiß" gewesen wäre.

Wir wollen einmal annehmen, der Dritte Weltkrieg wäre in der herkömmlichen Weise im Jahre 1946 ausgebrochen nd die Führer der Freien Welt wären im zehnten Jahr des Kampfes zu einem Kriegsrat zusammengekommen, um die Lage zu beurteilen. Welche Einschätzung der Lage hätte ihnen ihr Vereinigter Generalstab vorgelegt?

Zunächst einmal würden sie sehen, daß der Krieg geführt wurde auf dem Territorium der freien Welt und nicht auf dem Territorium des Sowjetblocks. 1946 waren die Sowjets von einer festen Kette westlich kontrollierter Gebiete eingekreist, die sich von Norwegen bis Japan erstreckte: Jetzt ist diese Kette zerbrochen:

nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten keinen entschlossenen Kampf zur Verteidigung Chinas geführt, wie sie es während des Krieges getan hatten; China ist den Kommunisten zugefallen. Sie sind nicht mehr in Indien und Burma, in Ländern, die sie durch den ganzen Zweiten Weltkrieg unter den widrigsten'Umständen vor dem Zugriff überlegener japanischer Kräfte bewahren konnten. Der bessere Teil von Indochina ist vom Feind überrannt worden. Sie haben kaum Singapur gehalten; sie haben dem Ersuchen der Regierung von Ceylon stattgegeben, die Insel zu verlassen, ihren letzten Stützpunkt im Indischen Ozean. Sie haben in Korea tapfer gekämpft; sie sahen den Sieg schon in ihrer Hand und hätten die östliche Flanke des kommunistischen Bündnisses aufrollen können, die schwächste und offenste Flanke. Statt dessen haben sie ein Waffenstillstandsangebot angenommen und dem Feind ermöglicht, seine schwer mitgenommenen Verteidigungsstellungen wiederherzustellen. Sie konnten sich nicht einigen, die Hilfsquellen Japans zu mobilisieren, obwohl sie dies Land kontrollierten und den guten Willen seiner Bevölkerung für sich gewonnen hatten. So haben sie in Asien gekämpft ohne sich die Unterstützung seiner größten Militärnation zu sichern.

Aber wenn bei dem imaginären Kriegsrat all diese traurigen Ereignisse das Vertrauen in den Endsieg der Führer der westlichen Allianz noch nicht erschüttert hätte, dann müßten sie immer noch die Lage im Mittleren Osten und im Mittelmeer betrachten.

Im Zweiten Weltkrieg haben die Alliierten um Suez und Nordafrika gekämpft mit Verlusten, die nur von denen des Krieges in Europa übertroffen wurden. Damals wurde Suez gehalten, Nordafrika zurückerobert. 1946 war die westliche Position, von Casablanca bis Bagdad, stärker als je zuvor. Aber bis zum Sommer 1956 war Suez in feindlichen Händen, und die militärischen Kräfte eines großen Mitgliedes der westlichen Allianz, Frankreichs, wurden in Afrika durch eine Revolte festgehalten, die von Ägypten angestiftet worden war. Die Kommunisten waren sprungweise bis tief in jedes arabische Land vorgestossen, und nur Cypern blieb als letzte und empfindlichste Basis im östlichen Mittelmeer übrig. Die Türkei, der stärkste Verbündete des Westens, war jetzt von feindlichen Mächten umgeben, seine Verbindungslinien mit den westlichen Streitkräften praktisch unterbrochen. Die Briten hatten Suez ohne Widerstand verlassen und so die Quellen der Ölversorgung Europas ungeschützt zurückgelassen.

Bei solcher Einschätzung der Lage könnten die Führer des Westens nur zu dem Schluß kommen, daß sich ihre Position katastrophal verschlechtert hätte — daß sie nicht nur eine Reihe vernichtender Niederlagen erlitten hätten, sondern daß diese Niederlagen nach 1953 mit zunehmendem Tempo gekommen seien: Die Kommunisten hatten die westliche Einschnürung durchbrochen und drohten nun, Europa einzukreisen.

