Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir in dieser Ausgabe aus der amerikanischen Zeitschrift „FOREIGN AFFAIRS" zwei Beiträge: Paul Henri Spaak: „Die unabdingbare Solidarität des Westens" (Januar 1957) und Hamilton Fish Armstrong: „Nördlich des Kyber" (Juli 1956). Der Aufsatz von Paul Henry Spaak erschien in deutscher überesetzung bereits in der Zeitschrift für internationale Zusammenarbeit „Dokumente" (Februar 1957), mit deren Genehmigung wir die deutsche Übertragung übernehmen.
Wir lebten ruhig — mehr oder weniger — in einer Atmosphäre internationaler Entspannung. Wir praktizierten voll Überzeugung die Grundsätze des XX. Parteitags der KPdSU über die friedliche Koexistenz. Auch die größten Skeptiker begannen, sich belehren zu lassen. Optimismus war Trumpf.
Am 26. Juli verstaatlichte Oberst Nasser unter Mißachtung der Verträge die Suezkanal-gesellschaft. Eine Kettenreaktion setzte ein, und als die Krise ihren Höhepunkt erreichte, brach die ungarische Revolution aus, die Sowjetrußland in einer beispiellos brutalen Intervention niederschlug. In wenigen Wochen ballten sich am Himmel der internationalen Politik dunklere Wolken zusammen als je zuvor seit zehn Jahren.
Der Sturz war hart. Wieder einmal zerstoben die Illusionen, wieder einmal fanden wir uns vor harten und brennenden Realitäten wieder. In dem Augenblick, da ich diese Zeilen schreibe, ist noch nichts geregelt. Aber es ist doch schon möglich, einige Konsequenzen zu ermessen. Alle internationalen Institutionen wurden schwer von der doppelten Krise betroffen: die Vereinten Nationen, die NATO und die europäische Integration.
Was sollen wir von der Organisation der Vereinten Nationen denken? Ich stelle ein wenig überrascht — aber befriedigt — fest, wie groß ihr Prestige nach wie vor in der öffentlichen Meinung der Welt ist. Ich bin überrascht, denn ich habe allzu sehr auf die UNO vertraut, und sie hat mich allzu heftig enttäuscht. Wer die Dinge nicht im einzelnen kennt, weiß nichts von der Schwerfälligkeit dieser Organisation, von der Zeit, die man dort vergeudet, von der Heuchelei, die dort oft genug herrscht, von ihrer Wirkungslosigkeit. Wer die UNO nur von ferne sieht und sich nur an die edlen Grundsätze und hohen Ideale hält, bewahrt ihr sein Vertrauen und glaubt weiter an sie.
Es ist wirklich erschütternd, diese Reaktion der Massen zu beobachten, die sich angesichts einer internationalen Ungerechtigkeit oder Kriegsdrohung spontan an die Vereinten Nationen wenden und von ihnen Frieden und Recht erwarten. Ich würde sehr gern zu diesen Getreuen gehören. Aber ich kann nicht. Ich meine im Gegenteil, daß die Schwächen der UNO noch nie so klar zutage traten wie heute. Ich glaube: trotz ihrer scheinbaren Erfolge war die UNO ihrem Scheitern noch niei näher als eben jetzt. Gewiß, es sieht so aus, als hätten die Vereinten Nationen die Kraft aufgebracht, eine Ausdehnung des Krieges in Ägypten zu verhindern. Sie haben jedoch nichts tun können, um die Aggression der Sowjetunion gegen Ungarn aufzuhalten. Dieser Unterschied läßt bereits befürchten, daß in dieser Organisation, wo die Unparteilichkeit Grundlage jeder Aktion sein müßte, doch der Stärkste oder der Zynischste das Gesetz bestimmt.
