Das entscheidende Kennzeichen eines jeden totalitären Regimes ist die Beseitigung der „pluralistischen Meinungsfreiheit“, wie sie für die demokratische Gesellschaft typisch ist, und ihre Ersetzung durch ein System des „monistischen Meinungszwanges“. J) Dieser „Meinungszwang“ wird praktiziert durch den Versuch, die Verbreitung jeder nicht konformen Meinungsäußerung zu unterbinden. Dazu ist notwendig, gewissermaßen als positive Maßnahme, die Monopolisierung der Informationsquellen durch die Exponenten des Systems, wobei theoretisch nur der „Führer“ selbst uneingeschränkt Zugang zu ihnen hat, und ihre Auswertung durch einen ausgesuchten Apparat von Spitzenfunktionären — der weitgehend in Diensten der jeweiligen Staatspolizei steht — der die Sprachregelung für alle Publikationsmittel festlegt, wobei kein noch so peripherer Lebensbereich von der Meinungslenkung ausgenommen ist. 123)
Die negativen Maßnahmen ergeben sich logisch aus der „positiven“ Zielsetzung der Errichtung und Wahrung des Meinungsmonopols: Verbot aller auch nur potentiell als „gegnerisch“ verdächtigen Publikationsmittel, Ausschaltung aller nicht als „zuverlässig“ im Sinne des Regimes geltenden Personen aus der Informations-und Publikationsarbeit; Unterbindung des Zuganges zu nicht dem Einflußbereich des Regimes unterstehenden Publikationsmitteln durch technische Störungen, hierzu gehören die systematisch aufgebauten Störsender-Systeme — und konsequenterweise die Strafandrohung selbst für die mündliche Weitergabe von Nachrichten. Es sei erinnert an die vom Dritten Reich in zahllosen Fällen verhängten Todesstrafen für die Verbreitung von „Greuelmeldungen“ und die in ebenso zahllosen Fällen verhängten langjährigen Zuchthausstrafen für die „Boykotthetze“ in der sowjetisch besetzen Zone Deutschlands.
Nun garantiert allerdings selbst die ausschließliche Verbreitung einer monopolisierten Meinung noch nicht, daß sie auch ausgenommen wird. Der Rundfunkapparat läßt sich abstellen, der Kauf von Zeitungen läßt sich zwar erzwingen, nur bedingt aber ihre Lektüre. In dem einen Falle gibt es — wie in der Sowjetunion — das zusätzliche Mittel gemeinschaftlicher Empfangsanlagen in den „Wohneinheiten“, die zentral an-und abgestellt werden und weiter das auch aus dem Dritten Reich bekannte Verfahren des befohlenen „Gemeinschaftsempfanges“ bei bestimmten Anlässen. In der Sowjetzone wurde die „Sichtwerbung“ durch Transparente, Plakate und Losungen an allen möglichen und unmöglichen Stellen so lange kultiviert, bis sie den gegenteiligen Effekt erzielte. Ähnliches gilt auch von Senderanlagen in Städten, Betrieben und sogar Eisenbahnzügen, deren zeitweise permanenter Einwirkung nicht zu entgehen war.
Im Falle der Verbreitung gedruckter Meinung kann wenigstens die Teillektüre bis zu einem bestimmten Grad indirekt dadurch erzwungen werden, daß die Kenntnisnahme über gewisse Tatbestände einfach lebensnotwendig ist und nur auf diesem Wege erfolgen kann. Man denke an Rationalisierungsbestimmungen der unterschiedlichsten Art, an deren Beibehaltung das totalitäre Regime unter anderem auch aus diesem Grunde interessiert ist, an das ganze lokale Geschehen, an Veranstaltungsanzeigen usw. Ein Teil dieser Tatbestände zwingt zwar auch den Bürger einer freien Gesellschaft zum Kauf und zur Lektüre von Informationen — nur kann er sie sich in der von ihm gewünschten politischen „Verpackung“ erstehen.
Die Möglichkeit, auch das unwillige Objekt des Meinungsmonopols zur Kenntnisnahme der verbreiteten Doktrin zu zwingen, wächst also in dem Maße, als sich beispielsweise die Zeitung auf einen kleineren geographischen oder Lebensbereich bezieht. Ebenso wie sein Zeitgenosse in der freien Welt kann auch der Bürger des totalen Staates theoretisch weitgehend auf die grundsätzliche und umfassende Information über das große politische Geschehen verzichten. Er kann nicht auf Informationen über seine unmittelbare LImwelt verzichten, besonders dann nicht, wenn diese im Zeichen feiner totalen Planung des Lebens einer detaillierten Reglementierung unterworfen ist. Aus diesem Grunde haben die Kommunisten seit jeher, Lenin ist hierfür der Kronzeuge, den größten Wert auf den Ausbau der lokalen Presse gelegt, was bis zu Stadtteil-, Straßen-und sogar Hausgemeinschaftszeitungen führte.
Schon aus dieser Überlegung heraus ergibt sich, daß der Betriebs-zeitung ein zentraler Wert im Rahmen des gesamten Informations-und Meinungsmonopols beigemessen wird.
Nahkampfwaffe der Ausbeutung
Von grundlegender Bedeutung hierfür aber ist ein anderer Gesichtspunkt. Da die Kommunisten vorgeben, die „Vorhut der Arbeiterklasse“ zu sein und in ihrem Namen zu handeln, liegt ihr politischer und organisatorischer Schwerpunkt logischerweise im Betriebe. Die Gewinnung der „Arbeiterklasse“ für den Kommunismus ist die Voraussetzung für seine Existenz überhaupt. Die Partei muß daher dort am aktivsten sein, wo der Arbeiter sich bewußtseinsmäßig umweltbedingt seiner „Klasse“ zugehörig fühlt. Das aber ist der Betrieb und nicht die Familie. Als weiteres entscheidendes Moment kommt hinzu, daß die Verwirklichung des Kommunismus ökonomisch auf der Produktion und ihrer permanent steigenden Produktivität beruht.
Diesen Erkenntnissen entspricht der organisatorische Aufbau der SED, der sich eng an den der KPdSU anlehnt. Das Statut der SED bestimmt unter VII, Absatz 62:
„Die Grundlage der Partei bilden ihre Grundorganisationen. Sie werden in Betrieben, MTS, volkseigenen Gütern, Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, Einheiten der Volkspolizei, staatlichen und wirtschaftlichen Verwaltungen, wissenschaftlichen Instituten, Lehranstalten, Dörfern und Wohngebieten gebildet, wenn wenigstens drei Parteimitglieder vorhanden sind.
Die Bildung von Grundorganisationen der Partei ist von der Kreis-leitung oder der entsprechenden politischen Abteilung (KVP) zu bestätigen.“ Artikel 63 des Parteistatuts bestimmt dann:
„. . .deshalb gehört zu den Aufgaben der Grundorganisation:
a) die politische Aufklärungs-und Organisationsarbeit unter den Arbeitern und anderen werktätigen Schichten in Stadt und Land zur Durchführung der Bescltlüsse und Losungen der Partei, die Leitung der betrieblichen Presse (Betriebszeitung, Wandzeitung), des Betriebsfunks usw.;
b) die Organisierung einer systematischen politischen Schulung der Mitglieder und Kandidaten und die Kontrolle darüber, dass sie sich ein Minimum an Kenntnissen auf dem Gebiet des Marxismus-Leninismus aneignen.
Die Führung des unversöhnlichen Kampfes gegen alle Einflüsse der bürgerlichen Ideologie, besonders des Sozialdemokratismus und gegen alle kleinbürgerlichen Schwankungen in der Partei und unter den Werktätigen;
c) die aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben der Deutschen Demokratisdren Republik und am Kampf um die Wiederherstellung eines einigen, unabhängigen, demokratischen und friedliebenden Deutsdilands;
d) die Gewinnung neuer Mitglieder und Kandidaten für die Partei und ihre politische Erziehung;
f) die Mobilisierung und Organisierung der Massen zur Durchführung der staatlidien, wirtsdiaftlidten und kulturellen Aufgaben; die Anleitung der in den Massenorganisationen und Massenorganen tätigen Genossen; in den volkseigenen Betrieben, den MTS, VEG, dem volkseigenen Handel und in der staatlichen Verwaltung und den Landwirtschaftlidten Produktionsgenossenschaften die Mobilisierung der Arbeiter, Angestellten, Genossenschaftsbauern und der Intelligenz für die Erfüllung der Volkswirtschaftspläne, zur Entfaltung des Wettbewerbs und der Aktivistenbewegung sowie zur ständigen Festigung der Arbeitsdisziplin;
g) der Kampf gegen Bürokratismus, Schlamperei und Mißwirtschaft und die Erziehung der Mitglieder (Kandidaten) und der Werktätigen zur Llnversöhnlichkeit und revolutionären Wachsamkeit gegenüber Partei-und Volksfeinden;“
Es ist nur konsequent, daß auch alle übrigen von der SED gesteuerten „demokratischen Massenorganisationen“ ihren Schwerpunkt im Betrieb haben, wobei die „führende Rolle“ der Betriebs-Parteiorganisation der SED selbstverständlich von vornherein fest steht. Das führt auch in kleineren Betrieben zu einer geradezu grotesken Häufung hauptberuflicher politischer Funktionäre, deren parisitäre Existenz zu Lasten des Betriebes und der Arbeiter geht.
Als Beispiel hierfür sei ein „volkseigenes“ Braunkohlenwerk in der Niederlausitz genannt, dessen Beschäftigtenzahl bei 1 800 Mann liegt.
In diesem Betrieb sind folgende Organisationen mit hauptamtlichen Funktionären vertreten:
1. Betriebsparteiorganisation der SED mit drei hauptberuflichen Funktionären; 2. Betriebsgruppe der FDJ mit drei hauptamtlichen Funktionären;
3. Gesellschaft für Sport und Technik mit einem hauptberuflichen Sekretär;
4. Betriebssportgemeinschaft mit einem hauptberuflichen „Instrukteur"!
5. Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft mit einem hauptberuflichen Sekretär;
6. Betriebsgewerkschaftsleitung mit acht hauptberuflichen Funktionären; 7. Betriebskampfgruppe mit einem hauptberuflichen „Instrukteur“.
Die Lohnsumme für diese Funktionäre beträgt monatlich, ohne die Sozialabgaben, rund 10 000 Mark. Auch bei der Gehaltsstaffelung drückt sich die „führende Rolle“ der SED aus. Ihr erster Sekretär erhält ein Monatsgehalt von 950 DM-Ost, der zweite Sekretär, gleichzeitig Redakteur der Betriebszeitung, 750 DM-Ost. Demgegenüber beträgt das Gehalt des ersten Vorsitzenden der Betriebsgewerkschaftsleitung nur 700 DM-Ost 5).
Es entspricht der „führenden Rolle“ der SED im Betrieb, daß die Betriebszeitungen Organe der Betriebsparteiorganisation der SED und nicht etwa Organe der Betriebsgewerkschaftsleitung sind. Dem wiederum entspricht die Satzung des „Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes“, in deren Präambel es heißt:
„Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund bekennt sich zur Politik der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Partei der deutschen Arbeiterklasse. Unter Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands arbeiten die Gewerkschaften Deutschlands am Aufbau des Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik.
. . . Die Stärke des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, seine Einheit und Gesddossenheit, besteht darin, daß er unter der Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf der Grundlage des Marxismus-Leninismus arbeitet . . .“
Damit ist der Forderung Lenins Rechnung getragen, wonach die Gewerkschaften den „Transmissionsriemen der Partei zu den werktätigen Massen“ darzustellen und „Schulen des Kommunismus“ zu sein haben.
Die Betriebszeitungen sind die propagandistischen Instrumente der Partei im Betrieb, sie sind von allen publizistischen Erzeugnissen am dichtesten am Objekt der politischen Erziehung, sie sind die publizistische Nahkampfwaffe der Partei zur Durchsetzung der Ausbeutung des Menschen im Namen des Sozialismus, und sie repräsentieren augenscheinlich die Allgegenwärtigkeit der Partei.
Hierin dürfte auch der Grund zu suchen sein, warum die SED so außerordentlich zurückhaltend mit der Veröffentlichung von Zahlen über Anzahl und Gesamtauflage der Betriebszeitungen ist.
So werden die Betriebszeitungen im offiziellen „Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik“, Verlag Die Wirtschaft, Ostberlin, 1956, das eine ausführliche Darstellung der übrigen sowjetzonalen Presse enthält, überhaupt nicht erwähnt. Die einzige vorliegende exakte Angabe stammt vom Sekretariat des ZK der SED, das am 12. Oktober 195 5 feststellte, in der „DDR“ erschienen „ 397 Betriebs-zeitungen mit einer Gesamtauflage von 7 54 150 Exemplaren“
Im allgemeinen erscheinen die Betriebszeitungen bei einem Bezugspreis von 5 oder 10 Pfennig einmal wöchentlich. Nur in politisch „gefährdeten“
Betrieben, so in Ostberlin und in Werken am Stadtrand Berlins, findet sich ein zweimaliger Erscheinungstermin in der Woche.
Der Normalumfang beträgt vier Seiten in der Größe etwa des „Berliner Formats“. Der schon genannte ZK-Beschluß hat ihre Aufgabenstellung dahin definiert, „alle politischen Probleme so zu erläutern, da^ die Belegschaft deren Zusammenhänge mit den Aufgaben des Betriebes erkennt und zur Entfaltung einer größeren Initiative bei der Lösung der betrieblichen Aufgaben veranlaßt wird .
Das ist keine ganz leichte Aufgabe. Die Verbindung der „politischen Probleme“ mit der Realität des Betriebes läßt nur zu leicht die klaffende Lücke zwischen der blütenreichen Phraseologie des Regimes und seinem tatsächlichen Inhalt hervortreten. Die Tageszeitungen der SED können sich diesem Dilemma durch die Flucht in eine linientreue,, aber, auf den Einzelfall bezogen, unverbindliche Terminologie entziehen. Die Betriebszeitungen kommen indessen nicht um ihre Hauptaufgabe herum, die wohltönende Regierungspropaganda in konkrete Anweisungen für die Arbeiterschaft umzuwandeln — und das bedeutet, ihr nach der Devise „mehr, besser, billiger“ neue Opfer und Verpflichtungen aufzuerlegen und schmackhaft zu machen. Es ist klar, daß diese Aufgabe nicht von Funktionären befriedigend erfüllt werden kann, denen sowohl journalistische Schulung als auch Befähigung abgeht und die nur die übliche Parteischulung hinter sich gebracht haben.