Der Dritte Weltkrieg wurde jedoch im Jahre 1946 nicht erklärt. Wenn es so gewesen wäre, dann wäre wahrscheinlich keine der aufgezählten Positionen ohne harten Kampf aufgegeben worden. Wichtiger noch: die Entscheidung, diese Stellungen zu verteidigen oder aufzugeben hätte nicht bei den einzelnen Mitgliedern der westlichen Allianz gelegen; diese Allianz hätte, weil sie die Masse der Streitkräfte der freien Welt kontrolliert und den Schlüsselstellungen des Feindes gegenüber gestanden hätte, automatisch den Status eines globalen Systems angenommen, wie bei den Alliierten des Zweiten Weltkrieges.

Von 1946 bis 1956 hatte die Welt dem Buchstaben nach Frieden. Die Atomgeschütze schwiegen. Amerikaner und Russen begegneten sich nicht im offenen Kampf. Doch mögen künftige Historiker sehr wohl zu dem Schlüsse kommen, daß während dieser entscheidenden zehn Jahre der Dritte Weltkrieg gekämpft und von den westlichen Alliierten verloren wurde.

Daß der Westen sich nicht bewußt ist, daß er besiegt wurde, ja nicht einmal, daß er in einem tödlichen Kampf gestanden hat, macht die kommunistischen Siege nicht weniger real. Im Gegenteil, das Ausmaß des kommunistischen Erfolges beim Zerbrechen der westlichen Verteidigung wird dadurch bestimmt, daß er keinen Gegenangriff der westlichen Koalition hervorgerufen hat.

Die Intervention der Franzosen und Engländer am Suez und die Reaktion der Vereinigten Staaten enthüllen, wie tief die westliche Einheit gespalten ist: die westliche Allianz wurde zur Impotenz verdammt genau in dem Augenblick, in dem die Ungarnschlacht dem Westen eine großartige Gelegenheit bot, einen sowjetischen Rückschlag auszunutzen. Die anglo-französische Intervention im Mittleren Osten und das Versagen der Vereinigten Staaten, den Westen zu koordinieren, haben die Wirkung der Ereignisse auf die Weltmeinung tragisch verringert, vor allem in allen Ländern der „Neutralen". Alles in allem sind die Kommunisten wieder die Gewinner, und sie verdanken die Tatsache, daß sie den vollen Konsequenzen des ungarischen Auf-standes entkommen sind, einzig und allein der westlichen Uneinigkeit.

Schlachten, nur Episoden in militärischen Feldzügen

Wie sich der Westen herauslocken läßt aus einer Stärkeposition nach der anderen ist eine entnervende Geschichte. Eine Erklärung liegt in dem erstaunlich geringen Interesse, das westliche Staatsmänner an der kommunistischen Doktrin und so an der Mentalität ihrer Gegner zeigen. Das trifft besonders zu auf die, die die amerikanische Politik machen; sie neigten dazu, ihre Reaktion auf jede neue Situation zu improvisieren, und sie haben die dogmatische Folgerichtigkeit des kommunistischen Weltrevolutions-und Welteroberungsplanes nicht erkannt. Aber noch verderblicher als das Versagen, kommunistische Gedanken zu lesen, ist das historische Bild, das der Westen vom Krieg hat. In jenem Bilde sind Schlachten die Höhepunkte. „Auf die Schlacht kommt alles an". Aber Schlachten waren immer nur Episoden in militärischen Feldzügen, und die Geschichte kennt nur wenige Entscheidungsschlachten. Krieg ist nicht so sehr eine Reihe von blutigen Kämpfen, sondern das fortgesetzte Manövrieren riesiger Kräftesysteme — militärischer, politischer, ökonomischer und psychologischer Kräfte. Die erfolgreichsten Feldzüge sind die, in denen man den Gegner durch Manövrieren dahin bringt, daß er keine Wahl hat als sich zu ergeben oder einen aussichtslosen letzten Widerstand zu leisten.

