Mit freundlicher Genehmigung des Verlages veröffentlichen wir Kapitel V „Geschichte, Politik und totalitäre Ideologie" aus dem Buche von Professor Walther Hofer: „Geschichte zwischen Philosophie und Politik". Die Originalausgabe erschien im Verlag für Recht und Gesellschaft AG. Basel 1956, Bd. 6 der Philosophische Forschungen, hrsg. von Karl Jaspers, Neue Folge, Lizenzausgabe bei W. Kohlhammer, Stuttgart.
Kaum eine andere Frage hat die neueren Historiker, insbesondere Deutschlands, aus theoretischem wie praktischem Bedürfnisse, dermaßen beschäftigt wie das Verhältnis von Geschichte und Politik. Wenn wir auch hier wiedejmn an Leopold von Ranke anschließen, daß heißt genauer an seine im Jahre 18 36 in Berlin gehaltene Antrittsvorlesung „Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik“, dann tun wir das nicht so sehr um dem an sich echten historischen Drang zu genügen, vergangene geistige Werte um ihrer selbst willen wieder lebendig erstehen zu lassen, Sondern vielmehr darum, im Anschluß an Ranke, im Weiterführen seiner Gedanken, einen eigenen, wie uns scheint höchst notwendigen Beitrag zu leisten zur Besinnung auf die theoretischen Grundlagen und die praktischen Aufgaben unserer Wissenschaft. Es ist infolgedessen auch nicht unsere Absicht, den gesamten Gedankenreichtum von Rankes Antrittsvorlesung hier auszuschöpfen
Gleichsam nur einleitend und nebenbei bemerkt, daß sich von Ranke aus auch sehr viel sagen ließe zu dem gerade in Deutschland heute noch umkämpften Thema der Wissenschaft von der Politik. Wir möchten hier nur die eine Feststellung machen, die eigentlich allen Gegnern einer politischen Wissenschaft, insbesondere auch unter den Historikern, zu denken geben müßte: daß Ranke nämlich mit völliger Selbstverständlichkeit von der Politik als einer Wissenschaft spricht, wobei er sie freilich im wesentlichen als Staatsverwaltungslehre versteht und differenziert. Er nennt sie eine Wissenschaft, die reich sei an Scharfsinn, Wahrheit und Nützlichkeit, eine Wissenschaft, welche für den Staat ebenso notwendig sei wie die Medizin für den menschlichen Körper. Dieser Gedanke Rankes scheint nun aber wiederum über die Definition der Politik als Staatsverwaltungslehre hinauszuführen, wenn man unterstellt, daß Ranke die menschliche Gesellschaft im Rahmen des Staates bereits auch als Sozialkörper versteht, was dann allerdings die grundlegende Erkenntnis schlechthin wäre, um politische Wissenschaft nicht nur als theoretisch möglich, sondern auch als praktisch notwendig anzusehen
Die innere Verwandtschaft von Geschichte und Politik sieht Ranke nun darin, daß die Grundlage eine und dieselbe ist. „Denn da es keine Politik gibt als die, welche sich auf vollkommene und genaue Kenntnis des zu verwaltenden Staates stützt — eine Kenntnis, die ohne ein Wissen des in früheren Zeiten Geschehenen nicht denkbar ist —, und da die Historie eben dieses Wissen entweder in sich enthält oder doch zu umfassen strebt, so leuchtet ein, daß auf diesem Punkte beide auf das innigste verbunden sind.“ Ranke ist nun aber keineswegs der Meinung, daß ohne vollkommene Geschichtskenntnis überhaupt keine Politik möglich sei. „Denn es gibt einen Scharfsinn des menschlichen Verstandes, der gleichsam durch göttlichen Anhauch in die Natur der Dinge eindringt. Auch liegt es nicht in meinem Sinne, für die zur Staatslenkung geeigneten Männer eine eigentümliche Erziehungsmethode nachzuweisen; vielmehr erforsche ich das Wesen der Dinge, wenig darum bekümmert, ob eine sorgsam erworbene Bildung oder eine Art weissagender Ahnung mehr geeignet ist, jene Höhe, von welcher wir reden, zu ersteigen.“
Was Ranke hier anklingen läßt, ist nichts anderes als das Problem der Intuition in der Politik. Wie groß auch seine Neigung sein mag, der Intuition (oder der weissagenden Ahnung, wie er es nennt) Bedeutung für die Politik beizumessen, er kommt doch schließlich zu der eindeutigen Feststellung, daß es Aufgabe der Historie sei, „das Wesen des Staates aus der Reihe der früheren Begebenheiten darzutun und dasselbe zum Verständnis zu bringen, die der Politik aber, nach erfolgtem Verständnis und gewonnener Erkenntnis es weiter zu entwickeln und zu vollenden“ *
Aber nicht nur die Bedeutung der Geschichte für die Politik betont Ranke, sondern auch die Bedeutung der gegenwärtigen Politik für die Erkenntnis der vergangenen Politik, eben der Geschichte. Das Verhältnis von Geschichte und Politik wird damit zur Wechselbeziehung und zur Wechselwirkung, ähnlich dem zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, wie Ranke meinte. Und in diesem Zusammenhang schrieb er dann die bedeutenden Sätze nieder: „Die Kenntnis der Vergangenheit ist unvollkommen ohne Bekanntschaft mit der Gegenwart; ein Verständnis der Gegenwart gibt es nicht ohne Kenntnis der früheren Zeiten. Die eine reicht der anderen die Hände: eine kann ohne die andere entweder gar nicht existieren oder doch nicht vollkommen sein“
Jene Worte vom Ineinander von Geschichte und Gegenwart sind aber nun noch in einen größeren geistesgeschichtlichen und zugleich methodologischen Zusammenhang einzuordnen. Ranke hat hier denselben Gedanken geäußert, den Goethe im 14. Buch von Dichtung und Wahrheit niedergeschrieben hat: „Ein Gefühl aber, das bei mir gewaltig überhandnahm und sich nicht wundersam genug äußern konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins.“ Friedrich Meinecke hat diesem Gedanken in seiner Darstellung der Entwicklung des modernen historischen Bewußtseins höchste Bedeutung beigemessen
Wir haben also eine doppelte Wirkung der „Empfindung der Vergangenheit und der Gegenwart in Eins“, dieser neuen Denkweise eines dynamischen Historismus, der die inneren Schranken zwischen Vergangenheit und Gegenwart aufhob und sie „in den ewigen Schmelztiegel eines Werdens, Ineinanderwirkens und Sichwandelns warf“ 6 ). Das historische Bewußtsein umgreift jetzt auch die Gegenwart mit all den Folgen eines relativistischen Skeptizismus und pessimistischer Resignation. Dadurch drohte sich die Geschichte immer mehr gleichsam mit lähmender Macht auf die Gegenwart zu legen, sie droht sich ihrer schon zu bemächtigen, bevor sie selbst überhaupt Geschichte geworden ist.