Die Schwächen der UNO
Aber ich fürchte noch Schlimmeres. Das System der UNO, das man 194 5 in San Franzisco schuf, hatte den Ehrgeiz, vollkommen zu sein. Natürlich wollte man den Krieg ächten, die Gewaltanwendung verurteilen und verhindern; aber man wollte gleichzeitig dem Recht zur Herrschaft und der Gerechtigkeit zum Siege verhelfen. Nun gelang es der UNO wohl in gewissem Ausmaß, den Krieg zu bannen; aber sie scheint mir nicht fähig zu sein — wie gern würde ich mich täuschen! —, das Recht durchzusetzen. Darum halte ich das System von San Franzisco für gefährlich unvollständig. Auf die Dauer wird es sich als derart wirkungslos erweisen, daß es zusammenbricht.
Den Krieg als Mittel der internationalen Politik auszurotten, ist ein sehr großer sittlicher Fortschritt; niemand leugnet das. Aber wenn das Mittel des Krieges durch überhaupt kein anderes ersetzt wird, muß das ganze System ins Wanken geraten und nach einiger Zeit in einem unerträglichen Chaos enden.
Mit anderen Worten: in dem gegenwärtigen System der UNO (es ist keineswegs so, wie ihre Gründer es wollten oder erträumten) ist alles erlaubt — außer Krieg. Man darf Verträge brechen, Verpflichtungen ignorieren, seinen Nachbarn die schlimmsten Streiche spielen, sie bedrohen; alles das ist möglich und rechtens, wenn man nur die Gewaltanwendung in der präzisen Form des Krieges vermeidet. Die Haltung Ägyptens während der letzten Monate illustriert diese meine pessimistische Behauptung. Es sperrt den Suezkanal für israelische Schiffe; es schickt seine „Todeskommandos" auf israelisches Gebiet; es verletzt die Konvention von Konstantinopel; es belädt den Dampfer Athos mit Waffen und greift so gegen Frankreich in den Algerienkonflikt ein; es bereitet einen Überfall auf seine Nachbarn vor — und die Vereinten Nationen sind unfähig, Ägypten daran zu hindern. Alle diese Handlungen entziehen sich der gegenwärtigen Interpretation der UNO-Charta. Aber dann reißt Israel die Geduld, und seine Truppen dringen in die Sinai-Halbinsel ein; Franzosen und Briten landen in Port Said. Sogleich ist ihre Verurteilung beschlossene Sache, und die gleichen Delegierten, die im gleichen Augenblick unbewegt der Unterdrückung der ungarischen Revolution zusehen, finden nicht genug heftige Worte, um England, Frankreich und Israel zu geißeln.
Ich wiederhole: diese Art von Gerechtigkeit ist nicht mehr als eine Karikatur. Diese Interpretation von Grundsätzen führt schließlich dazu, alle jene auch noch zu belohnen, die mit der nötigen Frechheit und Skrupellosigkeit vorgehen, aber geschickt genug sind, diesseits der Grenzlinie zum Kriege (ich sage nicht zur Gewalt) zu bleiben. Ein solches System kann sich nicht halten. Es ist höchste Zeit, die UNO-Charta grundlegend zu ändern, das Veto abzuschaffen, ein nach Bedeutung abgestuftes Stimmrecht einzuführen, alle Mitglieder automatisch auszuschließen, die dem internationalen Gesetz zuwiderhandeln, und eine echte internationale Streitmacht zu schaffen.
Ich weiß, wie schwer all das zu verwirklichen ist. Bekanntlich verurteilt das Veto den Sicherheitsrat zur Ohnmacht. Andererseits scheint die Vollversammlung ihre Möglichkeiten jetzt ernster zu nehmen. Wird sie für den Sicherheitsrat in die Bresche springen? Mein Optimismus ist begrenzt, wenn ich an die Haltung der Sowjetunion und ihrer Satelliten denke. Sie boten uns gerade jetzt ein empörendes Schauspiel: sobald in der Vollversammlung die Rede auf Ägypten kam, waren sie Feuer und Flamme für die Empfehlungen der LINO, alle Ungarn-Beschlüsse jedoch behandelten sie als toten Buchstaben.