Solche Feldzüge waren charakteristisch für das achtzehnte Jahrhundert: durch geschickte Bewegungen wurde der Gegner gezwungen, seine festen Punkte aufzugeben; isolierte Abteilungen wurden umfaßt und gezwungen, sich zu ergeben; Flankenbewegungen bedrohten den Feind im Rücken; und diplomatische Verhandlungen — einschließlich Waffenstillstandsverhandlungen — dienten dazu, das durch militärische Strategie Gewonnene zu konsolidieren.

Die Krisis der westlichen Verteidigung beruht nur teilweise auf der Veränderung des militärisch-technologischen Gleichgewichtes, obgleich diese Verschiebung selbst eine Folge der Unentschiedenheit des Westens ist. Der Westen ist in der Verteidigung, weil der sowjetische Feldzug mit politischen Manövern und begrenzten Kämpfen erfolgreich die überlegenen Kräfte des Westens getrennt umfaßt und neutralisiert hat, ohne daß seine eigenen Verteidigungsstellungen auf die Probe gestellt worden wären.

Der erste Schritt, der getan werden muß, damit der Westen nicht weiter der Niederlage zu-getrieben wird, die ihm in scheinbar kleinen Raten beigebracht wird, ist ein einheitlicher Oberbefehl. Obgleich die Atlantische Allianz (NATO) fast so etwas wie eine gemeinsame westliche Antwort auf die kommunistische Herausforderung ist, hat es noch keinen wirklich einheitlichen Oberbefehl gegeben. Die NATO stellt trotz prächtiger offizieller Stellungnahmen, die das Gegenteil behaupten, kein festes Militärbündnis dar: manche Mitglieder haben noch nie die vom NATO-Rat festgelegten Zahlen an Waffen und Soldaten erreicht; andere haben ihre Streitkräfte willkürlich zurückgezogen und sie außerhalb des Verteidigungsbereichs der NATO eingesetzt. Aber noch wichtiger ist, daß manche Gebiete, die für die Verteidigung der NATO von entscheidender Bedeutung sind — Nordafrika und Teile des Nahen und Mittleren Ostens — nicht genügend in den Atlantik-Pakt einbezogen sind und unter der ausschließlichen Führung eines Einzel-mitgliedes stehen oder gar nicht dazugehören, etwa so, als ob Premierminister Churchill 1944 General Eisenhower getrotzt und britische Truppen aus dem Feldzug gegen die Deutschen in Frankreich zurückgezogen hätte, um mit ihnen einen ausschließlichen britischen Angriff gegen den Balkan zu führen. Die NATO ist zu keinem wirklich einheitlichen Oberbefehl gekommen, trotz der bitteren Lehren von zwei Weltkriegen, in denen die Alliierten eine Niederlage nach der anderen erlitten bis sie sich auf ein Oberkommando mit unbeschränkter Macht einigen konnten.

Die SAETO und der Bagdad-Pakt, die der westlichen Allianz sozusagen lose angegliedert sind, stehen nur auf dem Papier. Sie sind eher diplomatische Konstruktionen als militärische Gruppierungen. Einige Mitglieder, besonders der Irak, Pakistan und Thailand, sind wie schwache Rohre, die sich im Sturm des asiatischen Nationalismus biegen, der von anti-westlichen Gruppen und Kommunisten entfesselt wird. Es ist Irrsinn, diese fragmentarischen und von inneren Gegensätzen zerrissenen Verbin-düngen für ein Verteidigungssystem der Freien Welt zu halten.