Dieses tragisch-pessimistische Gefühl eines relativistisch gewordenen Historismus ist zu einer Grundtendenz im geistigen Leben des 20. Jahrhunderts geworden. Die lähmende Wirkung des historischen Relativismus, der mit Spenglers „Untergang des Abendlandes“ einen massenpsychologischen Höhepunkt erreichte, konnte aber nicht durch eine Leugnung jener Geschichtlichkeit allen Lebens aus der Welt geschafft werden. Historismus war nicht durch Futurismus zu überwinden, wie Benedetto Croce es formulierte n). Am geschichtlichen Beispiel selbst verifiziert: der inbrünstige Glaube an ein lOOOjähriges Reich muß zusammenbrechen angesichts der traurigen Überreste dieses Reiches, welches wider alle Gesetze der Geschichte aufgebaut werden sollte. Hat die Geschichte damit bewiesen, daß keine politische Bewegung außerhalb ihrer Schwerkraft Aussicht auf dauerhafte Verwirklichung hat 7
Existentielle Wissenschaft Die Lösung vom lähmenden Druck des Historismus ist nur in einer Richtung denkbar: indem man die Erkenntnis von der Geschichtlichkeit aller menschlichen Hervorbringungen als Gesetz anerkennt, unter dem wir nun einmal leben müssen — ein Gesetz unseres Daseins, gegen das sich aufzulehnen ebenso sinnlos wäre wie die Auflehnung gegen ein Naturgesetz, ein Gesetz, dessen rückhaltlose Anerkennung aber ebenso sinnvolle Möglichkeiten schafft wie die Ausnutzung eines Naturgesetzes. Und hier setzt nun die andere Komponente in der Wechselwirkung von Geschichte und Gegenwart ein: die Frage der Gegenwart an die Geschichte intensiviert sich; das dunkle Gefühl, aus der Geschichte richtunggebende Antworten für die Gestaltung der Gegenwart zu erhalten, wandelt sich zur wissenschaftlichen Gewißheit und verdichtet sich zur praktischen Forderung dank der Erkenntnis von der strukturellen Gleichartigkeit von Geschichte und Gegenwart.
Dies ist, bei allen Unterschieden im Ansatz und in der Durchführung, der gemeinsame Grundgedanke etwa eines Alfred Weber und eines Arnold Toynbee. Sowohl in der Geschichtssoziologie Webers wie in der Geschichtsmorphologie Toynbees wird es deutlich, daß sie ihre Fragen nicht mehr in der Art Rankes an die Geschichte richten. Ihre Geschichtsbetrachtung stellt sich bewußt in den Dienst der geistigen und politischen Lebensnot unserer Zeit, ihre Fragen sind überhaupt erst von der Erkenntnis dieser Not angeregt worden. Die Geschichtswissenschaft ist bei ihnen nicht mehr reine Erkenntniswissenschaft, sondern existentielle Wissenschaft. Die Grundfrage lautet nicht mehr: wie es eigentlich gewesen, sondern vielmehr: wo wir eigentlich stehen! Wo befinden wir uns eigentlich im Strom der Geschichte, fragt Alfred Weber, nicht als einzelnes Volk, sondern als von diesem Strom fortgetragene Menschheit? Was vollzieht dieser Strom mit uns? Welchen Elementen der Bewegung sind wir im weiteren Fortgang so gut wie unabänderlich unterworfen und welche können wir ändern, wo können wir eingreifen und nach welcher Richtung können wir zu lenken versuchen?
Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte Es ist die alte Frage nach Freiheit und Notwendigkeit in der Geschichte. Nur daß sie nicht mehr allein eine Frage geschichtsphilosophischer Spekulation geblieben ist, sondern sie ist gleichzeitig die Frage nach den Möglichkeiten einer Weiterexistenz unserer Kultur geworden. Damit ist der Geschichtsdeterminismus Spenglers überwunden. Aus der geschichtlichen Erkenntnis, daß so und so viele Kulturen untergegangen sind, wird nicht die pessimistische und nur scheinbar logische Konsequenz gezogen, auch unsere abendländische Kultur gehe notwendig dem Verfalle entgegen, sondern die weitere Frage aufgeworfen: was können wir als Menschen und als Menschheit tun, um den Verfall aufzuhalten? Was wir hier an zwei Beispielen exemplifiziert haben, könnte leicht durch weitere illustre Namen belegt werden. Die ganze geschichtsphilosophische und kulturkritische Besinnung der Gegenwart steht unter dem Zeichen einer intensivierten Synthese von Geschichte und Gegenwart; sie versucht eine Antwort aus der Geschichte an die Gegenwart zu geben auf eine Frage aus der Gegenwart an die Geschichte. Wenn Karl Jaspers in seiner Abhandlung über „Ursprung und Ziel der Geschichte“ drei Fragen aufstellt, nämlich die Frage nach der Bilanz, der Struktur und dem Wesen der bisherigen Weltgeschichte, die Frage nach Gegenwart und Zukunft und die Frage nach dem Sinn der Geschichte, so geht es bei allen drei letztlich um dasselbe Problem: um die Erhellung des Bewußtseins des gegenwärtigen Zeitalters. Denn um die eigene Situation erleuchten zu können, bedarf es der Lichtquellen, welche aus der Menschheitsgeschichte in die Gegenwart herüberstrahlen. Wir müssen die Geschichte erhellen, wenn wir unsere eigene Existenz erhellen wollen. Auch hier Geschichtserkenntnis als menschliche Existenzerhellung
Ortega y Gasset bezeichnet die Geschichte als „eine systematische Wissenschaft von der Grundwirklichkeit, die mein Leben ist“. Sie ist für ihn die Wissenschaft von der Gegenwart im strengsten und aktuellsten Sinn. „Wäre sie nicht die Wissenschaft von der Gegenwart, wo fänden wir dann die Vergangenheit, die man ihr gewöhnlich als Thema zuweist? Die umgekehrte Auffassung, welche die übliche ist, läuft darauf hinaus, daß man aus der Vergangenheit etwas Abstraktes und Un-wirkliches macht, das leblos in seiner Zeit ruht, während doch die Vergangenheit die lebendige und wirkende Kraft ist, die uns auch heute trägt.“
Politik, Hauptgestaltungselement der Gegenwart Inwiefern berührt nun ein solch dynamisches Ineinander von Geschichte und Gegenwart die Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Politik? Man wird leicht einsehen, daß es in entscheidender Weise davon berührt wird, ja wir können sagen, daß wir unser engeres Thema mit diesen Erörterungen überhaupt nicht verlassen haben. Denn es ist insofern ein und dasselbe, von Geschichte und Gegenwart und von Geschichte und Politik zu reden, als Politik doch wohl als ein Hauptgestaltungselement einer jeweiligen Gegenwart, und damit allerdings auch der Geschichte, angesehen werden muß. Geschichte und Gegenwart ist nur das allgemeinere Verhältnis, in das das besondere Verhältnis von Geschichte und Politik eingebettet erscheint. Ein eminent politischer Aspekt liegt in der Tat allen jenen geschichtsphilosophischen und geschichtssoziologischen Konzeptionen zugrunde, von denen wir eben gesprochen haben. Arnold Toynbee kommt auf Grund seiner Einsicht in die Weltgeschichte zu der Forderung, daß wir Krieg und Klassen abschaffen und eine Neuverteilung der Güter der Erde in die Wege leiten müssen, wenn wir nicht das Ende der Menschheitsgeschichte auf unserem Planeten herbeiführen wollen. Beide Forderungen können aber nur erfüllt werden auf Grund einer universalen politischen Ordnung. Ähnliche Perspektiven eröffnet Alfred Weber: nur noch ein Zeitalter der Weltverständigung oder der Erddomestikation, wie er es nennt, kann die Menschheit vor unabsehbaren Katastrophen bewahren. Lind Karl Jaspers sieht die gegenwärtige Situation gekennzeichnet durch die Alternative: Weltimperium oder Weltordnung, also totalitärer Staat von weltweitem Ausmaß oder föderalistische Ordnung freier Staaten-gruppen und -Systeme. Eine Perspektive, die Friedrich Meinecke in ähnlichem Sinne schon vor Augen stand, als er, durch die Katastrophe des ersten Weltkrieges zu einer Bilanz der Geschichte angeregt, vor dem Phänomen einer weltumspannenden Pax Anglosaxonica zu stehen glaubte
Politische Verantwortung der Geschichtswissenschaft und des Historikers Wenn also der politische Aspekt, sowohl in Ausgangspunkt wie in Zielsetzung, solch hervorragender Geschichtsbetrachtung unserer Zeit feststeht, so erhebt sich mit innerer Notwendigkeit die weitere Frage: Erfüllt eine solche Geschichtsbetrachtung noch die wissenschaftlichen Forderungen historiographischer Tätigkeit? Sind politisches und wissenschaftliches Ethos in ihr in Übereinstimmung zu bringen, oder schließen sie sich vielleicht gegenseitig aus?
