Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Geschichte, Politik und totalitäre Ideologie | APuZ 6/1957 | bpb.de

Archiv Ausgaben ab 1953

APuZ 6/1957 Geschichte, Politik und totalitäre Ideologie

Geschichte, Politik und totalitäre Ideologie

WALTHER HOFER

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir Kapitel V „Geschichte, Politik und totalitäre Ideologie" aus dem Buche von Professor Walther Hofer: „Geschichte zwischen Philosophie und Politik". Die Originalausgabe erschien im Verlag für Recht und Gesellschaft AG. Basel 1956, Bd. 6 der Philosophische Forschungen, hrsg. von Karl Jaspers, Neue Folge, Lizenzausgabe bei W. Kohlhammer, Stuttgart.

Kaum eine andere Frage hat die neueren Historiker, insbesondere Deutschlands, aus theoretischem wie praktischem Bedürfnisse, dermaßen beschäftigt wie das Verhältnis von Geschichte und Politik. Wenn wir auch hier wiedejmn an Leopold von Ranke anschließen, daß heißt genauer an seine im Jahre 18 36 in Berlin gehaltene Antrittsvorlesung „Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik“, dann tun wir das nicht so sehr um dem an sich echten historischen Drang zu genügen, vergangene geistige Werte um ihrer selbst willen wieder lebendig erstehen zu lassen, Sondern vielmehr darum, im Anschluß an Ranke, im Weiterführen seiner Gedanken, einen eigenen, wie uns scheint höchst notwendigen Beitrag zu leisten zur Besinnung auf die theoretischen Grundlagen und die praktischen Aufgaben unserer Wissenschaft. Es ist infolgedessen auch nicht unsere Absicht, den gesamten Gedankenreichtum von Rankes Antrittsvorlesung hier auszuschöpfen

Gleichsam nur einleitend und nebenbei bemerkt, daß sich von Ranke aus auch sehr viel sagen ließe zu dem gerade in Deutschland heute noch umkämpften Thema der Wissenschaft von der Politik. Wir möchten hier nur die eine Feststellung machen, die eigentlich allen Gegnern einer politischen Wissenschaft, insbesondere auch unter den Historikern, zu denken geben müßte: daß Ranke nämlich mit völliger Selbstverständlichkeit von der Politik als einer Wissenschaft spricht, wobei er sie freilich im wesentlichen als Staatsverwaltungslehre versteht und differenziert. Er nennt sie eine Wissenschaft, die reich sei an Scharfsinn, Wahrheit und Nützlichkeit, eine Wissenschaft, welche für den Staat ebenso notwendig sei wie die Medizin für den menschlichen Körper. Dieser Gedanke Rankes scheint nun aber wiederum über die Definition der Politik als Staatsverwaltungslehre hinauszuführen, wenn man unterstellt, daß Ranke die menschliche Gesellschaft im Rahmen des Staates bereits auch als Sozialkörper versteht, was dann allerdings die grundlegende Erkenntnis schlechthin wäre, um politische Wissenschaft nicht nur als theoretisch möglich, sondern auch als praktisch notwendig anzusehen

Die innere Verwandtschaft von Geschichte und Politik sieht Ranke nun darin, daß die Grundlage eine und dieselbe ist. „Denn da es keine Politik gibt als die, welche sich auf vollkommene und genaue Kenntnis des zu verwaltenden Staates stützt — eine Kenntnis, die ohne ein Wissen des in früheren Zeiten Geschehenen nicht denkbar ist —, und da die Historie eben dieses Wissen entweder in sich enthält oder doch zu umfassen strebt, so leuchtet ein, daß auf diesem Punkte beide auf das innigste verbunden sind.“ Ranke ist nun aber keineswegs der Meinung, daß ohne vollkommene Geschichtskenntnis überhaupt keine Politik möglich sei. „Denn es gibt einen Scharfsinn des menschlichen Verstandes, der gleichsam durch göttlichen Anhauch in die Natur der Dinge eindringt. Auch liegt es nicht in meinem Sinne, für die zur Staatslenkung geeigneten Männer eine eigentümliche Erziehungsmethode nachzuweisen; vielmehr erforsche ich das Wesen der Dinge, wenig darum bekümmert, ob eine sorgsam erworbene Bildung oder eine Art weissagender Ahnung mehr geeignet ist, jene Höhe, von welcher wir reden, zu ersteigen.“

Was Ranke hier anklingen läßt, ist nichts anderes als das Problem der Intuition in der Politik. Wie groß auch seine Neigung sein mag, der Intuition (oder der weissagenden Ahnung, wie er es nennt) Bedeutung für die Politik beizumessen, er kommt doch schließlich zu der eindeutigen Feststellung, daß es Aufgabe der Historie sei, „das Wesen des Staates aus der Reihe der früheren Begebenheiten darzutun und dasselbe zum Verständnis zu bringen, die der Politik aber, nach erfolgtem Verständnis und gewonnener Erkenntnis es weiter zu entwickeln und zu vollenden“ * Beachten wir vor allem die Worte: nach erfolgtem Verständnis und gewonnener Erkenntnis! Denn damit hat Ranke doch seine Antwort gegeben auf die immer wieder erhobene und gerade heute mit stärkstem Nachdruck erhobene Frage: ob wir aus der Geschichte etwas lernen können. Und an einer anderen Stelle sagt er im selben Sinne: die Geschichte habe vieles Gute, wodurch sie sich empfehle, vorzüglich aber das, „daß sie einer gesunden Politik den Weg bahnt und Dunkelheiten und Täuschungen abwehrt, welche in unserer Zeit selbst den besten Männern vor den Augen zu tanzen pflegen“ Wir glauben, daß man diese Worte Rankes gerade heute wohl zu würdigen weiß, und wir können sie ruhig auch auf unsere Zeit beziehen. Eine kräftige Dosis von Skepsis gegenüber der Zweckmäßigkeit einer sogenannten intuitiven Politik scheint durchaus angebracht, nachdem wir es alle erleben mußten, wie die mit schlafwandlerischer Sicherheit gefaßten intuitiven Entschlüsse eines unseligen Politikers ein großes Volk und einen starken Staat in den Abgrund geführt haben. Die richtige Methode dürfte wohl, wie es auch Ranke schon durchblicken läßt, auch hier in der Mitte liegen: in einer Synthese von Geschichtskenntnis und Intuition. Indem die aus der Geschichte in die Gegenwart hinüber wirkenden alten Kräfte auf der einen Seite und die in der Gegenwart sich neu regenden Tendenzen auf der anderen Seite berücksichtigt und eingerechnet werden. Aber daß es sich der Staatsmann mit der Intuition nicht zu leicht mache! Selbst ein Dichter, Karl Spitteier, der Schöpfer des olympischen Frühlings, hat einmal in einem Stoßseufzer bekannt, daß er sich die Intuition ersitzen müsse. „Die Kenntnis der Vergangenheit ist unvollkommen ohne Bekanntschaft mit der Gegenwart“

Aber nicht nur die Bedeutung der Geschichte für die Politik betont Ranke, sondern auch die Bedeutung der gegenwärtigen Politik für die Erkenntnis der vergangenen Politik, eben der Geschichte. Das Verhältnis von Geschichte und Politik wird damit zur Wechselbeziehung und zur Wechselwirkung, ähnlich dem zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, wie Ranke meinte. Und in diesem Zusammenhang schrieb er dann die bedeutenden Sätze nieder: „Die Kenntnis der Vergangenheit ist unvollkommen ohne Bekanntschaft mit der Gegenwart; ein Verständnis der Gegenwart gibt es nicht ohne Kenntnis der früheren Zeiten. Die eine reicht der anderen die Hände: eine kann ohne die andere entweder gar nicht existieren oder doch nicht vollkommen sein“ Selbstverständlich dürfen diese Worte Rankes nicht in der Richtung auf eine falsche Politisierung der Geschichte interpretiert werden. Nichts lag dem Objektivitätsstreben Rankes ferner, und es müßten hier seine berühmten Worte gegen Gervinus in Erinnerung gebracht werden: daß die Wissenschaft nur dann auf das Leben und die Gegenwart einwirken könne, wenn sie vor allen Dingen Wissenschaft sei, unabhängig zunächst von den Bedürfnissen der Gegenwart und des Lebens Diese sicher nicht widerspruchslosen Äußerungen sind nur ein Zeichen dafür, daß es sich bei diesem wissenschaftstheoretischen Problem um eine echte Antinomie handelt.

Jene Worte vom Ineinander von Geschichte und Gegenwart sind aber nun noch in einen größeren geistesgeschichtlichen und zugleich methodologischen Zusammenhang einzuordnen. Ranke hat hier denselben Gedanken geäußert, den Goethe im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit niedergeschrieben hat: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhandnahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins.“ Friedrich Meinecke hat diesem Gedanken in seiner Darstellung der Entwicklung des modernen historischen Bewußtseins höchste Bedeutung beigemessen Hier beginnt nach ihm der dynamische Historismus, das dynamische Hinüberwirken des geschichtlichen in das gegenwärtige Leben und umgekehrt. „Es war zwar zuerst nur ein Gefühl, eine Empfindung des genialen Menschen, noch kein das ganze Weltbild schon umgestaltendes Prinzip.“ Zu diesem Prinzip wurde es aber in der Kritik der historischen Vernunft und in der geisteswissenschaftlichen Methodologie Wilhelm Diltheys und seiner Schule. Am Ende der Entwicklung, an deren Anfang jener Gedanke steht, befinden wir uns der Erkenntnis gegenüber von der wesensmäßigen und unausweichlichen Geschichtlichkeit des Menschen und all seiner Schöpfungen, der politischen wie der kulturellen.