Es ist die alte Geschichte von zu wenig und zu spät. Daß das „zu wenig“ eine riesige Ausgabe in der Hauptsache amerikanischer Hilfsmittel in Form von Waffen und Wirtschaftshilfe darstellt, berührt das Urteil nicht: Diese kostspieligen Bemühungen um die Verteidigung gegen den Kommunismus haben dem Westen viel magereren Gewinn gebracht, als ihm die Kommunisten mit geringeren Ausgaben aber geschickteren Taktiken eingeheimst haben. Auf militärischem Gebiet wird der Beitrag der Vereinigten Staaten für die Verteidigung des Westens zweifelhaft durch den „atomaren Gegen-schlag“: die Möglichkeit, daß amerikanische Atomstrategie den Verbündeten Amerikas und Amerika selbst verheerende Vergeltung einträgt. Es soll hier nicht auf die technischen Probleme der westlichen Verteidigung eingegangen werden, noch detaillierte Lösungen vorgeschlagen werden. Eine Seite der strategischen Frage kann jedoch ohne den Rat der militärischen oder der Atomfachleute geklärt werden: eine Strategie für den Westen setzt voraus, daß der Westen weiß, was er verteidigen will. Offenkundig muß sein erstes strategisches Ziel sein, sich selbst zu verteidigen. Bis der Westen wirklich geeint ist, bleiben die verschiedenen Strategien zur Verteidigung dieses oder jenes geographischen Gebietes mit diesem oder jenem Waffensystem in einer Atmosphäre totaler Irrealität. Für den militärischen Experten mögen sie sinnvoll sein; sie sind politisch nicht annehmbar.

Eine wirksame politische Organisation ist notwendig

Der Westen muß zu einer wirksamen politischen Organisation kommen. Diplomatisch spricht der Westen mit vielen Stimmen und zieht, wenn er sich überhaupt bewegt, in mehreren und oft entgegengesetzten Richtungen.

Manche Führer der westlichen Welt verschanzen sich hinter den blau-weißen Schild der Vereinten Nationen-wenn man ihnen die Verantwortung für die gemeinsamen Mißgriffe der westlichen Diplomatie auferlegt.

Man sagt, die Existenz der Vereinten Nationen mache eine engere westliche Zusammenarbeit unnötig, weil die UN das richtige Instrument für die Lösung internationaler Probleme darstelle, und eine ausschließlich westliche Gruppierung bei anderen UN-Mitgliedern, vor allem den asiatischen, Anstoß errege. Also würde, so argumentiert man, eine Politik der Vereinigung des Westens die Vereinten Nationen schwächen, „der Menschen letzte, beste Hoffnung auf Erden“. Aber wofür man die Vereinten Nationen auch sonst in Theorie oder Praxis halten kann, sie sind kein Ersatz für die Einheit des Westens. Die zerstörende Wirkung, die die Schaffung eines echten westlichen Machtblocks auf die LINO haben könnte, dürfte nicht größer sein, als die zerstörende Wirkung, die der sehr echte kommunistische Machtblock ausgeübt hat. Es ist höchst wahrscheinlich, daß Stalins ursprüngliche Begeisterung für die UNO befeuert wurde durch die Erwartung, daß ihre Schaffung der Bildung regionaler Gruppen, die sich dem kommunistischen Machtblock gegenüber zu behaupten vermöchten, zuvorkäme.

Die UNO hat eines gemeinsam mit dem Kalten Krieg: ihr Betätigungsfeld ist die Freie Welt, nicht die Kommunistische Welt. Außerhalb der Freien Welt existiert die UNO nicht wirklich. Die Vereinten Nationen beanspruchen Universalität; aber es ist eine Tatsache, daß die kommunistisch-beherrschten Länder den Vereinten Nationen oder ihren Sonderorganisationen, die mit kommunistischem Personal und Angehörigen der Länder der Freien Welt besetzt sind, noch nie erlaubt haben hinter dem Eisernen Vorhang zu arbeiten. Angesichts dieser eigenartigen und wenig bemerkten Einseitigkeit sind die Vereinten Nationen offenkundig kein Ersatz für westliche Einheit. Dies ist an sich noch kein Argument für die Demontage der Vereinten Nationen, denn es sprechen viele, wenn auch bescheidene, Leistungen für diese internationale Vereinigung. Es ist jedoch ein Argument dafür, die ersten Dinge an die erste Stelle zu setzen. Auf der Tagesordnung des Westens kommt sein eigenes Überleben zuerst, und die westliche Politik gegenüber den Ver-einten Nationen sollte darauf abzielen, jene Bestimmung der Charta voll auszunützen, die die Schaffung engerer regionaler Vereinigungen von Nationen vorsehen.