Im Anfangsstadium — und das reicht immerhin von 1949, als die ersten Betriebszeitungen erschienen — bis 195 5 lag denn auch eine entscheidende Schwäche dieses „Sektors“ der „demokratischen Presse“ in der fehlenden fachlichen Qualifikation der hier tätigen Funktionäre.
Der ZK-Beschluß vom 12. Oktober 195 5 verfügte deshalb, daß Betriebs-zeitungsredakteure in gleicher Weise qualifiziert sein müßten wie Redakteure der Tagespresse. Das bedeutet (s. „Handbuch der Demokratischen Presse“, Ostberlin, 1956) die Anwendung der „Richtlinien für die Einstellung, Ausbildung und Prüfung der Mitarbeiter der demokratischen Presse“ auch auf sie. Hiernach sind erforderlich ein abgeschlossenes Studium an der „Fakultät für Journalistik“ oder aber die Ablegung von Prüfungen, nach vorherigem Nachweis eines „Selbst“ -oder „Fernstudiums“, vor dem Verband der Deutschen Presse. Gleichzeitig wurden Studenten auf die „dankbare“ Tätigkeit bei Betriebszeitungen nachdrücklich hingewiesen. Ein gewisser Erfolg dieser Bemühungen ist im Laufe des Jahres 19 56 mindestens bei Betriebszeitungen von Schwerpunktbetrieben zu verzeichnen, die wenigstens von der äußeren Gestaltung her lesbarer wurden.
Ungeachtet der allgemeinen politischen Erziehungsaufgabe liegt natürlich der Schwerpunkt des Inhalts der Betriebszeitungen bei der Anspornung der Arbeiter im „sozialistischen Wettbewerb“, der als entscheidender Faktor für die „Planerfüllung und Übererfüllung“ gilt. (Nach dem Jahrbuch der DDR, S. 166, sollen 1955 1 722 000 Arbeiter „im Wettbewerb“
gestanden haben.) Die systematische Überprüfung des Inhalts von 44 Betriebszeitungen während des Jahres 1956 beweist dies eindeutig.
Wir wollen die Arbeitsweise der Betriebszeitungen am Beispiel der Betriebszeitung für die Belegschaft des VEB Schwermaschinenbau Wildau „Heinrich Rau“ — „Das Schwungrad“ verfolgen. Diese Zeitung heranzuziehen empfiehlt sich deshalb, weil sie vorbildliches Organ eines kommunistischen „Musterbetriebes“ ist. Denn VEB „Heinrich Rau“
(ca. 1800 Arbeiter) in Wildau ist „Träger der Staatsauszeichnung Banner der Arbeit“, die verliehen wird „für besonders hohe Arbeitsleistungen in der Produktion, die geeignet sind, die weitere Entfaltung des Wettbewerbs zu fördern“. (Stiftungstag: 4. August 1954, Verleihung durch Ministerpräsidenten der DDR.)
Die letzte Nummer des Jahres 195 5 wurde von der triumphierenden Überschrift beherrscht: „Der Weg der Partei ist richtig!“ Freigiebig wurde der Belegschaft hohes Lob gespendet:
„Schwermaschinenbauer! Eure Arbeit, Euer Fleiß, Euer Können haben gesiegt. Allen Zweiflern zum Trotz hat das Kollektiv unseres Werkes von März bis November einen Gewinn von 600 000 DM erarbeitet.
Die von Euch ausgelöste Bewegung unter der Losung: Weg mit den Verlusten! Für eine hohe Rentabilität der Betriebe! Für ein besseres Leben! hat sich in der gesamten Republik Bahn gebrochen. Ihr seid die Initiatoren, Ihr habt mit Ehren bestanden. Viele sind Euch gefolgt und haben ebenfalls große Leistungen vollbradht. Allein durch unsere Arbeit können 600 000 DM mehr unserer Volkswirtschaft zugeführt werden. Sie festigen und stärken unseren Arbeiter-und Bauernstaat im Ringen um die Wiedervereinigung unserer Heimat.“
Aber bereits die Nummer 1 des Jahres 19 56 führt die eben erst so überschwenglich Belobten auf den rauhen Boden dei Wirklichkeit zurück. Nicht weniger als drei von vier Seiten rufen, ebenso wie in Nr. 2, zur Steigerung der Arbeitsproduktivität auf, und fünfzehn beispielhafte „Selbstverpflichtungen zu Ehren des Geburtstages unseres Präsidenten werden veröffentlicht. Einige von ihnen, so die der „Konstrukteure der Abt. TK 3“ enden mit dem ominösen Satz: „Die Arbeiten werden zusätzlich in freiwilligem Arbeitseinsatz durchgeführt.“ Die Komposition der ersten Seite der Jahresanfangsnummer dient aber noch einem höheren Ziel: sie soll den vollen Übereinklang zwischen dem Willen der Arbeiter — dokumentiert durch die „Selbstverpflichtungen — und der Zielsetzung der Regierung beweisen. Darum gibt der Minister für Schwermaschinenbau, Apel, in einem zweispaltigen Artikel, der in Form eines Briefes an den „Kollegen Werkleiter gekleidet ist, die Befehle der Regierung an den Betrieb bekannt:
„. . . Daher steht unser Kampf um die Planerfüllung im Jahre 1956 unter der Losung:
, Der Schwermaschinenbau an die Spitze bei der Modernisierung, Mechanisierung, Automatisierung!
Die zentrale Stellung, die der Schwermaschinenbau bei der Einführung der neuenTechnik und der vorrangigen Entwicklung der Schwerindustrie in unserer Volkswirtscltaft einnimmt, findet ihren Ausdrudz in den hohen Aufgaben, die uns im Volkswirtsdiaftsplan 1956 von der Regierung gestellt sind. Besonders die Planziele in der Steigerung der Arbeitsproduktivität und Senkung der Selbstkosten bedeuten eine hohe, aber reale Zielsetzung. Die im Plan 1956 festgelegten Ziele stellen Forderungen der Partei der Arbeiterklasse und der Regie: ung dar, deren restlose und disziplinierte Erfüllung eine unumgängliche Voraussetzung für den weiteren sozialistischen Aufbau in der Deutschen Demokratischen Republik ist.
Als Hauptaufgaben stehen vor uns:
1. Sdmelles Wadtstum der Produktion durdi Mobilisierung aller Reserven.
2. Wesentliche Verbesserung des technisdten Niveaus der Erzeugnisse und Steigerung der Qualität. 3. Erhebliche Senkung der Selbstkosten.
Wir werden die uns gestellten großen Aufgaben nur lösen, wenn wir es verstehen, in unseren Betrieben auf wirklich sozialistische Art zu wirtschaften. Hierzu ist es notwendig, die Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse und die Gesetze der Regierung ernsthaft zu studieren und nach ihnen zu handeln.
Durch den Besd-tluß des Ministerrates über die Erweiterung der Befugnisse der Werkleiter, der ihnen in den nächsten Tagen vom Hauptverwaltungsleiter bekanntgegeben und erläutert wird, hat unsere Regierung ihnen großes Vertrauen entgegengebracht.
Ich erwarte, daß sie dieses Vertrauen voll rechtfertigen. Die Werktätigen des Schwermaschinenbaues wissen, daß einer der wichtigsten Mittel — den Staatsplan zu erfüllen und überzuerfüllen — der sozialistische Wettbewerb ist.
So rufen z. B. die Werktätigen der Köpenicl^er Elektroindustrie, des Fritz-Hedtert-Werkes, Karl-Marx'-Stadt und der Werzeugmasdünenfabrik Magdeburg zum Wettbewerb mit festumrissenen Verpflichtungen zu Ehren der UL Parteikonferenz auf. Die Aufgaben und Ziele dieser Wettbewerbe gebe idt ihnen in der Anlage noch einmal bekannt.“ Auf Seite 2 werden dann Selbstverpflichtungen und Regierungsbefehle ergänzt durch „Entschließungen der Gewerkschaftsaktivtagung'', die „freiwillige“ Verpflichtungen zu obligatorischen Ergänzungen des Betriebs-Kollektiv-Vertrages umformen. Diese unheilige Dreieinigkeit — „Initiative der Arbeiterklasse“, sprich Selbstverpflichtung, Regierungsbefehl, Koordinierung durch Gewerkschaften — ist ein typischer Vorgang. Er wird dadurch modifiziert, daß die „Initiative“, je nach Bedarf, auch von der Regierung oder den Gewerkschaften „ausgehen“ kann.
Der unvermeidliche Erfolgsrückblick auf das Jahr 195 5 ist überschrieben mit Zeilen aus dem „Hymnus an die Partei“: „Sie hat uns alles gegeben, Sonne und Wind und den großen Plan.“ Was dieser „große Plan“ für die Arbeiter von Wildau in der Praxis bedeutete, zeigt der nachstehende Auszug, der auch in einem anderen Punkte unfreiwillig aufschlußreich ist: „Wir erkannten recht gut, daß unser Werk zu den 27 Prozent Verlustbetrieben in der Republik gehörte . , .
Diese übernommene Aufgabe war groß! Einige Zweifler in verantwortndren Stellen zogen es vor, da sie nicht an die Kraft der Arbeiterklasse glaubten, unsere Republik zu verlassen, um sich als Feinde unseres Aufbaues in das Lager der Imperialisten zu begeben.
Für die überwiegende Mehrzahl stand jedodt fest, die Selbst-kosten gegenüber dem Vorjahr um rund vier Millionen DM zu senken. Diese Senkung konnte aber nur erfolgreich sein, wenn das gesamte Kollektiv unseres Werkes sich im Kampf gegen die Verluste vereinigte.“
Die Zahl der ins „Lager der Imperialisten übergelaufenen Zweifler“ muß so gering nicht gewesen sein. Wie sollte man sonst den Roman erklären, mit dem die Betriebszeitung bis Ende März 1956 ihre Leser erfreute, und der als Abschreckung für „Zweifler“ unter dem Titel „Flucht ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ haarsträubende Erlebnisse von „Republikflüchtigen“ mit der Polizei der Bundesrepublik und dem in diesem Zusammenhang dringend benötigten CIC schildert?
Aber diese Nr. 1 des „Schwungrades“ vermittelt ungewollt noch eine andere, sehr wesentliche Erkenntnis. Sie widerlegt das schöne Märchen, daß der Arbeiter unter den Bedingungen des „sozialistischen deutschen Staates“ nicht mehr ausgebeutet, sondern an den Früchten seiner Arbeit beteiligt wird. Auf Seite 1 berichtet Werksdirektor Behrend, „das die Arbeitsproduktivität im vergangenen Jahrfünft um 3 00 Prozent gestiegen ist“. Auf Seite 3 teilt er mit: „Der Durchschnitts-verdienst der Produktionsarbeiter innerhalb des letzten Jahrfünft ist von 100 auf 13 2 gestiege n.“ Ein solches Mißverhältnis würde selbst einem superkapitalistischen Betrieb noch zur Unehre gereichen!
Die Seite 4, und das entspricht der grundsätzlichen Gestaltung aller Betriebszeitungen, ist zur einen Hälfte Angelegenheiten des Betriebssportes, zur anderen der Empfehlung „fortschrittlicher Literatur“ und jener feuilletonistischen, aber bösartigen Kritik an Arbeitskollegen gewidmet, deren Verfasser sich das bezeichnende Pseudonym „Spürnase“ zugelegt hat.
„Spontane Forderungen der Werktätigen"
Abbildung 2
Abbildung 2
Die folgenden Nummern der Betriebszeitung „Das Schwungrad“ sind ein Musterbeispiel für die Organisation „spontaner Forderungen unserer Werktätigen“ an die Regierung und die zentrale Lenkung der gesamten Publizistik in der Zone und der besonderen Aufgabenstellung an die Betriebszeitungen. Sicherlich zu ihrer nicht geringen Überraschung müssen die Arbeiter von Wildau (Bezirk Potsdam) ihrem „Schwungrad“ vom 19. Januar 19 56 entnehmen: „Schwermaschinenbauer fordern: Die Bildung einer Volksarmee zum Schutze unserer DDR“. Was dann folgt, dürfte die Verblüffung der „Schwermaschinenbauer"
zur Genüge erklären:
„Mit wachsender Unruhe verfolgen unsere Sdiwermasdiinenbauer die sidt immer mehr verstärkende Aufrüstung der Westmächte, insbesondere der Bundesrepublik. Das führte dazu, daß in den versdtiedensten Abteilungen unseres Werkes am Montag und Dienstag spontan Kurzversammlungen durdtgeführt wurden, wo die Kollegen in der Diskussion als besonders kennzeidtnend für die Kriegsvorbereitungen, die Rekrutierung der Jugend Westdeutschlands für die NATO-Armee und die Entlassung der 460 Kriegsverbredter und Massenmörder, welche von der Sowjetunion der Bundesrepublik übergeben worden waren, anführten.
Die Abteilungsgewerkschaft Verwaltung, die Ausbilder und Lehrlinge sowie die verantwortlichen Wirtschaftsfunktionäre forderten auf diesen Kurzversammlungen von der höchsten Vertretung unseres Volkes, der Volkskammer, Maßnahmen e i n z u l e i t e n, die die politischen, ökonomischen und kulturellen Errungenschaf ten unseres Arbeiter-und Bauerstaates sichern und eine weitere friedliche Entwicklung garantieren.
In der Entschließung der AGL-Verwaltung bitten die Kollegen die Volkskammer, Beschlüsse zu fassen, die die Erziehung aller Bürger zu glühenden Patrioten und begeisterten Verteidigern unserer sozialistischen Heimat gewährleisten und unsere Bürger, vor allem die Jugend, so im Waffenhandwerk auszubilden, daß den Kriegstreibern jede Lust zu einem Angriff auf die DDR vergeht.