Wir haben also eine doppelte Wirkung der „Empfindung der Vergangenheit und der Gegenwart in Eins“, dieser neuen Denkweise eines dynamischen Historismus, der die inneren Schranken zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufhob und sie „in den ewigen Schmelztiegel eines Werdens, Ineinanderwirkens und Sichwandelns warf“ 6 ). Das historische Bewußtsein umgreift jetzt auch die Gegenwart mit all den Folgen eines relativistischen Skeptizismus und pessimistischer Resignation. Dadurch drohte sich die Geschichte immer mehr gleichsam mit lähmender Macht auf die Gegenwart zu legen, sie droht sich ihrer schon zu bemächtigen, bevor sie selbst überhaupt Geschichte geworden ist.

Dieses tragisch-pessimistische Gefühl eines relativistisch gewordenen Historismus ist zu einer Grundtendenz im geistigen Leben des 20. Jahrhunderts geworden. Die lähmende Wirkung des historischen Relativismus, der mit Spenglers „Untergang des Abendlandes“ einen massenpsychologischen Höhepunkt erreichte, konnte aber nicht durch eine Leugnung jener Geschichtlichkeit allen Lebens aus der Welt geschafft werden. Historismus war nicht durch Futurismus zu überwinden, wie Benedetto Croce es formulierte n). Am geschichtlichen Beispiel selbst verifiziert: der inbrünstige Glaube an ein lOOOjähriges Reich muß zusammenbrechen angesichts der traurigen Überreste dieses Reiches, welches wider alle Gesetze der Geschichte aufgebaut werden sollte. Hat die Geschichte damit bewiesen, daß keine politische Bewegung außerhalb ihrer Schwerkraft Aussicht auf dauerhafte Verwirklichung hat 7

Existentielle Wissenschaft Die Lösung vom lähmenden Druck des Historismus ist nur in einer Richtung denkbar: indem man die Erkenntnis von der Geschichtlichkeit aller menschlichen Hervorbringungen als Gesetz anerkennt, unter dem wir nun einmal leben müssen — ein Gesetz unseres Daseins, gegen das sich aufzulehnen ebenso sinnlos wäre wie die Auflehnung gegen ein Naturgesetz, ein Gesetz, dessen rückhaltlose Anerkennung aber ebenso sinnvolle Möglichkeiten schafft wie die Ausnutzung eines Naturgesetzes. Und hier setzt nun die andere Komponente in der Wechselwirkung von Geschichte und Gegenwart ein: die Frage der Gegenwart an die Geschichte intensiviert sich; das dunkle Gefühl, aus der Geschichte richtunggebende Antworten für die Gestaltung der Gegenwart zu erhalten, wandelt sich zur wissenschaftlichen Gewißheit und verdichtet sich zur praktischen Forderung dank der Erkenntnis von der strukturellen Gleichartigkeit von Geschichte und Gegenwart.

Dies ist, bei allen Unterschieden im Ansatz und in der Durchführung, der gemeinsame Grundgedanke etwa eines Alfred Weber und eines Arnold Toynbee. Sowohl in der Geschichtssoziologie Webers wie in der Geschichtsmorphologie Toynbees wird es deutlich, daß sie ihre Fragen nicht mehr in der Art Rankes an die Geschichte richten. Ihre Geschichtsbetrachtung stellt sich bewußt in den Dienst der geistigen und politischen Lebensnot unserer Zeit, ihre Fragen sind überhaupt erst von der Erkenntnis dieser Not angeregt worden. Die Geschichtswissenschaft ist bei ihnen nicht mehr reine Erkenntniswissenschaft, sondern existentielle Wissenschaft. Die Grundfrage lautet nicht mehr: wie es eigentlich gewesen, sondern vielmehr: wo wir eigentlich stehen! Wo befinden wir uns eigentlich im Strom der Geschichte, fragt Alfred Weber, nicht als einzelnes Volk, sondern als von diesem Strom fortgetragene Menschheit? Was vollzieht dieser Strom mit uns? Welchen Elementen der Bewegung sind wir im weiteren Fortgang so gut wie unabänderlich unterworfen und welche können wir ändern, wo können wir eingreifen und nach welcher Richtung können wir zu lenken versuchen? Lind auch Toynbee wirft die Grundfrage auf: wo stehen wir eigentlich in der Geschichte? Wie steht es im besonderen mit unserer eigenen Zivilisation? Ist sie wirklich unausweichlich dem Untergang geweiht, oder gibt es Möglichkeiten, diesen Untergang zu vermeiden?

Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte Es ist die alte Frage nach Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte. Nur daß sie nicht mehr allein eine Frage geschichtsphilosophischer Spekulation geblieben ist, sondern sie ist gleichzeitig die Frage nach den Möglichkeiten einer Weiterexistenz unserer Kultur geworden. Damit ist der Geschichtsdeterminismus Spenglers überwunden. Aus der geschichtlichen Erkenntnis, daß so und so viele Kulturen untergegangen sind, wird nicht die pessimistische und nur scheinbar logische Konsequenz gezogen, auch unsere abendländische Kultur gehe notwendig dem Verfalle entgegen, sondern die weitere Frage aufgeworfen: was können wir als Menschen und als Menschheit tun, um den Verfall aufzuhalten? Was wir hier an zwei Beispielen exemplifiziert haben, könnte leicht durch weitere illustre Namen belegt werden. Die ganze geschichtsphilosophische und kulturkritische Besinnung der Gegenwart steht unter dem Zeichen einer intensivierten Synthese von Geschichte und Gegenwart; sie versucht eine Antwort aus der Geschichte an die Gegenwart zu geben auf eine Frage aus der Gegenwart an die Geschichte. Wenn Karl Jaspers in seiner Abhandlung über „Ursprung und Ziel der Geschichte“ drei Fragen aufstellt, nämlich die Frage nach der Bilanz, der Struktur und dem Wesen der bisherigen Weltgeschichte, die Frage nach Gegenwart und Zukunft und die Frage nach dem Sinn der Geschichte, so geht es bei allen drei letztlich um dasselbe Problem: um die Erhellung des Bewußtseins des gegenwärtigen Zeitalters. Denn um die eigene Situation erleuchten zu können, bedarf es der Lichtquellen, welche aus der Menschheitsgeschichte in die Gegenwart herüberstrahlen. Wir müssen die Geschichte erhellen, wenn wir unsere eigene Existenz erhellen wollen. Auch hier Geschichtserkenntnis als menschliche Existenzerhellung

Ortega y Gasset bezeichnet die Geschichte als „eine systematische Wissenschaft von der Grundwirklichkeit, die mein Leben ist“. Sie ist für ihn die Wissenschaft von der Gegenwart im strengsten und aktuellsten Sinn. „Wäre sie nicht die Wissenschaft von der Gegenwart, wo fänden wir dann die Vergangenheit, die man ihr gewöhnlich als Thema zuweist? Die umgekehrte Auffassung, welche die übliche ist, läuft darauf hinaus, daß man aus der Vergangenheit etwas Abstraktes und Un-wirkliches macht, das leblos in seiner Zeit ruht, während doch die Vergangenheit die lebendige und wirkende Kraft ist, die uns auch heute trägt.“ Nicht anders steht es im Grunde genommen mit der Haltung, die ein Friedrich Meinecke, ein Benedetto Croce, ein Jan Huizinga, ein Nikolaus Berdjajew diesem Problem gegenüber eingenommen haben. Man könnte diese Entwicklung des Geschichtsdenkens auch charakterisieren als eine Wendung von einer mehr ästhetischen und logischen zu einer mehr ethischen und existentiellen Fragestellung gegenüber der Geschichte.

Politik, Hauptgestaltungselement der Gegenwart Inwiefern berührt nun ein solch dynamisches Ineinander von Geschichte und Gegenwart die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Politik? Man wird leicht einsehen, daß es in entscheidender Weise davon berührt wird, ja wir können sagen, daß wir unser engeres Thema mit diesen Erörterungen überhaupt nicht verlassen haben. Denn es ist insofern ein und dasselbe, von Geschichte und Gegenwart und von Geschichte und Politik zu reden, als Politik doch wohl als ein Hauptgestaltungselement einer jeweiligen Gegenwart, und damit allerdings auch der Geschichte, angesehen werden muß. Geschichte und Gegenwart ist nur das allgemeinere Verhältnis, in das das besondere Verhältnis von Geschichte und Politik eingebettet erscheint. Ein eminent politischer Aspekt liegt in der Tat allen jenen geschichtsphilosophischen und geschichtssoziologischen Konzeptionen zugrunde, von denen wir eben gesprochen haben. Arnold Toynbee kommt auf Grund seiner Einsicht in die Weltgeschichte zu der Forderung, daß wir Krieg und Klassen abschaffen und eine Neuverteilung der Güter der Erde in die Wege leiten müssen, wenn wir nicht das Ende der Menschheitsgeschichte auf unserem Planeten herbeiführen wollen. Beide Forderungen können aber nur erfüllt werden auf Grund einer universalen politischen Ordnung. Ähnliche Perspektiven eröffnet Alfred Weber: nur noch ein Zeitalter der Weltverständigung oder der Erddomestikation, wie er es nennt, kann die Menschheit vor unabsehbaren Katastrophen bewahren. Lind Karl Jaspers sieht die gegenwärtige Situation gekennzeichnet durch die Alternative: Weltimperium oder Weltordnung, also totalitärer Staat von weltweitem Ausmaß oder föderalistische Ordnung freier Staaten-gruppen und -Systeme. Eine Perspektive, die Friedrich Meinecke in ähnlichem Sinne schon vor Augen stand, als er, durch die Katastrophe des ersten Weltkrieges zu einer Bilanz der Geschichte angeregt, vor dem Phänomen einer weltumspannenden Pax Anglosaxonica zu stehen glaubte

Politische Verantwortung der Geschichtswissenschaft und des Historikers Wenn also der politische Aspekt, sowohl in Ausgangspunkt wie in Zielsetzung, solch hervorragender Geschichtsbetrachtung unserer Zeit feststeht, so erhebt sich mit innerer Notwendigkeit die weitere Frage: Erfüllt eine solche Geschichtsbetrachtung noch die wissenschaftlichen Forderungen historiographischer Tätigkeit? Sind politisches und wissenschaftliches Ethos in ihr in Übereinstimmung zu bringen, oder schließen sie sich vielleicht gegenseitig aus?