Vielleicht wird gerade das Ausmaß des Übels den Völkern die Augen öffnen. Die Reform der LINO-Charta steht auf der Tagesordnung. Wenn diese Forderung immer energischer erhoben wird und sich durchsetzt, könnten wir mehr Hoffnung schöpfen.
Das atlantische Bündnis
Der Atlantikpakt hat in dieser schweren Krise ebenfalls nicht funktioniert. Welche Ironie der Geschichte: im gleichen Augenblick, da auf Wunsch aller Vertragspartner drei „Weise“ die Möglichkeiten studieren, die NATO zu stärken und insbesondere regelmäßige Konsultationen einzuführen, stellen die westlichen Großmächte vor aller Augen ihre grundlegenden Gegensätze zur Schau. Wir wollen nicht nach den Schuldigen fragen. Damit ist niemandem gedient. Sind denn nicht alle schuldig?
Heute erscheint die NATO notwendiger denn je; denn noch nie war die sowjetische Politik so offenkundig gefährlich. Wir müssen versuchen, das Unglück wiedergutzumachen, und ein für allemal bereit sein, Nebensächliches dem Wesentlichen zu opfern.
Was ist wesentlich? Vielleicht hat es vor oder nach dem XX. Parteitag der KPdSU einen Wandel in der sowjetischen Innenpolitik gegeben.
Die Außenpolitik der UdSSR blieb jedenfalls unverändert so, wie sie schon unter Stalin war:
eine gewaltige Anstrengung, um die Länder des Westens zu schwächen, ihnen soviel Schwierigkeiten wie möglich zu bereiten, ihre Probleme zu komplizieren — und das alles unter sorgfältiger Beachtung einer gewissen Grenze, hinter der ein Weltkrieg unvermeidlich würde.
Diese Politik wird von einem doppelten Imperativ beherrscht. Die Sowjetunion bleibt zutiefst kommunistisch, sie erstrebt weiterhin den Sieg;
aber sie wünscht gleichzeitig, den Weltkrieg zu vermeiden, der auch im Falle eines militärischen Erfolges die Verwirklichung ihres wirtschaftlich-sozialen Ideals verzögern oder gefährden würde.
Es ist sonderbar, daß das wahre Gesicht des Kommunismus und seine wirklichen Grundlagen noch immer so wenig bekannt sind und so falsch verstanden werden — übrigens in Amerika vielleicht noch mehr als anderswo. Allzu viele Menschen halten den Kommunismus einfach für eine Partei der äußersten Linken, für einen Gegner des Kapitalismus und Vorkämpfer des Kollektiveigentums. In Wahrheit ist der Kommunismus viel mehr. Er ist eine neue Zivilisation, die sich uns aufdrängen will und deren Grundlagen im Kern andere sind als jene, die es Europa und den Vereinigten Staaten ermöglicht haben, sich zu entwickeln und in moralischer, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht das zu werden, was sie sind.
Das Maß unserer Zivilisation ist der Mensch. Die Achtung vor der menschlichen Person bildet ihr wesentliches Merkmal. Daraus ergibt sich alles übrige. Der Kommunismus verneint den Menschen, er kennt ihn nicht, interessiert sich nicht für ihn oder achtet ihn jedenfalls nicht. Wer von so völlig verschiedenen Grundlagen ausgeht, kann nie gemeinsame Ziele besitzen. Früher oder später muß die eine oder die andere Zivilisation triumphieren.