Der Westen sollte mit Worten und Taten den guten Willen der asiatischen Völker zu gewinnen suchen — trotz des relativ kleinen Erfolges, der von solchen Bemühungen zu erwarten ist. Aber die westlichen Nationen sollten bei ihrem Werben um die asiatische Gunst nicht die Tatsache übersehen, daß die Position jeder einzelnen westlichen Nation gegenüber jeder nicht-westlichen Nation nicht stärker ist als die Position der westlichen Gemeinschaft insgesamt gegenüber der Gesamtheit der nicht-westlichen Völker. Ein geeinter Westen könnte die emporstrebenden Nationen Asiens und Afrikas steuern auf dem Wege zu wirtschaftlicher Besserstellung, politischer Stabilität und einer sympathischeren Haltung gegenüber dem Westen, den Errungenschaften seiner Vergangenheit und den Zielen seiner Gegenwart; ein übertrieben begeistertes Werben um geräuschvoll „anti-imperialistische“ asiatische und afrikanische Führer kann der Sache westlicher Einheit nur schaden, und damit dem einzelnen Freier. Der Westen sollte zuerst seinen eigenen reichen Garten bebauen.

Die Frage des Kolonialismus

Der Westen muß eine gemeinsame Politik festlegen im Hinblick auf die Probleme, die der Kolonialismus geschaffen hat und im Hinblick auf die Heraufkunft neuer Nationen in Asien und Afrika.

Alle echten Gemeinschaften sind Gemeinschaften geteilter Privilegien, geteilter Verpflichtungen und vor allem geteilter Prinzipien. Es muß einen gemeinsamen Nenner geben, auf den alle Meinungsunterschiede zurückgeführt werden können. Die Frage des Kolonialismus hat im westlichen Lager zu ernsten Meinungsverschiedenheiten geführt. Die Geschichte des Kolonialismus enthält vieles, das schlecht war I und vieles, vielleicht mehr, das den untergebenen Völkern zum Nutzen gereichte. Der Kolonialismus, wie ihn der Westen praktiziert hat, verschwindet jetzt schnell aus dem internationalen Bild. Das vielleicht größte Hindernis für die Erreichung einer vernünftigen Verständigung über eine gemeinsame westliche Politik ist nicht die Meinungsverschiedenheit darüber, ob man den Kolonialvölkern die Unabhängigkeit geben sollte oder nicht, sondern darüber, wie schnell die Emanzipation fortschreiten soll.

In der Art, wie die Amerikaner auf der Gleichberechtigung unterworfener Völker bestehen, spiegelt sich ihre alte Überzeugung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker. Die Amerikaner haben völlig recht, auf das edle Ziel der Freiheit hinzuweisen. Aber nicht wenige Fürsprecher des Anti-Kolonialismus in unserem Lande zeigen eine beträchtliche Unkenntnis der Völker, die sie befreien wollen, und sie sind gefühllos und gleichgültig gegenüber den Folgen einer solchen Befreiung für die Interessen des Westens. England und Frankreich würden sich nach Verlust ihrer überseeischen Besitzungen vielleicht mit dem Status einer drittrangigen Macht abfinden. Dann hätten sie aber wenig zu verlieren, das des Festhaltens wert wäre, und sie könnten dann den Neutralismus für den besseren Teil der Tapferkeit halten und versuchen, sich mit den Sowjets zu arrangieren, selbst zu Bedingungen, die sie jetzt ablehnen. Wenn die Briten und Franzosen gezwungen würden, ihre Besitzungen aufzugeben, dann würde die Tatsache, daß die Vereinigten Staaten im Verhältnis reicher und mächtiger würden, Frankreich und Großbritannien nicht notwendigerweise in ihrer Ergebenheit in die westliche Solidarität bestärken.