Der Tatsache, daß es voraussetzungsloses Erkennen nicht gibt, unterliegt alle Geschichte. Natürlich hat es immer eine Art Geschichtsbetrachtung gegeben, die sich diesem erkenntniskritischen Gesetz dadurch weit. gehend entziehen konnte, daß sie ohne klares Erkenntnisziel einfach in den geschichtlichen Stoffmassen der Vergangenheit herumgewühlt hat. Benedetto Croce nennt diese Art von Geschichtsbetrachtung chronikalische Geschichte und spricht ihr das eigentliche Wesen der Geschichtsschreibung ab Man könnte sie vielleicht — weniger radikal als der italienische Philosoph des „storicismo assoluto“ — lebensfremde Historie nennen, im Unterschied zu einer lebensnahen Geschichtsbetrachtung. die hier allein unser Interesse hat Lebensnahe Geschichtsbetrachtung allein hat ein klares Erkenntnisziel, weil sie aus der geistigen und politischen Situation der Zeit an die Geschichte herantritt, um mehr über Wesen und Schicksal der Gegenwart zu erfahren. Insofern sie dies tut, unterliegt sie aber einer großen Verantwortung; denn sie wird dadurch zu einer die Gegenwart wesentlich mitgestaltenden Kraft. Und hier, so scheint mir, liegt das wesentliche Problem überhaupt: die Verantwortung der Geschichtswissenschaft gegenüber der Gegenwart oder, was dasselbe ist: die politische Verantwortung der Geschichtswissenschaft und des Historikers.

Blenden wir, an diesem entscheidenden Punkt unserer Betrachtung angekommen, noch einmal in die Geschichte unserer Wissenschaft zurück. Auch Ranke, der objektive Historiker par excellence, hat in dem Verständnis der Gegenwart aus der Geschichte wie in dem Verständnis der Geschichte aus der Gegenwart ein durchaus legitimes Erkenntnisziel unserer Wissenschaft gesehen. Eben aus der Erkenntnis heraus, daß der Historiker auch die ungeschriebene Historie der Gegenwart geistig auf sich wirken lassen muß, um die Vergangenheit desto besser zu verstehen. Noch intensiver wurde die Synthese von Geschichte und Politik bei jenen Historikern des Jahrhunderts, die wir als politische Historiker ganz im besonderen charakterisieren. Sowohl die geistige Vorbereitung der Revolution von 1'848 wie diejenige der Reichsgründung von 1871 ist undenkbar ohne die Wirkungen der Geschichtsschreibung. Sie ist zu einer politischen Kraft ersten Ranges geworden durch die Dahlmann, Droysen und Gervinus, die Treitschke und Sybel. Aber auch das Bild, das uns Theodor Mommsen von der Römischen Geschichte entwirft, ist nicht verständlich ohne die liberalen und nationalen Ideale des revolutionären Geistes von I 848 19). „Nationaler Historiker“ Daß politische Ideale in der deutschen Geschichtsschreibung der neueren Zeit immer eine wesentliche Rolle gespielt haben, ist also unbestritten. Das gilt in demselben, ja zum Teil noch in höherem Maße für die Geschichtsschreibung anderer Völker. Ist es ihr im ganzen gut bekommen? Wir sind geneigt, uns dem LIrteil Rankes anzuschließen, der schon 1 8 36 feststellte, bislang habe die Historie die Politik nicht verbessert, wohl sei sie aber von ihr verderbt worden. Ein LIrteil, das, seit 1945 insbesondere, oft wiederholt worden ist. Lind man verbindet diesen Vorwurf dann etwa mit der Forderung, lieber Geschichte auf Politik, als Politik auf Geschichte wirken zu lassen. Aber ist es nicht gerade das, was so viele Historiker der neueren Zeit versucht haben: Geschichte auf Politik wirken zu lassen? Ist nicht gerade in Deutschland immer wieder der Weg versucht worden, aus der geschichtlichen Erkenntnis Nutzen für das politische Denken und Handeln zu ziehen? Wie kommt es, daß sich den Historikern das Verhältnis unter ihren Händen umkehrt, und man ihnen schließlich nachweisen kann, daß sie in ihrer Geschichtsbetrachtung politischen Vorurteilen oder Wunschzielen unterworfen waren, statt die politische Welt durch ihre Arbeit von solchen Vorurteilen und Wunschzielen zu reinigen, wozu sie doch eigentlich ausgezogen waren?! Wie kommt es, daß als Endeffekt so vieler und mühsam erarbeiteter geschichtlicher Erkenntnisse nicht eine Beseitigung politischer Täuschungen und Irrlehren registiert werden kann, sondern oft ihre Bestätigung?

Sicher spielt hier die Struktur des geschichtlichen Erkenntnisaktes eine wesentliche Rolle. Sie begünstigt zirkelhafte Schlüsse aus der Geschichte, indem der Historiker leicht seine politischen und sozialen Vorurteile in seine Geschichtserkenntnis einfließen läßt, um sie dann aus der Geschichte wieder in die Gegenwart zurückzuprojizieren, ohne natürlich von diesem Prozeß selbst etwas zu merken. Das weisen dann meistens seine Gegner nach. In der Tat beruhen die meisten sogenannten Lehren aus der Geschichte auf solchen Zirkelschlüssen. Kein Wunder also, daß diese Lehren aus der Geschichte in den meisten Fällen denkbar schlechte Ratschläge für die Politik enthielten Aber die Ratschläge waren noch aus einem anderen Grunde schlecht, der im engsten Zusammenhang steht mit der zunehmenden falschen Politisierung des historischen Denkens: es ist der Verlust des universalen Aspektes der Geschichte, wie ihn Ranke noch besaß. Eine Einengung des Geschichtsbildes auf den nationalstaatlichen Bereich führte zu einem verhängnisvollen Verlust der Proportionalität; denn die nationale Geschichte kann nur innerhalb eines universalen Aspektes echt und wahr sein Das Wort, daß die echte nationale Geschichte zugleich auch die echte universale Geschichte sei, wurde von einer Verpflichtung zu einer Selbsttäuschung. Die unheilvolle Verengung des geschichtlichen Horizontes und der Verlust der universalen Dimensionen ist Ursache und Folge zugleich der Hyperthrophie des modernen Nationalismus, wie er sich im ausgehenden 19. Jahrhundert ausbildete und im Zeitalter der Weltkriege seine katastrophisehe Kulmination erreichte. Die nationalistischen Herrschaftsansprüche der europäischen Völker, wie sie die Epoche des Imperialismus kennzeichnen, brachten allenthalben eine nationalistisch verengte, wenn nicht gar chauvinistisch verunstaltete Historie hervor, die ihre alleinige Aufgabe darin sah, die machtpolitischen Aspirationen des eigenen Staates aus der Geschichte zu sanktionieren. Es entstand die „offizielle Historie“, die der Regierung genehme und von ihr geschützte Auffassung von der geschichtlichen Vergangenheit. Wer sich in dieser Weise historiographisch betätigte, hatte Anspruch auf den Ehrennamen eines „nationalen Historikers". Diese Situation ist im Europa von 1900 klar vorhanden.

Die deutsche nationale und offizielle Historie mühte sich damals ab, den Kampf Deutschlands gegen die angebliche britische Weltherrschaft geschichtlich dadurch zu rechtfertigen, daß sie das Bild Rankes vom europäischen Gleichgewicht der großen Mächte in völlig statischer Weise auf die Zusammenhänge der Weltpolitik übertrug. Daß die politische Entwicklung auf ein Weltstaatensystem zusteuere, in welchem Deutschland sich einen gebührenden Platz erkämpfen müsse, wurde aus der Geschichte einwandfrei bewiesen. Ludwig Dehio hat in überzeugender Weise die Denk-und Rechenfehler dieser der Dynamik der geschichtlichen Entwicklung wenig gerecht werdenden Geschichtskonzeption aufgedeckt: die festländische Sehweise, welche kaum Verständnis hatte für die grundlegenden Unterschiede zwischen Herrschaft auf Grund von Seemacht und kontinentaler Hegemonie; die Unterschätzung der außereuropäischen Kraftzentren, insbesondere Amerikas, aber auch Rußlands, deren weltpolitischen Aufstieg der französische Historiker Alexis de Tocqueville in seinem Buch „De la democratie en Amerique“ im Jahre 1835 schon angekündigt hatte „Die Welt blieb ungedeutet“