Vor der Abstimmung über die Entschließung äußerte Kollege Karl Bosenius, der kürzlich besudisweise in Westdeutschland weilte: , In Anbetracht der verstärkten Aufrüstung Westdeutschlands ist es notwendig, daß wir Bürger in der DDR uns eine starke Verteidigungskraft schaffen.'Freudig erhebe idi deshalb meine Hand für diese Forderung.“
Nicht die Arbeiter also, sondern die „verantwortlichen Wirtschaftsfunktionäre“ und die „Abteilungsgewerkschaft Verwaltung“ haben „gefordert“ und sind darob zu „Schwermaschinenbauern“ avanciert! Offenbar war die Betriebs-Partei-Organisation des Erfolges der „spontanen Kurzversammlungen“ bei den Arbeitern doch nicht recht sicher und zog den Weg des geringsten Widerstandes vor. Noch etwas anderes kündigte sich an: VEB „Heinrich Rau“, auserwählt zur Stellung spontaner Forderungen, war noch zu höherem berufen! Wir kommen noch darauf zurück. Die halbe erste Seite wird von einem Artikel eingenommen „Waffen in den Händen der Arbeiter dienen den Interessen des Volkes“, die ganze Seite 3 beschäftigt sich mit der Jugend, ihrer freiwilligen Meldung zur KVP, ein zweispaltiger Artikel ist der „Kollegin Hagedorn“ gewidmet. Dieses hoffnungsvolle Mädchen „hatte ohne Training mit drei Schuß 27 Ringe erreicht (hei 30 möglichen)“. Die „Gesellschaft für Sport und Technik“ tritt hier als wichtiger „Erziehungsfaktor“ in Erscheinung, auch im Bild der Betriebszeitung. Das ändert sich während des ganzen Jahres 1956 nicht. Vormilitärische Erziehung und ihre Propagierung durch die GST, Werbung für die Nationale Volksarmee nehmen nun rund zwanzig Prozent des Raumes der Betriebszeitung ein, unabhängig davon, ob die Politik der „friedlichen Koexistenz“ mehr oder weniger nachdrücklich betrieben wird.
Im Hinblick auf die Inanspruchnahme des Normalraumes durch die staatspolitisch vordringliche Aufgabe mußte die BPO den Bericht über ihre Gesamtmitgliederversammlung in einer zweiseitigen Beilage veröffentlichen. Sie beschließt, wie zu erwarten war, „alle Kräfte für die weitere Steigerung der Arbeitsproduktivität einzusetzen“ und das „politisch-ideologische Niveau auf eine höhere Stufe zu heben“. Bemerkenswert aber ist ein Diskussionsbeitrag des „Genossen Werner Fischer“, weil er unfreiwillig die Publizistik des „daß nicht sein kann, was nicht sein darf“ entschleiert, die selbst für Betriebszeitungen gilt, obwohl gerade im Betrieb alle Beteiligten über außerordentliche Ereignisse ohnehin Bescheid wissen. Der „Maschine 006“, einer für die Sowjetunion bestimmten Kaltblech-Richtmaschine, deren fristgerechte Fertigstellung 19 5 5 monatelang Gegenstand heftigster Propaganda der Betriebszeitung war, stieß vor Ablieferung noch ein Unglück zu, das man versucht hatte, offiziell totzuschweigen. Erst Fischer brach das Schweigen mit der interessanten Erklärung:
«... Weiter bin ich nicht damit einverstanden, daß die Maschine 006 dtirdt versehentliches falsches Rangieren beschädigt wurde. Wenn man sich überlegt, daß 30 Tonnen schwere Teile um zehn Zentimeter versd-ioben oder die Stützwalzen einfach aus den Kisten gefallen sind, dann kann man nur zu dem Sdtluß kommen, das war Sabotage. Das war Sabotage, um uns an der Erfüllung unserer Verpflichtungen gegenüber der SU zu hemmen und die SU zu schädigen. Deshalb möchte ich an unsere Kreisleitung die Bitte richten, uns zu helfen, daß ein Vertreter der Staatssicherheit unserer Belegsdiaft einen aufklärenden Vortrag hält, um zu zeigen, wie der Klassenfeind arbeitet.“
Wir werden diesem typischen Vorgang, dem Totschweigen allgemein bekannter Betriebsvorgänge, noch des öfteren begegnen.
Zunächst aber dürfen wir mit den Schwermaschinenbauern aus Nr. 4 des „Schwungrades“ befriedigt feststellen, wie sehr sich die Volkskammer beeilte, ihrer „Initiative“ zur Schaffung der Volksarmee zu entsprechen. „Auf ihren Fahnen werden die Worte Frieden und Völkerverständigung stehen“, ist der dreispaltige Aufmacher überschrieben, der durch einen Artikel „Die Blinden von Bonn“ ergänzt wird. Wir erfahren weiter, daß der erste Sekretär der SED-Bezirksleitung in das Werk bemüht wurde, um den Montagearbeitern den Unterschied zwischen einer „Friedensarmee“ einerseits und der „imperialistischen, faschistischen Armee Adenauers“ andererseits klarzumachen.
„Freiwillige" Selbstverpflichtungen
Stimmen zum KP-Verbot dem Kpn Schutzh Werktätige Naicgn . Fol—l—iehuineeeOe- setiehszenun des VEa larbentabutk Wolten Harousgegeben on der Poellaituag der SED 3 Vou sssm est Aesssssss anGs. x August 1866 24. Auguet » 54 i leroc»e heaneeN »‘ 2 eoüaa seaiug -1" ALflonselhen deo Nazlmpeik te M 2 • S 9a 8ess 3ehrgens 9 **. 34 LEITUNG * 6 KABELWEEK OBIRSPREE Weskiclige .'KabelwerkeranderSeilederKPD “ ach Meiste \ dis neue Tgchnik, m och Voss , h’gez u rMec ho niisrury euet Arbeit eder vorschlog hi
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Gleichzeitig beginnt aber bereits jene Reihe von „freiwilligen“ Selbstverpflichtungen aus gegebenen Anlässen, die über das ganze Jahr das Gesicht der Zeitung bestimmen. Hier sind es welche „Zu Ehren der 3. Parteikonferenz: Kollektiver Wettbewerb im Betrieb II“. Im Rhythmus des volksdemokratischen Jahresablaufs wandeln sie sich: zu „Ehren des 1. Mai“, des „Befreiungstages“ 8. Mai, zu „Ehren“ der „Beschlüsse“ der 3. Parteikonferenz, des Jahrestages der Oktoberrevolution, des Aktivistentages 13. Oktober, des Gründungstages der Republik. Der Kreis schließt sich dann wieder mit den Verpflichtungen zum Geburtstag des „Arbeiterpräsidenten“ Pieck.
„Das Schwungrad" indessen bemüht sich zunächst in Nr. 6 vom 2. Februar „Die friedliche Perspektive der Prager Beschlüsse“ zu beweisen. Wirkungsvoll wird das unterstrichen durch die Meldung auf der ersten Seite:
„Zum Sdtutz unserer Heimat bereit sind die Kollegen Heinz Hammerschmidt, Montage, sowie die Kollegen Wilfried Mienert, Wolfgang Sappeck und Otto Knödel aus der Zerspanung, die ihren Beitritt zu unserer Nationalen Volksarmee erklärten. Kollege Hammerschmidt, der 1954 aus Westdeutsdrland in unser Werk kam, qualifiziert sich gegenwärtig zum Maschinenbauschlosser. Er hat die Absicht, nach der Ableistung seines Ehrendienstes in der Nationalen Volksarmee, das Ingenieurstudium aufzunehmen. Das kann er aber nur, ist seine Ansicht, wenn er jetzt dazu beiträgt, seine Zukunft zu sichern.“
Zu „Ehren der 3. Parteikonferenz“ sind „Rationalisatoren und Erfinder“ des Betriebes in den Wettbewerb getreten, gilt es doch, „jetzt auch die Verantwortung dafür zu tragen, daß unsere Volksarmee mit besten und modernsten Waffen ausgerüstet wird“.
Die Ausgabe Nr. 6 vom 9. Februar bezeichnet den Höhepunkt der Erfolge des Betriebes. Was sich durch die Beauftragung mit der „Initiative“ zum Volkskammerbeschluß andeutete, wird Wirklichkeit: Dem Werk wird der Orden „Banner der Arbeit“ von Otto Grotewohl verliehen, der Werkleiter Behrend wird zum „Verdienten Aktivisten“ ernannt. Zur Feier dieses freudigen Ereignisses „verpflichten sich die AGL-Mitglieder der Schmiede, 110 Stunden für das Nationale Aufbauwerk zu leisten und die Gewerkschaftsmitglieder der Schmiede zur Übernahme von Verpflichtungen zu veranlassen." Ein Wermutstropfen fällt in diesen Freudenbecher: dem Maschinenbau wird aufgegeben, seinen Ausstoß um 50 Prozent zu erhöhen. Zu der Begeisterung „Dortmunder Freunde eines Mandolinenchors“ über die „sozialen Errungenschaften“ paßt schlecht die Kritik auf Seite 4, daß „in Halle 14 die Kollegen seit drei Jahren vergeblich die Anbringung von Heizkörpern fordern. Die 17 Grad Kälte (!!) in den letzten Tagen an ihren Arbeitsplätzen führten dazu, daß trotz Filzstiefel und Joppen, die den Kollegen zwar zur Verfügung stehen, die Hälfte der Kolleginnen (!) und Kollegen krankgeschrieben werden mußte (!!).“
Seit drei Jahren werden vergeblich Heizkörper gefordert — obwohl höchstes Ziel der Politik der Regierung „die Sorge um den Menschen" ist, obwohl SED und FDGB nur das „Wohl der Werktätigen“ kennen. Einige Zeilen zerstören so den Nimbus von den „Errungenschaft en“ der Sowjetzone, um deren Beibehaltung sich sogar in der Bundesrepublik ganze Theorien entwickeln.
Diese Nr. 6 ist noch aus einem anderen Grunde aufschlußreich. Gesprächsthema der Arbeiter war offenbar weniger die Ehrung ihres Betriebes als vielmehr die Frage: „Warum fuhr am Sonnabend und Sonntag keine S-Bahn nach Berlin?“ Die Aufregung hierüber muß beträchtlich gewesen sein, sonst hätte sich die BPO nicht zu einer so weitschweifigen Erklärung in dieser „Festausgabe“ veranlaßt gesehen:
„Das Oberste Gericht in der Deutschen Demokratischen Republik hat die Verbrecher und Agenten Held und Rudert, die unsere Republik mit Sabotage, Mord und Brandstiftung überfallen wollten, zum Tode verurteilt. Diese beiden Verbrecher haben bewußt gegen die Ordnung in unserem Arbeiter-und Bauernstaat gearbeitet.
Die Auftraggeber der Verbrecher Held und Rudert, nämlich die Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit, die Ostbüros der CDU und SPD heulen auf, weil es der DDR wieder einmal gelungen ist, einige ihrer Hauptverbredter, Hauptagenten und Helfershelfer zu vernichten. Sie machen jetzt alle Anstrengungen zur Organisierung neuer Provokationsfälle, Ausfälle gegen die Deutsdie Demokratisdte Republik usw. So sollte am Sonntag eine Provokation starten, bei der man sidt Menschen aus unserer DDR bedienen wollte.
Die Organisatoren dieser Hetzkundgebung waren der RIAS und der Sender Freies Berlin.
Bürger, die im Laufe der vorigen Woche in Westberlin ankamen, wurden von den Verbrecherorganisationen an den S-Bahnhöfen empfangen, registriert und mit Hetzmaterial versehen wieder in die DDR zurückgesdiickt. Diese Menschen befinden sich nun im Netz dieser Verbrecherorganisationen. Man wird ihnen keine Ruhe lassen. Einmal in Westberlin gewesen, wird man sie jetzt ständig auffordern, durch Sabotage, Verleumdung, Mord und dergleichen gegen die DDR zu arbeiten. Wer das nicht rechtzeitig erkennt, hat früher oder später mit der gleichen Strafe zu rechnen wie Held und Rudert.
Um unsere Bürger davor zu schützen, wurden Maßnahmen eingeleitet, die im ersten Moment unpopulär aussahen, in Wirklichkeit aber dem Schutze unserer Bürger dienten.
Bei Rückkehrern, die von der „Grünen Woche" aus Westberlin kamen, wurden Flugblätter, Brandsätze, Agentenmaterial, Waffen und Munition gefunden. Es hat allerdings auch Besucher der „Grünen Wodte“ gegeben, die gar nichts bei sielt hatten. Dafür haben sie ihre Namen und die Spionagezentralen und der RIAS werden zum zegebenen Zeitpunkt auch auf diese Mensdten zurückgreifen.
Die Hauptorganisatorin der amerikanisdten Imperialisten, die Schwester des berüchtigten Außenministers Dulles, ist extra zu dem Zweck nadt Westberlin gekommen, um die Zusammenballung von Menschen, anläßlich der „Grünen Woche" für ihre schmutzige Arbeit auszunutzen.
Um also unseren Aufbau und unsere Menschen in der Deutsdien Demokratischen Republik zu schützen, deshalb war der Zugverkehr nach Berlin eingeschränkt.
(Aus der Argumentation der Betriebsparteiorganisation.)“
„Kosten schöne Frauen wirklich Geld?"
AIs etwas kläglicher Versuch, von diesen unangenehmen Fragen abzulenken, wirkt die sich über fünf Ausgaben hinziehende, breit aus-gewalzte Diskussion über das Thema „Kosten schöne Frauen wirklich Geld?", die in Nr. 5 wie folgt gestartet wurde:
„Ein oft in unserem Betriebsfunk gespielter Schlager besagt, daß schöne Frauen Geld kosten und daß Verhältnisse mit ihnen von nur kurzer Dauer sind und das meiste Geld erfordern.
Was wird in diesem sogenannten Sdtlager zum Ausdruck gebradtt?
Einmal werden darin Zustände gekennzeichnet und zur feststehenden Tatsache erhoben, die einer Zeit angehören, die hinter uns liegt.
Einer Zeit, in der man sich, wenn man über das nötige Kleingeld verfügte, konnte. die Liebe schöner Frauen kaufen Zum anderen wird damit zum Ausdruck gebracht, daß weniger sdwne Frauen billiger zu haben sind. Flier kommt die Mißachtung der Frauen als gleichberechtigte Glieder der Gesellschaft zum Ausdruck. Wir wissen alle, daß in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung diese Zustände tatsächlich vorhanden waren und nur die klassenbewußten Arbeiter und wenige fortschrittliche Angehörige der bürgerlichen Schichten dagegen kämpften.