Das Kolonialproblem hat es in der Menschheit, in der einen oder anderen Form, seit Beginn der Geschichte gegeben; es wird es auch noch für einige Zeit geben. Vom Westen erfordert das nicht so sehr die laute Betonung des Ideals der Gleichberechtigung — über das sich fast jeder, einschließlich der Franzosen und Briten, sowieso einig ist — sondern einen neuen praktischen Weg. Im Gegensatz zu einer Handvoll Politiker beschäftigt den Durchschnitts-menschen in den unterentwickelten Gebieten nicht so sehr die nationale Unabhängigkeit, als die Verbesserung seines wirtschaftlichen Schicksals. Hier liegt eine Herausforderung und eine Gelegenheit für die westliche Zusammenarbeit: die gemeinsame Entwicklung großer Teile Asiens und Afrikas. Die Expansion der Atlantischen Allianz in das Feld der internationalen Wirtschaft durch die Schaffung eines Atlantischen Fonds für wirtschaftliche Entwicklung gäbe die Möglichkeit, große Dinge miteinander zu tun — das ist der einzig mögliche Weg, eine Gemeinschaft in Krieg und Frieden lebendig und gesund zu halten.

Vereinigung der wirtschaftlichen und technologischen Hilfskräfte

Der Westen muß, um sich gegenüber der immer aggressiveren Konkurrenz der Kommunisten in Handel und Technologie behaupten zu können, seine wirtschaftlichen und technologischen Hilfskräfte vereinigen. Der Sowjetblock verfolgt eine Politik wirtschaftlicher und technologischer Entwicklung. Das Schauspiel der westlichen Länder, wo man sich gegenseitig die Märkte und die technischen Neuerungen vorenthält, während man gegeneinander um den Handel mit den Kommunisten wirbt, muß die Herzen der Männer im Kreml erwärmen. Für die Kommunisten ist der Handel eine politische Waffe. Die westliehen Länder, die mit Hitler Handel getrieben haben wie mit jedem anderen, scheinen diese Lehre vergessen zu haben. Sie müssen versuchen, ihren Handel miteinander zu vergrößern und ihre Wirtschaftspolitik aufeinander abzustimmen, um die Sowjets um den Vorteil zu bringen, einen westlichen Händler gegen den anderen auszuspielen. Eine integrierte westliche Wirtschaft brauchte wegen ihrer immensen Produktivität und Kaufkraft die kommunistische Konkurrenz nicht zu fürchten. Vor allem benötigt der Westen „den gesammelten Einsatz seiner Intelligenz“. Es stimmt wahrscheinlich, daß die Sowjets anfangen, mehr Naturwissenschaftler und Ingenieure zu produzieren, als von amerikanischen Hochschulen kommen. Aber solche Statistiken sind nichtssagend. Die Sowjets-bilden praktisch das gesamte technologische Material für den kommunistischen Block aus Zahlenmäßig ist del Ausstoß an Ingenieuren und Naturwissenschaftlern in allen westlichen Ländern zusammen jetzt und in der vorhersehbaren Zukunft dem der Länder unter sowjetischer Herrschaft weit überlegen. Der Westen brauchte nur seine Erziehungsprogramme zu koordinieren und den freien Austausch von Ideen und Techniken zu organisieren, um den sowjetischen Fortschritt in allen Gebieten der Wissenschaft und der Industrie, und vor allem der Waffentechnik, entscheidend zu überholen. Alle westlichen Länder könnten durch breiteren wissenschaftlichen Austausch mehr gewinnen, als sie durch mögliche Verletzung der „Sicherheit“ bei der Weitergabe wissenschaftlicher Informationen verlieren könnten. Die wirkliche Aufgabe besteht darin, die riesigen geistigen Hilfsquellen des Westens zu mobilisieren, denn die vielpropagierten Fortschritte der Sowjets sind Aussagen nicht so sehr ihrer überlegenen wissenschaftlichen Leistungen als vielmehr des Zurückbleibens der westlichen Technik, verursacht durch die Versuche, nationale wissenschaftliche Einrichtungen zu isolieren und Konkurrenzvorteile auf Kosten der Gruppe zu gewinnen. Eine große Nation wirkt auf die Weltpolitik durch zwei Arten von Macht: Die eigene Macht und die Macht derjenigen, die bereit sind, ihr Geschick mit ihr zu teilen. Die letztere könnten wir die föderative Macht nennen. Diese Art der Macht sollte Amerika, die größte und erfolgreichste Föderation, die die Welt je gesehen hat, am besten zu handhaben wissen. Die augenblickliche Uneinigkeit des Westens spiegelt das Versagen Amerikas wider, den Kommunisten entgegenzutreten und sie zu besiegen mit Amerikas höchstentwickelter politischer Strategie: der Strategie einer größeren und weiteren Union.