Man kann vielleicht dieses Versagen der deutschen Historiker in ihrem historisch-politischen Denken vor 1914 als schicksalshaft bezeichnen, um so mehr, als es bei den anderen europäischen Völkern kaum besser bestellt war. Daß sie sich aber in ihrer großen Mehrzahl durch den Ausgang des ersten Weltkrieges keineswegs zu einer grundlegenden Revision ihres Geschichtsbildes veranlaßt sahen, kann nur noch als intellektuelles Versagen interpretiert werden. Zweifelsohne wurde eine solche Haltung erleichtert durch den Umstand, daß am Ende des ersten Weltkrieges sowohl Rußland wie Amerika aus der aktiven Weltpolitik zunächst ausschieden: jenes durch die bolschewistische Revolution, dieses durch Rückzug in den Isolationismus. Aber das geschichtlich wesentliche Resultat des ersten Weltkrieges blieb doch durchaus bestehen und harrte einer Erklärung: die Tatsache nämlich, daß „im Weltkriege die Entwicklung aus den in Jahrhunderten eingefahrenen Gleisen heraussprang und der Hegemonialmacht zum Triumphe verhalf, statt dem Staaten-system“, wie es die angeblich historisch fundierte deutsche Theorie vorausgesagt hatte Statt diesem geschichtlichen Faktum volle Aufmerksamkeit zu widmen, verbrauchte die deutsche nationale Geschichtsschreibung ihre Kräfte in der Widerlegung der Kriegsschuldthese — an die ernst zu nehmende Historiker auch der anderen Länder sowieso nicht geglaubt hatten! — und in der Zurückweisung französischer Hegemonialansprüche, die für jeden tiefer Blickenden nicht auf innerer Kraft und äußerer Macht beruhten, sondern auf Bedürfnis nach Sicherheit, was nur ein anderer Ausdruck war für Schwäche und Unsicherheit. Europa blieb für die deutsche Historie weiterhin das Zentrum der Weir, obschon eine außereuropäische Macht den Krieg zuungunsten Deutschlands entschieden hatte. Das Geschichtsbild blieb demnach weiterhin im wesentlichen auf Europa und das eigene Land beschränkt, und „die Welt blieb ungedeutet“ Auf die Sonderstellung, die Friedrich Meinecke in Bezug auf das Problem einer Revision des Geschichtsbildes nach 1918 eingenommen hat, haben wir ja schon ausführlich hingewiesen

Die Wirkungen totalitärer Ideologien Gewiß, alles in allem eine sehr betrübliche Bilanz, die wir hier zu ziehen genötigt waren. Sie wird noch betrüblicher, wenn wir den Blick unmittelbar auf unsere Zeit richten: auf die Wirkungen totalitärer Ideologien, welche die Geschichte einer politischen Ideologie und einer ideologischen Politik unterwerfen, so daß sie zu einer Mätresse wird, die sich allen Launen und Seitensprüngen ihrer Herren fügen muß. Zwar hat auch Ranke schon davon gesprochen, daß täglich Schriftsteller auftreten, „die in der Historie weder etwas suchen, noch finden, als was mit ihrer politischen Doktrin gut übereinstimmt“ In unserer Zeit sind aber an die Stelle einzelner Schriftsteller ganze Universitäten und Akademien getreten, die in ihrem sogenannten wissenschaftlichen Betrieb von politischen Ideologen beherrscht werden, „die in der Historie weder etwas suchen, noch finden, als was mit ihrer politischen Doktrin gut übereinstimmt". Es bedarf wohl kaum längerer Erläuterungen um einzusehen, daß durch ein solches Verhalten Geschichte als Wissenschaft in ihrem Kern zerstört wird. Geschichte kann, wie jede andere Wissenschaft vom menschlidi-geschichtlich-gesellschaftlichen Leben, nur gedeihen in der Luft freier Kritik. In der stickigen Luft dogmatischer und doktrinärer Ideologien wird ihr der Lebensatem abgedrosselt, und sie wird schließlich zur rein politischen Propaganda, ohne Anspruch auf das, was wir im abendländischen Kulturkreis Wissenschaft nennen.

Das nationalsozialistische Herrschaftssystem Das nationalsozialistische Herrschaftssystem hat den Versuch gemacht, sich die deutsche Geschichtswissenschaft in diesem Sinne zu unterwerfen. Das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität wurde als weltanschaulicher Nihilismus und als bürgerliche Degeneration oder gar als Feigheit erklärt, und die kämpferische Wissenschaft als neues Ideal aufgestellt. Die Geschichtswissenschaft sollte „erkennend kämpfen und kämpfend erkennen“ Der eifrigste Vorkämpfer einer solchen spezifisch nationalsozialistischen Geschichtsauffassung und Geschichtswissenschaft war Walter Frank, Präsident des sogenannten „Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands". Er wurde nicht müde, das neue Wissenschaftsideal als ein kämpferisches, soldatisches, militärisches, kriegerisches darzutun. Er bezeichnete sich und seine Getreuen als „Soldaten einer neuerlebten Wissenschaft“, wie auch die großen Historiker schon früher „Soldaten einer großen politischen Idee“ gewesen seien Seine Mitarbeiter forderte er in der zur Eröffnung dieses nationalsozialistischen Geschichtsinstituts gehaltenen Rede auf: „Zehn Jahre lang mögt Ihr in der Stille Eurer Gelehrtenstuben Euch vergraben. Und doch könnt Ihr auch in dieser Stille als Waffenschmiede und Ingenieure der Wissenschaft Offiziere Eures Vaterlandes sein. Und nach zehn Jahren könnt Ihr mit diesen Waffen Eurem Vaterland eine Schlacht gewonnen haben, die in der Geschichte genau so gewogen wird, wie eine politische oder militärische Schlacht.“ Folgerichtig spricht er denn auch — übrigens mitten im Frieden — vom „Kriegsdienst der Wissenschaft“, und ebenso folgerichtig wünscht er seinem neuen Institut, „etwas wie ein großer Generalstab der deutschen Wissenschaft" zu sein Die Militarisierung des Wissenschaftsideals wird schon rein sprachlich überdeutlich. Ein Historiker vom Format Heinrich von Srbiks, der bereits als österreichischer Staatsangehöriger 19 3 5 Ehrenmitglied im Reichsinstitut Franks wurde, gab sich der Hoffnung hin, es möge „eine Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft anstreben und, so Gott will, erreichen“ Er vermochte nicht zu sehen, daß eine solche Harmonie aus dem Wesen der totalitären nationalsozialistischen Ideologie heraus unmöglich war. Da die Weltanschauung des Nationalsozialismus die Rasse als das schlechthin entscheidende Element in der Entwicklung des mensdilich-politisch-gesellschaftlichen Lebens ansah, sollte der neuen Geschichtsschreibung die Aufgabe zufallen, die Rasse ebenfalls als wichtigsten Faktor des geschichtlichen Lebens nachzuweisen. So wurde denn auch der Rassentheoretiker des „Dritten Reidies“, Hans Günther, als Ehrenmitglied in das Institut berufen und die Geschichte der Judenfrage zum vornehmlichen Forschungsgegenstand bestimmt Einer spezifisch nationalsozialistischen Geschichtsschreibung konnte keine andere Aufgabe zufallen, als die Unterstützung der ideologischen Propaganda und der politischen Erziehung, die Bestätigung der Richtigkeit der ideologischen Grundsätze aus der Geschichte. Heinrich von Srbik hat auch noch nach dem Untergang des nationalsozialistischen Systems in seiner sonst großartigen Darstellung der neueren Geschichtsschreibung die vom nationalsozialistischen Staat propagierte sogenannte Volkswissenschaft viel zu ernst genommen und auch dann noch nicht erkannt, daß es sich im wesentlichen nur um den plumpen Versuch handeln konnte, rein ideologische Gedankengänge zu szientifizieren. Srbik schafft im ganzen ein Bild von den nationalsozialistischen Anschauungen, die diese viel geistiger und wissenschaftlicher erscheinen lassen, als sie je gewesen sind. Weder der Machtkult noch die Judenfrage werden in ihrer ganzen geschichtlich doch wohl erwiesenen Brutalität aufgezeigt, obschon sie kernhafte Elemente der nationalsozialistischen Geschichtsanschauung gewesen sind. Auch seinem Schlußurteil, „daß auch die nationalsozialistische Welle in der deutschen Historie manch gesunden Erkenntnisfortschritt für die Erkenntnis der deutschen Volksgeschichte und für die abendländische und europäische Lebensgliederung gebracht hat“, können wir keinesfalls bei-stimmen Wie dem auch sei, dem Nationalsozialismus ist es jedenfalls nicht gelungen, die deutsche Historie wirklich nach seinen Grundsätzen umzuformen. Anderseits aber sind doch die Verwüstungen und Verfälschungen im Geschichtsbild, insbesondere der jüngsten Generation, erschreckend genug. Jeder pädagogisch tätige Historiker wird dies ohne weiteres eingestehen.

Die bolschewistische Ideologie Was dem Nationalsozialismus nur in Ansätzen gelungen ist, das • hat die bolschewistische Ideologie bis zu den letzten Konsequenzen durchgeführt — dank dem besseren Ausbau ihrer Theorie, vor allem aber dank der größeren Lebenskraft ihres politischen Systems. Nadi der Geschichtstheorie des Leninismus-Stalinismus ist die ideologische Schulung des Historikers viel wichtiger als die methodologische. „Der richtige sowjetische Historiker muß kämpferisch und aggressiv sein, seine Bewertung historischer Tatsachen ist eine politische Entscheidung, die von politischen Motiven diktiert wird.“ Ja, der sowjetische Historiker muß frei sein von „einer übertriebenen Liebe zu den Tatsachen“! Die bolschewistische Geschichtsschreibung begnügt sich also keineswegs damit, daß sie den Ablauf der Geschichte nach dem Schema des historischen Materialismus einseitig konstruiert; sie scheut auch nicht davor zurück, die Geschichte durch Weglassen oder Hinzudichten von Tatsachen zu verfälschen.