Der Tatsache, daß es voraussetzungsloses Erkennen nicht gibt, unterliegt alle Geschichte. Natürlich hat es immer eine Art Geschichtsbetrachtung gegeben, die sich diesem erkenntniskritischen Gesetz dadurch weit. gehend entziehen konnte, daß sie ohne klares Erkenntnisziel einfach in den geschichtlichen Stoffmassen der Vergangenheit herumgewühlt hat. Benedetto Croce nennt diese Art von Geschichtsbetrachtung chronikalische Geschichte und spricht ihr das eigentliche Wesen der Geschichtsschreibung ab
Blenden wir, an diesem entscheidenden Punkt unserer Betrachtung angekommen, noch einmal in die Geschichte unserer Wissenschaft zurück. Auch Ranke, der objektive Historiker par excellence, hat in dem Verständnis der Gegenwart aus der Geschichte wie in dem Verständnis der Geschichte aus der Gegenwart ein durchaus legitimes Erkenntnisziel unserer Wissenschaft gesehen. Eben aus der Erkenntnis heraus, daß der Historiker auch die ungeschriebene Historie der Gegenwart geistig auf sich wirken lassen muß, um die Vergangenheit desto besser zu verstehen. Noch intensiver wurde die Synthese von Geschichte und Politik bei jenen Historikern des
Sicher spielt hier die Struktur des geschichtlichen Erkenntnisaktes eine wesentliche Rolle. Sie begünstigt zirkelhafte Schlüsse aus der Geschichte, indem der Historiker leicht seine politischen und sozialen Vorurteile in seine Geschichtserkenntnis einfließen läßt, um sie dann aus der Geschichte wieder in die Gegenwart zurückzuprojizieren, ohne natürlich von diesem Prozeß selbst etwas zu merken. Das weisen dann meistens seine Gegner nach. In der Tat beruhen die meisten sogenannten Lehren aus der Geschichte auf solchen Zirkelschlüssen. Kein Wunder also, daß diese Lehren aus der Geschichte in den meisten Fällen denkbar schlechte Ratschläge für die Politik enthielten
Die deutsche nationale und offizielle Historie mühte sich damals ab, den Kampf Deutschlands gegen die angebliche britische Weltherrschaft geschichtlich dadurch zu rechtfertigen, daß sie das Bild Rankes vom europäischen Gleichgewicht der großen Mächte in völlig statischer Weise auf die Zusammenhänge der Weltpolitik übertrug. Daß die politische Entwicklung auf ein Weltstaatensystem zusteuere, in welchem Deutschland sich einen gebührenden Platz erkämpfen müsse, wurde aus der Geschichte einwandfrei bewiesen. Ludwig Dehio hat in überzeugender Weise die Denk-und Rechenfehler dieser der Dynamik der geschichtlichen Entwicklung wenig gerecht werdenden Geschichtskonzeption aufgedeckt: die festländische Sehweise, welche kaum Verständnis hatte für die grundlegenden Unterschiede zwischen Herrschaft auf Grund von Seemacht und kontinentaler Hegemonie; die Unterschätzung der außereuropäischen Kraftzentren, insbesondere Amerikas, aber auch Rußlands, deren weltpolitischen Aufstieg der französische Historiker Alexis de Tocqueville in seinem Buch „De la democratie en Amerique“ im Jahre 1835 schon angekündigt hatte
Man kann vielleicht dieses Versagen der deutschen Historiker in ihrem historisch-politischen Denken vor 1914 als schicksalshaft bezeichnen, um so mehr, als es bei den anderen europäischen Völkern kaum besser bestellt war. Daß sie sich aber in ihrer großen Mehrzahl durch den Ausgang des ersten Weltkrieges keineswegs zu einer grundlegenden Revision ihres Geschichtsbildes veranlaßt sahen, kann nur noch als intellektuelles Versagen interpretiert werden. Zweifelsohne wurde eine solche Haltung erleichtert durch den Umstand, daß am Ende des ersten Weltkrieges sowohl Rußland wie Amerika aus der aktiven Weltpolitik zunächst ausschieden: jenes durch die bolschewistische Revolution, dieses durch Rückzug in den Isolationismus. Aber das geschichtlich wesentliche Resultat des ersten Weltkrieges blieb doch durchaus bestehen und harrte einer Erklärung: die Tatsache nämlich, daß „im Weltkriege die Entwicklung aus den in Jahrhunderten eingefahrenen Gleisen heraussprang und der Hegemonialmacht zum Triumphe verhalf, statt dem Staaten-system“, wie es die angeblich historisch fundierte deutsche Theorie vorausgesagt hatte
Die Wirkungen totalitärer Ideologien Gewiß, alles in allem eine sehr betrübliche Bilanz, die wir hier zu ziehen genötigt waren. Sie wird noch betrüblicher, wenn wir den Blick unmittelbar auf unsere Zeit richten: auf die Wirkungen totalitärer Ideologien, welche die Geschichte einer politischen Ideologie und einer ideologischen Politik unterwerfen, so daß sie zu einer Mätresse wird, die sich allen Launen und Seitensprüngen ihrer Herren fügen muß. Zwar hat auch Ranke schon davon gesprochen, daß täglich Schriftsteller auftreten, „die in der Historie weder etwas suchen, noch finden, als was mit ihrer politischen Doktrin gut übereinstimmt“
Das nationalsozialistische Herrschaftssystem Das nationalsozialistische Herrschaftssystem hat den Versuch gemacht, sich die deutsche Geschichtswissenschaft in diesem Sinne zu unterwerfen. Das Bemühen um wissenschaftliche Objektivität wurde als weltanschaulicher Nihilismus und als bürgerliche Degeneration oder gar als Feigheit erklärt, und die kämpferische Wissenschaft als neues Ideal aufgestellt. Die Geschichtswissenschaft sollte „erkennend kämpfen und kämpfend erkennen“
Die bolschewistische Ideologie Was dem Nationalsozialismus nur in Ansätzen gelungen ist, das • hat die bolschewistische Ideologie bis zu den letzten Konsequenzen durchgeführt — dank dem besseren Ausbau ihrer Theorie, vor allem aber dank der größeren Lebenskraft ihres politischen Systems. Nadi der Geschichtstheorie des Leninismus-Stalinismus ist die ideologische Schulung des Historikers viel wichtiger als die methodologische. „Der richtige sowjetische Historiker muß kämpferisch und aggressiv sein, seine Bewertung historischer Tatsachen ist eine politische Entscheidung, die von politischen Motiven diktiert wird.“ Ja, der sowjetische Historiker muß frei sein von „einer übertriebenen Liebe zu den Tatsachen“!