Wenn wir siegen wollen, müssen wir unbedingt einig bleiben. Europa kann nicht mehr ohne die Vereinigten Staaten auskommen; diese Wahrheit braucht man heute nicht mehr zu beweisen. Aber auch die Vereinigten Staaten dür-fen nicht meinen, sie könnten ohne Europa auskommen. Trotz aller Differenzen, trotz der bedauerlichen Meinungsverschiedenheiten der letzten Monate: wo finden die Amerikaner in aller Welt die besten Freunde? In Asien, in Afrika? Nein, in Europa. Wo dringt der Kommunismus vor, wo profitiert er vom Elend der Völker und der Linerfahrenheit der Führer? Und wo wird er mehr und mehr in Schach gehalten und zum Rückzug gezwungen? Wo haben die ungarischen Ereignisse das lebhafteste Echo gefunden? Es fällt nicht schwer, auf diese Fragen zu antworten. Wesentlich ist die Verteidigung unserer gemeinsamen Zivilisation. Alles übrige, so wichtig es auch sein mag, ist nebensächlich. Nur wenig ist nötig, das atlantische Bündnis wirklich zu dem zu machen, was es sein sollte. Die großen Partner müssen nur ein wenig mehr Vertrauen zueinander beweisen, sich ein wenig stärker ihrer grundsätzlichen Solidarität bewußt sein. Die drei „Weisen“ raten zu häufigeren, regelmäßigeren Konsultationen zwischen allen NATO-Mitgliedern. Jeder soll versprechen, nicht isolierte Aktionen zu unternehmen, die Rückwirkungen auf die Politik aller anderen haben könnten. Alle sollen sich über ihre jeweiligen Ziele unterrichten.
Die meisten beruhigen sich dabei. Dennoch bin ich nicht völlig überzeugt. Wir brauchen mehr als beruhigende Worte. Wir brauchen einen echten Willen. Haben uns die offenkundigen Gefahren, in denen die westliche Welt schwebte und noch schwebt, nicht die Augen geöffnet? Zum Glück beging die Sowjetunion einen schweren diplomatischen Fehler, als sie den Vereinigten Staaten anbot, gemeinsam gegen die Briten und Franzosen in Ägypten einzuschreiten. Das war zuviel. Das ließ den Grad des Verfalls der NATO ermessen und war, wie ich glaube, der Ausgangspunkt für ihre Neu-belebung, die sich heute abzeichnet. In der NATO besitzen wir das geeignete Instrument unserer Politik. Es wäre verhängnisvoll, wenn wir unfähig wären, es zu gebrauchen.
Fortschritte der europäischen Integration
Die internationale Krise, die in meinen Augen für die LINO wie für die NATO gefährlich war, wirkte sich hingegen positiv auf die europäische Intergration aus. Seit der Verstaatlichung des Suezkanals hat sich wieder eine günstige Strömung für diese Idee entwickelt. Nassers Unverfrorenheit ließ uns fühlen, für wie schwach gewisse Mächte heute die großen europäischen Nationen halten. Zweifellos verlieh die erklärte Weigerung der Vereinigten Staaten, die Haltung Frankreichs und Englands zu unterstützen, solchen Tendenzen erheblichen Auftrieb. — Die europäischen Staaten benehmen sich ein wenig wie die Küken. Sobald ein Sperber am Himmel auftaucht, flüchten sie zueinander, ob der Sperber nun Stalin oder Nasser heißt.
Bundeskanzler Adenauer und Guy Mollet bekräftigten beide eindeutig ihren Willen, Europa zu einigen. Sie taten noch mehr. Sie griffen einige technische Probleme auf und schlugen konstruktive Lösungen vor, zeigten also wieder einmal, daß es in Wahrheit keine technischen Schwierigkeiten mehr gibt, sobald ein, politischer Wille da ist.
Wir haben Aussicht, in einigen Wochen schon die Verträge über den Gemeinsamen Markt und Euratom unterzeichnet zu sehen. Wieder einmal stehen wir kurz vor dem Ziel, aber das standen wir auch schon vor dem Abschluß der EVG. Diese Erfahrung verbietet es mir, übertriebene Begeisterung zu äußern. Es ist das Schicksal derer, die für das Vereinte Europa arbeiten, daß sie immer ebenso dicht vor dem Triumph wie vor der Niederlage stehen.
Aber es ist einfach eine Tatsache, daß die Idee der Dritten Kraft, der Kraft des Vereinten