Wie weit man dabei zu gehen gewillt ist, dafür nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte: Die sowjetische Geschichtsschreibung leugnet die Tatsache, daß Stalin am 2 3. August 1939 mit dem nationalsozialistischen Deutschland ein Geheimabkommen abgeschlossen hat, welches Polen und die baltischen Länder in eine deutsche und eine russische Interessensphäre aufgeteilt hat. Auf Grund dieses Abkommens konnte Deutschland Polen angreifen und konnte die Sowjet-Union sich an der Liquidierung des polnischen Staates beteiligen, kurz darauf Finnland mit Krieg überziehen, Rumänien ultimative territoriale Forderungen stellen und schließlich die drei kleinen baltischen Staaten annektieren. Die Begünstigung der deutschen Angriffsabsichten und Expansionstendenzen in Ostmitteleuropa durch die sowjetischen Führer ist historisch erwiesen, ebenso die eigene Aggressivität der sowjetischen Politik. Diese geschichtlichen Tatsachen würden aber mit der Theorie von der „friedliebenden Sowjetunion“ kaum in Übereinstimmung zu bringen sein, und deshalb stellt die sowjetische Historie die Ereignisse seit 1939 so dar, als ob nie ein solches Geheimabkommen über ein

Erwerbsgeschäft auf Gegenseitigkeit abgeschlossen worden wäre. Der sowjetische Einmarsch in Ostpolen im September 19 39 wird so motiviert, ab ob die Sowjetarmee zur Verhinderung eines weiteren Vormarsches der Deutschen diese Gebiete besetzt habe! Durch Weglassen eines entscheidend wichtigen historischen Faktums wird somit die geschichtliche Wirklichkeit verfälscht. Dieses Beispiel mag für viele andere stehen, die leicht beizubringen wären aus der sowjetrussischen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung, insbesondere der letzten Jahrzehnte. Di wird so motiviert, ab ob die Sowjetarmee zur Verhinderung eines weiteren Vormarsches der Deutschen diese Gebiete besetzt habe! 35) Durch Weglassen eines entscheidend wichtigen historischen Faktums wird somit die geschichtliche Wirklichkeit verfälscht. Dieses Beispiel mag für viele andere stehen, die leicht beizubringen wären aus der sowjetrussischen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung, insbesondere der letzten Jahrzehnte. Die Geschichte der Sowjetunion selbst und die Geschichte der internationalen Politik ist voll von notorischen „Korrekturen“ am historischen Tatbestand. Mit unserem Begriff von der Wissenschaft hat eine solche Behandlung der geschichtlichen Vergangenheit insofern nichts mehr zu tun, als es zur unbedingten Verpflichtung des Historikers gehört, die historischen Tatsachen wirklichkeitsgetreu wiederzugeben. Das Problem der Objektivität beginnt für uns erst jenseits dieser Verpflichtung.

Es war Friedrich Nietzsche, der meinte, das historische Faktum sei immer dumm und habe zu allen Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen als einem Gotte 36). Die Bedeutung des historischen Faktums soll nun keineswegs etwa überwertet werden; aber es ist und bleibt Hauptaufgabe einer in wissenschaftlichem Geiste betriebenen Historie, auf Grund der Tatsachen eine möglichst getreue und objektive Rekonstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit zu versuchen. Ohne diese Hauptvoraussetzung hängt alles Denken über geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen in der Luft. Unter der bolschewistischen Ideologie hat das geschichtliche Feld auf weite Strecken seine Eigenständigkeit als Forschungsgebiet völlig verloren. Es ist, wie jener oben zitierte ideologisch-methodische Grundsatz beweist, zum Arsenal des politischen und ideologischen Aktivismus geworden.

Einige Beispiele mögen illustrieren, wie weit diese Politisierung und Ideologisierung der Geschichtsschreibung im sowjetischen Bereich diehen ist 37). Die erste Historiker-Konferenz des sowjetzonalen „Museums für deutsche Geschichte“ in Berlin, welche Grundfragen der Geschichtsforschung behandeln sollte, ließ verlauten: „Das deutsche Volk erwartet, daß die deutschen Historiker durch eine wahrheitsgetreue wissenschaftliche Auswertung der deutschen Geschichte ihm in seinem schweren Kampf helfen; es will durch das Studium der Geschichte seine Hauptfeinde erkennen, und es will-gleichzeitig durch die Kenntnis der großen revolutionären Taten und der Leistungen der deutschen Nation Zuversicht, Kraft und Gewißheit vom vollen Sieg über die USA-Imperialisten gewinnen. Breite Schichten des deutschen Volkes betrachten die deutsche Geschichtswissenschaft daher als eine hervorragende Waffe in ihrem gerechten Kampf und setzen große Hoffnungen in die Arbeit der deutschen Historiker“ 38). In einer „Entschließung der siebenten Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ zählt die im sowjetischen Sinne vorgenommene Revision des deutschen Geschichtsbildes zu den „wichtigsten ideologischen Aufgaben der SED“: „Von großer Bedeutung für den Kampf um die Einheit Deutschlands und für die Entwicklung eines echten deutschen Patriotismus ist die wissenschaftliche Ausarbeitung der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung. Das Zentralkomitee betrachtet diese Arbeit als die wichtigste Aufgabe der theoretischen Kader der Partei, die auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften tätig sind. Llnsere Historiker sind sich noch nicht genügend der großen Verpflichtung bewußt, durch die wissenschaftliche Ausarbeitung der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung zur Zerschlagung unwissenschaftlicher Geschichtsauffassungen, zur richtigen Erziehung der herangewachsen.

den Generation und zur Entfaltung des Kampfes für die nationale Einheit Deutschlands beizutragen.“ 39)

Alle Elemente einer bolschewistisch verstandenen „Geschichtswissenschaft“ sind hier beisammen: Marxismus als einzig mögliche methodische Grundlage der Geschichtswissenschaft, Bestimmung der GeSchichtsschreibung als Waffe im ideologischen und politischen Kampfe, Unterordnung des Geschichtsbildes unter die ideologischen Grundsätze der kommunistischen Staatspartei. So mußte denn auch der Herausgeber der westdeutschen „Historischen Zeitschrift“ über die sowjetzonale „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ das Urteil fällen, „daß die neue Zeitschrift kein Fachorgan in der Reihe der westdeutschen ist, vielmehr eine Kentaur, dessen Rumpf der Geschichtswissenschaft zugehört, sein Kopf jedoch der Politik“

Das Problem der historischen Objektivität

Daß in einer dermaßen politisierten Geschichtsschreibung das Problem der historischen Objektivität in ganz besonderem Lichte erscheinen muß, ist leicht einzusehen Was dialektisches Denken im bolschewistischen Verständnis eigentlich bedeutet, das enthüllt sich gerade hier in der Geschichtstheorie. Einerseits wird die Objektivität abgelehnt und objektive Haltung als Objektivismus sebrandmarkt. Anderseits verkündet kein geringerer als Stalin selbst in seiner Schrift über den „Dialektischen und historischen Materialismus“, daß die Geschichtswissenschaft eine ebenso exakte Wissenschaft werden müsse und werden könne wie die Naturwissenschaft. Dieser für das „dialektische Denken“ typische Widerspruch kommt auch in einem Aufsatz zum Ausdruck, den der sowjetische Geschichtsideologe Leo Stern (Halle) über die „Gegenwartsaufgaben der deutschen Geschichtsforschung“ verfaßt hat Darin wird die Rankesche Konzeption von der Objektivität scharf kritisiert und abgelehnt. Einerseits wird behauptet, es sei eine Legende, daß Ranke und seine Schule die Geschichte so dargestellt hätten, „wie sie eigentlich gewesen“. Dazu seien sie schon ihrer Natur nach nicht fähig gewesen. Ihren Ergebnissen müsse deshalb die objektive Gültigkeit abgesprochen werden. Anderseits aber stellt Stern dann fest, die Rankesche Objektivität führe im Grunde genommen zu einem bis zur Standpunktlosigkeit getriebenen Objektivismus, und das Objektivitätsideal Rankes werde damit zu einem geeigneten methodologischen Instrument, alles zu verstehen und alles zu verzeihen. Einerseits also ein Zu-wenig an Objektivität, anderseits ein Zuviel an Objektivität — das ist das dialektische Ergebnis von Sterns Argumentation.