Wie weit man dabei zu gehen gewillt ist, dafür nur ein Beispiel aus der jüngsten Geschichte: Die sowjetische Geschichtsschreibung leugnet die Tatsache, daß Stalin am 2 3. August 1939 mit dem nationalsozialistischen Deutschland ein Geheimabkommen abgeschlossen hat, welches Polen und die baltischen Länder in eine deutsche und eine russische Interessensphäre aufgeteilt hat. Auf Grund dieses Abkommens konnte Deutschland Polen angreifen und konnte die Sowjet-Union sich an der Liquidierung des polnischen Staates beteiligen, kurz darauf Finnland mit Krieg überziehen, Rumänien ultimative territoriale Forderungen stellen und schließlich die drei kleinen baltischen Staaten annektieren. Die Begünstigung der deutschen Angriffsabsichten und Expansionstendenzen in Ostmitteleuropa durch die sowjetischen Führer ist historisch erwiesen, ebenso die eigene Aggressivität der sowjetischen Politik. Diese geschichtlichen Tatsachen würden aber mit der Theorie von der „friedliebenden Sowjetunion“ kaum in Übereinstimmung zu bringen sein, und deshalb stellt die sowjetische Historie die Ereignisse seit 1939 so dar, als ob nie ein solches Geheimabkommen über ein
Erwerbsgeschäft auf Gegenseitigkeit abgeschlossen worden wäre. Der sowjetische Einmarsch in Ostpolen im September 19 39 wird so motiviert, ab ob die Sowjetarmee zur Verhinderung eines weiteren Vormarsches der Deutschen diese Gebiete besetzt habe!
Es war Friedrich Nietzsche, der meinte, das historische Faktum sei immer dumm und habe zu allen Zeiten einem Kalbe ähnlicher gesehen als einem Gotte 36). Die Bedeutung des historischen Faktums soll nun keineswegs etwa überwertet werden; aber es ist und bleibt Hauptaufgabe einer in wissenschaftlichem Geiste betriebenen Historie, auf Grund der Tatsachen eine möglichst getreue und objektive Rekonstruktion der geschichtlichen Wirklichkeit zu versuchen. Ohne diese Hauptvoraussetzung hängt alles Denken über geschichtliche Zusammenhänge und Entwicklungen in der Luft. Unter der bolschewistischen Ideologie hat das geschichtliche Feld auf weite Strecken seine Eigenständigkeit als Forschungsgebiet völlig verloren. Es ist, wie jener oben zitierte ideologisch-methodische Grundsatz beweist, zum Arsenal des politischen und ideologischen Aktivismus geworden.
Einige Beispiele mögen illustrieren, wie weit diese Politisierung und Ideologisierung der Geschichtsschreibung im sowjetischen Bereich diehen ist 37). Die erste Historiker-Konferenz des sowjetzonalen „Museums für deutsche Geschichte“ in Berlin, welche Grundfragen der Geschichtsforschung behandeln sollte, ließ verlauten: „Das deutsche Volk erwartet, daß die deutschen Historiker durch eine wahrheitsgetreue wissenschaftliche Auswertung der deutschen Geschichte ihm in seinem schweren Kampf helfen; es will durch das Studium der Geschichte seine Hauptfeinde erkennen, und es will-gleichzeitig durch die Kenntnis der großen revolutionären Taten und der Leistungen der deutschen Nation Zuversicht, Kraft und Gewißheit vom vollen Sieg über die USA-Imperialisten gewinnen. Breite Schichten des deutschen Volkes betrachten die deutsche Geschichtswissenschaft daher als eine hervorragende Waffe in ihrem gerechten Kampf und setzen große Hoffnungen in die Arbeit der deutschen Historiker“ 38). In einer „Entschließung der siebenten Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ zählt die im sowjetischen Sinne vorgenommene Revision des deutschen Geschichtsbildes zu den „wichtigsten ideologischen Aufgaben der SED“: „Von großer Bedeutung für den Kampf um die Einheit Deutschlands und für die Entwicklung eines echten deutschen Patriotismus ist die wissenschaftliche Ausarbeitung der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung. Das Zentralkomitee betrachtet diese Arbeit als die wichtigste Aufgabe der theoretischen Kader der Partei, die auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaften tätig sind. Llnsere Historiker sind sich noch nicht genügend der großen Verpflichtung bewußt, durch die wissenschaftliche Ausarbeitung der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung zur Zerschlagung unwissenschaftlicher Geschichtsauffassungen, zur richtigen Erziehung der herangewachsen.