Man müßte meiner Meinung nach langsam dazu übergehen, die Schlacken der Vergangenheit auch in unserem Musik-und 'Lieder-schatz auszumerzen, statt sie noch zu kultivieren und damit beginnen, neue Lieder (auch Schlager Red.) zu schaffen und zu verbreiten, die das Leben und die neue Einstellung unserer Menschen zum Inhalt haben. Damit werden wir eine bessere Erziehungsarbeit leisten, als durch das Spielen von verkitschten Schlagern, die eine vergangene Epoche verherrlichen und als unabänderlich hinstellen. R. Poldrack"
Die Nr. 7 bis 14 stehen im Zeichen immer neuer Verpflichtungen'zu Ehren der 3. Parteikonferenz der SED, eine „Jugendbrigade fordert Erhöhung ihres Plans“, die Exportverpflichtungen, besonders gegenüber der SU, sollen aus diesem Anlaß vorfristig erfüllt werden. „Die Völker blicken nach Moskau“ zum XX. Parteitag der KPdSU, aber niemals werden die Leser aus dem „Schwungrad“ erfahren, daß es bei dieser Gelegenheit die Absage an Stalin und den Personenkult gab. „Mit patriotischer Begeisterung“ geben „die Montagebrigaden ein Beispiel für die Stärkung des sozialistischen Lagers durch die Auslieferung der Exportaufträge für die SU“, sind die „Kollegen mit großem Eifer dabei, die Beschlüsse des 2 5. Plenums „technisieren, modernisieren, automatisieren“ in ihrem Arbeitsbereich in die Tat umzusetzen“. Eine 2-seitige Beilage in Nr. 9 ist der Propagierung der Jugendweihe gewidmet, was nichts daran ändert, daß „die Lehrlinge in Kälteurlaub geschickt“ wurden, weil die Temperatur in der Lehrwerkstatt „auf — 7° gesunken ist“.
„Die Arbeitsproduktivität steigt ständig“, verkündet die Schlagzeile von Nr. 12. Der Betriebskollektivvertrag 1956 wird angenommen mit „ 360 Vorschlägen und Zusatzanträgen, die Ausdruck sind aktiver Mitarbeit unserer Schwermaschinenbauer“. Die „Kollegen der Lagerwirtschaft verpflichten sich zu 1297 Aufbaustunden“, kurz, der Betrieb ist „auf dem Wege, den Erfolgen des Jahres 1955 neue hinzuzufügen“.
Erste Zweifel an der Realität dieser „Erfolge“ stellen sich allerdings ein, wenn in Nr. 14 vom 6. April an versteckter Stelle mit der Tarnüberschrift „Dank den Schwermaschinenbauern“ mitgeteilt wird, durch „die Kälteperiode war die Zuteilung unserer elektrisdten Energie auf ein Minimum beschränkt. Für unseren Betrieb stand die Aufgabe, die Produktion durchzuführen, ohne daß die uns zugeteilte Strommenge überzogen wurde". Bemerkenswert ist die strikte Beachtung des „tabu“ auch in diesem Falle. In keiner der Zeitungen, die während der Periode der „auf ein Minimum" beschränkten Stromversorgung erschienen, wird diese allen bekannte Tatsache auch nur mit einem Wort erwähnt.
In den Ausgaben vom 12. April bis 2. August (Nr. 15 bis 30) bestimmen das Gesicht der Zeitung: Artikel über die Jugendweihe
Der Juli steht im Zeichen von Artikeln und Resolutionen gegen die Entscheidung des Bundestages in der Wehrpflichtfrage. Westdeutsche Besucher werden herausgestellt. (Nr. 28):
„Wir sind vom Erfolg eures sozialistischen Aufbaues stark beeindruckt (Eig. Ber.). Zuw zehnten Jahrestag unserer volkseigenen Betriebe weilte eine Delegation von Kolleginnen und Kollegen aus Dortmund in unserem Betrieb. Die Dortmunder Kollegen sandten uns jetzt ein Grußschreiben, indem sie ihren Dank für die herzliche Aufnahme aussprechen. , Wir sind von dem Erfolg Eures sozialistischen Aufbaues stark beeindruckt und wünschen, daß das gested ite Ziel des neuen Fünfjahrplanes erfüllt und übererfüllt wird“, heißt es in ihrem Schreiben. , Werte Kollegen von , Heinrich Raul'Wir wissen, daß Ihr manchen schweren Arbeitstag hinter Euch habt. Aber was Ihr schafft, ist für Euch. Wir haben volles Vertrauen zu Eurer Partei.
Ihr seid die Garanten für ein glüddiches, demokratisches Deutschland.
Habt die Gewißheit, daß auch in Westdeutschland alle friedliebenden Menschen für Frieden und Freiheit kämpfen.'“
Sie wissen allerdings nichts von dem „Plan der Normenarbeit“, der als Sonderbeilage jener Zeitung beigefügt wurde und u. a. behauptet, die TAN (Technische Arbeitsnorm), die nun eingeführt sei, mache „eine Verkürzung der Fertigungszeit von zwei Stunden pro Kurbelwelle möglich." Und von all dem wissen auch die Kinder aus der Bundesrepublik nichts, die Gäste des von VEB „Heinrich Rau“ durchgeführten Sommer-lagers waren. Ihr Dankesbrief an die Werkleitung ist in Nr. 29 vom 26. Juli abgedruckt, und er sollte ein Alarm sein für alle, die in der Lage sind, etwas dafür z-u tun, daß diese Kinder endlich Ferien in der Bundesrepublik verleben können:
„(Eig. Ber.) Die 15 besten Pioniere aus dem Zeltlager Großköris waren am vergangenen Sonnabend Gäste unseres Werkdirektors. Bei Kakao und Kuchen, später bei Bockwurst und munteren Liedern, erzählte Kollege Behrend den Kindern aus der Gesdtid'ite und von der Produktion unseres Betriebes.
Erhard aus Wilhelmshaven beriditete vom Neptun-Fest im Zeltlager, das allen viel Freude und Spaß bereitet hat. Aufmerksam verfolgten sie audt die Worte Jong-pils, der aus seiner fernen koreanischen Heimat erzählte und von seinem Studium an der Technischen Hochsdiule Dresden.
Zum Absdtied übergaben die Wilhelmshavener Pioniere einen Brief an die Belegsdraft unseres Werkes, den wir nachstehend veröffentlichen: An die Arbeiter des Werkes . Heinrich Rau in Wildau Wir Wilhelmshavener Kinder bedanken uns für die frohen Ferientage, die Ihr uns bereitet habt. Wir haben in Eurem Lager viele frohe Stunden verlebt, so daß wir gar nidit nadt Hause fahren möchten.
Die Verpflegung war so gut, daß mandre Kinder drei-bis viermal nachgeholt haben. Die Gruppenleiter bzw. die Lagerleitung war sehr nett zu uns, was uns audt sehr gefreut hat. Da wir mit Kindern der DDR zusammengekommen sind, haben wir unsere Meinungen getauscht. Wir erfahren, daß das, was Ihr Euch erarbeitet, all Euer Hab und Gut ist. Das ist bei uns natürlich nicht so. Da arbeiten unsere Väter für die Kapitalisten. Diese schönen Ferien hätten wir bei uns nicht verleben können. Schade, daß vHr Sonntag sdton wieder abfahren müssen, denn die Zeit war viel zu kurz. Wir werden in Wilhelmshaven jederzeit für die Wahrheit eintreten, und jedem, der es wissen mödhte, von unseren schönen Ferienerlebnissen erzählen. Wir danken nochmals für alles Gute und wünschen Eudt redit viel Erfolg in Eurer Arbeit.
Im Auftrage der Wilhelmshavener Jungen und Mädchen Euer Friedrich und Erhard.“
In dem ganzen Zeitraum von April bis Juni setzten sich aber auch die Erfolgsmeldungen fort: neue Verpflichtungen, vorfristige Erfüllungen usw. Am 6. Mai aber war zur Belohnung für die „erreichten Erfolge“ sogar ein ganztätiger Betriebsausflug mit Schiffen und einem anschließenden großen Varieteprogramm durchgeführt worden. Aber in der erwähnten Nr. 29. finden wir am Vorabend der „Rechenschaftslegung“ über den BKV eine gar nicht erfolgsfreudige Stimme:
„Beim Absdiluß des Betriebskollektivvertrages wurden viele schlagkräftige Worte gebraudtt, die diesen als Grundlage der gesamten Arbeit im Betrieb hervorhoben. Bei der Verwirklidiung der in ihm enthaltenen Verpflidttungen zeigt sich jedoch zwischen den sdrönen Worten und den Taten ein Widerspruch.
Entgegen den Festlegungen im BKV wurden, um nur zwei Beispiele herauszugreifen:
1. die Quartalspläne nidit monatlich aufgegliedert und nidit in Form von Brigadepässen auf die Brigaden aufgesdilüsselt;
2.der Plan der tedinisdi-organisatorisdien Maßnahmen ist nodi nidit das entscheidende Mittel zur Verbesserung der Arbeit unseres Betriebes zur Erfüllung der Planaufgaben.
Die Nidrterfüllung saldier Verpflichtungen hemmt aber die Entfaltung des sozialistischen Wettbewerbs, engt die Initiative unserer Kollegen im Kampf um die Planerfüllung ein. Solche Versäumnisse bei der Verwirklidiung der Verpfliditungen können daher nicht mit „objektiven Sdiwierigkeiten“ entsdiuldigt werden.
Auch die BGL hat es in den vergangenen Monaten nidit verstanden, mit unseren Kollegen eine wirklidie Massenkontrolle des BKV vorzunehmen. Die Erfolge fallen uns nicht vom Himmel, wir müssen sie uns erarbeiten, wobei in unserem Betrieb nodi immer eine zu große Duldsamkeit gegenüber Mängeln und Fehlern besteht.
Wir müssen daher endlich Sdiluß madien mit billigen Entschuldigungen. Nur sadiliche, konkrete Arbeit sichert die Erfüllung des Betriebskollektivvertrages.“
„Wir werden das fast Unmögliche schaffen"
Diese Kassandra in Gestalt der BGL war nur zu ahnungsvoll! Schon eine Woche später, in der Ausgabe vom 2. August, straft der Werk-direktor, „Verdienter Aktivist“ Paul Behrend, alle Erfolgsmeldungen aus den zurückliegenden 7 Monaten Lügen! Schon die ausnahmsweise in rot gehaltene Überschrift ist alarmierend, nicht weniger ihr Wortlaut: „Wir werden das fast Unmögliche schaffen!“ — nämlich die Planerfüllung zum Jahresende. Für die wenigen Leser, die ihrer Betriebszeitung bis dahin geglaubt hatten, müssen seine Erklärungen niederschmetternd gewesen sein, nicht zuletzt deshalb, weil er sogar eine vorsichtige Kritik an Regierungsmaßnahmen zu seiner eigenen Rechtfertigung einfließen ließ „Das Kolleicrtv unseres Werkes hat ohne Zweifel im vergangenen Jahr und insbesondere im IV. Quartal 1955 eine große Leistung vollbracht. Es war ein Gradmesser für die Leistungsfähigkeit unseres Betriebes. Wir standen mit an der Spitze im Kampf um die Herstellung der Rentabilität der Volkseigenen Betriebe. Zum erstenmal konnten wir durch unsere Arbeit einen Gewinn an den Staatshaushalt abführen. Unser Werk wurde dafür mit dem Orden „Banner der Arbeit“ ausgezeidmet. Diese hohe Staatsauszeidmung war für uns nidit nur eine Anerkennung, sondern sie verpfliditet uns audi, das erste Jahr des zweiten Fünfjahrplanes erfolgreich abzuschließen.
Unter der großen Perspektive des zweiten Fünfjahrplanes haben wir im März dieses Jahres unseren Betriebskollektivvertrag beraten und besdilossen. Jetzt gilt es Redienschaft über die darin enthahenen Verpfliditungen abzulegen. Durdt die Erfüllung der Warenpoduktion mit mir 79 Prozent im ersten FJalbjahr dieses Johres haben wir gegenüber unserem Staat 6, 7 Millionen DM Planschnlden. Das ist nur die eine Seite. Hinzu kommt, daß durch die Nidtterfüllung der Warenproduktion audt unser Finanzplan nur mit 31 Prozent erfüllt wurde. Das heißt, wir haben unserem Staat rund 1, 3 Millionen DM weniger zur Verfügung gestellt als die Planung vorsah. Diese wenigen Zahlen zeigen uns, daß wir unsere Aufgabe in diesem Jahr bisher sehr schlecht erfüllt haben.
Aufbauend auf die Erfolge, die wir im Jahre 1955 gemeinsam erreicht hatten, sagten wir eine Steigerung der Gesamtproduktion gegenüber 1955 um 26 Prozent zu. Dieser Planvorsddag, der die Grenze unserer Leistungsfähigkeit zum Inhalt hatte, wurde im September 1955 dem Ministerium übergeben. Am 16. Dezember 1955 erhielt unser Werk die endgültige Auflage, die eine Steigerung der Gesamtproduktion um 35 Prozent vorsah.
Die Werkleitung hat Ende des Jahres 1955 in einer Besprechung mit dem Leitungskollektiv der HV gegen diese Erhöhung Einspruch erhoben. Begründet wurde unser Einspruch mit dem Hinweis, daß nach der Auftragslage und der daraus resultierenden Materialbeschaffung die Voraussetzungen für die erhöhte Planauflage nicht gegeben waren.
Die Werkleitung ist sich darüber im klaren, und sie ist auch überzeugt davon, daß es die Meinung aller Kollegen des Werkes ist, daß die beauflagte Produktion von unseren Produktionsbetrieben bewältigt werden kann. Es wurde jedoch bei der Bearbeitung der endgültigen Produktionshöhe die Kapazität der Vorausabteilungen Konstruktion und Technologie überschätzt. Dieser Tatsache sich zu verschließen, wäre falsch und bedeutete, einen neuen Fehler in der Zukunft zu machen.
Wenn gerade diese Abteilungen keine gute Arbeit leisten, die Termine laut Objektfristenplan nicht einhalten, die Technologie die Bildung von Kennziffern für den Arbeitsaufwand vor allem audt in den Voraus-Abteilungen vernadtlässigen, dann bringen sie die nadtfolgenden Abteilungen und damit den ganzen Betrieb durdteinander.
Aus diesem Grunde muß es unser Bestreben sein, besonders in diesen Abteilungen die Kapazität zu erhöhen und die Arbeit zu verbessern.
Es ist weiter notwendig, durch innerbetriebliche Entwiddung und Weiterentwicklung der Erzeugnisse, die unser Standardprogramm ausmacheit sollen, ein wirklidtes Fertigungsprogramm zu sdtaffen und den Anschluß an das Weltniveau dieser Erzeugnisse zu gewinnen.