Dieser Widerspruch muß notwendigerweise entstehen, weil hier, wie mit so vielen anderen fundamentalen Ideen der abendländischen Philosophie und Geistesgeschichte, der Versuch gemacht wird, einen Begriff mit einem Inhalt zu erfüllen, der dem Begriff selbst im Innersten widerspricht und ihn damit im Grunde genommen sinnlos macht. So steht es mit dem Begriff der Objektivität in der marxistischen Dialektik nicht anders als mit den Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden

Während der Begriff der Objektivität seinem Wesen nach das Prinzip der Überparteilichkeit in sich schließt, verlangt der sogenannte „wissenschaftliche Sozialismus“, eine ausgesprochen subjektive Haltung, die „proletarische Parteilichkeit“ genannt wird — subjektiv allerdings nicht im Sinne eines selbständig denkenden Individuums, sondern im Sinne der allmächtig gebietenden einen Partei. Während im Bereich der abendländischen Wissenschaft das Prinzip der Objektivität der Idee nach über allen denkbaren politischen Parteien steht, ist es im Bereiche der sowjetischen Ideologie die alleinherrschende Partei, welche selbst bestimmt, was objektiv ist. Die Objektivität ist auch der Idee nach der herrschenden Ideologie untergeordnet. Dieser merkwürdige Sachverhalt geht notwendig aus dem Anspruch des dialektischen und historischen Materialismus hervor, die wissenschaftliche Methode schlechthin zu sein, um die Erscheinungen in Natur und Gesellschaft objektiv zu erforschen. Da die Partei aber allein zur richtigen Interpretation der Grundsätze dieser Weltanschauung und Methode fähig ist, kann nur die Partei bestimmen, was objektiv ist. Oder anders ausgedrückt: Nichts was den Grundsätzen des historischen und dialektischen Materialismus und damit den Grundsätzen der Partei widerspricht, kann Anspruch auf objektive Gültigkeit haben. Wahre Objektivität ist nach der marxistischen Doktrin nur möglich, wenn man nach ihren „allein wissenschaftlichen" methodischen Prinzipien an die Erscheinungen der Geschichte herangeht

Da aber der historische Materialismus nichts weniger beansprucht, als die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft entdeckt zu haben, soll er die Erreichung einer Objektivität ermöglichen, die derjenigen der Naturwissenschaften gleichzusetzen ist. So heißt es denn auch bei Stalin: „Wenn die Welt erkennbar ist und unser Wissen von den Entwicklungsgesetzen der Natur zuverlässiges Wissen ist, das die Bedeutung objektiver Wahrheit hat, so folgt daraus, daß das gesellschaftliche Leben, die Entwicklung der Gesellschaft, ebenfalls erkennbar ist und daß die Ergebnisse der Wissenschaft bezüglich der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft zuverlässige Ergebnisse sind, die Bedeutung objektiver Wahrheiten haben. Also kann die Wissenschaft von der Geschichte der Gesellschaft trotz aller Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu einer genau so exakten Wissenschaft werden wie, sagen wir, die Biologie, zu einer Wissenschaft, die imstande ist, die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft in der Praxis auszunutzen."

Diese Sätze Stalins sind absolutes Dogma für jeden sowjetischen Historiker. Um diese Grundsätze zu erfüllen, muß der sowjetische Historiker aber alle historischen Erscheinungen ausnahmslos vom Klassenstandpunkt’ aus analysieren und beurteilen: denn wahre Objektivität ist nur aus dem Klasseninteresse des Proletariats zu schöpfen, das ja den objektiven Verlauf der bisherigen historischen Entwicklung bestimmt hat. Wenn der Klassenstandpunkt in der Beurteilung historischer Erscheinungen verlassen wird, wenn etwa gar Vergleiche mit den Ergebnissen westlicher Historiker angestellt werden, dann läuft der marxistische Historiker Gefahr, in Objektivismus zu verfallen. Lim es auf eine Formel zu bringen: Wer nach den methodischen Grundsätzen des dialektischen und historischen Materialismus Geschichte erforscht, ist wissenschaftlich und objektiv; wer diese „alleinwissenschaftliche“ Methode und Weltanschauung und ihre Ergebnisse mit andern Methoden und Ergebnissen vergleicht, ist objektivistisch.

Objektivität im Sinne der bolschewistischen Theorie heißt also: Erfassung und Beurteilung der geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen im Lichte der durch die alleinmaßgebende Ideologie aufgestellten Axiome und Grundsätze. Der objektive Historiker ist derjenige, welcher die Ergebnisse seiner Forschung mit diesen Grundsätzen in bestmöglicher Weise in Übereinstimmung zu bringen versteht — was selbstredend niemals auf Kosten der politischen Doktrin, sondern immer nur auf Kosten der geschichtlichen Wahrheit und auch Wirklichkeit geschehen kann.

Unaufhebbarer Gegensatz Es sollte deutlich geworden sein, daß zwischen dem sowjetischen Begriff der Geschichtswissenschaft und dem abendländisch-westlichen nicht nur eine Nuance der Differenziertheit, sondern ein unaufhebbarer Gegensatz besteht. Diese Tatsache wird von westlichen Historikern immer wieder übersehen bzw. nicht genügend in Rechnung gestellt, wofür etwa der X. Internationale Kongreß für Geschichtswissenschaft ein neuer Beweis war. Das sowjetische Wissenschaftsideal ist durch den Begriff der Parteilichkeit bestimmt, das abendländische durch den Begriff der Objektivität. Objektivität wird dabei nicht verstanden im Sinne einer (tatsächlichen oder angeblichen) naturwissenschaftlichen Voraussetzungslosigkeit, auch nicht im Sinne eines Fehlens moralischer und politischer LIrteile, sondern zunächst im Sinne einer wissenschaftlich genauen Analyse des historischen Tatbestandes, dann allerdings auch — und damit beginnt erst das eigentlidie Problem der Objektivität — im Sinne eines sich Erhebens über partei-und tagespolitische Interessen und Zwecksetzungen. Dieses Objektivitätsideal wird vom sowjetischen Begriff der Parteilichkeit auf beiden Ebenen praktisch verletzt und — wie wir zu beweisen hatten — auch theoretisch abgelehnt: durch die Einseitigkeit und Ausschließlichkeit der Ideologie nicht nur, sondern eben auch durch das unbekümmerte Umgehen mit den historischen Tatsachen. Mit Anhängern einer materialistischen Geschichtsauffassung ist selbstverständlich grundsätzlich eine fruchtbare Diskussion jederzeit möglich, unter der Voraussetzung allerdings, daß diese nicht im Gewände der Intoleranz und Ausschließlichkeit auftreten.

Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchungen zusammen. Wir stehen vor der Tatsache, daß es der Geschichte in den meisten Fällen nicht gelungen ist, die Politik zu verbessern, daß sie diese oft vielmehr in ihren Irrtümern bestätigt hat. Die Historie ist in vielen Fällen einer falschen Politisierung unterworfen worden, die in den Extremen der totalitären Ideologien Geschichte als Wissenschaft unmöglich macht. Anderseits stehen wir vor der Erkenntnis, daß ohne politisches Interesse politische Historie gar nicht denkbar ist. Politische Gechichte und politische Wissenschaft überhaupt bewegen sich somit zwischen dem politischen Impuls, der sie erst möglich macht, und dem politischen Befehl, der sie als Wissenschaft unmöglich macht.

Wollen wir uns daher denen anschließen, welche geschichtliche Bildung als nachteilig für das politische Denken und Handeln ansehen? Selbst wenn wir dies für wünschbar hielten, würde dieser Ausweg nützlich oder auch nur möglich sein? Wir erinnern uns hier an das, was Theodor Litt zu dieser Frage gesagt hat: das historische Bewußtsein des modernen Menschen ist eine Tatsache, die nicht rückgängig zu machen ist Geschichtliche Erinnerung und Tradition ist damit eine politische Kraft, die latent immer da ist, und jederzeit aktualisiert werden kann. Unsere Aufgabe kann demnach nicht darin bestehen, historisches Denken zu vernachlässigen oder das historische Bewußtsein gar verkümmern zu lassen. Zwischen Mensch und Geschichte und zwischen Politik und Geschichte besteht vielmehr ein existenzieller Zusammenhang. Daher ist es ja nur folgerichtig, wenn die totalitären Ideologien die Geschichte so manipulieren, daß sie nichts mehr aussagt, als was ihnen selbst genehm ist. Versklavung des Menschen und Verfälschung seiner Geschichte sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs: der Selbstentfremdung des Menschen. Man entfremdet den Menschen seiner Geschichte, damit er aus ihr erfährt, was eigentlich seine Bestimmung ist: die Freiheit.

In George Orwells Zukunftsstaat „ 1984“ gibt es ein Wahrheitsministerium, das alle Geschichtsquellen und sogar alle Tageszeitungen laufend so umschreibt, daß sie nichts besagen können, was den Machthabern nicht genehm ist. Auch dieser Gedanke, wie so vieles andere in diesem utopischen Roman ist leider keineswegs so utopisch. Was mit den in den Machtbereich der Sowjetunion geratenen Völkern Ostmitteleuropas heute geschieht, ist praktisch bereits die Verwirklichung dieses Gedankens. Sie müssen sich eine Übertragung der sowjetischen Geschichtskonzeption gefallen lassen, die nicht nur die Grundsätze des historischen Materialismus mit sich bringt, sondern überall da die nationale Tradition und Geschichte verfälscht bzw. auslöscht, wo sie mit der sowjetischen Geschichtskonstruktion in Widerspruch steht. Also Auslöschung der nationalen Geschichte als Mittel zur Auslöschung der nationalen Freiheit

Die freie Verfügung über ihre Geschichte wird den Menschen und den Völkern deshalb nur in einem solchen politischen Dasein gewährleistet sein, das selbst die Idee der menschlichen Freiheit zum unantastbaren Grundsatz erhebt. Wissenschaftliche Objektivität ist, was die Sozialwissenschaften anbetrifft, nur in politischer Freiheit möglich. Nur da, wo die Freiheit des Geistes von allem dogmatischen Zwang und äußerem politischen Druck gewährleistet ist, und die Möglichkeit der gegenseitigen freien Kritik und damit der Vielzahl der Standpunkte gegeben ist, nur da ist Objektivität möglich. Soviel wissenschaftlich erarbeitete Standpunkte, soviel Aspekte der Wahrheit. Die marxistische Ideologie irrt, wenn sie glaubt, durch Verabsolutierung eines solchen Teilaspektes die volle Wahrheit erzwingen zu können. Dadurch, daß er absolut gesetzt wird, ist der Teilaspekt nicht einmal mehr eine Teil-wahrheit; denn das könnte er nur sein, wenn man sich bewußt wäre, daß er nur Teil ist.