den Generation und zur Entfaltung des Kampfes für die nationale Einheit Deutschlands beizutragen.“ 39)
Alle Elemente einer bolschewistisch verstandenen „Geschichtswissenschaft“ sind hier beisammen: Marxismus als einzig mögliche methodische Grundlage der Geschichtswissenschaft, Bestimmung der GeSchichtsschreibung als Waffe im ideologischen und politischen Kampfe, Unterordnung des Geschichtsbildes unter die ideologischen Grundsätze der kommunistischen Staatspartei. So mußte denn auch der Herausgeber der westdeutschen „Historischen Zeitschrift“ über die sowjetzonale „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ das Urteil fällen, „daß die neue Zeitschrift kein Fachorgan in der Reihe der westdeutschen ist, vielmehr eine Kentaur, dessen Rumpf der Geschichtswissenschaft zugehört, sein Kopf jedoch der Politik“
Das Problem der historischen Objektivität
Daß in einer dermaßen politisierten Geschichtsschreibung das Problem der historischen Objektivität in ganz besonderem Lichte erscheinen muß, ist leicht einzusehen
Dieser Widerspruch muß notwendigerweise entstehen, weil hier, wie mit so vielen anderen fundamentalen Ideen der abendländischen Philosophie und Geistesgeschichte, der Versuch gemacht wird, einen Begriff mit einem Inhalt zu erfüllen, der dem Begriff selbst im Innersten widerspricht und ihn damit im Grunde genommen sinnlos macht. So steht es mit dem Begriff der Objektivität in der marxistischen Dialektik nicht anders als mit den Ideen von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden
Während der Begriff der Objektivität seinem Wesen nach das Prinzip der Überparteilichkeit in sich schließt, verlangt der sogenannte „wissenschaftliche Sozialismus“, eine ausgesprochen subjektive Haltung, die „proletarische Parteilichkeit“ genannt wird — subjektiv allerdings nicht im Sinne eines selbständig denkenden Individuums, sondern im Sinne der allmächtig gebietenden einen Partei. Während im Bereich der abendländischen Wissenschaft das Prinzip der Objektivität der Idee nach über allen denkbaren politischen Parteien steht, ist es im Bereiche der sowjetischen Ideologie die alleinherrschende Partei, welche selbst bestimmt, was objektiv ist. Die Objektivität ist auch der Idee nach der herrschenden Ideologie untergeordnet. Dieser merkwürdige Sachverhalt geht notwendig aus dem Anspruch des dialektischen und historischen Materialismus hervor, die wissenschaftliche Methode schlechthin zu sein, um die Erscheinungen in Natur und Gesellschaft objektiv zu erforschen. Da die Partei aber allein zur richtigen Interpretation der Grundsätze dieser Weltanschauung und Methode fähig ist, kann nur die Partei bestimmen, was objektiv ist. Oder anders ausgedrückt: Nichts was den Grundsätzen des historischen und dialektischen Materialismus und damit den Grundsätzen der Partei widerspricht, kann Anspruch auf objektive Gültigkeit haben. Wahre Objektivität ist nach der marxistischen Doktrin nur möglich, wenn man nach ihren „allein wissenschaftlichen" methodischen Prinzipien an die Erscheinungen der Geschichte herangeht
Da aber der historische Materialismus nichts weniger beansprucht, als die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft entdeckt zu haben, soll er die Erreichung einer Objektivität ermöglichen, die derjenigen der Naturwissenschaften gleichzusetzen ist. So heißt es denn auch bei Stalin: „Wenn die Welt erkennbar ist und unser Wissen von den Entwicklungsgesetzen der Natur zuverlässiges Wissen ist, das die Bedeutung objektiver Wahrheit hat, so folgt daraus, daß das gesellschaftliche Leben, die Entwicklung der Gesellschaft, ebenfalls erkennbar ist und daß die Ergebnisse der Wissenschaft bezüglich der Entwicklungsgesetze der Gesellschaft zuverlässige Ergebnisse sind, die Bedeutung objektiver Wahrheiten haben. Also kann die Wissenschaft von der Geschichte der Gesellschaft trotz aller Kompliziertheit der Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens zu einer genau so exakten Wissenschaft werden wie, sagen wir, die Biologie, zu einer Wissenschaft, die imstande ist, die Entwicklungsgesetze der Gesellschaft in der Praxis auszunutzen."
Diese Sätze Stalins sind absolutes Dogma für jeden sowjetischen Historiker. Um diese Grundsätze zu erfüllen, muß der sowjetische Historiker aber alle historischen Erscheinungen ausnahmslos vom Klassenstandpunkt’ aus analysieren und beurteilen: denn wahre Objektivität ist nur aus dem Klasseninteresse des Proletariats zu schöpfen, das ja den objektiven Verlauf der bisherigen historischen Entwicklung bestimmt hat. Wenn der Klassenstandpunkt in der Beurteilung historischer Erscheinungen verlassen wird, wenn etwa gar Vergleiche mit den Ergebnissen westlicher Historiker angestellt werden, dann läuft der marxistische Historiker Gefahr, in Objektivismus zu verfallen. Lim es auf eine Formel zu bringen: Wer nach den methodischen Grundsätzen des dialektischen und historischen Materialismus Geschichte erforscht, ist wissenschaftlich und objektiv; wer diese „alleinwissenschaftliche“ Methode und Weltanschauung und ihre Ergebnisse mit andern Methoden und Ergebnissen vergleicht, ist objektivistisch.