Wir brauchen uns gar keiner Illusion darüber hinzugeben, wer die politische, finanzielle und moralische Initiative zur Einigung des Westens zu ergreifen hat. Die Vereinigten Staaten, die auf die Schaffung von Instrumenten für die europäische wirtschaftliche Integration ge-drängt haben, dürfen auf dem Marsch zu jenen ferneren Zielen, die sie selbst abgesteckt haben, nicht zurückbleiben. Nachdem die Amerikaner unter Hinweis auf die festen Bande westlicher Kultur Europa aufgerüttelt haben zur Verteidigung der gemeinsamen Sache, müssen sie mithelfen, zu prüfen, wie stark diese Bande wirklich sind, wenn der kommunistische Druck einmal nachläßt. Es gibt für die Vereinigten Staa-ten gute Gründe zur Vorsicht, irgendwo neue Verpflichtungen zu übernehmen, besonders im Nahen und Mittleren Osten. Die Amerikaner wollen sich nicht in den Wirbel und die Rivalitäten der Levante und Nordafrikas hineinziehen lassen, um nicht in die sowjetische Falle zu gehen. Aber diese Falle ist aufgestellt: die Vereinigten Staaten können sich nur herausziehen, indem sie den Sowjets das Feld überlassen.

Vereinigt stehen , und getrennt fallen wir”

Frankreich und Großbritannien, sich der Leine der amerikanischen Diplomatie wieder-setzend, sind sich ihrer individuellen Schwäche bewußt geworden und der Stärke, die sie durch europäische Einheit gewinnen könnten. Zum ersten Male unterstützen einflußreiche Engländer aller Parteien und aller Klassen die Idee einer europäischen Wirtschaftszone mit voller britischer Beteiligung. Würde sich Europa vereinigen und wären die treibenden Kräfte einer solchen Linien der gemeinsame Wunsch, Europas Abhängigkeit von Amerika zu verringern, dann hätte die Diplomatie der Vereinigten Staaten dort mit Schwierigkeiten zu rechnen, wo ihr Pfad jetzt relativ gangbar ist. In nicht wenigen Punkten könnte sich ein Vereintes Europa von den Vereinigten Staaten unterscheiden und allein gehen. Doch brauchte eine solche Entwicklung die Schaffung der westlichen Einheit nicht zu verringern. Im Gegenteil: Amerikanisch-britische und amerikanisch-französische Beziehungen werden jetzt durch eine stets wechselnde Ungleichheit der Kräfte gestört. Der schwächere Partner klammert sich nur um so hartnäckiger an den äußeren Prunk der Souveränität, während die Realität der Souveränität zum bloßen Schein herabsinkt. Das Problem der, sagen wir, amerikanisch-isländischen Beziehungen ist schwierig zu lösen, gerade weil 160 000 Isländer hartnäckig entschlossen sind, 160 000 000 Amerikanern entgegenzutreten. In einem Vereinigten Europa brauchte man keine solche Verbeugung vor dem nationalen Minderwertigkeitskomplex; ein vereinigtes Europa und die Vereinigten Staaten könnten sich einigen, sich über eine gemeinsame Politik verständigen und gemeinsame Institutionen aufbauen, weil keiner das Gefühl hätte, der Satellit des anderen zu sein — weil sie gleiche Partner wären. Das Argument der Europäer ist, daß es innerhalb der westlichen Allianz ein besseres Gleichgewicht geben muß. Der neue Schritt für ein Vereinigtes Europa ist nicht diktiert von dem Wunsche, sich von den Vereinigten Staaten loszureißen; er wurde ausgelöst durch den Willen, Europa in der westlichen Allianz mehr Gewicht zu geben.