Aber auch die in Freiheit tätige Geschichtswissenschaft kann noch sehr viel tun, um dem an sich unerreichbaren Ideal einer objektiven Ansicht von der Geschichte näherzukommen. So müssen wir vor allem immer wieder versuchen, die Decke der Vorurteile zu durchstoßen, die nicht nur parteipolitischer Art, sondern auch geschichtsphilosophischer Art sein können, wie dort, wo Geschichte einseitig vom Standpunkt der Nation oder der Rasse oder der Klasse aus gesehen und beurteilt wird. Die Geschichtswissenschaft muß den Blick noch mehr als dies bislang der Fall gewesen ist auf das Ganze der geschichtlichen Erscheinungen in ihrer raum-zeitlichen Ausdehnung richten. Nur die Absage an jede einseitige Theorie von den geschichtlichen Kräften und der Durchstoß zu einem neuen universalen Geschichtsbild versprechen ein Höchstmaß von wissenschaftlicher Objektivität und politischer Nützlichkeit zugleich Denn nur dann wird es gelingen, die individuellen geschichtlichen Erscheinungen und Entwicklungen in ihren wahren Proportionen zu sehen. Nur dann wird es gelingen, das geschichtliche Denken von pseudohistorischen Begriffen zu reinigen, ein Bild von der Vergangenheit zu schaffen, in dem unwissenschaftliche Legenden keinen Platz mehr haben. Und im strengen Sinne genommen hat doch eigentlich jede rein nationale Historie einen legendären Zug! Unter solchen Gesichtspunkten müssen die Versuche betrachtet werden, durch gegenseitige Aussprache die Geschichtsbilder der europäischen Völker von nationalistischen Schlacken zu reinigen und ein universales Geschichtsbild zu schaffen. Es ist deshalb grundsätzlich falsch, die verschiedenen Konferenzen zur Vergleichung der Geschichtsbücher der einzelnen Staaten nur unter dem Aspekt politischer Gegenwartstendenzen zu sehen. Denn dadurch, daß sie mithelfen, den historischen Horizont zu erweitern und das Verständnis für die Geschichte der anderen Völker zu fördern, sind sie nicht nur ein Akt der politischen Verständigung zwischen diesen Völkern, sondern gleichzeitig auch ein Schritt auf dem Wege zu größerer Objektivität 48).

Eine Revision unseres Geschichtsbildes ist nicht deshalb notwendig geworden, weil es irgendwelche Siegermächte in ihrem Erziehungseifer befohlen hätten Die Revision gilt für Sieger und Besiegte, sie gilt besonders aber für alle Europäer. Arnold Toynbee sagt an einer Stelle, wir Europäer hätten im Grunde genommen immer noch das Geschichtsbild aus der Zeit vor Vasco da Gama! Jedenfalls ist daran soviel richtig, daß unser Geschichtsbild den politischen Ereignissen bislang immer beträchtlich nachgehinkt ist. Wie hätten da die Historiker den Politikern zukunftsträchtige Ratschläge gegen können!? Ist es nicht ein Beweis für unsere These, daß nur jene Historiker die zukunftsträchtigen Kräfte der Gegenwart erkennen konnten, die ein universal ausgeweitetes Geschichtsbild hatten? Wir müssen hier für Deutschland wiederum auf den Namen Friedrich Meinecke verweisen.

Schaffung eines globalen Geschichtsbildes Wir stehen an einer Stufe der Entwicklung, wo es auch für den denkfaulsten Europäer einsichtig geworden sein sollte, daß die europäische Ära der Weltgeschichte zu Ende ist. Die bewegenden Kraftzentren haben sich in unserer Gegenwart in außereuropäische Bereiche verlagert, was nicht heißen will, daß nicht auch Europa wiederum eines der bewegenden Kraftzentren werden kann; aber es'wird nie mehr das einzige sein. Das erfordert ein historisch-politisches Denken in größeren Zusammenhängen und größeren Einheiten, als die europäischen Nationen sie darstellen. Der Historiker von heute steht vor der Aufgabe, jene Kräfte geschichtlich kennenzulernen und bekanntzumachen, die in entscheidender Weise in die europäische Geschichte eingebrochen sind und von denen das europäische Schicksal heute weitgehend abhängig ist. Die Schaffung des globalen Geschichtsbildes ist unserer Wissenschaft aus theoretischen und praktischen, aus wissenschaftlichen und politischen Gründen gleichermaßen aufgegeben. Nur eine Geschichtswissenschaft, welche ihre Forschungen auf ein universales Geschichtsbild aufbaut, kann ein Höchstmaß an Objektivität erreichen. Nur ihr wird es gelingen, die Kräfte zu erkennen, welche die Gegenwart bestimmen und in die Zukunft weisen. Nur sie wird daher für die Politik von Nutzen sein können.

Wissenschaftliches und politisches Ethos des Historikers können durchaus in Einklang stehen, ja richtig verstanden fordert sogar eines das andere aus innerer Notwendigkeit. Da der Historiker seinen wissenschaftlichen Beruf nur dort erfüllen kann, wo politische Freiheit herrscht, ist er als Wissenschaftler aufgerufen, seine Kraft dafür einzusetzen, daß politische Freiheit errungen bzw. nicht verloren wird. Demokratie als Staatsform schließt die Idee freier Wissenschaft wesensnotwendig ein. Unter der Idee der Freiheit fallen damit wissenschaftliche und politische Verantwortung des Historikers zusammen. Und dies gilt sinngemäß für alle Wissenschaftler, die sich mit der menschlich-geschichtlich-gesellschaftlichen Welt befassen. Geschichte ist die Wissenschaft, welche, in Verbindung mit Philosophie, dem Menschen seine wahre Bestimmung aus seiner Vergangenheit enthüllen kann. Dies kann sie aber nur dann, wenn sie sich frei hält von Bindung an tagespolitische Scheinprobleme und von ideologischem Zwang, wenn sie den Blick offen auf das Ganze richtet. In diesem Sinne hat Geschichte einen gewichtigen Beitrag zu leisten an eine Politik, deren Ziel die Verwirklichung von Freiheit und Menschlichkeit ist. Diese Forderung an uns bleibt aufrecht trotz aller Enttäuschungen und Rückschläge, von denen so ausgiebig die Rede gewesen ist.

Anmerkung Dr. Walther Hofer, P. Dozent, Freie Universität Berlin, L. Beauftr. Dtsch. Hochschule für Politik. Lehrgebiet: Neuere Geschichte, Historiographie, Wissenschaft von der Politik.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Leopold von Ranke, Geschichte und Politik, herausgegebenvon Hans Hoffmann, Leipzig o. J.

  2. A. a. O., S. 118 und 128/9.

  3. A. a. O., S. 126/7.

  4. A. a. O., S. 127.

  5. A. a. O., S. 131.

  6. A. a. O., S. 127. Vgl. auch Rankes Briefe an Bismarck v. 22. 2. 1887 und v. 27. 12. 1885 in: Leopold v. Ranke, Das Briefwerk, eingeleitet u. hrsg. von Walter Peter Fuchs, Hamburg 1949, S. 546, und Neue Briefe, Gesammelt und bearbeitet v. Bernhard Hoeft, hrsg. v. Hans Herzfeld, Hamburg 1949, S. 732.

  7. Die'berühmten Worte finden sich im Nachruf auf Gervinus in Rankes Rede zur Eröffnung der 12. Plenarversammlung der Hist. Komm v. 27. 9. 1871, Sämtliche Werke, Leipzig 1881, Bd. 51/52, S. 574/5. Vgl. auch den Aufsatz von Hans Herzfeld, Politik und Geschichte bei Leopold v. Ranke im Zeitraum von 1848 bis 1871, Festschrift f. Gerhard Ritter, Tübingen 1950.

  8. Friedrich Meinecke, Die Entstehung des Historismus, S. 499 ff.

  9. Friedrich Meinecke, Vom geschichtlichen Sinn und vom Sinn der Geschichte, 4. Auflage, Leipzig 1939, S. 9.

  10. Alfred Weber, Kulturgeschichte als Kultursoziologie, München 1950, Einleitung.

  11. Arnold Toynbee, Kultur am Scheidewege, Zürich 1949, S. 22 ff.

  12. Kail Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949.

  13. Jose Ortega y Gasset, Geschichte als System und über das römische Imperium, Stuttgart 1952, S. 77.

  14. Friedrich Meinecke, Weltgeschichtliche Parallelen, in: Nach der Revolution, geschichtliche Betrachtungen, München 1919.

  15. Benedetto Croce, Die Geschichte als Gedanke und als Tat, Bern 1944, S. 200 ff.

  16. Diese Unterscheidung macht auch Gerhard Ritter, Historie Leben, und in: Vom sittlichen Problem der Macht, Bern 1948, S. 139 ff.

  17. Meinecke spricht einmal von „Symbiose von Wissenschaft und Politik , H. Z. Band 152, S. 102.

  18. Vgl. dazu auch den erwähnten Aufsatz Butterfields über „Die Gefahren der Geschichte".

  19. Vgl. dazu schon das Wort von Heinrich Luden: „Alle Geschichten sind nur verständlich durch die Weltgeschichte und in der Weltgeschichte." Zitiert bei Eberhard Kessel, Rankes Idee der Universalhistorie, in: H. Z. 178, S. 271.