Nur so kann es uns gelingen, von der bisherigen Warenhausproduktion mit Einzelkonstruktion und Einzeltechnologie abzukommen.“
Paul Fritze, Brigadier in der Montage, ergänzt diese Ausführungen durch Erklärungen, die sehr aufschlußreich sind im Hinblick auf das „Betriebsklima“ dieses Musterbetriebes. Auch davon war in der Betriebszeitung bis dahin nichts zu finden:
„Linser Betrieb und damit unsere ganze Belegsdiaft hat im Jahre 1955 eine große Leistung vollbracht. Es wurde nicht nur der Verlust herausgearbeitet, sondern es wurden noch über 1 Million DM an unseren Staatshaushalt abgeführt. Dafür erhielten wir die hohe Staatsauszeichnung Orden „Banner der Arbeit“. Diese Auszeid'inung ist für uns eine große Ehre, aber zugleich auch eine große Verpflidttung, weiter vorbildlich zu arbeiten, um als Schwermasdiinenbau „Heinridt Rau“ Wildau mit an der Spitze zu stehen.
Lins ist allen die augenblickliche schled'ite Lage bekannt. Es ist uns auch bekannt, daß wir bis jetzt Planschulden gegenüber unserem Staat haben. Wir wissen weiter, daß ungefähr für 7 Millionen DM Aufträge für die Planerfüllung gefährdet sind. Können wir aus dieser Situation herauskommen?
Seit ungefähr einem halben Jahr ist bei uns im Betrieb eine wahre Sitdtaktion nadt dem Schuldigen im Gange, weldier an der augenblicklidi schlechten Lage sdruld ist. Dabei wurden oft die viel wichtigeren Maßnahmen, alle Kräfte einzusetzen, damit endlidt die sdiledrfe Lage überwunden wird, vergessen.
Oder ist es richtig, daß unser Werkdirektor zum Einkäufer wird, um dem Einkauf zu beweisen, wie man es madtt. So weit darf es nicht kommen, denn der Werkdirektor hat wahrlich andere große Aufgaben zu erledigen.
Wir haben jetzt wahrhaftig keine Zeit mehr um zu suchen, sondern müssen handeln, um alle Aufgaben bis zum Jahresende zu sdtaffen.
Schließen wir uns fester zusammen. Bilden wir ein wirkliches Kollektiv, dann werden wir audt die Aufgaben, die 7 Millionen DM Aufträge, weldte gefährdet sind, erfüllen. Wir Kollegen aus der Montage stehen hinter unserem Werkdirektor. Wir werden ihn im Endspurt nicht im Stich lassen, so daß er am Jahresende beruhigt die Planerfüllung melden kann. Wir werden mit unserem Betriebsleiter, Kollege Schile, wie er sagte, Bäume versetzen, wenn man uns rechtzeitig alle Materialien gibt. Wir werden in diesem Jahre nochmals übermensdtliche Anstrengungen vollbringen, richten aber an den Werkdirektor die Forderung, dafür zu sorgen, daß im Jahre 1957 nicht wieder die Anlaufpanne eintritt.
Nur wenn wir im Betrieb ein wirkliches Kollektiv sind, alle gut zusammenarbeiten und gegen alle Mängel sehr unduldsam sind, werden wir den Plan erfüllen.
Also Schluß mit den pessimistischen Stimmungen. Sind wir optimistisch. Dann werden wir unser Ziel, die Planerfüllung sdtaffen.“
Für die Arbeiter wird diese Lage nicht dadurch tröstlicher, daß sie außer der Aushölung der Planrückstände auch noch „die Einbringung der Ernte zu ihrer Sache" machen sollen. Ernst Skibbe, Gruppenorganisator der SED, fordert von ihnen:
„Alle Genossen unseres Werkes müssen es als eine selbstverständliche Plicht halten, während der Erntezeit unseren LPG, aber auch unseren Einzelbauern, tatkräftig zu helfen. Wenn alle Genossen mit gutem Beispiel vorangehen, dann werden auch unsere parteilosen Kollegen zu der Überzeugung kommen, daß der freiwillige Ernte-einsatz auch ihr Vorteil ist, und sie werden kräftig mit zupadzen.
Besonders die Genossen und Kollegen der Normalsdüdit, die ja immer ein langes Wochenende haben, sollten während der Erntezeit auf ihr gewohntes Sonntagsvergnügen verziditen und dem Lande helfen. Wenn dann die Ernte eingebracht ist und jeder Werkangehörige kann sagen „auch ich habe dem Aufruf unserer Regierung Folge geleistet und meine patriotisdie Aufgabe erfüllt“, dann ist ein Spaziergang über die abgeernteten Felder ein besonderes Vergnügen.“
Im Zeichen der Planerfüllung
Mit dieser Wirklichkeit schwer vereinbar ist die Überschrift der Nr. 31 vom 9. August: „Unser Leben wird noch schöner und reicher — Das 28. Plenum der SED verbessert unser Leben“. In aller Ausführlichkeit werden die Versprechungen der Partei wiedergegeben. Es ist mehr als ein Schönheitsfehler, sondern vielmehr Ausdruck der Nichtachtung des Menschen, wenn unmittelbar unter diesen Versprechungen völlig ungerührt festgestellt wird:
„In unserem Betrieb werden viele Kolleginnen und Kollegen von der brennenden Frage des Wohnungsproblems bewegt. Der Wunsch nach einer den sozialen Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechenden Wohnung stand bei manchen Kollegen schon vor drei Jahren, genau wie heute fest. Dieser Wunsch kann schiedet erfüllt werden, wenn die Wohnungssudienden nicht persönlich mithelfen, dieses Problem zu lösen. Allein mit den Mitteln des staatlidten Wohnungsbaues kann das Wohnungsproblem nicht gelöst werden.
In Wildau allein haben wir etwa 16 0 Wohnungssudiende, die hauptsächlich eine Zweieinhalb-und Mehrzimmer-Wohnung brauchen, hinzu kommen noch die Kollegen, die in anderen Orten wohnen. Mit der Verordnung über die weitere Verbesserung der Arbeitsund Lebensbedingungen der Arbeiter und der Rechte der Gewerkschaften vom 10. Dezember 1953 wurde ein weiterer Schritt zur schnelleren Verbesserung der Wohnraumverhältnisse der Arbeiter getan.
Lim unseren Kollegen zu helfen, wurde auf Grund dieser Verordnung von unserer BGL und Werkleitung sclton ein paar Mal der Anlauf genommen, um eine Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft zu gründen. Bisher wurde diese Frage von keiner Seite ernst genug genommen. Durch ständige Diskussionen mit den Kollegen über die Wohnraumlage in Wildau haben Kollegen nun den Willen, mit Hand anzulegen, um eine AWG zu gründen. So ist am Donnerstag, dem 2.
August 1956, im Speisesaal der Halle 7 eine Versammlung durchgeführt worden, die sich mit der Bildung einer AWG beschäftigte. Leider war der Besuch dieser Versammlung ein äußerst mangelhafter.
Es war zu erwarten, daß das Interesse von Seiten der Wohnungssuchenden größer ist, -aber nur 2 1 Kollegen beteiligten sicht an der Versammlung.“
Die Gründe für den „äußerst mangelhaften“ Besuch werden nun allerdings jedem Leser verständlich sein.
Von nun an aber, mit der einzigen Ausnahme eines Festartikels zum Gründungstag der „Republik“, steht die Zeitung bis zum Jahresende im Zeichen der Planerfüllung. Das zeigen die Überschriften. Dafür einige Beispiele:
„Zur Nachahmung empfohlen: Kurbelwellendreher greifen wieder in die Speichen“ (Nr. 32)
„Vom Wettbewerb unserer Bohrwerksdreher“ (Nr. 34) „In der Montage alle Kraft für die Planerfüllung“ (Nr. 3 5)
„Alle Kräfte für den SLI-Export — Es geht um wichtige Gegen-lieferungen“ (Nr. 37)
„Jugendbrigaden der Zerspanung rufen zu noch höheren Arbeitsleistungen!“ (Nr. 39)
Rechtzeitig zum Jahresende hat man auch, wie schon 1955, einen besonders wichtigen Exportauftrag für die SEI entdeckt, die Kaltblechrichtmaschine 630— 031. Ihre termingerechte Auslieferung wird unter der Überschrift: „Planerfüllung um jeden Preis“ zum beherrschenden Thema der Betriebszeitung ab Nr. 40. Darum bleibt verständlicherweise wenig Raum für die Behandlung der Vorgänge in Polen und Ungarn. Ungarn wird mit der Übernahme eines Artikels aus der kommunistischen „Österreichischen Volksstimme“ abgetan, die bekanntlich von „pausenlosen Transporten von Horthy-Faschisten über die österreichische Grenze nach Ungarn" zu berichten wußte.
Schwerpunkt der Propaganda bleibt weiterhin die Planerfüllung, ihr zentrales Ziel die termingerechte Auslieferung jener Maschine -031, die inzwischen zum „Giganten des Friedens“ avanciert ist. Selbst die „Vorbereitung“ der Gewerkschaftswahlen wird durch die Betriebszeitung vernachlässigt, nicht ganz ohne Absicht. Dafür werden von Ende November bis Mitte Dezember die Anfeuerungsrufe geradezu hektisch:
„Schmiedekumpel beim Endspurt“ (Nr. 41)
„Ansporn für noch größere Leistungen“ (Nr. 42)
„Wildau hat mit dem Endspurt begonnen“ (Nr. 43)
„Mit Volldampf an unsere Exportaufträge“ (Nr. 45).
Mit dieser Überschrift wird letztmalig im Jahre 1956 von der schon legendär gewordenen Maschine -031 berichtet, deren Fertigstellung für die letzten Novembertage angekündigt wird. Das dann folgende Schweigen erweckt die berechtigte Befürchtung, daß zum guten Ende auch diesem Paradestück der Wildau-Produktion noch ein Unfall zustieß, über den erst nach Monaten berichtet werden wird, wie es beim Vorgänger -006 war.
* Im Dezember wird der Ton der Betriebszeitung etwas temperierter.
Von Weihnachtsfeiern und ihren Vorbereitungen im Sinne des berüchtigten FDGB-Beschlusses ist die Rede, nachdrücklich und ausführlich wird die von der SED vorgeschlagene Bildung von Arbeiterkomitees begrüßt, und der Kollege Wichmann von der Poststelle des Werkes dankt für die angekündigte Rentenerhöhung mit den aufschlußreichen Worten:
„Mit Freude und Dankbarkeit habe ich die Rentenerhöhung begrüßt. Ich selbst bin in der glüd^lidten Lage, trotz meiner 71 Jahre, meine Arbeit hier im Werk verrichten zu können, was idt wiederum unserem Staat, dem Arbeiter-und Bauernstaat zu danken habe.
Eine Aufgliederung des Inhaltes der 52 Ausgaben dieser Betriebs-zeitung ergibt, daß rund 60 Prozent aller Beiträge direkt, c. er indirekt mit rein politischer Argumentation, zur Planerfüllung und Produktionssteigerung auffordern. Rund 20 Prozent dienen der Propagierung der „Wehrhaftmachung"; der Rest befaßt sich mit „kulturellen“ Fragen, einschließlich Betriebssport, ferner mit Spezialproblemen der Frauen und der Jugend, z. B.der Jugendweihe, der Bildteil spielt eine untergeordnete Rolle. In seiner Themenstellung und Gestaltung kann „Das Schwungrad“ als typisch für gute Betriebszeitungen in der Sowjetzone angesehen werden.
Das Beispiel der Reaktion auf das KP-Verbot in der Bundesrepublik beweist, was ohnehin niemals unklar war, die zentrale Steuerung auch dieser Publikationsmittel. Allen diesen Zeitungen ist aber gemeinsam, daß sie, in weit höherem Maße als die Tageszeitungen, durch den Vorhang der Phrasen hindurch einen Blick auf die Wirklichkeit des Lebens in der Sowjetzone ermöglichen. Dafür gab schon „Das Schwungrad“ genügend Beispiele.
Wenn etwa in der westlichen Presse Zweifel an der Stichhaltigkeit der mitgeteilten Prozentsätze der Planerfüllung in bestimmten Industriezweigen geäußert werden, dann muß sie meist mit Indizien arbeiten. Das nackte Bild der Wirklichkeit vermittelt dagegen häufig, wenn auch unfreiwillig, die Betriebszeitung. Nehmen wir etwa die des VFB Automobilwerks Eisenach „Der Motor“. In Nr. 46 vom 16. November 1956 heißt es unter der Überschrift:
„Alle Anstrengungen für die Planerfiilluvig!
Es dürfte sich sclwn inzwischen in unserem Werk herumgesprochen haben, daß der Plan, so wie er im vergangenen Jahr mit der Belegschaft diskutiert wurde, durch erhebliche Planabweichungen mit neuer staatlicher Aufgabe vom 23. Oktober 1956 um insgesamt 3000 Fahrzeuge reduziert wurde. Damit sind wohl die Voraussetzungen geschaffen, zum Jahresabschluß unseren Plan hundertprozentig zu erfüllen-, denn der Monat Oktober bradtte bereits ein günstiges Erfüllungsergebnis. So wurde das Monatsprogramm mit 104, 3 Prozent erfüllt und seit Jahresbeginn eine durchschnittliche Monatserfüllung von 9
Großer Anstrengungen bedarf es allerdings auf dem Sektor der Ersatzteile. Wir haben wertmäßig per 31. Oktober 1956 insgesamt einen Rückstand in Ersatzteilen von 687, 0 TDM zu verzeidtnen.
Hier sind es in der Hauptsadie die Ersatzkarossen, EMW-Motoren und sonstige Einzelteile, z. B. vordere und hintere Stoßstangen, Ausgleichkegelräder, Zahnstangen 321 usw., die bis heute nodt nidit voll ausgeliefert werden konnten.