Wenn sich Europa vereinigte, gäbe es immer noch weiten Raum für große Anforderungen an amerikanische Initiative. Die Regeneration der westlichen Allianz und ihre LImgestaltung in eine stärkere und weitere Linien würde den Vereinigten Staaten schwere politische, militärische und wirtschaftliche Lasten aufbürden. Die Vereinigten Staaten müßten manche Ansprüche aufgeben und andere abstecken, denn keine weitere oder stärkere Union ist je ohne ein umfassendes Geben und Nehmen aufgebaut worden. Vor allem müßten die Vereinigten Staaten stark bleiben, denn ohne Rücksicht darauf, wie groß die Stärke eines Vereinigten Europas sein könnte, blieben die Vereinigten Staaten das wirtschaftliche Kraftwerk und die stärkste Festung des Westens. Die riesigen Investitionen der Vereinigten Staaten in Europa an Menschen, Waffen und finanzieller Hilfe sind permanent. Die Chancen, sie profitabel zu machen, sind wahrscheinlich heute besser, als sie es je seit Ende des koreanischen Krieges waren: Amerikas Alliierte haben einige kostspielige Lektionen gelernt; es ist an den Amerikanern, darauf zu sehen, daß sie nun für das gemeinsame Wohl angewendet werden. „Der Untergang des Abendlandes“ ist nicht mehr das Phantasieprodukt eines deutschen Professors. Jetzt ist die Zeit, die Entwicklung umzukehren. Das augenblicklich stärkste Argument für die Erweiterung und Stärkung der westlichen Allianz sollte die Erkenntnis sein, wie unzureichend nationale Mittel gegenüber der Flankentaktik der Kommunisten sind, und wie notwendig westliche Einheit in Gebieten ist, die man bisher nur als Randgebiete der Allianz oder nur als Hinterhöfe nationaler Souveränität betrachtet hat. Aber wenn die kommunistische Drohung morgen verschwinden würde, wäre die Schaffung eines vereinigten Westens immer noch die größte Aufgabe, die vor Amerika stünde. Für diese Aufgabe sind die Vereinigten Staaten durch ihre Geschichte und die Konstellation des Augenblicks einzigartig ausgerüstet. Alles, was zu tun ist, ist, der Aufgabe ins Auge zu schauen, denn vereinigt stehen und getrennt fallen wir.

Anmerkung Geoffrey Crowther, früher Chefredakteur des „Economist", London, Autor von „Ways and Means of War", „An Outline of Money" u. a.

Richard. H. Nolte hat verschiedene Jahre im Mittleren Osten gelebt, z. Zt. in Beirut, Fachmann für islamisches Recht und islamische Gesellschaftstheorie. Robert Strausz-Hupe, Direktor des Foreign Policy Research Institute und Professor für politische Wissenschaften an der University of Pennsylvania.

Fussnoten

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