Objektivität im Sinne der bolschewistischen Theorie heißt also: Erfassung und Beurteilung der geschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen im Lichte der durch die alleinmaßgebende Ideologie aufgestellten Axiome und Grundsätze. Der objektive Historiker ist derjenige, welcher die Ergebnisse seiner Forschung mit diesen Grundsätzen in bestmöglicher Weise in Übereinstimmung zu bringen versteht — was selbstredend niemals auf Kosten der politischen Doktrin, sondern immer nur auf Kosten der geschichtlichen Wahrheit und auch Wirklichkeit geschehen kann.
Unaufhebbarer Gegensatz Es sollte deutlich geworden sein, daß zwischen dem sowjetischen Begriff der Geschichtswissenschaft und dem abendländisch-westlichen nicht nur eine Nuance der Differenziertheit, sondern ein unaufhebbarer Gegensatz besteht. Diese Tatsache wird von westlichen Historikern immer wieder übersehen bzw. nicht genügend in Rechnung gestellt, wofür etwa der X. Internationale Kongreß für Geschichtswissenschaft ein neuer Beweis war. Das sowjetische Wissenschaftsideal ist durch den Begriff der Parteilichkeit bestimmt, das abendländische durch den Begriff der Objektivität. Objektivität wird dabei nicht verstanden im Sinne einer (tatsächlichen oder angeblichen) naturwissenschaftlichen Voraussetzungslosigkeit, auch nicht im Sinne eines Fehlens moralischer und politischer LIrteile, sondern zunächst im Sinne einer wissenschaftlich genauen Analyse des historischen Tatbestandes, dann allerdings auch — und damit beginnt erst das eigentlidie Problem der Objektivität — im Sinne eines sich Erhebens über partei-und tagespolitische Interessen und Zwecksetzungen. Dieses Objektivitätsideal wird vom sowjetischen Begriff der Parteilichkeit auf beiden Ebenen praktisch verletzt und — wie wir zu beweisen hatten — auch theoretisch abgelehnt: durch die Einseitigkeit und Ausschließlichkeit der Ideologie nicht nur, sondern eben auch durch das unbekümmerte Umgehen mit den historischen Tatsachen. Mit Anhängern einer materialistischen Geschichtsauffassung ist selbstverständlich grundsätzlich eine fruchtbare Diskussion jederzeit möglich, unter der Voraussetzung allerdings, daß diese nicht im Gewände der Intoleranz und Ausschließlichkeit auftreten.
Fassen wir die Ergebnisse unserer Untersuchungen zusammen. Wir stehen vor der Tatsache, daß es der Geschichte in den meisten Fällen nicht gelungen ist, die Politik zu verbessern, daß sie diese oft vielmehr in ihren Irrtümern bestätigt hat. Die Historie ist in vielen Fällen einer falschen Politisierung unterworfen worden, die in den Extremen der totalitären Ideologien Geschichte als Wissenschaft unmöglich macht. Anderseits stehen wir vor der Erkenntnis, daß ohne politisches Interesse politische Historie gar nicht denkbar ist. Politische Gechichte und politische Wissenschaft überhaupt bewegen sich somit zwischen dem politischen Impuls, der sie erst möglich macht, und dem politischen Befehl, der sie als Wissenschaft unmöglich macht.
Wollen wir uns daher denen anschließen, welche geschichtliche Bildung als nachteilig für das politische Denken und Handeln ansehen? Selbst wenn wir dies für wünschbar hielten, würde dieser Ausweg nützlich oder auch nur möglich sein? Wir erinnern uns hier an das, was Theodor Litt zu dieser Frage gesagt hat: das historische Bewußtsein des modernen Menschen ist eine Tatsache, die nicht rückgängig zu machen ist
In George Orwells Zukunftsstaat „ 1984“ gibt es ein Wahrheitsministerium, das alle Geschichtsquellen und sogar alle Tageszeitungen laufend so umschreibt, daß sie nichts besagen können, was den Machthabern nicht genehm ist. Auch dieser Gedanke, wie so vieles andere in diesem utopischen Roman ist leider keineswegs so utopisch. Was mit den in den Machtbereich der Sowjetunion geratenen Völkern Ostmitteleuropas heute geschieht, ist praktisch bereits die Verwirklichung dieses Gedankens. Sie müssen sich eine Übertragung der sowjetischen Geschichtskonzeption gefallen lassen, die nicht nur die Grundsätze des historischen Materialismus mit sich bringt, sondern überall da die nationale Tradition und Geschichte verfälscht bzw. auslöscht, wo sie mit der sowjetischen Geschichtskonstruktion in Widerspruch steht. Also Auslöschung der nationalen Geschichte als Mittel zur Auslöschung der nationalen Freiheit
Die freie Verfügung über ihre Geschichte wird den Menschen und den Völkern deshalb nur in einem solchen politischen Dasein gewährleistet sein, das selbst die Idee der menschlichen Freiheit zum unantastbaren Grundsatz erhebt. Wissenschaftliche Objektivität ist, was die Sozialwissenschaften anbetrifft, nur in politischer Freiheit möglich. Nur da, wo die Freiheit des Geistes von allem dogmatischen Zwang und äußerem politischen Druck gewährleistet ist, und die Möglichkeit der gegenseitigen freien Kritik und damit der Vielzahl der Standpunkte gegeben ist, nur da ist Objektivität möglich. Soviel wissenschaftlich erarbeitete Standpunkte, soviel Aspekte der Wahrheit. Die marxistische Ideologie irrt, wenn sie glaubt, durch Verabsolutierung eines solchen Teilaspektes die volle Wahrheit erzwingen zu können. Dadurch, daß er absolut gesetzt wird, ist der Teilaspekt nicht einmal mehr eine Teil-wahrheit; denn das könnte er nur sein, wenn man sich bewußt wäre, daß er nur Teil ist.