Llnsete Orientierung muß, da die Serienproduktion nach unserer Sdiätzung am 20. Dezember voraussichtlich 1 9000 Wagen zum Ausstoß bringt, auf die teilweisen großen Rückstände im Ersatzteil-sektor gelenkt werden. . . .“
Das ist ein geradezu klassisches Beispiel für die Manipulation mit Prozentzahlen, die die Wirtschaftsbürokratie der kommunistischen Staaten so meisterhaft beherrscht. Der ursprüngliche Plan wird wegen völliger Irrealität irrn rund 14 Prozent, von 22 000 auf 19 000 Wagen, gekürzt. Und schon ist das Zauberkunststück vollbracht: der Plan ist zwar nicht erfüllt, wird aber dennoch übererfüllt! Allen ist auf diese Weise geholfen, die an der formalen Plan-erfüllung vital interessiert sind: dem Betriebsleiter, der Betriebs-Partei-und Gewerkschaftsorganisation, der Ministerialbürokratie und der Regierung für die Erstellung der „Erfolgsbilanz“ des Fünf-Jahresplanes 8). Nur am Rande sei vermerkt, daß auch Eisenach typisch ist für den Versuch, bis zur letzten Minute die Fiktion der „großen Erfolge bei der Erfüllung des Planes“ ausrechtzuerhalten. Denn noch in der Betrebszeitung vom 3. August 1956 (Nr. 31) erklärten die „Brigadiere Kästner, Adomat und Hartung“: „Als wir den Plan 1956 diskutierten, hatten wir alle die Überzeugung, daß wir die 22 000 Wagen schaffen werden; wir freuen uns über diese Aufgabe, denn wir wissen: so wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.“
Kein kontinuierlicher Ablauf der Produktion
Wichtiger für die Beurteilung der allgemeinen ökonomischen Situation nicht nur der Sowjetzone, sondern des gesamten Sowjetblocks, ist ein anderes: die zentralistische, kommunistische Kommandowirtschaft ist unfähig, einen kontinuierlichen Ablauf der Produktion zu organisieren. Was schon die Betriebszeitungen von Wildau und Eisenach zeigten, nämlich die spätestens mit Beginn des III. Quartals einsetzende „Planhetze“, ist ein typischer Vorgang für die Wirtschaft der Zone überhaupt. Dies sei an einigen wahllos herausgegriffenen Werkszeitungen anderer Betriebe bewiesen. Im Oktober 1956 hat beispielsweise VEB WEMA UNION Gera seine Betriebszeitung „D a s B o h r w e r k“ als Freiexemplar an alle Belegschaftsmitglieder verteilen lasen. Die Überschrift zeigt, warum:
„An alle Kolleginnen, und Kollegen des Betriebes!
Den Plan mit allen Kräften erfüllen — Bessere Ausnutzung der Arbeitszeit — Sdiledite Qualität muß der Vergangenheit angehören — 200 Prozent verrechnet, obgleich die Zeit vorher für zu kurz angesehen wurde — 24 000 Stunden über-planmäßige Mehr-und Nacharbeit.
Große Aufgaben stehen uns bevor, wenn wir das Plansoll 1956 nur erreidten wollen.
Was es bedeutet, wenn wir als Sdiwermasdünenbau die uns gesteckten Planteile nicht erreichen, ist uns allen bekannt.
Wir geben nidit nur nicht anderen Industriezweigen die Maschinen, die sie für ihre Planerfüllung und für ihre weiteren Aufgaben im zweiten Fünf-Jahrplan dringend benötigen.
Wir geben nicht nur nidit'unserem Außenhandel die nötigen Masdiinen, die mit fremden Ländern exportverbunden sind, für die wieder andere Waren für unsere Deutsche Demokratische Republik exportiert werden, die uns das Leben verbessern können.
Sondern bei Nichterfüllung des Planes erfüllen wir audi unseren Finanzplan nidit. Mit der Nichterfüllung des Finanzplanes entziehen wir unserer Regierung die Möglichkeit, die großen geplanten sozialen Verbesserungen durchzuführen.
Wenn wir unseren Plan nidit erfüllen, ist es uns auch keineswegs möglidi, unseren Direktorenfonds voll zu bilden und die sich aus dem Abschluß des Betriebskollektivvertrages ergebenden Verpflichtungen in finanzieller Hinsidit einzuhalten.
Da es in diesem Jahr große Schwierigkeiten bei der beaditlidien Steigerung unserer Produktion im gesamten Betrieb gab, ist wohl klar und verständlich, daß es aber auch viele Mängel und Sdiwädten im eigenen Betrieb gibt, die schnellstens abzuändern sind. Das muß jeder einzelne erkennen.
Ich nenne dabei nur die wenigen Punkte, wie Arbeitsdisziplin, damit verbunden unpünktliches Beginnen am Arbeitsplatz, ungenügende Ausnützung der Arbeitszeit, ungenügende Ordnung in unseren Betriebsräumen und auf unseren Arbeitsplätzen, die Grundvoraussetzung für ein qualitativ gutes Arbeiten ist, die qualitätsmäßig schlechte Arbeit, die sich einmal in den stark zunehmenden Reklamationen und auf der anderen Seite in dem weit überplanmäßigen Anfall von Mehr-und Nacltarbeit und Totalausschuß ausdrückt.
Natürlicl-i wissen wir auch, daß die Anforderungen in Bezug der Qualität und der Konstruktion höher geworden sind.
Ein Stillstand würde jedoch einen Rückstand bedeuten.
Natürlich liefern wir heute Bohrwerke mit erkannten Fehlern nicht mehr, und wenn diese bereits seit zwanzig Jahren so geliefert wurden, wie z. B.den Taumelfehler.
Audi der besten Kontrolle wird es nicht möglidt sein, bei der Montage nochmals alle Arbeiten nachzuprüfen und daß dann dodt Fehler entstehen, wenn nidit jeder Kollege verantwortungsbewußt seine Arbeit durdtführt.
Es ist unmöglich, so wie der Kollege Wisdinewski, der bei der Montage des Bettschlittens diesen mit über 200 Prozent verredmet, obwohl ursprünglich einmal die Kollegen behaupteten, daß die dafür vorgegebene Zeit niemals ausreichen würde, aber auf der anderen Seite der Sitz von Bohrungen auf 'Wellen durdi Dengeln erzielt wurde.
Wo ist hier die gekonnte deutsche Fadiarbeit?
Im Zusammenhang vorstehender Punkte ist es wichtig zu erkennen, daß wir allein in den ersten acht Monaten des Planjahres rund 24 000 Stunden an überplanmäßigen Ausfall für Mehr-und Nacharbeit hatten, wobei der größte Prozentsatz in den mechanischen Abteilungen liegt.
Daraus ist ersichtlich, wenn diese Stunden aufgebracht worden wären, um einwandfreie, gute Arbeit zu leisten, daß unsere mechanischen Abteilungen die Versorgung der Montagen sicherstellen würden, damit ein besserer kontinuierlicher Ablauf in der Montage gewährleistet wäre und der Plan leichter erfüllt würde.
Es geht darum, daß alle Kolleginnen und Kollegen die mit wenig Mühe abzustellenden Fehler verändern, indem jeder einzelne sich bewußt wird, daß es wirklich auf ihn ankommt.
Unsere unmittelbare Aufgabe muß es jetzt sein, die von der Planungsleitung genau aufgestellten Aufholpläne unbedingt zu erfüllen, da jede Verzögerung in diesen Plänen eine weitere Untererfüllung der gestecl^ten Planziele bedeutet.
Die Abteilungen Haupttechnologie, Gütekontrolle und die Produktionsleitung haben die Pflidtt, die Voraussetzungen für diese Aufgaben zu schaffen.
Die Kollegen der Gießerei spreche ich besonders an, in ihrem Bereich alles daranzusetzen, um den Plan bis zur letzten Tonne zu erfüllen.
Ich rufe nochmals die gesamte Belegsdraft auf, ernst und verantwortungsbewußt an die Arbeit zu gehen, damit wir audt die Voraussetzung für den Plananlauf des Jahres 1957 sdtaffen.
Werkdirektor Forker"
Nicht besser ist die Situation in dem Paradebetrieb VEB Maxhütte, dessen Betriebszeitung „LI nsere Hütte“ bereits am 14. September 1956 unter der dreispaltigen Überschrift „Erzaufbereitung hol auf!“ die Alarmglocke schlägt. Wie bedenklich hier die Produktionslage ist, zeigt die Anklage, daß die Produktion gegenüber 19 55, trotz erhöhter Planzahlen für 1956, in absoluten Zahlen rückläufig sei. Die Produktionsleistung ist gegenüber dem vergleichbaren Zeitraum 19 55 um rund 2000 Tonnen zurückgegangen, obwohl der Plan eine Mehrproduktion von 3000 Tonnen vorsah.
Ebenfalls bereits im September wird die Belegschaft des VEB Braunkohlenwerk Prosen durch ihre Zeitung „Der Betriebs-Aktivist“ aufgerufen: „Die marxistisch-leninistische Theorie muß sich in der Steigerung der Produktion auswirken." In einem dreispaltigen Artikel unter der Überschrift „Ist unser Plan real?“ wird bewiesen, daß er •eal ist, wenn „folgende Faktoren, die die Erfüllung unmittelbar beeinflussen, gegeben sind: 1. müssen die erforderlidren Kapazitäten vorhanden sein und ausgenutzt werden;
2. müssen Arbeitskräfte in der entsprechenden Anzahl und erforderliehen Qualifikation zur Verfügung stehen und entsprechend dem Plan eingesetzt sein;
3. müssen die Arbeiter und Wirtsdraftsfunktionäre von der Notwendigkeit überzeugt sein, daß die Erfüllung des Planes möglidr und daß die Festigung und Stärkung unserer sozialistischen Heimat notwendig ist."
Mit welchen Mitteln das Antreiben der Arbeiter vor sich geht, zeigt eine Notiz im Fettdruck auf der ersten Seite:
„Kumpel der Grube!
Am Sonnabend, dem 22. September 1956, habt ihr seit längerer Zeit wieder einmal euren Tagesplan mit 103, 7 Prozent erfüllt. Eine sdiöne Leistung, die zu vollem Stolz beredrfigt.
Wie aber kommt es, daß ihr soldte Leistungen nicht jeden Tag fahrt?
Berichtet uns darüber, welche Faktoren einer gleichbleibenden Dauerleistung entgegenstehen, damit daraus alle anderen Kumpel lernen können, was zu tun ist, um die Arbeitsproduktivität zu steigern." Die Übererfüllung des Tagessolls wird hier direkt zur Antreiberei ausgenutzt. Gerade dieser Umstand macht klar, warum der ständige Druck auf die Normen sich zum Schluß gegen seine Urheber richtet.
Alle Arbeiter sind bemüht, nach Möglichkeit mit ihren Arbeitsleistungen innerhalb der einmal gegebenen Normen zu bleiben, weil jede Übererfüllung fast automatisch zur Festsetzung neuer, erhöhter Normen führt.
Die Unfähigkeit, einen kontinuierlichen Produktionsablauf zu organisieren, zeigt sich in allen Industriezweigen. Nehmen wir „D a s Sprachroh r“, Organ der BPO des VEB Meßgeräte-und Armaturenwerk „Karl Marx“ in Magdeburg. Hier wird bereits im Juni auf die akute Gefahr hingewiesen, daß der Plan nicht erfüllt werden wird, wenn keine entscheidende Produktionssteigerung eintritt. „Kollegen beteiligt euch am überbetrieblichen Wettbewerb zur Aushölung der Planrückstände!“ lautet der Anfeuerungsruf. „ .. . Kolleginnen und Kollegen! Es gilt jetzt alle Kräfte einzusetzen, damit unser Werk keine Planrüd^stände mehr hat. Diskutiert in den Produktionsberatungen, deckt alle Reserven auf für die Erfüllung unserer Pläne. Wir tragen damit zur sd^nelleren Lösung der nationalen Frage unseres Vaterlandes bei und stärken darüber hinaus das ständig wachsende sozialistisdie Lager.“
Da seine Verfasser aber offensichtlich von der Schlagkraft ihres Appells zur Stärkung des „sozialistischen Lagers“ selbst nicht sehr überzeugt sind, werden außerdem für die Planerfüllung Prämien in Höhe von 12 und 8000 DM-Ost versprochen.
Nicht weniger kritisch stellt sich die Produktionslage des VEB Werk für Fernmeldewesen in Ostberlin dar. Die Betriebszeitung „W F - Sender“ versucht es mit der Herausstellung eines Vorbildes:
„Das analytisdre Labor geht voran.
Unsere Kollegen vom analytischen Labor haben sich bereit erklärt, drei Wochen lang drei Schidrten zu leisten, um die Kapazität der Maschinen für die Werkstoffprüfungen voll auszunutzen.
Wir begrüßen den Einsatz des analytischen Labors, das seine Bereitschaft unter Beweis stellt, um unseren Kollegen in der Produktion durdt schnellere Bereitstellung von Material tatkräftig unter die Arme zu greifen.
Wir appellieren in diesem Zusammenhang an die Kollegen der Wareneingangsrevision, audr hier die Voraussetzungen zu sataffen, um den Durdilauf der Materialien in ihrer Abteilung zu beschleunigen, Wenn wir Hand in Hand Zusammenarbeiten, wird es uns gelingen, die Losung:
„Bis zum Tag der Republik frei von Planschulden in unserem Werk zu verwirklidien." Ein weiterer Artikel aber macht klar, daß hier zusätzliche Arbeit geleistet werden muß, weil „im auf die iu den letzten Monaten zeitweise aufgetretenen Versorgungsschwierigkeiten immer wieder die Frage auftaudit, ob denn überhaupt ausreichend Material für die Planerfüllung vorhanden ist.“
Und als letztes Beispiel sei das des VEB Schwerarmaturenwerk „Erich Weinert“, Magdeburg, angeführt, dessen Betriebszeitung „Der Hydrant“ am 11. September 1956 den Schreckensschrei ausstößt:
„Der Plan ist in Gefahr!
Der Plan unseres Werkes für den Monat August wurde mit nur 74, 4 Prozent erfüllt. Das ist, besonders jetzt, wo das 28. Plenum des ZK der SED Maßnahmen einleitete, um den Lebensstandard aller Bürger unserer Republik entsdteidend zu verbessern, eine sehr unerquiddiche Tatsad'ie.
Wie sagte doch der Genosse Walter Ulbricht in seinem Referat auf der 28. Tagung des Zentralkomitees?