  20. Ludwig Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus, Hist. Zeitschr. Band 170, S. 307 ff.; ferner auch: Gedanken über die deutsche Sendung 1900 bis 1918, H. Z. Band 174, S. 479 ff.; allgemein: Gleichgewicht oder Hegemonie, Krefeld 1948.

  21. Dehio, Ranke und der deutsche Imperialismus, a. a. O., S. 327.

  22. Dehio, a. a. O., S. 326. Theodor Litt schreibt in ähnlicher Weise: „Was es für die seelische Gesundheit, ja auch für das äußere Gedeihen eines Volkes bedeutet, wenn es sich von der Wahrheit abriegeln läßt, davon haben wir gerade in den Jahrzehnten, deren geschichtlichen Gehalt es zu erobern gilt, eine nicht mißzuverstehende Probe erhalten. Jeder Einsichtige weiß, daß unser Volk aus den Prüfungen, die der erste Weltkrieg mit seinen Folgen ihm auferlegte, einen beschämend geringen Ertrag an solchen Einsichten heimgebracht hat, die ihm seinen weiteren Weg durch die Geschichte hätten erhellen können. Für die Unergiebigkeit dieser geschichtlichen Lektion ist zu einem wesentlichen Teil die Leichtgläubigkeit haftbar zu machen, mit der die sogenannte , Dolchstoß-Legende'in unserem Volk ausgenommen, ja zum Rang eines nationalen Dogmas erhoben worden ist. Die faustdicke Lüge, die ihm in Gestalt der so benannten Fabel suggeriert wurde, hat ihm die Möglichkeit geraubt, sich durch den Ausgang dieses Krieges über diejenige unter seinen Eigentümlichkeiten aufklären zu lassen, die ihm schon so manches Mal gefährlich geworden ist: über den flagranten Mangel an Wirklichkeitssinn und den verführerischen Hang, Wunschbilder für Realitäten zu nehmen." Wege und Irrwege geschichtlichen Denkens, S. 141.

  23. Vgl. die erste und dritte Studie dieses Bandes.

  24. Ranke, Geschichte und Politik, S. 118.

  25. Vgl. dazu auch: Gerhard Ritter, Deutsche Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1. Jg. 1950, S. 129. Für die nationalsozialistische Theorie der Geschichtsschreibung vgl. die in Anm. III, Nr. 34 angegebene Literatur.

  26. H. Z. Band 153, S. 8 und Band 163, S. 5.

  27. H. Z. Band 163, S. 22.

  28. Völkischer Beobachter vom 1. Januar 1936. In den Erklärungen von Frank heißt es u. a. weiter noch: „Würden die feindlichen Streikräfte, die sich auf das Feld der Kultur geworfen haben, hier einen Leerraum vorfinden — entstanden dadurch, daß der Nationalsozialismus seine Energie ausschließlich auf die politischen Fragen konzentrieren müßte — sie würden sich wieder ausruhen und sammeln können, um von diesem Raum aus eines Tages zum neuen Flankenstoß gegen die politische Macht des Reiches anzusetzen. Darum braucht die Bewegung und das Reich auf diesem Felde genau so Truppen wie auf dem militärischen und politischen Felde. Sie braucht Offiziere, die ihr Handwerk souverän beherrschen und Führer der Menschen sind, wie die Offiziere der Wehrmacht oder die Offiziere unserer politischen Soldaten. Und sie braucht Soldaten, die mit derselben Treue und Gläubigkeit und auch mit derselben Beherrschung ihrer Waffe zur Fahne stehen. Es ist dabei klar, daß diese Front nicht aufgerichtet werden kann durch äußere Maßnahmen, durch amtliche Organisation und behördliche Protektion, sondern daß sie lebendig wachsen muß — daß ihre Führer an das Gewissen appellieren müssen — und dann, das haben wir erlebt und werden es weiter erleben, aus dem Gewissen heraus Fahneniolge finden werden." Man muß solche Sätze wieder einmal in Erinnerung rufen, um eine Anschauung von dem zu geben, was die nationalsozialistischen Ideologen mit der Geschichtswissenschaft vorhatten.

  29. H. Z. Band 153, S. 222; aus dem Danktelegramm, das Srbik an den Präsidenten des Reichsinstituts für seine Ernennung zum Ehrenmitglied gesandt hat. Es ist allerdings schwer verständlich, wie Srbik angesichts solcher Ausführungen wie die oben zitierten an eine Harmonie mit Rankes Erkenntnis-ideal glauben konnte.

  30. So wurde u. a. nach der Übernahme der Leitung der Historischen Zeitschrift durch Karl Alexander von Müller in diesem wichtigsten Fachorgan ein ständiges Referat für Geschichte der Judenfrage eingerichtet.

  31. Heinrich von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, Bd. II, S. 337 ff.

  32. Georg v. Rauch, Grundlinien der sowjetischen Geschichtsforschung im Zeitalter des Stalinismus, Europa-Archiv, Nr, 19 u. 21, 1950, S. 3491.

  33. Vgl. etwa die Darstellung des Beginns des zweiten Weltkrieges in der „Enzyklopädie der UdSSR", Band 1, S. 735, Berlin 1950, oder auch die Potjomkins „Geschichte der Diplomatie", Berlin 1948. Eine eingehende Kritik des von den Sowjets geleugneten Geheimabkommens vom 23. August 1939 und eine ausführliche Darstellung seiner Bedeutung für die Entfesselung des zweiten Weltkrieges findet man in meinem Buch: Die Entfesselung des zweiten Weltkrieges, eine Studie über die internationalen Beziehungen im Sommer 1939, zweite Auflage, Stuttgart 1955, S. 31 ff.

  34. Tägliche Rundschau vom 16. November 1951.

  35. H. Z. Band 178, S. 151.

  36. Vgl. dazu vor allem auch: Jürgen von Hehn, Die Sowjetisierung des Geschichtsbildes in Mitteldeutschland, Europa-Archiv, 5. u. 20. Oktober 1954.

  37. Neue Welt, 7. Jg., Heft 14, Juli 1952, Verlag Tägliche Rundschau, Berlin.

  38. Vgl. dazu auch Recent Conflicts in Soviet Historiography von Anatole G. Mazour und Hermann E. Bateman, in: The Journal of Modern History, Chicago, März 1952.

  39. Für das Objektivitätsproblem im allgemeinen innerhalb der sowjetischen Philosophie vgl. auch das ausgezeichnete Buch von Gustav A. Wetter: Der dialektische Materialismus, seine Geschichte und sein System, in der Sowjetunion, Freiburg 1952, vor allem S. 103 ff. und 519 ff.

  40. J. Stalin, über dialektischen und historischen Materialismus, 7. Ausl., Berlin 1950, S. 17.

  41. Vgl. oben S. 107.

  42. Einzelheiten darüber bringt Herbert Ludat, Der europäische Osten in abendländischer und sowjetischer Sicht, Köln 1954, S. 19 ff. Aus der el e. Osteuropa und der deutsche Osten, Beiträge aus Forschungsarbeiten und Vorträgen der Hochschulen des Landes Nordrhein-Westfalen, He t .

  43. In idealer Weise entsprechen dieser Forderung die „Richtlinien für den Geschichtsunterricht an höheren Schulen im Land Nordrhein-Westfalen", wenn es dort heißt: „Der Mensch als Träger der Geschichte muß in der Vielfalt seiner Lebensbedingungen und -beziehungen gesehen werden. Jeder Versuch, das geschichtliche Geschehen durch einen der zahlreichen in der Geschichte wirksamen Faktoren allein zu erklären (Monokausalität), ist abzulehnen. Soweit bestimmte Faktoren in einzelnen Epochen vorherrschend sind, ist ihnen in der Darstellung Rechnung zu tragen ... Der Geschichtsunterricht geht ohne nationalistische oder partikularistische Verengung von der deutschen Geschichte aus. Die naheliegende Gefahr perspektivischer Verzerrung in Hinsicht auf Reichweite und Gewicht geschichtlicher Ereignisse der eigenen Vergangenheit ist dadurch zu vermeiden, daß der Blick jederzeit auf die Geschichte der anderen Völker gerichtet bleibt. Dabei ist nicht allein deren Wirkung auf die deutsche Geschichte zu berücksichtigen, sondern es sind auch ihre Eigenständigkeit und ihre leitenden Werte zu würdigen. Dies führt zum wahren Verständnis der Vergangenheit Deutschlands wie der weltgeschichtlichen Zusammenhänge. Auch werden dadurch parteiliche, nationale, rassische, weltanschauliche und konfessionell-polemische Enge und Unduldsamkeit überwunden. Schließlich zeigt diese Betrachtungsweise, daß die Zeit der Nationalstaaten und des unbeschränkten Souveränitätsbegriffs, die beide nicht ewige Größen, sondern das Ergebnis einer verhältnismäßig jungen Entwicklung sind, von einer Epoche großräumiger Unionsbildung abgelöst wird (USA, UdSSR. Commonwealth of Nations). Unter diesem Aspekt ist auch die beginnende Entwicklung einer europäischen Union zu beachten." Abgedruckt in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1. Jg. 1950, S. 220 ff.

  44. Wir stehen somit in völligem Gegensatz zu Ausführungen, wie sie etwa A. Rein in der schon genannten Veröffentlichung der Ranke-Gesellschaft gemacht hat.

  45. Arnold Toynbee, Kultur am Scheidewege, S. 69.

Weitere Inhalte