Aber auch die in Freiheit tätige Geschichtswissenschaft kann noch sehr viel tun, um dem an sich unerreichbaren Ideal einer objektiven Ansicht von der Geschichte näherzukommen. So müssen wir vor allem immer wieder versuchen, die Decke der Vorurteile zu durchstoßen, die nicht nur parteipolitischer Art, sondern auch geschichtsphilosophischer Art sein können, wie dort, wo Geschichte einseitig vom Standpunkt der Nation oder der Rasse oder der Klasse aus gesehen und beurteilt wird. Die Geschichtswissenschaft muß den Blick noch mehr als dies bislang der Fall gewesen ist auf das Ganze der geschichtlichen Erscheinungen in ihrer raum-zeitlichen Ausdehnung richten. Nur die Absage an jede einseitige Theorie von den geschichtlichen Kräften und der Durchstoß zu einem neuen universalen Geschichtsbild versprechen ein Höchstmaß von wissenschaftlicher Objektivität und politischer Nützlichkeit zugleich
Eine Revision unseres Geschichtsbildes ist nicht deshalb notwendig geworden, weil es irgendwelche Siegermächte in ihrem Erziehungseifer befohlen hätten
Schaffung eines globalen Geschichtsbildes Wir stehen an einer Stufe der Entwicklung, wo es auch für den denkfaulsten Europäer einsichtig geworden sein sollte, daß die europäische Ära der Weltgeschichte zu Ende ist. Die bewegenden Kraftzentren haben sich in unserer Gegenwart in außereuropäische Bereiche verlagert, was nicht heißen will, daß nicht auch Europa wiederum eines der bewegenden Kraftzentren werden kann; aber es'wird nie mehr das einzige sein. Das erfordert ein historisch-politisches Denken in größeren Zusammenhängen und größeren Einheiten, als die europäischen Nationen sie darstellen. Der Historiker von heute steht vor der Aufgabe, jene Kräfte geschichtlich kennenzulernen und bekanntzumachen, die in entscheidender Weise in die europäische Geschichte eingebrochen sind und von denen das europäische Schicksal heute weitgehend abhängig ist. Die Schaffung des globalen Geschichtsbildes ist unserer Wissenschaft aus theoretischen und praktischen, aus wissenschaftlichen und politischen Gründen gleichermaßen aufgegeben. Nur eine Geschichtswissenschaft, welche ihre Forschungen auf ein universales Geschichtsbild aufbaut, kann ein Höchstmaß an Objektivität erreichen. Nur ihr wird es gelingen, die Kräfte zu erkennen, welche die Gegenwart bestimmen und in die Zukunft weisen. Nur sie wird daher für die Politik von Nutzen sein können.
Wissenschaftliches und politisches Ethos des Historikers können durchaus in Einklang stehen, ja richtig verstanden fordert sogar eines das andere aus innerer Notwendigkeit. Da der Historiker seinen wissenschaftlichen Beruf nur dort erfüllen kann, wo politische Freiheit herrscht, ist er als Wissenschaftler aufgerufen, seine Kraft dafür einzusetzen, daß politische Freiheit errungen bzw. nicht verloren wird. Demokratie als Staatsform schließt die Idee freier Wissenschaft wesensnotwendig ein. Unter der Idee der Freiheit fallen damit wissenschaftliche und politische Verantwortung des Historikers zusammen. Und dies gilt sinngemäß für alle Wissenschaftler, die sich mit der menschlich-geschichtlich-gesellschaftlichen Welt befassen. Geschichte ist die Wissenschaft, welche, in Verbindung mit Philosophie, dem Menschen seine wahre Bestimmung aus seiner Vergangenheit enthüllen kann. Dies kann sie aber nur dann, wenn sie sich frei hält von Bindung an tagespolitische Scheinprobleme und von ideologischem Zwang, wenn sie den Blick offen auf das Ganze richtet. In diesem Sinne hat Geschichte einen gewichtigen Beitrag zu leisten an eine Politik, deren Ziel die Verwirklichung von Freiheit und Menschlichkeit ist. Diese Forderung an uns bleibt aufrecht trotz aller Enttäuschungen und Rückschläge, von denen so ausgiebig die Rede gewesen ist.
Anmerkung Dr. Walther Hofer, P. Dozent, Freie Universität Berlin, L. Beauftr. Dtsch. Hochschule für Politik. Lehrgebiet: Neuere Geschichte, Historiographie, Wissenschaft von der Politik.