, Die Verkürzung der Arbeitszeit ist nicht ein Gesdrenk der Partei oder der Regierung, sondern kann nur das Ergebnis der eigenen Arbeit der Arbeiter, Angestellten und der technischen Intelligenz sein. 1
Daraus geht klar und eindeutig hervor, daß alle vorgesehenen Verbesserungen nur dann erfolgreidt durdtgeführt werden können, wenn unsere sozialistisd'ien Betriebe, unsere Arbeiter, Angestellten und die Angehörigen der Intelligenz dafür die Voraussetzungen schaffen. Das erfordert aber in erster Linie, daß die Pläne genauestens und in allen ihren Teilen eingehalten werden, daß der Kampf um die Einführung der modernsten Technik energischer geführt und noch stärker darum gerungen wird, die Selbstkosten zu senken, das Prinzip der strengsten Sparsamkeit überall anzuwenden und sorgfältig mit allen Materialien umzugehen.
Es hat den Anschein, als hätten die Erfolge des ersten Halbjahres einen Rausch hervorgerufen, aus dem auch einige Mitglieder der Leitung unseres Werkes noch nicht erwadtt sind. Das darf aber nicht sein. Auf den errungenen Erfolgen auszuruhen bedeutet, in einen Stillstand zu geraten, der sich nicht nur für unseren Betrieb, sondern für unsere gesamte Wirtschaft schädlich auswirkt.
Deshalb, Kolleginnen und Kollegen, deckt alle Mängel und Hemmnisse im Produktionsgeschehen schonungslos auf, beratet darüber, wie durd'i die Ausnutzung aller Reserven der Planrückstand aufgeholt werden kann. Setzt alles in Bewegung, um den Plan für das dritte Quartal voll zu erfüllen.“
Die soziale Wirklichkeit
Aber ebenso wie die Betriebszeitungen unfreiwillig Aufschluß geben über die tatsächliche Lage der Produktion, wirken sie auch aufklärend über die soziale Wirklichkeit, in der die Arbeiter der Sowjetzone leben. Schon „Das Schwungrad“ vermittelte in dieser Beziehung genügend Erkenntnisse. Sie seien hier durch weitere Beispiele ergänzt. Der schon erwähnten Betriebszeitung „Der Hydrant“ entnehmen wir am 4. September 1956 folgenden Fall:
„Am 25. Mai erschien der Kollege Lehmann vom Ledigenwohnheim und erklärte, daß er mit dem Kollegen Stehr über die menschenunwürdigen Zustände im Ledigenwohnheim gesprodten habe, worauf ihm erklärt worden sei, daß er sich'mit mir in Verbindung setzen solle, um festzustellen, weldre Maßnahmen zur Verbesserung der Aufenthaltsräume im Ledigenwohnheim einzuleiten seien. Daraufhin erfolgte noch am selben Tage eine Besichtigung der Räume, bei der sich herausstellte, daß folgende Maßnahmen einzuleiten sind:
für das 2. Quarta! Anschaffung von Gardinen und Tischdecken, für das 3. Quartal Renovierung der Kulturräume, für das 4. Quartal Anschaffung von Bettwäsche, für 1957 Renovierung sämtlidter Räume.
Diese Maßnahmen wurden der Werkleitung sowie dem Hauptbudrhalter mit Schreiben vom 30. Mai 1956 zur Kenntnis gebradit.“
Der Gedanke, daß etwa in einem Wohnheim für ledige Bergarbeiter in der Bundesrepublik die Beschaffung von Bettwäsche ein Objekt sein könnte, das erst nach Ablauf von sechs Monaten gelöst werden soll, beziehungsweise dessen Lösung für diesen Zeitpunkt versprochen wird, dürfte unserem Vorstellungsvermögen nicht mehr zugänglich sein.
Nicht weniger bezeichnend ist der „M o t o r", Betriebszeitung im Schwermaschinenbau „Karl Liebknecht“, Magdeburg, in dessen Nummer vom 9. August 1956 folgende Klage geführt wird:
„Kollege Stapel aus der Schmiede führte die schlechten Raumverhältnisse in der Schmiede an und forderte, daß für die Kollegen zwei Spinde zur Verfügung stehen müßten.“
Diese Klage führte er im Rahmen der Diskussion zur „Rechenschaftslegung zum Betriebskollektivvertrag“. Der Kollege Osten von der Abteilung Arbeitskräfte des Werkes erkannte die prinzipielle Berechtigung der Forderung an und erklärte dann:
„Die Mittel hierfür können laut Gesetzblatt Teil 11 Nr. 50 vom 17. September 1955 geschaffen werden. Dann wäre die Finanzierung nidit mehr, wie es jetzt der Fall ist, aus staatlichen Investitionsmitteln, sondern entsprechend den geltenden Bestimmungen aus den Betriebsmitteln vorzunehmen und im BKV im einzelnen zu regeln.
Inwieweit diese Forderung für 1957 erfüllbar ist, bleibt zu überprüfen.“ Man beachte, daß der Kollege Stapel auch 1 9 5 7 noch in der Ungewißheit leben wird, ob er die zwei Spinde bewilligt bekommt.
Die Betriebszeitungen werfen auch ein Schlaglicht auf die „Errungenschaften“ der sowjetzonalen einheitlichen Sozialversicherung. Zu diesem System gehört bekanntlich die Verwaltung der Sozialversicherung durch den FDGB, dazu gehören weiter in Großbetrieben die Einrichtung von Ambulatorien, ferner von Nachtsanatorien, die im übrigen eine Erfindung der DAF wenigstens in Deutschland sind, und in Mittelbetrieben die Betriebsärzte. Das mag wirklich nach „Fortschritt“ aussehen. Aber wer weiß in der Bundesrepublik, daß auch das Krankwerden nur im Rahmen des Planes erfolgen darf?
Verständlicherweise sind die Tageszeitungen der Zone und ebenso-wenig das Zentralorgan des FDGB, „Die Tribüne“, daran interessiert, auf die Tatsache des „eingeplanten Krankenstandes“ die Öffentlichkeit aufmerksam zu machen. Im Funktionärsorgan des FDGB, „Die Arbeit“, dagegen konnte man des öfteren Beiträge finden, die sich mit typischer kommunistischer Akribie mit den Möglichkeiten befaßten, eine „reale Einplanung“ des Krankenstandes herbeizuführen und außerdem Ratschläge an die Ärzte zur Erfüllung, und in diesem Falle Untererfüllung, des Krankensolls zu erteilen. Es sind (siehe „Die Arbeit“ Nr. 5 vom Mai 1956) schon 1953 besondere „Ärzte-Beratungs-Kommissionen" gebildet worden, die vor allen Dingen zu prüfen haben (Seite 3 37), „ob eine Arbeitsbefreiung des Kranken erforderlich ist oder nicht. Die Arbeit der Ärzte-Beratungs-Kommissionen ist in vielen Fällen schon gut, im allgemeinen aber noch unbefriedigend“. Weiter heißt es dann in diesem Artikel: „Die großen Aufgaben beim Aufbau des Sozialismus in unserer Republik können wir nur mit Hilfe der Masse der Werktätigen lösen. Das erfordert, den Werktätigen auch die Folgen des anomalen hohen Krankenstandes zu erläutern . . . Gleichzeitig wurden sdteinkranke Kollegen, die es verstanden hatten, die Sozialversicherung auszunutzen und unseren Arbeiter-und Bauernstaat zu schädigen, bei Nennung des Namen öffentlich kritisiert. . . Das Problem des Kranken-standes fordert die Aufmerksamkeit aller Wirtschafts-und Geweikschaftsfunktionäre und kann letztlich nur durch die Erhöhung ihres Verantwortungsbewußtseins gelöst werden.“ Wie die Praktizierung solcher Grundsätze aussieht, zeigt die Betriebszeitung des VEB Elektrokohle Lichtenberg (früher Siemens-Plania) „Die Qualitäts-Elektrode". In der Ausgabe Nr. 39 vom September 1956 können wir dazu folgendes Beispiel lesen:
„ . Im Juli hatten wir einen geplanten Krankenstand von 6, 9 Prozent, einen tatsächlichen Stand von 7 Prozent. An Kranken-geldern wurden für die Angehörigen unseres Betriebes 3007 DM mehr ausgegeben, als vorgesehen war.
Wo liegen die Gründe für diese hohe Zahl von Kranken? Erster und wichtigster Grund ist die Unterbesetzung unseres Ambulatormms. Unsere Kollegen sagen völlig mit Recht: Immer wird von der Sorge um den Mensd^en gesprochen. Wenn wir aber wirklich einmal im Betrieb krank werden oder einen Unfall erleiden, dann ist niemand da zum Helfen. Die Praxis sieht eben iptmer anders aus als die Theorie . . .
Der Krankenstand ist über dem normalen Durchsdtnitt hoch. Da eine genaue und gründliche Untersuchung in unserem Ambulatorium nidtt immer gewährleistet ist, gehen viele unserer Werktätigen zu frei praktizierenden Ärzten, die ja immer im Ar-bei t s u nf ähi g -S ehr e i b e n g r oß z ü g i g e r s i n d. Nicht einmal eine Kontrolle dieser krankgeschriebenen Kollegen, das heißt der Diagnose durch unsere Ärzte, ist gewährleistet, einfadt, weil sie oft abwesend, und, wenn anwesend, anderweitig beschäftigt sind. Außerdem ist es eine bekannte Tatsadie, daß frei praktizierende Ärzte Gesundschreibungen sehr selten in der Wodte vornehmen, sondern diese über das Wochenende hinaus auf den Montag ververschieben. Eine genaue Planung des Krankenstandes, eine Perspektive zur Senkung der Krankenziffern für 1957, ist durch das Vorhergesagte nicht möglich . .
Die tatsächliche Rolle der Betriebsärzte ist damit unmißverständlich gekennzeichnet: sie haben av zu schreiben!
Nachlassen der inneren Widerstandskraft
Mit zunehmender Dauer der Zweiteilung Deutschlands wächst für die Bürger der Bundesrepublik die Gefahr, die Menschen in der sowjetisch besetzen Zone unter dem Gesichtspunkt der Äußerungen des Regimes zu bewerten. Denn es gibt ein Nachlassen der inneren Widerstandskraft, wie wir es alle im Dritten Reich an uns selbst feststellen konnten, gegenüber einer systematischen und einheitlichen Propaganda. Selbst die in westdeutschen Zeitungen mit Anführungszeichen versehenen Meldungen über „Pläne“, „Erfolge“, Beteiligung der Arbeiter am „sozialistischen Wettbewerb“ tragen auf die Dauer dazu bei, die Wirksamkeit zu verschleiern.
Der 17. Juni 1953 zerriß zwar schlagartig das Propagandagespinst, das von den kommunistischen Machthabern zielbewußt gewoben worden war. Aber auch dieser Tag ist inzwischen ein historisches Datum geworden.
Der Umstand, daß es in erster Linie Intellektuelle waren, die in der sowjetisch besetzten Zone im Zusammenhang mit den polnischen Ereignissen und der Tragödie Lingams versuchten, so etwas wie ein „Tauwetter“ auch in Ulbrichts Herrschaftsbereich herbeizuführen, hat die Tatsache vergessen lassen, daß sich der Widerstand der Arbeiterschaft gegen das kommunistische Zwangsregime notwendigerweise in anderen Formen äußert. Auch dafür liefern die Betriebszeitungen einen wertvollen Beweis. So ist die Beteiligung am „sozialistischen Wettbewerb“ für viele Arbeiter zweifellos nur ein rein formaler Akt. Natürlich können selbst die Betriebszeitungen das nur in seltenen Fällen zur Diskussion stellen; aber wenn es geschieht, dann ist es noch immer aufschlußreich genug. So klagt der ebenfalls schon zitierte „WF-Sen der“
des Ostberliner Werks für Fernmeldewesen:
„Einige Mängel hat aber unsere Wettbewerbsbewegung noch, um deren Überwindung wir uns schon seit langem bemühen. Bisher erläuterten die Mitglieder der Wettbewerbskommissionen in ihren Abteilungen ungenügend die Begründungen für die Auszeichnung der einzelnen Kollegen und Brigaden. Danadi gibt es natürlich bei einigen Kollegen noch Hemmungen, sich durch persönliche Selbst-verpflichtungen am Wettbeiverb zu beteiligen. Diese falsche Meinung findet ihren besonderen Ausdrucl? in der Auffassung einiger Kollegen, daß es für sie eine Selbstverständlichkeit ist, ihr Bestes zu geben und deshalb ein Wettbewerb nicht nötig sei.“
Wer die Psychologie des totalitären Staates kennt, wird die von „einigen Kollegen“ gegebene Begründung für die Ablehnung der Teilnahme an Wettbewerben geradezu als Meisterleistung werten.
Nicht weniger typisch ist, was „Der Hydran t", Betriebszeitung des VEB Schwerarmaturenwerk „Erich Weinert“ in Magdeburg, am 29. September 19 56 über die „Ergebnisse des innerbetrieblichen Wettbewerbs" berichtet:
„Bei der bisherigen Durchführung dieses Wettbewerbes in den letzten vier Monaten konnte bis jetzt ermittelt werden, daß der Kollege Bednarek, Fräser in AF 1, und die Kollegen Schmidt, Dreher gruppe II, sowie Meyer, Schlosser in AF III, vier Monate hintereinander als beste Facharbeiter in ihrer Berufsgruppe hervorgegangen sind. Wir rufen alle Facharbeiter auf, alle Anstrengungen zu unternehmen, um diesen Wettbewerb lebendiger zu gestalten.“
Auch in diesem Falle ist offenkundig, daß die beklagte „Ruhe“ Ausdruck einer lediglich formalen Beteiligung ist, die sogar so weit geht, daß man einigen Kollegen den permanenten Ruhm, Wettbewerbssieger zu sein, überläßt.
Noch deutlicher müssen aber Betriebszeitungen notgedrungen werden, wenn es sich darum handelt, zu bestimmten politischen Stimmungen Stellung zu nehmen. Schon bei der Analyse des „Schwungrades“ wurde darauf hingewiesen, daß die Behandlung des Themas Ungarn völlig zurücktrat gegenüber den innerbetrieblichen Erfordernissen und dem Zwang, alles für die Propagierung der Planerfüllung zu tun. Aber gerade bei den volkseigenen Werken, die in Ostberlin oder unmittelbar an der Grenze Berlins liegen, wie es für Wildau zutrifft, ist dieses Zurückweichen vor der Auseinandersetzung mit den Vorgängen in Ungarn auch politisch zu bewerten. Denn in all diesen Fällen haben die verschiedenen Betriebsparteileitungen offensichtlich deshalb resigniert, weil sie selbst davon überzeugt waren, daß eine politische Diskussion aussichtslos sei bei einer Arbeiterschaft, die durch Werstberliner Zeitungen und durch die Westberliner Rundfunksender über das tatsächliche Geschehen bestens informiert war. Das erklärt, warum im wesentlichen nur Betriebszeitungen im Inneren der Zone selbst diesen „feindlichen Stimmen“ entgegentraten. Hier bestand die praktische Möglichkeit, wenigstens das Schweigen der Arbeiter zu erzwingen. Wie weit die Ablehnung der kommunistischen Version von dem ungarischen Geschehnis gegangen ist, beleuchtet blitzlichtartig „D er Motor , die Betriebszeitung des VEB Automobilwerk Eisenach. Am 30. November 1956 griff sie im Fettdruck die „noch Gestrigen“ an. Der Ton, in dem dies geschieht, weist fast auf Panik hin:
„Einige Fragen an die noch Gestrigen!
1. Warum fragt Ihr, weshalb sowjetische Tsuppen die Regierung Kadar in Ungarn bei der Niederschlagung des weißen Terrors unterstützten?
Hofftet Ihr auf ein „Aufrollen“ der sozialistischen Volksmacht in Ungarn?
2. Wißt Ihr, wer die Kulissenschieber bei dem grausamen Blutbad der konterrevolutionären Elemente in Ungarn waren?
Ein Graf Esterhazy, der Faschist Horthy und die westlichen Imperialisten. Wollten sie den Arbeitern Ungarns eine glückliche Zukunft bringen?
3. Warum fragt Ihr nicht nach den vielen von den Konterrevolutionären ermordeten Frauen, Kindern und Arbeiterfunktionären in Ungarn? Stecl? t Ihr etwa bis zum Hals im RIAS-Gift?
4. Warum weinen einige von Euch mit dem RIAS Krokodilstränen über die Niederschlagung der Konterrevolution in Ungarn?
Weil sie sielt vor den Wagen der Feinde der Arbeiterklasse haben spannen lassen. Ist das nicht Verrat an der Arbeiterklasse?
5. Ihr noch Gestrigen, wollt Ihr Eudt mit Euren Diskussionen zum Handlanger dieser Grafen, Barone, Fasdtisten und Imperialisten lassen? madten Wenn Ihr es nicht wollt, dann besinnt Eudt, dafl Ihr Arbeiter seid.
Und wenn Ihr wieder als Arbeiter denkt, dann begreift Ihr audt, weshalb sowjetische Truppen die Regierung Kadar unterstützten. Sie verteidigten in Ungarn die Sadie der Arbeiterklasse, zu der audt Ihr gehört!
Wenn Ihr begriffen habt, das] die Imperialisten mit dem Wort „Freiheit“ ihre eigene Freiheit und nidtt die der Arbeiterklasse meinen, dann lauten auch Eure Fragen anders.
Darum, Ihr noch Gestrigen, besinnt Euch! Denkt daran, das] Ihr Arbeiter seid und macht Eudr durdi das leichtsinnige Nadiplappern der RIAS-Propaganda nicht mitschuldig an den Verbrechen der Kriegstreiber!“
Nicht weniger bezeichnend ist die Reaktion der Betriebszeitung „Bahn frei“ des VEB Waggonbau Ammendorf. Dort wird in der Ausgabe Nr. 45 vom 21. November 1956 ein Aufruf des „Kollegen Schwarz“ veröffentlicht, der nicht nur für die Stimmung der Arbeiterschaft, sondern auch für die der Partei-und Gewerkschaftsfunktionäre kennzeichnend ist: „Alle Funktionäre, alle Parteimitglieder mödite ich auffordern, in diesen Stunden ernsten internationalen Gesdtehens nicht mehr so ruhig zu sein. Legt eure Hemmungen, oder was es audt sei, ab. Ihr habt die Aufgabe und die Pflicht, euch überall da einzuschalten, wo politisdie Gesprädie im Gange sind. Vor allem Gesprädte. die sich mit dem Gesdiehen der letzten Tage und Wochen besdiäftigen. Ein Parteimitglied, das nicht offensiv agitiert, sollte lieber keines sein. Es hat keinen Zwedt, Sitzungen und Versammlungen hinter versdtlossenen Türen zu machen. Idt stehe in der Produktion und sehe täglich, das] viele werktätige Mensdien auf eudt warten, um in unklaren Fragen Auskunft zu erhalten. Es darf nicht zugelassen werden, das] man Miesmachern und Großmäulern den Vortritt läßt. Wir alle haben dodt noch den 17. Juni 1953 gut in Erinnerung. Waren es damals nidit auch Großmäuler und Miesmacher, die für Minuten und Stunden in den Vordergrund treten wollten? Gewiß, heute ist die Lage ganz anders. Aber trotzdem muß die Partei, muß die Gewerkschaft wadtsam sein. Haltet deswegen die Augen offen und geht täglidi durdt den Betrieb. Ich weiß und spüre es immer wieder, die breiten Massen brauchen eudt dringend. Gerade jetzt, wo es immer noch viele ungeklärte Fragen gibt. Ich wollte eudt mit diesen Worten keinen Vorwurf madten. Ich wollte eudt nur daran erinnern: Seid wadtsam! -A. Sdtwarz
Anmerkung der Redaktion: Die obigen Zeilen beweisen, daß die Werktätigen unseres Betriebes Antwort auf viele Fragen haben wollen. Es ist deshalb unverantwortlidt, wenn es noch Funktionäre gibt, wenn es Parteimitglieder gibt, die Ausspradten mit unseren Kollegen aus dem Wege gelten. Für die Parteiorganisation wie audt für die Gewerkschaft kann es deshalb nur eine Losung geben: Noch heute in die Offensive gehen!“
Die „Republikflucht"
Auch auf die Tatsache der „Republikflucht“ müssen die Betriebs-zeitungen dann eingehen, wenn davon in den Werken gesprochen wird. „Der Motor“ des Automobilwerks Eisenach tut dies und wie er es tut, ist kennzeichnend dafür, daß die Arbeiterschaft die gegen die Bundesrepublik gerichtete Propaganda ihrer Machthaber nicht akzeptiert: „Es gibt viel Rätselraten darüber, warum dieser oder jener unserer Kollegen fort ist. Audt im Werkzeugbau ist zu verzeidtnen, daß einige Jugendlidte es vorgezogen haben, den Staat der Arbeiter und Bauern zu verlassen. Was sind die Gründe hierfür?
In erster Linie fehlt noch die prinzipielle Auseinandersetzung der Mitglieder unserer Partei mit schädlichen und audt feindlichen Argumenten.
Wir diskutierten darüber im Werkzeugbau. So teilte uns der Meister Graulich, weldter sich mit einem Kollegen unterhielt, der nadt Westdeutsdtland ging, folgendes mit: Dieser Kollege hätte drüben gearbeitet und als Fadtarbeiter 2, 60 DM Stundenlohn verdient. Setzen wir uns mit dieser Frage ernsthaft auseinander:
Das westdeutsdte „Wirtsdtaftswunder“ ist uns bekannt und nicht erst seit gestern oder heute. Das hat ein großer Teil von uns schon selbst erlebt. Vielleidtt können sich viele Kollegen an die Jahre von 1929 bis 1932 erinnern, die Jahre der Arbeitslosigkeit und des Elends. Ein großer Teil weiß sicher noch, daß ein Hitler vor seinem Machtantritt gesagt hat: Gebt mir vier Jahre Zeit, und ihr werdet Deutsdrland nicht wiedererkennen.
In der Zeit der Aufrüstung, der Rüstungskonjunktur, hat dieser oder jener auch sdton einmal 1, 60 Mark Stundenlohn verdient. Also dies alles ist dodt im wesentlidten nichts Neues. Dodt was kam hinterher? Konzentrationslager, Ermordung der besten Vertreter der Arbeiterklasse, sechs Millionen toter Deutsdter, etwa 30 Millionen Toter insgesamt, Not, Hunger, Elend. So sah dodt Deutschland nadt zwölfjähriger Hitlerdiktatur aus.“
Der wahren Stimmung entspricht das Verhalten der Arbeiter der Sowjetzone gegenüber jener Minderzahl von Bürgern der Bundesrepublik, die in die Sowjetzone abwandern. Im allgemeinen ist für die Betriebszeitungen dieses Thema tabu, aber dort, wo mehrere westdeutsche „Emigranten“ tätig sind, scheint es offensichtlich zu scharfen Reaktionen der Arbeiterschaft gegen sie zu kommen. Das muß man aus der Betriebszeitung des VEB Braunkohlenwerk Prosen „Der Betriebs-Aktivist“ schließen, das am 10. 8. 1956 auf seiner ersten Seite „Offene Worte an alle ehemaligen westdeutschen Kollegen“ richtete, die mit dem bezeichnenden Satz beginnen: „Leider muß idt feststellen, daß auch unter den ansässigen Kollegen sich in letzter Zeit so etwas wie Ablehnung gegen alles „Westdeutsche“ entwickelt. Wie kann es dazu kommen?
Es gibt versdtiedene Gründe, die besonders jüngere Alensdten zwangen, ihre Heimat zu verlassen, um in der Deutsdten Demokratischen Republik eine neue Existenz zu finden. Sei es nun Angst vor der bevorstehenden Einberufung zur NATO-Arme, wirtsdtaftliche Notlage, oder, audt das läßt sich nidtt verleugnen, um der Bestrafung wegen krimineller Vergehen zu entgehen.
Die Regierung der Deutsdten Demokratisdten Republik gibt auch der letzten Gruppe volles Heimatredtt.“
Wenn man die Betriebszeitungen des Jahres 1956 mit denen des Jahres 195 5 vergleicht, dann fallen einige Tatbestände auf. Zunächst ist bemerkenswert, daß die SED-Machthaber fast vollständig darauf verzichtet haben, der Arbeiterschaft immer wieder das „Beispiel sowjetischer Neuerer“ vor Augen zu halten. 195 5 und früher gab es kaum eine Ausgabe einer Betriebszeitung, in der nicht zur Nacheiferung der sowjetischen „Arbeitshelden“ aufgefordert wurde. Hier hat die SED ganz offensichtlich einer starken Massenstimmung Rechnung getragen. Weiter fehlen seit 1956 die teilweise hemmungslosen Angriffe auf Funktionäre der Gewerkschaften der Bundesrepublik, die noch 195 5 zum täglichen Brot auch des Betriebszeitungslesers gehörten. Hier wirkt sich der „neue Kurs" des XX. Parteitages der KPdSU aus. Auffallend ist ferner, daß die Betriebszeitungen sich, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, fast vollständig über die „Delegationen aus der Bundesrepublik ausschweigen. Auch das war bis Ende 19 5 5 anders. Aber auch hier hat man offenbar bemerkt, daß die Arbeiterschaft der Zone dieser Art von Besuchern gegenüber eine erhebliche Abneigung empfindet. Wenn das Thema „Westdeutsche Besucher“ überhaupt erwähnt wird, dann nur im Zusammenhang mit Sport-oder kulturellen Veranstaltungen. Es gibt kaum Veröffentlichungen, in denen etwa westdeutsche Besucher die „Errungenschaften“ rühmen, die man ihnen vorgeführt hatte. Das alles sind deutliche Anzeichen dafür, in welch erheblichem Umfang die SED gerade in den Betrieben unter dem Druck der Verhältnisse darauf verzichtet hat, eine aktive Propaganda gegenüber der Arbeiterschaft zu betreiben. Ebenso werden auch in den Betriebszeitungen Vergleiche zwischen dem Lebensstandard in der Bundesrepublik und in der Sowjetzone gescheut. Der Schwerpunkt des gegen die Bundesrepublik gerichteten Propagandasolls der Betriebszeitungen liegt eindeutig bei der Beschuldigung „Adenauer bereitet einen neuen Krieg vor“.
Noch jedes totalitäre Regime ist daran zu erkennen, über welche Fragen es sich ausschweigt. Das gilt auch im Falle der Sowjetzone.
Die Betriebszeitungen der Sowjetzone geben aber darüber hinaus einen wichtigen Aufschluß vom Stand und von den Möglichkeiten der Wirtschaft. Ein besonders krasser Unterschied zur Lage in der Bundesrepublik besteht darin, daß hier ein wirtschaftlicher Wiederaufbau ohnegleichen und eine wesentliche Steigerung der Produktivität erreicht werden konnten, ohne daß es dazu eines überdimensionierten, organisatorischen Apparates, ohne daß es eines „Wettbewerbs“, ohne daß es eines komplizierten Prämiensystems bedurfte. Der wirtschaftliche Wiederaufbau der Bundesrepublik erforderte keine Ausschaltung der Opposition. Er führte zu keiner Minderung der Rechte der Gewerkschaften, sondern im Gegenteil zu ihrer Erweiterung. Es sei nur an die Mitbestimmung in den Grundstoffindustrien erinnert. Der Produktionsfluß in der Bundesrepublik läuft ungehindert und ohne Stauungen. Die Qualität der Produktion, über die 1956 auch in den Betriebszeitungen der Sowjetzone weniger gesprochen wurde, weil die mengenmäßige Plan-erfüllung im Vordergrund stand, versteht sich für uns von selbst. Sie wird erreicht ohne „Brigaden der besten Qualität“, ebenso wie die Produktivitätssteigerung ein selbstverständliches Ergebnis des technischen Prozesses ist und weder der „verdienten Aktivisten“ noch der „Helden der Arbeit“ bedarf.
Wenn das stimmt, was Lenin gesagt hat: „Die Steigerung der Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung“ -, dann wird diese „neue“ kommunistische Gesellschaftsordnung allein schon deshalb niemals Wirklichkeit werden, weil sie der wirtschaftlichen Ordnung der freien Welt so eindeutig unterlegen ist.
Anmerkung:
Otto Stolz, geb. 24. April 1917 Berlin, wurde 1933 wegen Mitgliedschaft in staatsfeindlichen Organisationen von der Schule verwiesen. 1945— 1948 war Stolz in Berlin als Vorsitzender des sozialdemokratischen Studenten-bundes tätig. 1948 wurde er von der kommunistisch beherrschten Universität Berlin verwiesen und zählte später zu den Begründern der „Freien Universität“ West-Berlins. 1945— 1948 umfangreiche freie journalistische Tätigkeit. 1949 bis August 1950 übernahm Stolz das innenpolitische Ressort der „Neuen Zeitung" in München und ist seit 1. September 1950 stellvertretender Chefredakteur der „Welt der Arbeit", Wochenzeitung des DGB in Köln.